Prof. Dr. Birgit Herz

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Prof. Dr. Birgit Herz
Prof. Dr. Birgit Herz
Einführung: „An den Rand gedrängt“. Kinder und Jugendliche mit Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen in
Zeiten der Inklusion
Prof. Dr. Birgit Herz
„An den Rand gedrängt“. Kinder und Jugendliche mit Störungen des Sozialverhaltens und der
Emotionen in Zeiten der Inklusion
1. Das Recht auf Bildung und gewaltfreie Erziehung
Alle Kinder und Jugendliche haben in der Bundesrepublik Deutschland ein in der Verfassung
abgesichertes Recht auf Bildung und Erziehung, es besteht Schulpflicht. Die Qualität dieser
Erziehungs- und Bildungsangebote war und ist allerdings immer abhängig von den gesellschaftlichen
und sozioökonomischen Rahmenbedingungen, die die jeweilige Dominanzkultur vorgibt. Gleichwohl
bestehen national und international Standards für diese juridisch formalisierten Bildungs- und
Erziehungsrechte, wie sie bspw. in der UN-Kinderrechtskonvention konkretisiert oder im neuen
Kinderschutzgesetz der Bundesrepublik Deutschland 2012 in die Verfassung aufgenommen wurden.
Die UN-Kinderrechtskonvention wurde 1989 verabschiedet, 1990 von der Bundesrepublik Deutschland
unterzeichnet und 1992 mit Vorbehalt ratifiziert; dieser Vorbehalt wurde 2012 aufgehoben. Die
Kinderrechtskonvention umfasst 54 Artikel, wobei hier die zehn bedeutendsten Grundrechte
überblicksartig aufgeführt werden sollen:
- Das Recht auf Gleichbehandlung und Schutz vor Diskriminierung, unabhängig von Religion,
Herkunft und Geschlecht
- Das Recht auf Gesundheit
- Das Recht auf Bildung und Ausbildung
- Das Recht auf Freizeit, Spiel und Erholung
- Das Recht auf freie Meinungsäußerung und Beteiligung
- Das Recht auf gewaltfreie Erziehung und Privatsphäre
- Der Schutz im Krieg und auf der Flucht
- Der Schutz vor wirtschaftlicher und sexueller Ausbeutung
- Das Recht auf elterliche Fürsorge und ein sicheres Zuhause
- Das Recht auf besondere Förderung bei Behinderung (vgl. Amadeo Antonio Stiftung, 2011, S. 43).
Ich werde mich in meinem Beitrag insbesondere auf folgende drei Grundrechte beziehen:
- Das Recht auf Gleichbehandlung und Schutz vor Diskriminierung, unabhängig von Religion,
Herkunft und Geschlecht
- Das Recht auf Bildung und Ausbildung
- Das Recht auf besondere Fürsorge und Förderung bei Behinderung.
2. Das Recht auf Bildung und Ausbildung: Risiken der Mehrfachdiskriminierung
2. 1 Die Lebenslage Armut
Die Expertise des 11. Kinder- und Jugendberichtes über „Gesundheit und Behinderung bei
Heranwachsenden“ belegt den Zusammenhang zwischen sozialer Benachteiligung durch die äußeren
Lebensumstände (niedriger Sozialstatus, Armut, unvollständige Familien, schlechte Wohnverhältnisse,
Minderheitenstatus etc.), aber auch Unerwünschtheit, Vernachlässigung, Gewalt und Überforderung in
der Familie. Unter der Lebenslage Armut, d.h. unter den Bedingungen sozioökonomischer und
kultureller Benachteiligung, stellen sich kumulative Effekte ein, die das ohnehin bestehende
Gefährdungspotential biologischer, emotionaler und sozialer Risikofaktoren bei Säuglingen und
Kleinkindern noch erhöhen (vgl. Meier-Gräwe 2008). Diese sind nicht nur Auslöser für
Bildungsbenachteiligung, sondern beeinflussen das gesamte Selbstbild dieser Heranwachsenden. Bei
Ihnen dominiert die grundlegende Erfahrung, nicht oder nicht hinreichend anerkannt, geachtet und
respektiert zu werden. „Ihre Würde wird verletzt und Identitätsentwicklung wird beeinträchtigt“ (Krenz
& Klein 2013, S. 11). Dieses Anerkennungsdefizit ist u.a. mitbestimmend für vielfältige „Symptome“,
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wie bspw. Lernbeeinträchtigungen, Verhaltensauffälligkeiten oder, verbunden mit Gewalterfahrungen,
auch Pseudodebilität. Nur allzu oft sind die Eltern/ primären Bezugspersonen in ihrer
Erziehungsfunktion überfordert und „viele können sich aufgrund ihrer multiplen Belastungen nur
eingeschränkt um ihre Kinder kümmern, sie selbst blicken häufig auf eine wenig ermutigende
Bildungsgeschichte zurück“ (Ansen & Günther 2011, S. 114).
Nach Tilmann Lutz wächst „das Segment armer und vernachlässigter Kinder, erschöpfter Familien,
Obdachloser, Bettler, chronisch Kranker und Drogenabhängiger, die auf langfristige, bzw. dauerhafte
Unterstützung angewiesen sind“ (Lutz 2014, S. 21). So verwundert es nicht, dass auch in der Kinderund Jugendhilfe die überwiegende Zahl derer, die ambulante, teilstationäre oder stationäre Hilfen zur
Erziehung in Anspruch nehmen, in der Lebenslage Armut sozialisiert werden. Nach einer Studie des
Deutschen Jugendinstituts in München gilt die Gleichung: „Je ausgeprägter die Armutslagen in den
Kommunen sind, desto höher ist in der Regel auch der Bedarf an stationärer Unterbringung im Kontext
der Kinder- und Jugendhilfe“ (DJI 2009/2010, S. 9). Diese vielfältigen Belastungsfaktoren sind
hinreichend empirisch belegt. Vor allem die psychische Deprivation führt in solchen Lebenslagen zu
einer „emotionalen Analphabetisierung“, die in der pädagogischen und therapeutischen Praxis
Eskalationsspiralen auslösen können.
In den Institutionen der formellen Bildung und Erziehung, bspw. in der Schule oder dem Kindergarten,
werden derart sozialisierte Kinder und Jugendliche schnell zu Außenseitern, weil sie den Verhaltensund Leistungsanforderungen in dem geforderten Maße nicht entsprechen können.
Vor allem in der Grundschule setzt bereits sehr früh ein Stigmatisierungsprozess ein, da
Leistungsversagen durch die Peergruppendynamik zusätzlich sanktioniert wird. So entstehen mit
Versagungsängsten auch Ängste vor sozialer Ablehnung und Ausgrenzung. Interaktive Prozesse der
Demütigung, der sozialen und emotionalen Ablehnung führen – zusammen mit institutionell
legitimierten Selektionsprozessen im Bildungssystem – zu einem Teufelskreis, der sich nicht nur
demotivierend auf schulisches Lernen auswirkt, sondern vor allem auch das Sozialverhalten sich und
anderen gegenüber nachhaltig negativ beeinflusst.
Dieser Teufelskreis zeigt sich in Schulabsentismus, in diffuser Unlust und abnehmender Neugier, in
Versagens- und Verlustängsten, Vandalismus und Mobbing, psychiatrischen Krankheitsbildern und
Delinquenz, sowie in allgemeiner Desillusionierung. (Zu) viele verlassen die Schule ohne Abschluss –
über 16 % (vgl. Jensen 2007, S. 432) oder werden auf der hierarchischen Bildungsleiter von oben nach
unten durchgereicht. Die erstrebten schulischen Bildungszertifikate rücken in unerreichbare Ferne (vgl.
Herz 2006; Herz & Czarnitzki 2008). Der neoliberale Umbau des Arbeitsmarktes mit seinen flexiblen
Beschäftigungsverhältnissen und prekären Arbeitsbedingungen tut das Übrige: Unter den dramatischen
Konkurrenzbedingungen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt sind diese Jugendlichen nicht oder
nur sehr schwer zu vermitteln; die Benachteiligtenprogramme der Arbeitsverwaltung und der
Jugendberufshilfe erreichen diese jungen Menschen oft gar nicht mehr, weil sie viel zu hochschwellig
sind (vgl. Heuer 2013).
So wächst nach Tilmann Lutz eine Ständegesellschaft neuer Ordnung, „da soziale Durchlässigkeit am
unteren Rand der Gesellschaft zunehmend eingefroren wird und eine Verfestigung von
Parallelgesellschaften zu erwarten ist“ (Lutz 2014, S. 21).
Mit den bisher Angeboten genügen schul- und sozialpädagogische Regeleinrichtungen den Bedürfnissen
von Heranwachsenden, die unter der Bedingung von Armut leben, nicht. Die Allgemeinbildenden
Schulen wiederum steigern derzeit ihre Leistungsanforderungen, gestützt auf eine bildungsprivilegierte
Elternschaft. Sie wirken Ausgrenzungsprozessen nicht entgegen, sondern verstärken sie. „Im
Mittelpunkt steht ein technologisches Verständnis von Erziehung und Bildung, das auf
„Verwertungswissen“ zielt“ (Willmann 2012, S. 138).
Aber auch in den expandierenden Feldern der Kinder- und Jugendhilfe sind Ausgrenzungsprozesse zu
verzeichnen, die auf einer veränderten Disziplinierungs- und Strafbereitschaft in der Sozialen Arbeit
zurückzuführen sind (vgl. Kessl 2011, S. 132).
2. 2 Institutionelle Diskriminierung und/oder individuelle Diskriminierung – Dilemmata der
Inklusionsrealität
Kein erziehungswissenschaftliches Thema dominiert derzeit in solchem Ausmaß die Fachdebatten wie
das Schlagwort Inklusion. Inklusion wird derzeit von Ministerien und Behörden bereitwillig genutzt, um
einerseits von der chronischen Unterfinanzierung des deutschen Bildungssystems abzulenken und um
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andererseits Nischen für weitere Sparmaßnahmen zu schaffen. Im deutschen Schulsystem herrscht keine
Bildungsgerechtigkeit. Die sozialen Ungleichheitsstrukturen bilden sich in seiner Viergliedrigkeit ab
und nichts deutet darauf hin, dass sich die Verfestigung dieser real existierenden sozialen
Ungleichheitsstrukturen innerhalb des Systems auflösen lässt.
Die Verschärfung des Leistungsprinzips, die effiziente Erhöhung der Produktivität und Rentabilität
sowie das Prinzip der Gewinnmaximierung stehen im Vordergrund der Interessen und dominieren alle
Politikfelder mit den entsprechenden Konsequenzen für den Erziehungs- und Bildungssektor. Diese
Entwicklung führt dazu, dass verstärkt ordnungspolitisch gerahmte Stile einer Quasi-Pädagogik und
Quasi-Sozialarbeit in den unterschiedlichen lebenslaufspezifischen Institutionen der sekundären
Sozialisation an Bedeutung gewinnen (vgl. Dahme & Wohlfahrt 2011, S. 216). Mit der
betriebswirtschaftlichen Durchstrukturierung und Neuordnung staatlicher Bildungs- und
Erziehungsinstitutionen im Prozess der Ökonomisierung (vgl. Lohmann 2010) sind vor allem folgende
Effekte verbunden:
- Senkung der Staatsausgaben;
- Anstieg sozialer Ungleichheit im Zugang zu Bildung;
- Verschärfung des Selektionsprinzips;
- Arbeitsintensivierung und
- Erhöhung des Leistungsdrucks.
Volker Bank stellt fest: „Es wird nicht mehr erzogen, um die gesellschaftliche Reproduktion sicher zu
stellen, sondern um die ökonomische Reproduktion zu garantieren oder deren Effizienz zu steigern“
(Bank o.J., S. 5).
Dabei ist für alle Akteure offensichtlich, wie groß das Spannungsverhältnis zwischen der
Inklusionspropaganda und der bildungsökonomisch-sozialen Realität derzeit ist. Ein politisch
affirmatives Inklusionsverständnis ignoriert, dass bspw. die Schule auslesen und nicht zusammenführen
soll – mit den entsprechenden Exklusionsrisiken, wie Schulversagen, Sonderbeschulung oder faktischem
Schulausschluss. Und von diesen Segregationsmechanismen betroffen sind vor allem Kinder und
Jugendliche mit Verhaltensstörungen, mit einer schwierigen Migrationsbiographie und in Armutslagen.
Die benachteiligenden Auswirkungen einer derartigen „Reformpolitik“ im trendigen Gewand der
Inklusion führt insbesondere bei Schülerinnen und Schüler mit Verhaltensstörungen dazu, dass deren
Förderbedarf aus Kostengründen geleugnet wird, so dass nur wenige dieser Kinder und Jugendlichen
und ihre Familien die notwendigen Hilfen erhalten (vgl. Opp 2008).
National wie international ist allerdings empirisch belegt, dass die Zuschreibung einer
Verhaltensstörung das schulische Exklusionsrisiko erhöht (vgl. Ellinger & Stein 2012). Die Tragweite
dieser Forschungsbefunde wird vor allem dann deutlich, wenn bspw. exemplarisch die Prävalenzraten
über emotionale und soziale Entwicklungsbeeinträchtigungen in Kindertageseinrichtungen verdeutlicht
werden: gut 21% aller Kinder können im emotionalen Verhalten als auffällig beschrieben werden und
knapp 20% zeigen keine altersangemessenen sozialen Kompetenzen (vgl. Agi, Hennemann &
Hillenbrand 2010). Diese Zahlen verdeutlichen die hohe Vulnerabilität, die klar zeigt, dass geeignete
pädagogische und therapeutische Unterstützung und Entwicklungsförderung gerade für diese
Altersgruppe notwendig sind. Bezieht man die enorme bundesweite Steigerungsrate allein bei der
stationären Unterbringung bei den unter Sechsjährigen um 54% zwischen 2005 und 2009 ein, so wird
die Dimension des professionellen Handlungsbedarfes an außer- und vorschulischer Prävention und
Intervention deutlich. Dieser wird – aller Inklusionspropaganda zum Trotz – allerdings politisch
ignoriert.1
Der Mangel an ausreichenden Angeboten im Elementarbereich setzt sich bei der schulischen Förderung
fort. Für das heterogene Spektrum von emotionalen Anpassungsproblemen, psychosozialen
Auffälligkeiten, seelischen Beeinträchtigungen und Belastungsfolgen aufgrund dysfunktionaler
Familiensysteme stehen zwar unterschiedliche institutionelle Förder- und Unterstützungssysteme im
Kontext von Regel- und Förderschule, Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie mit
1
„Die gesundheitlichen und sozioökonomischen Belastungen der Familien und ihrer verhaltensauffälliger Kinder werden im Vorschulalter zu wenig beachtet und durch Familienunterstützung und Frühförderung in zu geringem Maße zu kompensieren versucht“
(Preuss-Lausitz & Textor 2006, S. 7).
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ihren je spezifischen Professionen zur Verfügung (vgl. Stein 2011) – die allerdings insgesamt als nicht
bedarfsgerecht einzuschätzen sind.
In Verbindung mit der ohnehin bereits bestehenden Unterversorgung an schulischen und
außerschulischen Unterstützungsangeboten entwickeln sich zunehmend neue stigmatisierende Etikette
(„Unerziehbarkeit“; „Austherapiert“; „Erziehungsresistent“) und es werden unter Kostendruck und
Effizienzdenken Hilfeleistungen, bspw. durch die Kinder- und Jugendhilfe, vorenthalten (vgl. von
Wolffersdorff, 2009). So stellt Stefanie Albus fest, dass seit den 1990er Jahren die Erzieherische Hilfen
als Experimentierfeld neoliberaler Steuerungsmodelle genutzt werden. 2
Das Recht auf besondere Fürsorge und Förderung bei Behinderung wird nur noch dort verwirklicht, wo
auch ausreichende Ressourcen vorhanden sind, wo „input“ und „output“ durch Trägerinteressen und
Leitungshandeln nicht im Widerspruch stehen. Gelingt diese Balance nicht, oder wird bspw. bedroht
durch unflexible Ziel- und Leistungsvereinbahrungen, so hat dies entsprechende Konsequenzen für das
Kind oder den Jugendlichen. Zeit oder Personal beanspruchende Pädagogik wird daher bspw. gerne
durch vermeintlich schnell einsetzbare und kostengünstige „evidenzbasierte“ Trainingsprogramme
ersetzt. Solche Trainingsprogramme versprechen nämlich, komplizierte und komplexe pädagogische
Problemlagen konfliktfrei und relativ preiswert zu lösen. Mit diesem Versprechen werden Kinder und
Jugendliche jedoch auf vermessbare triviale Maschinen reduziert (vgl. Ahrbeck 2014, S. 44). Mit Bezug
zur spezifischen Gruppe von Kindern und Jugendlichen mit Erziehungshilfebedarf besteht eine gewisse
Zuspitzung im Fachdiskurs und in der Alltagspraxis, wo der enorme Erziehungshilfebedarf aufgrund je
unterschiedlicher Problemlagen offensichtlich nicht mehr wahrgenommen oder mit ordnungspolitisch
legitimierter Kontrollpädagogik nur noch strategisch verwaltet wird.
Zusätzlich vernachlässigt die Verengung der Inklusionsdebatte auf schulstrukturelle Fragen die realen
Effekte gesellschaftlicher Exklusionsprozesse auf Bildung und Erziehung, die für viele Schülerinnen
und Schüler faktisch Segregation in Förderschulen und suboptimale Förderung in der inklusiven
Regelschule bedeuten. Was derzeit in der Bundesrepublik mit Parolen wie „Reform“ oder „Innovation“
von BildungspolitikerInnen auf den Weg gebracht wird, sind „Als-ob-Handlungen“, wo alte schulische
Strukturen aufgelöst werden und neue „Inklusionsetikette“ vergeben werden. Die Aufgabe, eine
inklusive Schulentwicklung voranzutreiben, steht vor allem unter erheblichem fiskalischen Druck;
Deckelung und Budgetierung von Ressourcen werden als Kostenbremse genutzt. So werden fachliche
Standardabsenkungen durchgesetzt, was zu einer strukturellen Überforderung des Personals und zu einer
massiven Arbeitsverdichtung bei den LehrerInnen der Regelschule führt (vgl. Mettlau 2013). Allerdings
wird hier gerne eine „Anleihe“ bei den Ressourcen der Kinder- und Jugendhilfe gemacht, die
bereitwillig die Kosten bspw. für Integrationshelfer tragen soll. Hier findet eindeutig eine Verschiebung
der Finanzierungsbedarfe statt.
Die Kommunikatoren dieser staatlichen Bildungspolitik kreieren allerdings gleichzeitig wohlklingende
Euphemismen. So erklärte Aart Pabst, derzeit Sprecher der Kultusministerkonferenz und Hamburger
Oberschulrat im Ruhestand, im September 2014 auf dem Kongress der Sektion Sonderpädagogik in der
Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft Inklusion als einen „Pädagogischen
Hypothesenraum“. In diesem „pädagogischen Hypothesenraum“ zeichnet sich bereits jetzt ab, dass vor
allem ökonomisch benachteiligte RisikoschülerInnen mit hohem Bedarf in der emotionalen und sozialen
Entwicklung als „Schwierige“ an die stationären Angebote der Kinder- und Jugendhilfe und/oder der
Psychiatrie weitergereicht oder in sog. „Geschlossener Unterbringung“ über freiheitsentziehende
Maßnahmen einer Verhaltenskorrektur unterzogen werden (vgl. Herz 2012b).
„Wie einige Beispiele in Deutschland zeigen, führt die Abschaffung der Sonderschulen nicht
automatisch zu einer integrativen Schulpraxis. Vielmehr scheint das Schulsystem angeregt zu werden,
neuartige Ausweichstrategien zu entwickeln. So ist es beispielsweise ein offenes Geheimnis, dass die
Nichtverfügbarkeit von Erziehungshilfeschulen in Hamburg und Berlin dazu führt, dass ein Teil der
Schüler mit emotional-sozialem Förderbedarf an die Erziehungshilfeschulen des Umlandes abgegeben
werden“ (Willmann 2012, S. 156).3
2
„Angefangen bei (Teil-)Privatisierungen öffentlicher Erziehungshilfeangebote … über die Implementierung betriebswirtschaftlicher Kunden- und Organisationsmodelle, bis zur (wirkungsorientierten) Steuerung durch Kennzahlen und Berichtspflichten, wurden in den letzten zwei Jahrzehnten vielfältige Reorganisationsversuche der Erzieherischen Hilfen unternommen“
(Albus 2010, S. 480).
3
Im Kontext der inter- und intrainstitutionellen Delegation dieser Gruppe mit ihrem hohen Erziehungshilfebedarf verfestigt sich
zudem der Trend zur Normalisierung von Strafe. Exemplarisch sei hier auf den Missbrauch des Trainingsraumkonzeptes in vie len Schulen hingewiesen (vgl. Bröcher 2011).
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Zusammenfassung
1.
Die individuelle (bspw. durch Prekarisierung) und institutionelle (bspw. durch die Inklusionsrealität)
Diskriminierung sind vor allem real für alle Kinder und Jugendliche in schwierigen, risikobelasteten
Lebenslagen. Ihre vitalen Interessen und berechtigten Ansprüche auf Teilhabe, Partizipation,
Unterstützung und Förderung bei Beeinträchtigungen in der emotionalen und sozialen Entwicklung
werden an den Rand gedrängt.
2.
Mit der konsequenten Individualisierung sozialstrukturell verursachter Probleme, einem Wettbewerb
zwischen und innerhalb schulischer und außerschulischer Leistungserbringern, einer
deprofessionalisierenden Instrumentalisierung der Pädagoginnen und Pädagogen und eines
technizistischen Problemlösemanagements von Eskalationsspiralen kann von einer glaubwürdigen
Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention nicht gesprochen werden.
3.
Auch die konsequente Verwirklichung von Beteiligungsrechten scheitert an politischen Interessen,
institutionellen Zwängen und einer durchgängigen Orientierung an betriebswirtschaftlichen Konzepten
(vgl. Gadow, Peucker, Pluto & Seckinger 2011, S. 157).
3. Schulische und außerschulische Erziehungshilfe: Grundlagen einer humanen Erziehungs- und
Bildungskultur
Der bisherige im Hinblick auf Kinderrechte, Bildungs- und Erziehungsökonomie und Inklusionsrealität
vorgestellte Befund ist durchaus hilfreich, um über diese Analyse der gesellschaftspolitischen
Rahmenbedingungen der konkreten pädagogischen Praxis, die Hindernisse, Schwierigkeiten und
Zumutungen im konkreten Alltag vor Ort zu verstehen; nicht nur, um fachpolitische Positionen zu
entwickeln, sondern v.a. auch, um einen persönlich Standpunkt zu beziehen. Schulische und
außerschulische Erziehungshilfe und die Pädagogik bei Verhaltensstörungen ist, in Anlehnung an Marc
Willmann, zugleich Interventions- und Reflexionspädagogik (vgl. Willmann 2012, S. 151).
Sie ist aber aus meiner Sicht vielmehr noch eine Emotionspädagogik mit Kindern, Jugendlichen und
deren primären Bezugspersonen; sie ist nämlich ganz zentral konfrontiert mit den emotionalen
Dimensionen von Ausschluss, Stigmatisierung und Diskriminierung. Hier findet vor allem auch die
Frage nach dem fachlich und menschlich Leistbaren in der schulischen und außerschulischen
Erziehungshilfe mögliche Antworten.
Professionelle in (Sonder-)Schulen, in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, der Kinder- und
Jugendpsychiatrie, der Jugendberufshilfe, u.ä. sind als Funktionsträger und Personen mit diesen
Dilemmata mit all ihren Ambivalenzen, Widersprüchen, Überforderungen und Zynismen konfrontiert.
Die großen Herausforderungen, die diese Zielgruppe der sozial Benachteiligten mit
Verhaltensauffälligkeiten an uns alle stellt, können vor allem im Hinblick auf die hier präzisierte
Zeitdiagnose nur dann fachlich sinnvoll bewältigt werden, wenn wir anfangen,
- eine gemeinsame Sprache zu finden,
- Ressortgrenzen zu überschreiten,
- neue Formen der Kooperation und Netzwerkbildung zu entwickeln und
- die politischen Dimensionen immer wieder zu reflektieren bereit sind.
Nur so lassen sich glaubwürdige Wege beschreiten, um solche Individuums bezogene Hilfe- und
Unterstützungsformen vorzuhalten, die nicht prioritär durch die Verwaltungslogik institutioneller
Systeme bestimmt werden! Gleichzeitig bleibt auch unmissverständlich festzustellen, dass sich die
genannten Widersprüche nicht harmonisieren lassen. Damit befinden wir uns nicht unweit von der
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Situation eines Sysiphos, dessen Schicksal zwischen Verheißungen und Zumutungen festgeschrieben
war.
Als Erziehungswissenschaftlerin geht es mir vor allem um die Gelingensbedingungen des Aufwachsens
von Kindern und Jugendlichen in einer ambivalenten und leistungsoptimierenden Gesellschaft, wo
bereits Säuglinge nach der Geburt in Kliniken dank eines „Easy Listening Programms“ stressresistent,
kommunikativ und globalisierungskompetent optimiert werden können (vgl. SZ, 10/2010, in: Krenz &
Klein 2013, S. 15). Kinder brauchen zugewandte Erwachsene, sie brauchen den Umgang mit
Gleichaltrigen, um ihre Stärken und Potentiale entdecken und entfalten zu können. Und Kinder und
Jugendliche mit Beeinträchtigungen in der emotionalen und sozialen Entwicklung brauchen
Lehrpersonen und PädagogInnen, die ein Fundament für soziales Lernen zu schaffen in der Lage sind.
Ein solches Fundament muss eingebettet sein in förderliche Rahmenbedingungen im eigenen
Arbeitsumfeld; Rahmenbedingungen, die einem humanistischem Menschenbild verpflichtet sind. Ein
solches Menschenbild erlaubt, die neuen Mythen in Institutionen der sekundären Sozialisation, die das
linear-kausale Denken anpreisen, die keine Umwege erlauben, oder die der Ideologie des ‚aktivierenden
Sozialstaats“ folgen, kritisch in Frage zu stellen.
Wie können also schulische und außerschulische Erziehungshilfe wirksam unterstützen?
Eine humane Erziehungs- und Bildungskultur erfordert eine persönliche, fachliche, institutionelle und
politische Verantwortung innerhalb verschiedener Bezugssysteme. Dies ist ein hochkomplexer Prozess,
der auch entscheidend davon abhängt, die eigene Subjektivität ebenso ernst nehmen zu können wie die
Subjektivität der Klientel. Nur so gelingt Autonomie, nur so gelingt eine dialogische Pädagogik, die auf
dem „Recht des Kindes auf Achtung“ (Korczak) basiert. „Die Anerkennung dieses Recht des Kindes auf
Achtung“ erlaubt eine pädagogische Haltung, gewissermaßen eine Folie für die eigene Anerkennung als
Professionelle. Sie ist emotionspädagogisch eine grundlegende Voraussetzung, um bspw. mit Grenzen
und Grenzsetzungen in der schulischen und außerschulischen Erziehungshilfe professionell umgehen zu
können.
Ich spreche hier bewusst von Grenzsetzungen und nicht von Disziplinierung, weil die bewusste
Grenzsetzung ein komplexer Vorgang ist: Wie begegnen wir diesen Grenzen, wo weichen wir aus, was
ignorieren und verdrängen wir, was macht es so schwer, hier als Pädagoge und Person involviert und
zugleich distanziert professionell zu arbeiten? Warum verleitet uns linear-kausales Denken zu einer
scheinbar entlastenden Komplexitätsreduktion? Die Antwort liegt in jedem von uns selbst: Wir
bewältigen unbewusst die Scham vor den eigenen Gefühlen der Hilflosigkeit, der Angst und der
Ohnmacht, aber auch der Wut und des Ärgers; Gefühle, die die zwangsläufig in den
Gegenübertragungsprozessen entstehen und in aller Regel abgewehrt werden.
Diese Abwehr unserer Emotionen ist ein energetisch aufwendiger und unbewusster Selbstschutz. Auch
dies erklärt u.a. die Attraktivität der marktgängigen Trainingsprogramme. Sie geben nämlich vor, zu
entlasten, Ordnung in das (emotionale) Chaos zu bringen – um den Preis inhumaner und
undemokratischer Ritualisierungen und Disziplinierungen. Erst die bewusste Konfrontation mit unseren
eigenen Gefühlen eröffnet hier neue Möglichkeitsräume und Handlungsoptionen in Prozessen des
involviert Seins in die oftmals heftigen Gefühle der Kinder und Jugendlichen.
Denn Kinder und Jugendliche aus schwierigen Lebenssituationen reinszenieren ihre seelischen Nöte in
der pädagogischen Praxis und gerade insbesondere dann mit Professionellen, wenn ihr emotionaler
Dialog
durch
biographische
Katastrophenerfahrungen
entgleist
ist.
Ihre
erlittenen
Grenzüberschreitungen und die damit verbundenen Ohnmachts- und Hilflosigkeitsgefühle werden mit
erwachsenen Bezugspersonen in Institutionen (unbewusst) in Szene gesetzt. Kinder und Jugendliche mit
Gewalt- und Vernachlässigungserfahrungen werden nämlich alles versuchen, die Schrecken ihrer
Biographie stellvertretend mit uns Erwachsenen zu wiederholen. Gerade weil diese ihre schwierigen
lebensgeschichtlichen Erlebnisse reinszenieren, ist die Reflexion des professionellen Handelns auf der
Grundlage tiefenhermeneutischen Verstehens unverzichtbar, um in der pädagogischen Beziehung ohne
erniedrigende oder entwertende Ohnmachtspiralen alternative emotionale Erfahrungen zu ermöglichen
(vgl. Herz & Zimmermann 2014).
Gerade hier brauchen die pädagogisch Professionellen selbst förderliche Rahmenbedingungen, um
diesen hohen Anforderungen an die eigene personale Belastbarkeit gerecht zu werden, etwa durch
Intervision, Supervision und kollegiale Krisenberatung, überschaubare Klassengrößen und
bedarfsgerechte Fallverantwortung. Hierdurch können sich Reflexionsprozesse verstetigen, die erst in
die Lage versetzen, die Funktionen und Aufgaben eines „Lern- und Lebensbegleiters“ bei Kindern und
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Zeiten der Inklusion
Jugendlichen mit Erziehungshilfebedarf kompetent auszuüben. Bindungsangebote, Vertrauen,
Wertschätzung, Anerkennung, Fürsorge und Zuversicht sind immer mit emotionalen
situationsspezifischen Energien verbunden, die auf solche förderlichen Rahmenbedingungen
unabdingbar angewiesen sind.
4. Abwehr- und Spaltungsprozesse: Bewältigungsversuche bei Überforderung und Selbstzweifel
Populäre Trainingsprogramme versprechen, die Bedrohung der eigenen psychischen Balance
abzuwenden. Ein hier extremes aktuelles Beispiel ist das Programm „Bei STOPP ist Schluss. Werte und
Regeln vermitteln“ der Autoren Grüner und Hilt (2008) für die Klassen 1-10. Es ist Teil des von den
Autoren entwickelten Fortbildungs- und Schulentwicklungsprogramms „Konflikt-Kultur“. LehrerInnen
werden Methoden empfohlen, die einen „effektiven“ und „störungsfreien“ Unterricht „mit möglichst
wenig Kraftaufwand“ möglich machen sollen (Grüner & Hilt 2008, S. 3). Um „effektiv“ unterrichten zu
können, sollten LehrerInnen ihre Illusion aufgeben, dass Schule ein „Wohlfühlort für alle“ sein könne
(Grüner & Hilt 2008, S. 8). Man solle nicht länger an „sich selbst zweifeln“ und den SchülerInnen
„etwas vormachen“ – sondern endlich zu einer Pädagogik finden, die dem „erlebten Zwangscharakter“
und dem „Selektionsauftrag“ der Schule gerecht werden würde (Grüner & Hilt 2008, S. 9).
Wer das Programm nicht anwendet, riskiere „schwere und chronische Gesundheitsschäden“ (Grüner &
Hilt 2008, S. 6). „Wer gesund bleiben will, tut gut daran, die Regeln des Zusammen-Arbeitens
gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen zu entwickeln und mit einheitlichen Konsequenzen für
Regeleinhaltung und Regelverstößen zu arbeiten“ (Grüner & Hilt 2008, S. 6). In einer plakativen,
simplifizierenden und suggestiven Sprache wird vermittelt, dass Unterricht von Seiten der Lehrperson
ohne emotionale Involviertheit möglich ist. Beide Autoren berufen sich auf die Selektionsfunktion von
Schule, deren absolut prioritäre Aufgabe Vergleichsprozesse sind (vgl. Grüner & Hilt 2008, S. 9; S. 82).
Lehrerpersonen werden in ihrer Selektionsaufgabe ermutigt und bestärkt. Das eindeutige
Legitimationsargument hierfür liefert die „genetische Ausstattung“ (Grüner & Hilt 2008, S. 9), bzw. die
„bio-psycho-soziale Ausstattung“ (Grüner & Hilt 2008, S. 77) auf der Grundlage „unveränderbarer
Schichtzugehörigkeit“ (Grüner & Hilt 2008, S. 9), was den Ausschluss dieser Kinder aus der
Klassengemeinschaft legitimiert (vgl. Grüner &nd Hilt 2008, S. 77f).
Die Autoren empfehlen sogar den systematischen Ausschluss von Kindern mit folgenden Eigenschaften:
1. „Es gibt Schüler, die einfach „fertig“ mit der „Welt“ und „sch...“ auf die Schule“ … Manche Schüler
sind an einen Erwachsenen gebunden, der mit der Rolle des „Versagers“ oder „Verbrechers“
identifiziert ist und „wollen“ genauso werden wie dieser. Diese Schüler, die schon früh in ihrem Leben
„fallen gelassen“ wurden, sind wie alle auf der Suche nach Halt und Sicherheit. In diesem Fall allerdings
außerhalb oder am Rande der Gesellschaft. Und da Schule ein Teil der verhassten Gesellschaft ist, tun
diese Schüler alles um „rauszufliegen“. Manche finden Halt im kriminellen Milieu. Manche in
rechtsradikalen Ideologien. Manche in Sekten. Und für manche endet die Suche nach Halt im Gefängnis.
…
2. Es gibt Schüler, die leiden mehr als andere unter den Verbindlichkeiten der Schule. Es sind oft extrem
individualistische und freiheitsliebende Schüler, die häufig eine kreative, manchmal auch „verrückte“
Ader haben. … Sich etwas oder jemanden unterzuordnen erlebten diese Schüler als Angriff auf ihre
Person und Freiheit.
3. Eine kleine Gruppe von Schülern ist mit der Schule so unterfordert und die damit verbundene
Langeweile ist so unerträglich, dass auch sie im Unterricht immer wieder „negativ auffallen“, sei es
durch Depression oder Aggression. Es sind die Hochbegabten. … In all diesen Fällen ist die „normale“
Schule kein guter, heilsamer und hilfreicher Ort für die betreffenden Schüler“ (Grüner & Hilt 2008, S.
77). Grüner und Hilt (2008) argumentieren, dass Schule, wie sie gegenwärtig konzipiert ist, nur eine
gewisse „Bandbreite“ vertrage und nicht allen Schülern den nötigen Halt, die nötige Freiheit oder die
nötige Förderung geben können (vgl. Grüner & Hilt 2008, S. 77). Dies sind vor allem Schüler, die
wollen, aber nicht können: „… Schüler, die nicht „können“, verfügen nicht über die notwendigen biopsycho-sozialen Voraussetzungen für soziales Verhalten. Sie zeigen beispielsweise klinisch relevante
Entwicklungsstörungen, hyperkinetische Störungen, emotionale Störungen, Bindungsstörungen oder
andere Verhaltensstörungen“ (Grüner & Hilt 2008, S. 78).
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Zeiten der Inklusion
Diese „Klinifizierung“ von Kindern entlastet vordergründig gestresste LehrerInnen; die in „Bei Stopp ist
Schluss!“ systematisch angelegte Exklusion bemüht sich dementsprechend erst gar nicht, das Recht auf
inklusive Bildung überhaupt in den Blick zu nehmen (vgl. Herz & Müller 2014).
Das Befolgen der Unterrichtsregeln wird in der Klasse/Schule öffentlich dokumentiert; wem die
Einhaltung der zahlreichen Unterrichtsregeln nicht gelingt, der wird vor der Klasse bloßgestellt. Das
Kernstück der „Regeln des Zusammen-Lebens“ ist der sogenannte Klassenrat. In diesem Gremium
sollen SchülerInnen sich gegenseitig bewerten und „prosoziales Verhalten“ belohnen und „regelwidriges
Verhalten“ bestrafen (Grüner & Hilt 2008, S. 94). Dafür schlagen Grüner und Hilt u. a. vor, von den
SchülerInnen anonym Karteikarten ausfüllen zu lassen, auf denen sie aufschreiben sollen, wer sich – aus
ihrer Sicht – an die Regeln gehalten hat und wer nicht. Wer mehrfach genannt wurde, sich nicht an die
Regel gehalten zu haben, muss sich danach einem Gespräch mit dem Lehrer stellen, wozu sich alle
SchülerInnen in einen Stuhlkreis setzen sollen. Der bezichtigte Schüler wird von dem Lehrer mit seiner
mangelnden Einhaltung der Regeln konfrontiert. Der Schüler bekommt daraufhin „die Chance“ sein
Verhalten zuzugeben – er darf sich dabei allerdings nicht erklären oder anderweitig Stellung beziehen
(Grüner & Hilt 2008, S. 99).
Wenn er sein Verhalten nicht sofort und allumfassend „ehrlich“ zugibt, sollen ihm seine
MitschülerInnen „Feedback“ geben: Alle im Kreis sitzenden Kinder sollen das Verhalten des
Betroffenen verbal kritisieren. Der Lehrer soll vorher mit einer präzisen Regieanweisung klarmachen,
dass jetzt nicht der Zeitpunkt ist, den Betroffenen „zu schonen“ (Grüner & Hilt 2008, S. 100).
SchülerInnen, die sich aus der Sicht ihrer MitschülerInnen nicht regelkonform verhalten haben, sollen so
von der Gruppe öffentlich an den Pranger gestellt werden – ohne Chance sich zu erklären, zu verteidigen
oder der Situation entfliehen zu können. Wer dagegen von den Kindern benannt wurde, sich gut an die
Regeln zu halten, soll mit Applaus und anerkennenden Worten bedacht werden (Grüner & Hilt 2008, S.
102).
Mit dem Versprechen, dass die Anmeldezahlen in Schulen, die mit dem Programm von Grüner/Hilt
arbeiten, steigen (vgl. Grüner & Hilt 2008, S. 57) wird den Schulleitungen ein Wettbewerbsvorteil
suggeriert, der offenbar grundgesetzlich verankerte Rechte außer Kraft zu setzen erlaubt (vgl. Herz und
Heuer 2014). Schulleitungen können sich von den „Verlierern“, durch dieses Programm geadelt, trennen
und gleichzeitig auf „Wunder“ hoffen: „Obwohl in manchen Fällen ein „Scheitern“ nicht verhindert
werden kann, erleben wir doch immer wieder wahre „Wunder“, wenn in Schulen konsequent und
wertschätzend mit Regeln gearbeitet wird. So genannte „hoffnungslose Fälle“, die von anderen Schulen
mit dem Etikett „Schwerverbrecher“ oder „unverbesserlich“ übergeben werden, entpuppen sich als
„Hoffnungsträger“. Schüler mit dem Etikett ADHS kommen plötzlich mit den Regeln klar“ (Grüner &
Hilt 2008, S. 79).
5. Schlussfolgerungen und Ausblick
Dieses Fortbildungsprogramm zeigt überdeutlich, zu welchen Deformierungen eine unter
Ökonomierungsdruck stehende Bildungspolitik „in Zeiten der Inklusion“ führt: Sie verleitet zu
vordemokratischen pädagogischen Praxen und verstärkt Exklusionsprozesse. Damit einher geht eine
Ignoranz gegenüber allen bisher empirisch gesicherten Erkenntnissen der Integrationspädagogik, der
Entwicklungspsychologie, der Bindungstheorie und der Peergruppenforschung.
Im Kontext einer psychoanalytisch orientierten Erziehungswissenschaft, die diese hierdurch ausgelösten
und beförderten psychodynamischen Prozesse im dialektischen Spannungsverhältnis von Inklusion und
Exklusion analysiert, werden vor allem zwei Phänomene bedeutsam: Abwehr von Grenzerfahrungen in
der pädagogischen Praxis und Spaltungsprozesse auf mehreren Ebenen.
Es sind gerade die Grenzerfahrungen mit schwierigen SchülerInnen, die professionelle Selbstreflexion
unabdingbar erforderlich macht (vgl. Winninger 2012; Herz 2013a). Statt sich mit der angstbesetzten
inneren Realität bewusst und zeitlich angemessen zu konfrontieren, werden diese Emotionen über
institutionell verankerte Ritualisierung abgewehrt. Aber ohne einen subjektbezogenen Zugang zum
emotionalen Geschehen im Klassenzimmer, zu all den Verstrickungen, Widersprüchen und
Ambivalenzen – u.U. auch mit KollegInnen und Dienstvorgesetzten – bleibt es bei einem scheinbar
rational begründeten Verhaltensmanagement an der Oberfläche, das Exklusionspraktiken legitimiert
(vgl. Herz & Zimmermann 2014). Mit dieser Form der Selbstschutzmechanismen gehen gleichzeitig
massive Spaltungsprozesse einher, die die Dichotimisierungen in „gute“ und „schlechte“ SchülerInnen,
Prof. Dr. Birgit Herz
Einführung: „An den Rand gedrängt“. Kinder und Jugendliche mit Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen in
Zeiten der Inklusion
in „Erfolgreiche“ und „Verlierer“ erlauben. Sie versprechen Eindeutigkeit, Überschaubarbarkeit und
Orientierung in der durch vielfältige Antinomien und Widersprüche bestimmten pädagogischen Praxis.
Die Lehrperson spaltet ihre eigenen Versagensängste ab, fühlt sie nicht dank emotionaler Anästhesie; in
der darwinistischen Lesart dieses Dressurprogramms wähnt sich die Lehrperson sicher vereint in der
Gruppe der „Guten“ und der „Leistungsträger“ und erfährt eine Statusaufwertung.
Diese psychodynamischen Nebenwirkungen der derzeitigen Inklusion „light“ verweisen auf massive
Professionskonflikte bei der Beschulung der sog. Inklusionstauglichen in der allgemeinbildenden
Regelschule. Vor allem im Kontext der sonderpädagogischen Förderbedarfe für Lernen, Verhalten und
Sprache führt die „entstigmatisierte Stigmatisierung“ (Weiss 2005, S. 195) aber auch zu hochkomplexen
Katastrophenerfahrungen von Kindern und Jugendlichen.
Die schulische und außerschulische Erziehungshilfe als Interventions-, Reflexions- und
Emotionspädagogik
leistet
einen
entscheidenden
Beitrag
für
die
Stärkung
der
Lebensbewältigungskompetenz von Heranwachsenden in diesen schwierigen Lebenslagen. Sie steht vor
dem Dilemma, das Recht auf Bildung und Erziehung gerade auch für Kinder und Jugendliche in
schwierigen Lebenslagen glaubwürdig und nachhaltig zu verwirklichen. Ihre fachlichen Standards in
Sonder- und Sozialpädagogik sind hinreichend bekannt. Wo diese betriebswirtschaftlichen Kalküle
geopfert werden, reduziert sich das Unterstützungspotential der schulischen und außerschulischen
Erziehungshilfe auf Bilanzen – und damit auf Zahlen und zu Zählendes.
Die schulische und außerschulische Erziehungshilfe ist das zentrale Kristallisationsfeld, in dem die
hieraus resultierenden Verschärfungen in ihren unterschiedlichen pädagogischen Arbeitsfeldern zu
massiven Einschränkungen führen und rein verwaltungstechnisch nicht mehr zu managen sind. Auch die
ökonomischen Interessen verpflichtete öffentliche Kritik an einem „Technologiedefizit“ der Pädagogik
übersieht geflissentlich, dass sich die Praxis der schulischen und außerschulischen Erziehungshilfe in
jeder Hinsicht von postindustrieller Warenproduktion unterscheidet.
Denn Professionelle in Bildung und Erziehung brauchen hier nämlich vor allem auch Zeit, Zeit um
- solche Widersprüche und Antinomien zu entdecken und zu klären,
- Marktstrategien und Platzierungskämpfe wahrzunehmen, um eine eigene Position zu finden,
- sich auseinandersetzen zu können – mit sich und anderen,
- Entscheidungen zu tragen, zu korrigieren, aber auch umzusetzen,
- Standpunkte fachlich begründet zu vertreten,
- Verantwortung für sich und Teammitglieder zu übernehmen,
- neue Handlungsstrategien auszuprobieren und zu überprüfen,
- Zugänge zu Stärken und Schwächen bei sich und anderen zu entdecken und konstruktiv zu nutzen.
Unter den hier skizzierten Dilemmata und den damit einhergehenden besonderen Herausforderungen an
Professionalität brauchen wir gleichsam als fundamentale Voraussetzung eine deutliche Stärkung der an
Erziehung und Bildung beteiligten Berufsgruppen – überspitzt formuliert: Grundrechte auch für
Pädagoginnen und Pädagogen!
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