2015-04 Die Zukunft bleibt ungewiss
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2015-04 Die Zukunft bleibt ungewiss
DIALOGMARKETING & SOCIAL MEDIA _ Dialogmarketing der Zukunft Die Zukunft bleibt ungewiss Wir alle stellen fest, dass sich die Welt in dem Zeitraum von fünf Jahren so viel schneller dreht als zur Zeit unserer Großeltern vor einem halben Jahrhundert. Was im Jahr 2020 sein wird, das können wir uns heute noch gar nicht vorstellen. Text _ Jan Möllendorf Prognosen sind Glücksache. Das lehrt nicht zuletzt die Erfahrung. Hypes aus dem Nichts wie der Youtube-Hit »Gangnam Style« mobilisieren Massen – aber nur für einen kurzen Moment. Verirrungen wie Bubble Tea werfen riesige Blasen, um sich dann verdientermaßen wieder in Luft aufzulösen. Andererseits brauchen augenscheinlich sinnvolle Innovationen länger als gedacht. Einige Beispiele aus unserem Business: Innovationen en masse Was wurde vor nicht allzu langer Zeit noch gehypt und ist heute bedeutungslos, überholt oder immer noch nicht angekommen? Auf der 3-D-Plattform der Parallelwelt Second Life wollten wir interessante Menschen treffen, reich werden, virtuellen Cybersex genießen und uns eine bessere – zweite – Welt 30 erschaffen. Ich frage an dieser Stelle in die Runde: Wer hat heute noch einen Avatar? Die im Jahr 2005 gegründete OnlineCommunity StudiVZ stieg als eines der ersten sozialen Netzwerke zunächst in Deutschland, dann auch in anderen Ländern schnell auf und diversifizierte, um dann, von Facebook überholt, fast genauso schnell in die Bedeutungslosigkeit abzutauchen. Während Asiaten längst per NFC-Chip (NFC = Near Field Communication) bezahlen, hat sich im Bargeldland Deutschland immer noch kein mobiles Angebot durchsetzen können. Der Nutzen ist nicht klar und keiner aus der Vielzahl der Anbieter schafft es, beim Verbraucher Vertrauen aufzubauen. Ob wir hier, möglicherweise mit Paypal (Ebay) oder Yapital (Otto Group) in fünf Jahren weitergekommen sind? Ein alter Traum der werbungtreibenden Wirtschaft ist es, auf den TV-Screens in den Wohnzimmern individualisierte Werbung auszuliefern. Seit Jahren sprechen, schreiben und lesen wir schon über interaktives Fernsehen. Die Hardware kann mittlerweile sehr viel mehr, als der Verbraucher abruft. Derzeit steht je nach Schätzung in jedem vierten bis fünften Haushalt ein internetfähiger Fernseher. Man geht davon aus, dass zwischen 15 und 20 Prozent aller Haushalte mit ihrem Fernseher online sind. Die Hersteller von internetfähigen TVGeräten sammeln über die App-Nutzung Daten, jedoch ohne praktischen Nutzen. Wann kommt der Durchbruch? Marktforscher prognostizieren, dass etwa die Hälfte aller Haushalte im Jahr 2016 mit ihrem Fernseher online sein wird. Social-Media-Plattformen sind heute top und morgen schon wieder passé. www.acquisa.de 03/2015 Ein Beispiel: Nach der Übernahme von Whatsapp durch Facebook ergab eine repräsentative Umfrage unter den Nutzern, dass zwar noch etwas über die Hälfte ihre Nutzung davon unbeeinf lusst sieht, fast die Hälfte gibt sich jedoch abwartend und vier Prozent kehrten dem Dienst den Rücken. Übernahmen, neue Angebote und die Ausweitung bisher auf bestimmte Regionen begrenzter Dienste sorgen für Bewegung. One-to-One statt Massenpublikum Woran hat vor wenigen Jahren noch keiner gedacht und heute ist es so selbstverständlich, als wäre es schon immer so gewesen? Der Digitaldruck hat das Direktmarketing revolutioniert. Das Verfahren ermöglicht personalisierte Drucke für auf den Empfänger individuell ausgespielte Werbung. Mehrseitige Dokumente können in der richtigen Reihenfolge gedruckt werden, Schneiden und Binden inklusive, bis zum fertigen Mailing in kürzester Zeit für kleines Geld. Diese produktionstechnische Neuerung plus Kunden-Insights plus Social CRM – das heißt die Erweiterung von Kundenbeziehungen in das Social Web und die Verknüpfung der Daten – bieten eine schöne neue Welt der Werbemöglichkeiten. Apple hat mit dem I-Phone, vorgestellt im Jahr 2007, nicht nur das Telefonieren, sondern menschliches Verhalten nachhaltig beeinf lusst. Heute übernimmt das Smartphone einerseits mit seiner eigenen Software, Apps und Widgets immer mehr Funktionen (Fotografieren, Kalender, Wecker, Gesprächsmitschnitte, Spiele, MP3 Player, Mediennutzung Print, T V und Hörfunk, Internet und alle Kommunikationsformen), andererseits verändert es die Kommunikation der Menschen. Im Café wird gesimst statt gekichert, in der S-Bahn aufs Display statt aus dem Fenster gesehen, beim Vortrag getwittert statt mitgeschrieben. Der Zukunftsforscher Sven Gábor Jánszky sagt, dass das Handy-Display der wichtigste strategische Ort zukünftiger Markenführung und Vertriebsbemühungen sein 03/2015 www.acquisa.de wird. Wer hier nicht stattfindet, das heißt, wer sich nicht rechtzeitig um das Vertrauen seiner Kunden bemüht, um hier Eingang zu finden, hat keine Chance. Werbung in der Vergangenheit und auch noch in der Gegenwart richtet sich an ein Massenpublikum. Mit jedem verkauften Smartphone, so der Zukunftsforscher, wird diese Masse um eins kleiner. Die Masse werde ersetzt durch Eins-zu-eins-Beziehungen. Und alles nur, weil Steve Jobs da noch etwas aus der Hosentasche zog. Im Jahr 2007 begann der Siegeszug des sogenannten Mobile-Tagging, des Interpretierens von QR-Codes (QR = Quick Response) mittels Smartphone- oder Computer-Kamera und -Software. Mit einem QR-Code lässt sich alles hinterlegen. Medien verlinken darüber auf zusätzliche Informationen, Werbungtreibende auf Anzeigen und Gewinnspiele, Künstler auf ihre Website oder Informationen zu Werken. Es gibt sogar Visitenkarten, die aus nichts außer einem QR-Code bestehen. Hip oder übers Ziel hinaus geschossen? Interessant ist der QR-Code in Verbindung mit anderen Anwendungen wie beispielsweise der Smartbonus-App von Yoints: Bei der norddeutschen Drogeriemarktkette Budnikowsky scannen Kunden an der Ladentür einen QR-Code und erhalten vier Bonuspunkte auf ihrem Konto gutgeschrieben. Diese vier Bonuspunkte gibt es – aufgemerkt! – nicht für einen p Kauf eines Produkts, sondern bereits für den Besuch des Geschäfts. Social Media sind heute Pflicht Soziale Medien wie Facebook, Linkedin oder Xing sind längst keine Selbstdarsteller-Plattformen für Daten-naive junge Leute mehr. Die Plattformen haben in vielen Lebensbereichen große Bedeutung gewonnen. Personalberater, die eine Stelle zu besetzen haben, prüfen die digitale Reputation von Bewerbern. Die eigene digitale Präsenz ist in vielen Branchen wichtiger Bestandteil der persönlichen Positionierung als Arbeitnehmer oder Dienstleister. Der Grad der Vernetzung, die Teilnahme am Branchengeflüster, das Engagement in Foren und Blogs – alles kann relevant für die Positionierung als Arbeitssuchender, als Experte, als Dienstleister sein. Unternehmen nutzen die Plattformen, um den Dialog mit ihren Zielgruppen zu pflegen, ihr Angebot zu bewerben und neue Zielgruppen zu erschließen. Wir sind ein Volk des Multitasking. Fast jeder zweite Deutsche nutzt Fernsehen und Internet zumindest manchmal parallel. Insbesondere jüngere Leute nutzen die Medien gleichzeitig, wobei für diese crossmediale Nutzung der Desktop-PC noch das beliebteste Endgerät ist, gefolgt von Smartphones und Tablets. Parallel (Werbe-)Fernsehen schauen und shoppen – hier tun sich Möglichkeiten auf, [ … Das Interview stammt aus dem Buch »Innovatives Dialogmarketing«. Das Hardcocer zeigt, wie man Mailings, Haushaltwerbung, Website, E-Mails, Apps sowie Social Media für innovative Kundendialoge nutzen kann. Vera Hermes (Hrsg.), Innovatives Dialogmarketing, »Praxishandbuch für effektive Kundenansprache«, Haufe-Lexware, Freiburg 2014, 59 Euro, 446 Seiten 31 DIALOGMARKETING & SOCIAL MEDIA _ Dialogmarketing der Zukunft hier stehen wir noch ganz am Anfang. Aber der ist zumindest schon gemacht. In Deutschland waren im Jahr 2013 rund 29,7 Millionen Menschen auch mobil mit dem Internet verbunden, das entspricht 51 Prozent aller Internetnutzer ab zehn Jahren in Deutschland. Besonders hoch ist die Quote unter den 16 bis 24 Jahre alten Internetnutzern. Von ihnen nutzen schon 81 Prozent das Internet mobil. Und dabei geht es keineswegs nur um »Surfen for Fun«. Die Studie Bewerbungspraxis 2014 untersuchte die Bedeutung von Smartphones und Apps für die Stellensuche. Fast 40 Prozent der Kandidaten verwenden ihr Smartphone zur Suche nach freien Stellen. Das entspricht einem Plus von 11,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Auch lokalisierte Werbung profitiert davon, dass Menschen zunehmend unterwegs online erreichbar sind. Laut einer Untersuchung des Instituts Goldmedia nutzen bereits zwei Drittel der Smartphone-Besitzer die sogenannten Location Based Services. Wie zum Beispiel Foursquare. Das öffnet Türen und Tore fürs Marketing: Coupons locken ins nahe gelegene Restaurant, Geschäfte informieren über Sonderangebote. Das geht natürlich nur, wenn der Nutzer bereit ist, seinen Aufenthaltsort zu erkennen zu geben. Ob er dies will, ist nicht zuletzt eine Frage des Angebots, es muss schon ein geldwerter Vorteil sein. Was die Zukunft bringt Manche Unternehmen haben keine eigene Website. Alles findet auf Face- AUTOR Jan Möllendorf ist geschäftsführender Gesellschafter der Agenturgruppe Defacto.x in Erlangen und Vizepräsident Innovation des Deutschen Dialogmarketing Verbandes (DDV). p 32 www.defactox.de book statt. Ist das gut so? Es kann auch schnell fatal sein, denn die Frage ist berechtigt: Wir erinnern uns kurz an StudiVZ. Dafür, dass Facebook seine Position behaupten kann, spricht, dass mit der erreichten Größe Fakten geschaffen wurden, welche eine relativ hohe Einstiegshürde für potenzielle Wettbewerber darstellen. Die Innovationskraft ist groß und das finanzielle Polster für Einkaufstouren ist da. Eine Gefahr für Facebook könnte der Aufstieg von Android-basierten Wearables (Kleinstcomputer in Uhren, Brillen, Kleidung) sein. Wenn sich eine Uhr leicht mit Google+ verknüpfen lässt, jedoch nicht mit Facebook, welche Auswirkungen hat das auf die Vorlieben des Anwenders? Oder wenn die Brille alle Kontakte aus Google+, nicht jedoch die Facebook-Freunde anzeigt? Wie groß muss die Begeisterung für ein Gadget sein, um alte Freunde zu verraten? Ich glaube, dass dazu gar nicht so viel gehört. Und für eine Plattform, und sei sie noch so weit verbreitet, ist es eine Herausforderung, die nachfolgenden Nutzer-Generationen im Umfeld ebenfalls nachfolgender Plattform- und DevicesGenerationen bei der Stange zu halten. Der »Cyber War« hat gerade erst angefangen. Sowohl Terrorbekämpfung als auch Spionage und (staatliche) Auseinandersetzungen im Netz werden zunehmen. Das Internet ist auch ein Raum, in dem Anschläge und Kriminalität um sich greifen. Die Folgen können staatliche Regulierung des Netzbetriebs und der Ruf der Verbraucher nach mehr Sicherheit sein, was zu Einschränkungen der Freiheit und der Anonymität im Netz führen kann. Hier freue ich mich auf Überraschungen, mit denen heute noch keiner rechnet. Diejenigen Produkte, für die sich eine Karriere schon abzeichnet – Marktreife, Verbrauchervorlieben und »Lobby«, das heißt Absender-Unternehmen und deren wirtschaftliches Interesse, einkalkuliert – würde ich wie folgt ranken: Erstens die Armbanduhr, mit der sich surfen, telefonieren oder fotografieren lässt (Wahrscheinlichkeit der Durchsetzung: 85 Prozent). Zweitens die Datenbrille, die zu dem, was der Träger gerade sieht, zusätzliche Informationen einblendet (60 Prozent). Drittens der Chip unter die Haut (5 Prozent). Die Facebook-Akquisition Oculus vermittelt die Vision vom betret- und bewohnbaren 3-D-Universum und hat das Zeug dazu, unsere Techniknutzung zu revolutionieren. Da Facebook dafür zwei Milliarden Dollar bezahlt hat, gehe ich davon aus, dass dahinter ordentlich »Wumms« für eine Weiterentwicklung gesetzt wird, wage aber keine Prognose. Das Internet der Dinge Haben Sie schon diese Laufschuhe, die Ihr Tempo und Ihre Herzfrequenz messen und die Daten zum sportlichen Vergleich auf Facebook posten? Ein Beispiel für das sogenannte Internet der Dinge, die Welt, in der alle Geräte mit dem Internet verbunden sind und sich untereinander austauschen. Ein Auto ist heute technisch in der Lage, das Verhalten seines Fahrers zu analysieren und darauf zu reagieren. Hier geht es um Sicherheit und um Komfort ebenso wie im Bereich Haustechnik: Beleuchtung, Temperatur und Haushaltsgeräte kann man über das Smartphone regeln. Über die gesammelten Daten lässt sich beispielsweise der Energieverbrauch optimieren. Die Kehrseite der Medaille: Die »Dinge« werden zu Informanten und nur der penible Datenschutz wird verhindern können, dass diese von Interessenten wie Versicherern, Polizei oder von der Industrie genutzt werden können. (…) Wenn Sie diese Laufschuhe schon haben, wo haben Sie diese gekauft? Etwa im Internet? Oder doch im stationären Handel? Aktuell herrscht im Einzelhandel Alarmstimmung. Online-Angreifer haben angefangen, die Handelslandschaft neu zu sortieren. Unternehmen schließen mit der Begründung, es satt zu haben, der Showroom für Amazon zu sein. Der stationäre Handel mit Überlebenswillen wird sich auf den Weg in die Zukunft machen. Mit dem Vertrauen seiner Kunden darf er ihre Daten zu einem gewaltigen Kundendatenschatz anhäufen. Der Stammkunde, der den Laden betritt, wird vom Verkäufer mitsamt www.acquisa.de 03/2015 seiner Verkaufshistorie als solcher identifiziert, perfekt beraten und ermutigt, die Preise im Laden per Smartphone mit anderen Angeboten zu vergleichen. Neue Technologien, die es in Gestalt von Mobile-Apps beispielsweise ermöglichen, den Besuch in einem Geschäft zu belohnen – Yoints oder Shopnow > twitter.com/acquisa Hier twittert die Redaktion acquisa Aktuelles und Wissenswertes aus der Marketingwelt. (Springer) – sind startbereit. Die beiden Kundenkarten-Systembetreiber Payback und Deutschland-Card haben digitale Instore-Kommunikation auf ihrer Agenda. Der Mobile-Payment-Betreiber Paypal sieht in der I-Beacons-Technologie (Apple) die Chance, auch im stationären Handel zum Standard für bargeldloses Bezahlen zu werden. So wird die digitale Welt in das Ladengeschäft integriert und optimiert den Service. Wird es gelingen, die Smartphone-Generation mit BonusPunkten, beispielsweise über Angebote wie Shopnow, für das Aufsuchen des stationären Handels zu begeistern und sie damit zurück in den Laden zu bringen? Die Handelslandschaft befindet sich im Umbruch. Solange der Nutzen der Datenfreigabe höher ist als das Risiko des Datenmissbrauchs wird ein Gutteil der Konsumenten bestimmten Händlern die Erlaubnis zur Sammlung und Auswertung ihrer Daten geben. Denken wir doch einmal weiter: Der konsumerfahrene Verbraucher weiß um den Wert, den er als Kunde für ein Unternehmen hat. Da ist es nur noch ein kleiner Schritt zur bewussten Vermarktung der eigenen Daten. Irgendwann reicht der Toaster nicht mehr. Ein Verbraucher, der sich des Wertes seiner Daten zunehmend bewusst wird, kann sich selbst als Zielperson für werbliche Ansprache vermarkten. Was kostet heute ein Opt-in? Was sind 500 Freunde auf Facebook wert? Was bekomme ich als Netzwerker mit 850 Xing-Kontakten für meine Daten? Ich warte auf die erste Plattform zur Selbstvermarktung, es kann eigentlich nicht mehr lange dauern. Die Digitalisierung hat das Berufsbild des Dialogmarketings jetzt schon verändert und Weichen gestellt. Die Zukunft wird noch technischer, noch analytischer, noch abstrakter. Berufe in Marketing und Kommunikation allgemein, im Dia- log ganz speziell, stellen immer höhere Anforderungen, die von immer weniger Menschen erfüllt werden. Hier ist Spezialistentum gefragt – die Frage ist, wo sollen diese Spezialisten herkommen? Der Bedarf an Dialogmarketing-Experten wird steigen. Wie Ihnen bereits eingangs zugerufen: Als Dialogmarketingprofi werden Sie niemals um Ihren Job bangen müssen. Das ist beruhigend für Sie. Doch generell bleibt die spannende Frage, welche Auswirkungen das Auseinanderklaffen der Schere zwischen Bedarf und Angebot haben wird. Nichts bleibt, wie es ist. Innovationen mit ihren Hypes und Lernkurven werden uns ständig begleiten. Die Frequenz wird weiter steigen. •] [email protected] SUMMARY p DIALOGMARKETING DER ZUKUNFT Die Digitalisierung verändert die Branche in nie dagewesener Geschwindigkeit. Unternehmen sollten nicht jedem Trend hinterherlaufen. Auch diese (angeblichen) Trends können schnell wieder passé sein.