Lotte und der Kapitätn S. 94-101

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Lotte und der Kapitätn S. 94-101
XXIV
A
ls Lotte am nächsten Morgen d ie H austü r öffnete, hörte
sie schon d as Gezeter. Mam a u nd Lea stritten sich in d er Küche.
Lotte seufzte. Bei Paul w ar es so schön gew esen. N ach ihrem
nächtlichen Abenteu er w aren sie noch lange au fgeblieben. Sie
hatten einfach nicht einschlafen können. Pau ls Mutter hatte
d as nicht gestört. Sie war nur einm al in Pau ls Zim m er gekom m en, u m gu te N acht zu sagen, d ann hatte sie sich nicht m ehr
blicken lassen. Dem entsprechend sp ät w aren sie am Morgen
aufgestand en. Jetzt ging es schon au f zehn Uhr zu .
“Ich verstehe nicht, w ieso d u m ir d ein Referat nicht zeigen
w illst!” Mam a klang empört. “Dass d eine Mu tter Deutschlehrerin ist, kann d och in d iesem Zusam m enhang nur von Vorteil
sein. Wir könnten alle Fehler gem einsam au sbessern.”
“Mam a, jetzt hör end lich auf zu nerven!”
Die Kü chentü r w u rd e aufgerissen, und eine w ü tend e Lea
stürm te heraus.
“Ich geh jetzt in d en Ort! H ier kann m an es ja nicht au shalten.”
“Ja, im Ort gibts echt coole Bu chhand lungen.” Oliver kam d ie
Trep pe heru nter sp aziert. “Eine d avon heißt ü brigens Lars.”
“Was soll d as heißen?” Mam a schoss aus d er Küche und schü ttelte Oliver an d en Schu ltern. “Was w illst d u d am it sagen?”
Oliver grinste nur und zuckte m it d en Achseln.
“Du verlässt unter keinen Um ständ en d ieses H au s, u nd ich
w ill au f d er Stelle d as Referat sehen.” Mam a versperrte Lea
d en Weg. “Und w er ist d ieser Lars?”
“Ich kann d ir d as Referat nicht zeigen”, sagte Lea kleinlau t.
Jetzt sah sie gar nicht mehr w ü tend aus, sond ern eher etw as
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ängstlich. “Es ist nicht fertig.”
“N a, d ann zeig m ir eben, w as d u bisher geschrieben hast.”
Mam a ließ nicht locker.
“Ich hab noch nicht so viel”, sagte Lea leise.
“Was soll d as heißen?” Jetzt roch Mam a, d ass etw as fau l war.
“Ich hab nu r eine Seite od er so.”
“Eine Seite?” Mam as Stim m e ü berschlug sich. “Was hast d u
denn d ie ganze Zeit gem acht? Du hast d och stu nd enlang in
deinem Zim m er gesessen und gearbeitet!”
Lea brach in Tränen au s u nd raste d ie Trep pe hinau f in ihr
Zim m er.
“H ans! H ans, kom m st d u m al!”, rief Mam a m it zitternd er
Stim m e.
“Oh, oh, d as gibt Ärger.” Oliver zw inkerte Lotte verschw örerisch zu .
Lotte schau te ihren Bru d er fragend an. “Woher w eißt d u von
Lars?”, Áüsterte sie.
“Man hat eben seine Quellen”, sagte er geheim nisvoll.
“Glaubst d u , d u bist d ie einzige, d ie hier Freu nd e hat?” Dam it
schlend erte er d avon.
Lotte hätte zu gern gew u sst, w as sich in Leas Zim m er gerad e
abspielte.
Die Eltern w aren hinauf gegangen u nd hatten d ie Tür zugem acht. Mehr als einzelne Wortfetzen konnte Lotte nicht verstehen. Dann hörte sie Lea m it zornig erhobener Stim m e sagen:
”Glaubt ihr allen Ernstes, Menschen in m einem Alter verbringen ihre Zeit in Buchhand lungen? Ihr seid echt aus d em letzten Jahrhund ert!”
“Eins haben w ir jed enfalls verstand en, an d einem Referat hast
du nicht gearbeitet!” Das w ar Papa. So w ü tend hatte Lotte ihn
nicht m ehr erlebt, seitd em sie heim lich bei Pau l gew esen w ar.
“Und d ass d u uns d ie ganze Zeit angelogen und d ich heim lich
m it d iesem Lars getroffen hast, haben w ir auch verstand en!
Ist so ein Verhalten jetzt m od ern? Dann bin ich d och lieber aus
dem letzten Jahrhu nd ert.”
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Das hörte sich nach einem entsetzlichen Krach an. Und d abei
hätte d ieser Urlau b so schön zu End e gehen können. Eigentlich w ar d och jetzt alles in Ord nung. Das H au s w urd e nicht
verkau ft, u nd jed e Ferien konnten sie w ied er herkom m en. Kap itän Krim son m u sste sich nicht m ehr ärgern u nd konnte au ch
hier w ohnen bleiben. Wo er w ohl gerad e steckte? Sie m u sste
ihm u nbed ingt d avon erzählen. Sie stürm te d ie Trep pe zum
Dachbod en hinau f und riss d ie nied rige w eiße Tü r au f.
Das erste, w as sie sah, w ar etw as kleines Rotes, d as d urch d ie
Luft w irbelte. Es zischte u nd fau chte w ie eine zornige Katze.
Kapitän Krim son saß ganz hinten an d er Wand , zusam m engekauert auf einem alten, verstau bten Kleid erschrank. Er hielt
sich d ie Ohren zu und hatte d ie Au gen fest zusam m engekniffen, so w ie Lotte es im m er tat, w enn es Ärger gab.
“Rotzp uschkim ”, sagte Lotte m it fester Stim m e, “w illst d u
d ich w ohl benehm en! Es gibt überhaupt keinen Grund m ehr,
so ungezogen zu sein.” Sie versuchte ein bisschen w ie Mam a
zu klingen, w enn sie ihre Schu lkind er zu rechtw ies. Vielleicht
konnte sie d en Kobold d am it ja beeind ru cken.
Rotzpu schkim sau ste au f sie zu, hü pfte vor ihr auf u nd ab u nd
schw ebte langsam zu Bod en. Er blickte sie frech an und streckte ihr d ie Zu nge rau s.
“Du w irst hier nicht m ehr gebraucht. H ast d u verstand en? Es
kom m en keine Makler m ehr u nd au ch keine and eren Leute,
w eil w ir d as H aus näm lich behalten”, fügte sie etw as ruhiger
hinzu.
“Kapitän Krim son, d u m usst jetzt aber auch m al w as sagen!”,
rief sie d em H äu fchen Elend au f d em Schrank zu. Der Kapitän
öffnete langsam d ie Au gen und richtete sich auf. “Algengrü tze
und WalÀschd reck! Das H au s w ird nicht verkau ft?” Er sp rang
m it einem Satz vom Schrank herunter. “Zollm op s u nd Zillenschlachter! Diese gu te N achricht m u ss gefeiert w erd en! Aber
vorher habe ich noch w as zu erled igen.”
Mit einem gew altigen Satz stü rzte er sich auf Rotzpuschkim .
Er packte d en roten Kobold am Kragen und schüttelte ihn.
“N ein! N icht! Lass ihn!”, rief Lotte verzw eifelt. Sie hatte an
diesem Tag schon genu g Streitereien erlebt. Aber in seinem
Zorn hörte d er Kap itän sie nicht. Er w arf sich au f Rotzpuschkim u nd begrub ihn unter sich. “Jetzt m ach ich Fischfutter aus
dir, d u H alu nke!”, schrie er.
Rotzpu schkim rollte sich zu einem kleinen roten Ball zusam m en und kullerte einfach unter d em Kap itän d avon. Dann
sauste er d u rch d ie Luft w ie eine w ild gew ord ene H um m el
und traf d en Kapitän an d er linken Schläfe. Au ßer sich vor
Wu t jagte d er Kapitän hinter ihm her. Alles ging so schnell,
dass Lotte es kaum verfolgen konnte. Plötzlich w ar von Rotzpu schkim nichts m ehr zu sehen.
“H icks”, m achte Kapitän Krim son u nd faselte u nverständlich:
“Ich glau be, ich habe ihn verschluckt. H icks. Jetzt brauche ich
unbed ingt einen Schlu ck Rum . H icks.”
Er schleppte sich zu einer verstaubten Kiste, kram te eine kleine Flasche hervor u nd setzte sie sich an d en H als.
“Kapitän Krim son, d u sollst nicht im m er Ru m trinken!”, erm ahnte Lotte ihn streng. “Wenn d u w illst, m ache ich d ir einen
Kräu tertee. Den trinkt d ie Mam a im m er, w enn sie …”
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“Filzlausgeschw ad er und Flottenforz! Kräutertee! Kom m m ir
nicht m it so w as, Deern! Ich brau ch jetzt einen anständ igen
Schluck.”
Der Kapitän griff w ieder nach d er Flasche. “Mir ist nicht gu t”,
brum m elte er schw ankend u nd m u rm elte w ied er: “Ich glau b,
ich hab ihn verschluckt, hicks.”
“Wen? Rotzp u schkim ?”, fragte Lotte entsetzt.
Der Kapitän taum elte zu seiner Pup p enw iege u nd ließ sich
auf d as Polster fallen. Lotte beu gte sich besorgt ü ber ihn. Der
Kapitän w ar bleich im Gesicht und raunte m it geschlossenen
Au gen: “N icht gu t, gar nicht gut.”
“Bleib einfach ganz ruhig liegen u nd w arte hier. Ich hole H ilfe”, sagte Lotte. Dann sauste sie d ie Trepp e hinu nter.
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W
„
ie kann so w as passieren?” Paul w ar im m er noch ganz
du rcheinand er, als er hinter Lotte her d ie Straße entlang hastete.
“Weiß ich nicht”, sagte Lotte atem los. “Er hat ihn irgend wie
verschlu ckt, u nd jetzt ist er krank.” Sie w ar d en ganzen Weg
zu Paul gerannt, und nun liefen sie zu rück zu ihrem H aus.
Frau Petersen hatte ihnen einen Korb m itgegeben, d am it sie
den kranken Kapitän zu ihr bringen konnten.
Als sie in d en H ausÁu r traten, w ar es ganz still. Was ist w ohl
au s d er Sache m it Leas Referat gew ord en, d achte Lotte, als sie
die Trep p e hinaufgingen. Vielleicht w ar ja alles w ied er gut.
Aber sie hatte jetzt keine Zeit, d arüber nachzu d enken.
Kapitän Krim son lag in seiner Wiege.
“Er ist ja ganz rosa”, sagte Pau l erstau nt, “u nd seine Mü tze
sieht ganz and ers aus.”
Statt seiner d u nkelblauen Kap itänskappe trug er eine rot-violette Zip felm ü tze, d ie ihm halb ins Gesicht geru tscht w ar.
“Oh je, er verw and elt sich in Rotzpu schkim !”, rief Lotte entsetzt. “Schnell! Wir m üssen ihn zu Frau Petersen bringen.
Hoffentlich w eiß sie, w as m an d a m achen kann.”
In Wind eseile hatten sie d en Kapitän in d en Korb gelegt und
w aren d ie Treppe w ied er hinu nter gesaust.
Frau Petersen saß an ihrem Kü chentisch u nd blätterte in einem
dicken Buch m it einem alten Led eru m schlag, d er am Rand m it
geheim nisvollen gold enen Schriftzeichen verziert w ar.
Als sie d ie Kind er sah, blickte sie au f. “Ich habe inzw ischen
ein p aar N achforschu ngen angestellt, u nd ich glaube, ich weiß,
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w as zu tu n ist. Ich habe euch ja neu lich schon gesagt, d ass ich
eine Id ee habe, w as w ir m it Rotzpu schkim m achen können.
Ich glaube, ich hatte recht d am it.”
“Wir m üssen u ns beeilen!”, rief Lotte. “Der Kap itän verw and elt sich in Rotzpu schkim . Er w ird schon ganz rot.”
Frau Petersen stand auf und w arf einen Blick in d en Korb.
“Oh ja, es w ird Zeit”, sagte sie. “Ihr beid e geht jetzt brav nach
H ause u nd ü berlasst diese Sache m ir.”
“N ach H ause?”, riefen d ie Kind er entsetzt. Wie kam Frau
Petersen nur auf so eine Id ee? Gerad e jetzt, w o es so aufregend
w ar.
“Ja, nach H ause”, sagte sie freund lich, aber bestim m t. “Ich
habe schon m it m einem Bekannten telefoniert, und er erw artet
m ich.” Dam it griff sie nach d em Korb u nd ging zur Tür.
Obw ohl d ie Kind er vor N eu gier fast platzten, m u ssten sie
w ohl od er ü bel zu rückbleiben. Lotte, d ie w ied er einm al ohne
Bescheid zu sagen von zu H au se w eggegangen w ar, plagte
d as schlechte Gew issen. Sie hastete zurü ck. Zu m Glü ck hatte
außer Oliver niem and bem erkt, d ass sie w eg gew esen w ar. Die
Eltern w aren viel zu sehr d am it beschäftigt zu verd au en, d ass
ihre große Tochter in der letzten Zeit ein Geheim nis gehabt
hatte, von d em sie nichts geahnt hatten. Und Lea hatte jetzt
and ere Sorgen.
“Und d as Referat?”, fragte Lotte Oliver, d er in d er Kü che stand
u nd sich eine heiße Schokolad e m achte.
“Du kennst d och Mam a. Die m acht sich jetzt m it Volld am p f an
d ie Arbeit, ein paar Wochen bleiben ihr ja noch.”
“Schreibt Mam a jetzt das Referat fü r Lea?”, fragte Lotte erstaunt.
Oliver grinste und zuckte m it d en Achseln. “Sie hilft ihr.”
“Und d ie Sache m it Lars?”
“N a, d er m u ss hier w ohl m al zu einem Besuch antreten.”
“Also ist alles w ied er gu t?” Lotte ließ nicht locker.
“H örst d u noch irgendw elche Schreie?”
Lotte schü ttelte d en Kop f.
“N a siehst d u . Blut ist jed enfalls nicht geÁossen. Prost.” Oliver
hob seinen Becher u nd ging hinau s.
Lotte stand etw as u nschlüssig in d er Küche heru m . Dann beschloss sie, in ihr Zim m er zu gehen. Sie hätte zu gern gewu sst,
w as Frau Petersen m it Kapitän Krim son vorhatte. Sie hasste es,
w arten zu m ü ssen und nichts zu tun.
Aus Leas Zim m er d rangen Stim m en, d ie alle d u rcheinander
red eten.
“Klick d och m al d a d rau f. Da stand d och w as zu d em Them a
… N ein, d as w ar d och w as ganz and eres … Also, jetzt lasst
m ich d och m al d a ran … Papa, d u kennst d ich m it d er Seite d och gar nicht au s … Das ist sow ieso alles ganz unseriös.
Da brau cht m an ord entliche Bü cher. Also ich geh jetzt in die
Bü cherei und schau m al nach, w as ich d a Ànd e … Mam a, bitte!
Das m acht heutzutage niem and so!”
Lotte steckte ihren Kopf d urch d ie Tür. Mam a, Papa u nd Lea
saßen d ichtged rängt vor Leas Laptop. Die Arbeit an d em
Referat w ar offensichtlich schon in vollem Gange. Pap a blickte
ku rz au f u nd sagte: “H allo, Lottchen, alles klar?” Lotte nickte.
In ihrem Zim m er versuchte sie vergeblich, ein Buch zu lesen.
Ihre Ged anken schw eiften im m er w ied er zu Kapitän Krimson.
Jetzt, w o end lich alles and ere w ied er gu t w ar – d as H aus wu rde nicht verkau ft, d ie Sache m it Leas Referat w u rd e in Ordnu ng gebracht –, au sgerechnet jetzt w ar Kapitän Krim son in
Gefahr. N icht auszu d enken, w enn er sich w irklich in Rotzp uschkim verw and eln w ü rd e. Dann w ü rd en sie Rotzpuschkim nie
w ied er los, u nd er w ürd e ihnen d as Leben im H aus zu r H ölle
m achen. Und ohne Kapitän Krim son hier zu w ohnen, d as
konnte Lotte sich nicht vorstellen.
“Lotte! Lotte, kom m runter! Du hast Besu ch!”
Lotte raste d ie Trep pe hinunter. Oliver erw artete sie u nten im
Hau sÁu r. “Da steht eine kom ische Frau vor d er Tür m it einem
Katzenkorb u nd d einem Freu nd Pau l.” Oliver grinste.
Lotte m u sste lachen. Mit ihren langen w eißen H aaren u nd
ihrem Regenm antel, d er ihr bis zu d en Knöcheln reichte, sah
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