Die stille Reserve

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Die stille Reserve
Handelsblatt vom 09.04.2015
Autor:
Seite:
Gillmann, Barbara/ Specht, Frank/ Hoppe, Till
006
Nummer:
Auflage:
Ressort:
Gattung:
Wirtschaft & Politik
Tageszeitung
Reichweite:
068
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Die stille Reserve
Viele Asylsuchende wären als Fachkräfte durchaus qualifiziert. Doch der Arbeitsmarkt sperrt
sich.
Barbara Gillmann, Frank Specht Berlin.
-- Unternehmen vermissen Planungssicherheit.
-- Wirtschaft mahnt mehr Sprachförderung an.
Flüchtling ist kein Beruf - der Slogan
prangt auf vielen Plakaten in Berlins
City. Der Senat und die Handwerkskammer werben damit für das Projekt
"Arrivo". In Workshops können junge
Flüchtlinge verschiedene Berufe ausprobieren, im Idealfall finden sie später
einen Praktikums- oder Ausbildungsplatz. Rund 50 Betriebe auf der Suche
nach Berufsnachwuchs beteiligen sich
an der Initiative.
Diese gelebte Willkommenskultur setzt
einen klaren Kontrapunkt zum Brandanschlag auf die fast bezugsfertige Asylbewerberunterkunft im sachsen-anhaltinischen Tröglitz. Denn angesichts der
alternden Bevölkerung und des drohenden Fachkräftemangels kann es sich
Deutschland gar nicht leisten, auf das
Potenzial von Flüchtlingen zu verzichten.
Gerade viele jugendliche Asylsuchende
seien sind nicht nur bereit, sondern auch
besonders motiviert, eine Ausbildung zu
absolvieren, sagt Arbeitgeberpräsident
Ingo Kramer. "Gerade für sie darf das
Asylverfahren keinen Lebensstillstand
bedeuten."
Aus Sicht der Wirtschaft ist Stillstand
jedoch oft eher die Regel als die Ausnahme - trotz bereits erfolgter Gesetzesänderungen. So dürfen Asylsuchende
und Geduldete inzwischen bereits nach
drei Monaten, und nicht erst nach bis zu
einem Jahr, eine Arbeit aufnehmen,
wenn sich für die Tätigkeit kein EUBürger findet. Leben sie länger als 15
Monate in Deutschland, entfällt auch
diese "Vorrangprüfung".
Unternehmen, die einen Flüchtling
beschäftigen oder ausbilden wollen,
fehlt allerdings die Planungssicherheit,
solange sie jederzeit mit einer Abschie-
bung rechnen müssen. In ihrer Ende
März veröffentlichten "Berliner Erklärung" setzen sich der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK)
und der Handwerksverband ZDH deshalb für eine weitere Beschleunigung
der Asylverfahren ein.
Auch die Bertelsmann Stiftung weist in
einer neuen Studie, die in Kürze veröffentlicht werden soll, auf den gewaltigen Antragsstau hin. So häuften sich
beim Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge (BAMF) Ende Januar fast
180 000 unbearbeitete Asylanträge.
"Diese hohe Zahl ist im europäischen
Vergleich ohne Parallele", warnt Studienautor Dietrich Thränhardt, Migrationsforscher von der Universität Münster. In der Praxis dauere der Prozess
vielfach Jahre.
Die per Gesetz erleichterte Arbeitsaufnahme werde damit von der Verwaltung quasi zunichtegemacht, weil weder
Asylbewerber noch potenzielle Arbeitgeber vernünftig planen könnten,
solange das Verfahren nicht abgeschlossen sei. Die Verantwortung für diesen
"Flaschenhals" bei der Integration trage
das Bundesinnenministerium.
Die langen Asylverfahren sind aber
nicht die einzige Hürde, die beim
Sprung auf den Arbeitsmarkt zu überwinden sind. In ihrer "Berliner Erklärung" fordern DIHK und ZDH zudem,
Asylbewerber stärker bei der Anerkennung ihrer Berufsabschlüsse zu unterstützen und mehr Sprachkurse anzubieten.
Hier gebe es noch "Förderlücken in
beträchtlichem Ausmaß", bemängelt der
Verwaltungsrat der Bundesagentur für
Arbeit (BA). So könnten Asylbewerber
oft nicht von der berufsbezogenen
Deutschförderung profitieren, die das
BAMF mit Mitteln des Europäischen
Sozialfonds organisiert. Denn ihnen
fehlten oft schon die Grundkenntnisse,
die Voraussetzung für eine Teilnahme
seien.
Dabei sind sich Wissenschaft und Wirtschaft einig, dass mehr Engagement für
die Integration von Flüchtlingen sich
lohnen würde. Denn von den Asylantragstellern - rund 300 000 werden für
das laufende Jahr erwartet - ist nach
Daten der Bundesagentur für Arbeit im
Schnitt jeder fünfte Akademiker und
jeder dritte Facharbeiter.
"Da ist also Arbeitskräftepotenzial zu
heben", sagt Hans-Peter Klös,
Geschäftsführer des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln. Das gilt umso
mehr, als es Deutschland immer noch zu
wenig gelingt, Zuwanderer aus Staaten
außerhalb der EU anzulocken. Wenn die
vielen Migranten, die derzeit aus den
Euro-Krisenländern hierherkommen,
irgendwann in ihre Heimat zurückkehren, wird sich die Fachkräftesituation
also dramatisch zuspitzen.
Auch deshalb seien der Brandanschlag
von Tröglitz und die verbreitete Fremdenfeindlichkeit ein gefährlicher Angriff
auf die Willkommenskultur, warnt der
stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks. Deutschland erarbeite sich langsam einen Ruf als offener
und attraktiver Standort: "Das dürfen
wir als Exportnation und globalisiertes
Industrieland nicht leichtfertig wieder
aufs Spiel setzen."
Gastkommentar Seite 56
ASYL WER DARF BLEIBEN?
Verfolgt "Politisch Verfolgte genießen
Asylrecht": So steht es kurz und prägnant in Artikel 16a des Grundgesetzes.
Die Betonung liegt dabei auf dem Wort
"politisch", denn wer aus anderem
Antrieb in Deutschland Zuflucht sucht,
Armut oder Perspektivlosigkeit etwa,
der hat keinen Anspruch auf Asyl. Im
besten Falle genießt er subsidiären
Schutz. Anerkannt 128 000 Asylanträge
bearbeitete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im vergangenen
Jahr, lediglich einem Viertel davon
wurde stattgegeben. Zählt man subsidiären Schutz und Abschiebeverbote aus
humanitären Gründen hinzu, steigt die
Quote auf knapp ein Drittel. Die übrigen sind aber nicht alle Wirtschaftsflüchtlinge: Ein Großteil der Anträge
wird abgelehnt, weil die Flüchtlinge
über einen sicheren Drittstaat einreisten.
Abgelehnt Mehr als jeder fünfte Asylantrag wurde 2014 von Bürgern aus den
Balkanländern gestellt - die Anerkennungsquote tendierte gegen null. Meh-
rere Staaten sind inzwischen als "sichere
Herkunftsländer" eingestuft. Seither
können die Anträge schneller abgelehnt
werden. Till Hoppe.
Deutschland: Asylanträge 2014 nach Herkunftsländern in Prozent (STAT / RANK / Tabelle)
Deutschland: Übergriffe auf Flüchtlinge 2015 und Anzahl genehmigter Asylanträge nach Bundesländern (STAT /
GEO / POL / Grafik)
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Notunterkunft in der Hamburger St.-PauliKirche: Die Länder fordern Hilfen.
Markus Matzel imagetrust
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