Julian Barnes über Sterben und Tod

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Julian Barnes über Sterben und Tod
Nr. 5 | 30. Mai 2010
Ayaan Hirsi Ali Ich bin eine Nomadin | Julian Barnes über Sterben und Tod |
Henning Mankell Der Feind im Schatten | Joseph Stiglitz Im freien Fall |
Sieglinde Geisel Essay über Männer, das gefährdete Geschlecht | Stendhal
NeueBiografie|Weitere Rezensionen zu Erika Burkart, Ingeborg Bachmann,
Azar Nafisi, Tony Judt undanderen | Charles Lewinsky Zitatenlese
MEIN
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Inhalt
Afrikanische
Vordenkerinnen
der Welt
Nr. 5 | 30. Mai 2010
Ayaan Hirsi Ali Ich bin eine Nomadin | Julian Barnes über Sterben und Tod |
Henning Mankell Der Feind im Schatten | Joseph Stiglitz Im freien Fall |
Sieglinde Geisel Essay über Männer, das gefährdete Geschlecht | Stendhal
NeueBiografie|Weitere Rezensionen zu Erika Burkart, Ingeborg Bachmann,
Azar Nafisi, Tony Judt undanderen | Charles Lewinsky Zitatenlese
Ayaan Hirsi
Ali (Seite 19).
Illustration von
André Carrilho
Afrika weckt wieder einmal unser Interesse. Nicht allein wegen der
Fussball-WM. Lesen Sie dazu die Rezension «Voodoo im Strafraum»,
die zeigt, welche Rolle Magie im Sport auch bei uns spielt (Seite 18).
Vor allem brilliert Afrika derzeit mit intellektuellem Potenzial.
Waris Dirie, 45, Somalierin und Uno-Sonderbotschafterin im Kampf
gegen die Beschneidung von Mädchen, legt ihr neuestes Buch vor:
«Schwarze Frau, weisses Land». Darin erzählt sie von ihrem Leben im
Westen und der Sehnsucht nach Afrika. Die Sambierin Dambisa Moyo,
40-jährige Weltbank-Ökonomin und Young Global Leader, hat für
diesen Sommer ihr Werk «Der Untergang des Westens» angekündigt.
Ihre Botschaft: Die Länder Afrikas müssen ihr Schicksal selbst in die
Hand nehmen, statt sich auf die traditionelle Entwicklungshilfe zu
verlassen. Schliesslich legt Ayaan Hirsi Ali, 41, ebenfalls Somalierin und
Menschenrechtsaktivistin, dar, warum es höchste Zeit ist, dass sich der
Islam, besonders die Musliminnen, aus den Fesseln von Rückständigkeit
und Vergangenheit befreien (S. 19).
Die Welt hat sich verändert. Schwarze Vordenkerinnen liefern heute
wesentliche Impulse zur Globalisierungsdebatte. Falls Sie Lust haben,
eine aufmüpfige Afrikanerin kennenzulernen: Ghada Abdelaal, deren
witziges Tagebuch «Ich will heiraten» wir im März besprochen haben,
liest demnächst in Bern (S. 27). Urs Rauber
Belletristik
Sachbuch
4
16 Johannes Willms: Stendhal
6
7
8
Julian Barnes: Nichts, was man fürchten
müsste
Von Andreas Tobler
Von Andreas Isenschmid
18 Oliver G. Becker: Voodoo im Strafraum
Von Regula Freuler
19 Ayaan Hirsi Ali: Ich bin eine Nomadin
Von Stefana Sabin
20 Angela Steidele: Geschichte einer Liebe –
Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens
Von Martin Helg
Pedro Lenz: Der Goalie bin ig
Von Urs Rauber
Roger Reiss: Nicht immer leicht, a Jid zu sein
John Glassco: Die verrückten Jahre
Von Bruno Steiger
Von Kirsten Voigt
Gemma Blackshaw, Leslie Topp (Hrsg.):
Madness & Modernity
9
Marianne Breslauer: Fotografien
Von Geneviève Lüscher
Von Manfred Papst
21 Joseph Stiglitz: Im freien Fall
Von Pia Horlacher
22 Azar Nafisi: Die schönen Lügen meiner Mutter
Von Angelika Overath
23 Inge Huber: Curnonsky oder das Geheimnis
des Maurice-Edmond Sailland
Von Charlotte Jacquemart
Henning Mankell: Der Feind im Schatten
Von Klara Obermüller
10 Beate Rothmaier: Fischvogel
11 Alawiyya Sobh: Marjams Geschichten
Von Susanne Schanda
Von Christina Hubbeling
Tony Judt: Das vergessene 20. Jahrhundert
FRANCK COURTES / VU / LAIF
Kurzkritiken Belletristik
11 Patrick Pécherot: Nebel am Montmartre
Von Regula Freuler
Erika Burkart: Das späte Erkennen der
Zeichen
Von Manfred Papst
Deutsche Lyrik des späten Mittelalters
Von Manfred Papst
Ingeborg Bachmann: Kriegstagebuch
Von Regula Freuler
Essay
12 Die Männer, das gefährdete Geschlecht
Sieglinde Geisel über die neuen Bücher
von Ute Scheub und Louann Brizendine
Kolumne
15 Charles Lewinsky
Das Zitat von Karl Kraus
Henning Mankell (Bild) schickt in seinem neuesten Buch
Kommissar Wallander endgültig in Pension.
Kurzkritiken Sachbuch
15 Rudi Palla: Verschwundene Arbeit
Von Geneviève Lüscher
Lars Schultze-Kossack (Hrsg.):
Zur(e)ich brennt
Von Urs Rauber
Niklas Maak: Der Architekt am Strand
Von Gerhard Mack
Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines
Philologen
Von Kathrin Meier-Rust
Von Reinhard Meier
24 Hans Peter Treichler: Ein Seidenhändler in
New York
Von Beatrix Mesmer
Isabel Rohner: Spuren ins Jetzt
Von Geneviève Lüscher
25 August Forel: Rückblick auf mein Leben
Von Willi Wottreng
26 Gerhard Henschel: Menetekel
Von Kathrin Meier-Rust
Das amerikanische Buch
S. M. Plokhy: Yalta. The Price of Peace
Von Andreas Mink
Agenda
27 Jane Hilton: Dead Eagle Trail
Von Regula Freuler
Bestseller Mai 2010
Belletristik und Sachbuch
Agenda Juni 2010
Veranstaltungshinweise
Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath,
Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Stephanie Iseli (Layout), Bettina Keller, Rita Pescatore, Benno Ziegler (Korrektorat)
Adresse NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected]
30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Reflexionen In einem erzählenden Grossessay umkreist der britische
Romancier Julian Barnes seine Furcht vor dem Ableben
Julian Barnes: Nichts, was man
fürchten müsste. Aus dem Englischen
von Gertraude Krüger. Kiepenheuer &
Witsch, Köln 2010. 333 Seiten, Fr. 34.50.
Von Andreas Isenschmid
Dieses Buch handelt vom Tod, nur vom
Tod und von nichts als dem Tod – übrigens auf ziemlich witzige Weise. Sein
Autor ist für dieses Thema wie kaum ein
zweiter prädestiniert (wie würde er dieses Wort – schicksalsbestimmt – auf der
ELLEN WARNER
Julian Barnes
Der 1946 geborene englische Schriftsteller Julian Barnes wurde hierzulande
berühmt mit seinem hinreissend geistreichen Buch über Flaubert («Flauberts
Papagei», 1987). Witz ist das Kennzeichen all seiner Bücher, ob sie sich der
Liebe, der Küche, dem Alter oder seinem
Lieblingsland Frankreich widmen. Barnes
war mit der Literaturagentin Pat Kavanagh verheiratet, die im Jahr des
Erscheinens von Barnes’ Buch über den
Tod (2008) an einem Gehirntumor starb.
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010
Goldwaage grillieren!). Der englische
Romancier Julian Barnes ist ein Thanatophober der Sonderklasse. Seit seinem
dreizehnten Lebensjahr ist er in extremer und permanenter Weise geschüttelt
von Todesangst. «Erst kürzlich war es
wieder da, dieses erschreckende Aufschrecken, mit dem ich mitten in der
Nacht ins Bewusstsein zurückgestossen
wurde; hellwach, allein, mutterseelenallein, drosch ich mit der Faust aufs Kissen ein und schrie ein endlos jammerndes ‹O nein, o nein, O NEIN›, und der
Horror des Augenblicks – dieser Minuten – schlug über einer Szene zusammen, die einem unvoreingenommenen
Zeugen vielleicht wie eine schockierende Zurschaustellung exhibitionistischen
Selbstmitleids vorgekommen wäre.»
Nun ist Selbstmitleid just das Letzte,
was einem zum Schreibstil von Julian
Barnes in den Sinn käme. Dieser Todesfürchtige schreibt über alles, also auch
über den Tod, furchtlos und witzig, treffend und scharfsinnig. Er dürfte nicht
wabern, weil er ein genauer Konstrukteur ist. Und er hat eine gerne unterschätzte Empathie. Seine Roman-Folge
«Darüber reden» und «Liebe usw.»
blickte bei allem Pointenpfeffer mit
ungewöhnlichem Feingefühl in die
Gründe und Abgründe der Liebe.
«Ich glaube nicht an Gott, aber ich
vermisse ihn», so beginnt Barnes sein
Wortgefecht mit dem Tod und zieht uns
damit fürs Erste sehr auf seine Seite.
Denn er grenzt sich gleich doppelt ab:
vom Atheismus, dieser Ausgeburt von
Dummheit und Denkfaulheit, und vom
Glauben, der durch seine Antworten das
Fragen nach dem Tod von vornherein
ALEX MAJOLI / MAGNUM
Nachdenken
über den Tod
aushebelt. Was Barnes am Atheismus
stört, ist das Dogmatische, das dort,
wo es kein Wissen geben kann, eines
behauptet. Wer sich nur einmal die gute
alte Heideggersche Frage «Warum gibt
es eigentlich etwas und nicht vielmehr
nichts?» im Kopf zergehen lässt und
dann immer noch behauptet, dass es keinen Raum für die Frage nach Gott gibt,
dem ist wohl nicht zu helfen.
Weder Antwort noch Trost
Barnes gesteht seinen Neid auf die Gläubigen und ihre Aussicht auf ein Leben
nach dem Tod, und er versucht, diesen
Neid in immer neuen Anläufen zu verstehen. Denn das ist die Machart dieses
Buches: Es ist nicht ein geradlinig argumentierender Essay, nicht das Buch
eines Mannes mit Antworten, Thesen
oder Trost. Es ist ein Buch, das es unternimmt, die Fragen, die man an den
Tod stellen kann, zu multiplizieren. Und
also besteht es aus einer Vielzahl von
kleinen, bald kulturhistorisch gelehrten,
bald autobiografischen Erzählungen,
Anekdoten und Reflexionen, Minima
Mortalia sozusagen. Barnes erzählt
vor? Und wenn man nicht sterben möchte, wie lange, bitte, möchte man weiterleben? Falls Sie Gott vermissen, ist es
der christliche oder welcher?
Nicht selten weckt Barnes in uns auch
Fragen, die sich gegen ihn richten.
Wieso fragt er sich nicht, warum er
beim Tod beider Eltern nicht anwesend
war? Warum denkt er mit keinem Wort
über Sterbehilfe nach? Warum ist ihm
der Suizid kein anständiges Nachdenken
wert? Und warum verplempert er nur
ein paar halbgare Gedanken an die
Frage, ob es fürs Sterben eine Rolle
spielt, ob man Kinder hat oder nicht?
(Barnes hat keine.)
Das Jenseits als Ferienlager
zum Beispiel berührend, unsentimental,
manchmal fast ein bisschen aggressiv
vom Leben und vom Sterben seiner
Eltern. «Die Leute glauben nur an die
Religion, weil sie Angst vor dem Tod
haben», befand seine Mutter, die starb,
als «zwei Schwestern sie eben auf die
andere Seite drehen wollten, und da sei
sie einfach ‹verschieden›. Ich stelle mir
gern vor – weil es typisch für sie gewesen wäre, und ein Mensch sollte so sterben, wie er gelebt hat – , dass ihr letzter
Gedanke ihr selbst galt und etwas in der
Art war wie: ‹Na los, bring es hinter
dich.› Aber das ist eine sentimentale
Vorstellung – was sie sich gewünscht
hätte (besser gesagt, was ich mir für sie
gewünscht hätte) –, und wenn sie überhaupt etwas dachte, bildete sie sich vielleicht ein, sie sei wieder ein fieberndes
Kind und werde von zwei längst verstorbenen Verwandten auf die andere Seite
gedreht».
So genau, lebensnah und freimütig
verlaufen die meisten der Reflexionen
von Barnes. Aber er zieht uns nicht nur
auf seine Seite, er bringt uns auch ins
Fragen. Und für seine Fragen sowie für
seine Unterscheidungen wird man dieses Buch immer schätzen. Mit Gewinn
liest man parallel zu Barnes wieder
den Fragebogen, den Max Frisch im
zweiten Tagebuch dem Tod gewidmet
hat. «Haben Sie schon Tote geküsst?»,
fragt Frisch. Barnes küsste seine Mutter,
und er berichtet auch von den Totenküssen anderer. «Wieso weinen die Sterbenden nie?», fragt Frisch auch; dem hat
Barnes nichts zur Seite zu stellen. «Wem
gönnen Sie manchmal Ihren eigenen
Tod?» – so raffiniert fragt Barnes eher
nicht. Aber eine ordentliche Checkliste
fürs eigene Verhältnis zum Tod wird
jeder Leser diesem Buch entnehmen.
Ob man den Tod oder das Sterben
fürchte? Ob man schnell oder langsam,
im Schlaf oder bei vollem Bewusstsein
sterben möchte? Ob man Tote noch
sehen will? Ob man sich im Sterben die
Treue halten kann? Ob man sich die
Todesangst hirnchirurgisch amputieren
lassen würde? Warum man Angst vor
dem Nichts nach dem Tod, aber keine
Angst vor dem Nichts vor der Geburt
hat? Möchte man wirklich im Jenseits
ewig leben, und wie stellt man sich das
Julian Barnes’ Essay
über das Sterben
lässt uns Fragen zu
unserem eigenen
Tod stellen, bleibt
aber oft vage.
Die grosse Frage ist aber, warum jemand,
der über Gott, Tod und Unsterblichkeit
nachdenkt, theologisch so unfassbar
naiv bleiben kann. Sein Gottesbegriff ist
über das Niveau der Kinderbibel nicht
hinausgekommen. Er scheint sich die
Unsterblichkeit, an die er immerhin
nicht glaubt, als eine Art jenseitiges
Ferienheim mit Gott als Lagerleiter vorzustellen. Auf dieser Linie, entlang der
unsäglichen Frage, ob man seine Lieben
im Jenseits wieder finden zu hoffen
glaube, bewegen sich seine Unterhaltungen mit katholischen Freunden. Dass
es einen Gott geben könnte und wir dennoch nicht unsterblich wären, einen
Gott, der etwas anderes als ein gütiger
Vater für die Menschen ist, einen Gott
also, der sich für das Sterben und Überleben der Menschen nicht mehr interessiert als fürs Verwehen eines Staubkorns, einen Gott, auf den ein Wort wie
‹Er interessiert sich› gar nicht anwendbar ist – das alles fällt Barnes nicht im
Traum ein. Vielleicht hängt das damit
zusammen, dass Barnes nicht das Sterben fürchtet, sondern ausschliesslich
den Tod, das Verschwinden. Da wäre
ewiges Leben natürlich eine Abhilfe.
Zur theologischen Unbedarftheit
kommt eine bei Barnes eher überraschende gedankliche Zahnlosigkeit. Der
Tod scheint Barnes einen solchen
Bammel einzujagen, dass er, statt ihm
gedanklich ein bisschen strenger Paroli
zu bieten, oft lieber hasenfüssig ins Witzeln und in überhastete Themenwechsel
flieht. So kommt es, dass man nach zwei
Dritteln dieses Buch kennt, das dann
aber nochmals hundert Seiten weitergeht. Doch auch da hält einen etwas bei
Laune. Man freut sich auf den nächsten
Auftritt von Jules Renard. Nach Barnes’
Zitaten muss das «Journal» dieses französischen Romanciers und Diaristen
(1864–1910) ein Meisterwerk der Weltliteratur sein. Renards Vater erschoss
sich, seine Mutter ertrank in einem
Brunnen, kein Wunder, dass seine Reflexionen über den Tod die Strenge haben,
die man denen von Barnes manchmal
wünscht. «Der Tod ist süss; er erlöst uns
von der Todesangst», schrieb er etwa.
Auch: «Gott glaubt nicht an unseren
Gott.» Wer nicht hingeht und die alte
Winkler-Ausgabe von Renards Tagebüchern antiquarisch erwirbt (oder besser
noch die lieferbare französische in der
Pléiade), macht einen Fehler. l
30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Mundartliteratur Ein Junkie als Antiheld ist nicht gerade eine Identifikationsfigur, aber die
Hauptperson im Romandébut des Langenthalers Pedro Lenz
Goalie ist die Rolle seines Lebens
Edition Spoken Script 4, Verlag Der
gesunde Menschenversand, Luzern 2010.
183 Seiten, Fr. 25.–.
Von Regula Freuler
Wann fing die Geschichte an? Eigentlich
schon viel früher. Aber genauso gut
könne er bei jenem Abend anfangen, als
er, Ernst, von allen «Goalie» genannt,
aus der Strafanstalt Witzwil zurückgekehrt sei. «Vilecht isches öppe zähni gsi,
vilecht e haub Stung spöter. Spüut ke
Roue. Uf au Fäu hets Bise gha wi d Sou.
Schummertau. Novämber. Und ig es
Härz so schwär wi nen aute, nasse Bodelumpe.» Goalie ist der Held oder wohl
eher Antiheld im Roman des Berners
Pedro Lenz. Goalie ist ein Junkie. Ein
Drögeler im bernischen Schummertal,
die verklausuliert-fiktionalisierte Version von Langenthal, wo der Schriftsteller
aufgewachsen ist. Er kennt solche Typen
aus seiner Jugend, ja, er habe sie in
gewissem Sinne sogar bewundert, sagt er
im Gespräch – «für ihre Räubergeschichten. Später merkt man natürlich,
wie sich diese alle gleichen.» Inspiration für die Figur des Goalie fand der studierte Romanist Lenz im Pícaro- bzw.
Schelmen-Roman, einer ganzen Gattung
innerhalb der spanischen Literatur. «Im
‹Lazarillo de Tormes›, in ‹La vida del
Buscón› von Francisco de Quevedo und
in Cervantes’ Novelle ‹Rinconete y
Cortadillo›, um nur die bekanntesten zu
nennen, gibt es diese Figur des kleinen
Gauners. Er fällt auf die Nase, schlägt
sich aber mit Schlauheit durch.»
Ein Laferi, ein Liiri
Ein Junkie aus der Provinz als Hauptfigur eines Romans – eine erstaunliche
Wahl. Mit William S. Burroughs’ autobiografischem Roman «Junkie» hat Lenz’
Buch jedoch kaum etwas gemein, weder
in sprachlicher noch in erzählerischer
Hinsicht. Der Goalie ist ein Verlierer,
aber kein himmeltrauriger. Er ist kein
Lakoniker, sondern Stehaufmännchen
und manchmal ganz schön sentimental.
Er ist der, den wir von der Strasse kennen, ein Laferi und ein Liiri, immer eine
Ausrede parat, warum er etwas nicht auf
die Reihe bekommen hat.
In «Witz» sass er wegen einer «Giftgeschichte», die man im Laufe des
Buches erfährt. Das Erzählen dieser
Geschichte ist eine Spurensuche des
Goalies nach dem Grund, weshalb er ins
Gefängnis wandern musste – und seine
vermeintlichen Freunde nicht. So
bekommt das wunderbar einfühlsame,
nie aber gefühlige Buch ansatzweise den
Spannungsbogen eines Krimis. Und
dann gibt es da noch eine Liebesgeschichte: Goalie buhlt um Regula, die
Kellnerin im «Maison». Es ist eine, «die
chame rüehme», und wenn er könnte,
dann würde der Goalie si «jetz grad hei
6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010
Pedro Lenz, 45,
vor dem Café Kairo
in Bern, wo er oft
als Spoken-WordPerformer auftritt.
näh und verruume». Doch Regula hat
einen anderen, einen brutalen Pflock,
doch eben keinen wie den Goalie, der
sich selbst als Publikum reicht.
Pedro Lenz legt mit «Der Goalie bin
ig» sein Romandébut vor, ist jedoch
alles andere als ein Débutant. 2008
wurde er als einziger Schweizer an die
Klagenfurter Literaturtage eingeladen,
und als Zeitungskolumnist, SpokenWord-Performer und im Duo «Hohe
Stirnen» mit dem Musiker Patrik Neuhaus bekommt er so viele Anfragen,
dass er seine Agenda einem Management übertragen musste. Spoken-WordAuftritte bestreitet Lenz mit Mitgliedern der Gruppe «Bern ist überall», zu
der u. a. Guy Krneta, Noëlle Revaz und
Beat Sterchi gehören. Es sind berndeutsche Texte, die er vorträgt. Mit grossem
Erfolg. Umso mehr wundert er sich über
einzelne Klagen, dass einen Mundartroman zu lesen eine Zumutung sei.
Anders als Mundartliteraten wie
Krneta schreibt Lenz nicht zuerst auf
Hochdeutsch und übersetzt es dann ins
Schweizerdeutsche, sondern er verfasst
seine Texte direkt im oberaargauischen
Berndeutsch, das er als Kind auf der
Strasse gelernt hat (die Mutter ist Spanierin, der Vater war Ostschweizer). Dann
liest er sie laut. «Das ist ein künstlicher
Prozess, aber so höre ich, ob etwas zu
konstruiert klingt. Ich möchte eine Art
Naturalismus schaffen», erklärt Lenz.
Mundart diene ihm nicht dazu, Schönheit zu erzeugen. «Mir gefällt’s nicht,
wenn’s kitschig wird. Wie zum Beispiel
bei einer gewissen Art Mundartpop, der
Museumswörtchen wählt, damit’s ein
bisschen blumiger klingt.» Die Sprache
müsse im Kontext stimmen. «Ein Junkie
soll doch nicht klingen wie eine Grossmutter aus dem hinteren Emmental! Da
müssen auch Unreinheiten wie englische Ausdrücke drin sein.» Vor allem
aber bekomme er auf Mundart besser
das Gefühl von Unmittelbarkeit hin als
auf Hochdeutsch. Im hochdeutschen
Roman, an dem er arbeitet und der
nächstes Jahr erscheinen soll, gebe es
daher viel weniger direkte Rede.
Tristesse der Provinz
Lenz stellt fest, dass in Mundart oft eine
Welt beschrieben und verherrlicht
werde, die es so nicht mehr gebe. Davon
kann bei «Der Goalie bin ig» – was es
mit dem Namen Goalie auf sich hat, ist
eine Schlüsselstelle im Buch – keine
Rede sein. Es ist die Tristesse der Provinz, die aus den Seiten heraussaftet.
Goalie findet bis zum Schluss nicht
heraus, weshalb er den Kopf hinhalten
musste. Er sieht eben nur die kleinen
Geschichten. Für den grossen Spannungsbogen fehle ihm die Begabung,
sagt er. Würde er genauer hinsehen,
würde er feststellen, dass er keine wahren Freunde hat. Sogar sein Jugendfreund Ueli half mit, ihn zu «verseckeln». «Eben das wollen Junkies nicht:
genau hinschauen», sagt Pedro Lenz.
«Stattdessen erfinden sie ihre Realität
immer neu.» Und so, wie er den Goalie
das im Roman tun lässt, kann man Lenz’
einstige Bewunderung für solche Lafericheiben durchaus nachvollziehen.
Die erste Auflage mit 5000 Exemplaren von «Der Goalie bin ig» ist bald verkauft, die zweite wird gedruckt – ein
beachtlicher Erfolg für Mundartliteratur. So schwer kann die Lektüre also
nicht fallen. l
ALESSANDRO DELLA VALLE / KEYSTONE
Pedro Lenz: Der Goalie bin ig.
PIERRE ABENSUR
Erzählungen Der gebürtige Zürcher Roger Reiss erzählt anekdotische
Geschichten vom jüdischen Leben in Genf
Koschere Karpfen
im Genfersee
Roger Reiss: Nicht immer leicht, a Jid zu
sein. Geschichten aus dem jüdischen
Genf. Chronos, Zürich 2010. 171 Seiten,
Fr. 28.–.
Von Stefana Sabin
Schon mit den Römern im 4. Jahrhundert sollen die ersten Juden gekommen
sein. Seit dem 13. Jahrhundert gibt es
jüdische Gemeinden in der Schweiz.
1866, mit der Teilrevision der Bundesverfassung, erhielten die Juden hierzulande Niederlassungsfreiheit und
Bürgerrechte. In der Geschichte des
europäischen Judentums spielt Basel als
Zentrum des Buchdrucks und später als
Stadt des ersten Zionistischen Weltkongresses eine herausragende Rolle, während Bern wegen des angeblichen Ritualmords an dem Knaben Rudolf von
Bern und des darauf folgenden Pogroms
sowie später als Ort des Prozesses
gegen den Herausgeber der antisemitischen Propagandaschrift «Protokolle
der Weisen von Zion» bekannt ist.
Keine derart dramatischen Geschichten
gibt es über Genf, wo die zweitgrösste
jüdische Gemeinde der Schweiz ein
eher unauffälliges Leben führt.
Teilnehmender Beobachter
Unauffällig im Sinne eines gelassenen
Realismus und einer sprachlichen Einfachheit sind auch die «Geschichten aus
dem jüdischen Genf», die Roger Reiss
jetzt veröffentlicht hat – und gerade in
dieser programmatischen Unauffälligkeit liegt ihr Reiz. Denn Roger Reiss, der
in Zürich aufgewachsen ist und seit den
1970er Jahren in Genf lebt, bezeichnet
sich selbst als «teilnehmenden Beobachter», als jemanden also, der der jüdischen Gemeinde angehört und an ihrem
Leben teilnimmt und zugleich distanziert darüber berichtet. So erzählt er
vom Alltag einer jüdischen Mittelschicht, die kulturell assimiliert, sozial
integriert und wirtschaftlich etabliert
ist. In dieser Welt kann das Einkaufen
für das wöchentliche Sabbatessen am
Freitagabend zum Abenteuer werden,
wenn die koscheren Geschäfte schon
geschlossen haben und erst ein moderner Lieferdienst die traditionellen Speisen in letzter Minute doch noch herbeibringt, wie in «Auf der Suche nach der
heimischen Küche», oder wenn sich im
jüdischen Lebensmittelladen die Ethnien kreuzen und Hinduisten die für
das festliche Essen zur Rosch-Ha-ShanaFeier vorgesehenen Karpfen aufkaufen
und im See freisetzen, wie in «Die glücklichen Karpfen vom Lac Léman».
„Die beiden
Herren blicken
weiter als
Google Earth.“
Nils Minkmar,
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Purimfest in einer
orthodoxen jüdischen
Gemeinde in Genf.
287 Seiten. Gebunden sFr 37,90 (UVP)
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Amüsante Geschichten
Ob es ums Bücherverlegen geht wie in
«Verborgene Räume» oder ums Büchersammeln wie in «Das unruhige Leben
der Dinge», ob um Baugeschäfte wie in
«Yitziks Schubkarren» oder um Bankgeschäfte wie in «Der Tod lauert um die
Ecke», um politische Streitgespräche
wie in «Im Schatten des Zerwürfnisses»
oder ästhetische Auseinandersetzungen
wie in «Das Ende der Kunst», um Lubawitscher, aschkenasische oder sephardische Juden – immer haben die Geschichten eine einfache Handlung und eine
amüsante Auflösung.
Es sind anekdotische Geschichten,
die fast alle im Café «Le Moule à
Gâteau» im Florissant-Viertel beginnen
oder enden oder ganz dort spielen.
Überhaupt ist die Stadt, sind die Strassen und Plätze im Florissant, ist aber
auch das Seeufer mehr als blosse Kulisse: Die verstreuten Ortsbeschreibungen
verleihen den Geschichten Lokalkolorit.
Denn Reiss strebt kein Sozialgemälde
an, sondern will einen Eindruck von der
Normalität vermitteln, die das jüdische
Leben in Genf hat. l
„Selten ist ein wissenschaftliches Buch so informativ
und lehrreich, selten verschlingt man ein Sachbuch
und genießt es derartig –
federleicht zu lesen.“
Lutz Bunk, Deutschlandradio Kultur
Aus dem Französischen von Caroline
Vollmann. 319 Seiten mit 9 Karten.
Gebunden sFr 37,90 (UVP)
C.H.BECK
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30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Memoiren In den poetischen Erinnerungen des Kanadiers John Glassco wird das Paris der späten
1920er Jahre zu turbulentem Leben erweckt
Sinnesfreuden an der Seine
John Glassco: Die verrückten Jahre.
Abenteuer eines jungen Mannes in Paris.
Aus dem Englischen von Matthias
Fienbork. Einleitung von Louis Begley.
Hanser, München 2010. 333 Seiten,
Fr. 38.90.
Von Bruno Steiger
«Memoirs of Montparnasse» lautete
der Titel der 1970 erschienenen Erstausgabe des Buches, in welchem John
Glassco sein Leben im Paris der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Revue passieren lässt. Die deutsche Fassung vermeidet das Wort
Erinnerungen. Ein Grund dafür lässt
sich im Vorwort des Autors finden,
worin er zum Ich seiner frühen Jahre
auf Distanz geht: «Dieser junge Mann
bin ich längst nicht mehr. Ich erkenne
ihn kaum noch, nicht einmal auf den
Fotos, und in meiner Erinnerung ähnelt
er weniger dem, der ich einmal war, als
einer Figur, die mir in einem Roman
begegnet ist.» Betreffs Wahrheitsgehalt des Erzählten ist somit Vorsicht
angesagt. Sie geht im Lauf der Lektüre
mehr und mehr in helle Freude über.
Unbeschwerter, sinnenfreudiger ist
die Lebensgier eines für so ziemlich
alles offenen jungen Menschen selten
geschildert worden.
Partys in Montparnasse
Das Buch spielt gegen Ende des Jahrzehnts, kurz vor dem Kollaps der Börsen im Oktober 1929. Anderthalb Jahre
zuvor war der damals achtzehnjährige
Glassco zusammen mit seinem Freund
von Montreal nach Paris aufgebrochen,
um dort ein Leben als Dichter zu führen – oder, wie er sich bald einmal ein-
Kunst Zwischen Genie und Wahnsinn
gesteht, «den Schriftsteller zu spielen».
Der günstige Wechselkurs hatte in
jenen Jahren viele angloamerikanische
Autoren in die französische Metropole
gelockt. Angehende Legenden wie Ford
Madox Ford und Djuna Barnes gaben
sich in den einschlägigen Cafés die
Klinke in die Hand, in zugigen Ateliers
wird, während Kiki de Montparnasse
ihren obligaten Striptease hinlegt, über
Mallarmé und Jane Austen diskutiert.
Der junge Kanadier ist immer dabei, in
den (wenigen) Partypausen darüber
nachsinnend, ob das Leben nicht doch
der Kunst vorzuziehen sei.
Glassco schildert seine Begegnungen
mit all den Berühmtheiten der Epoche
mit dem nüchternen Blick des Zaungasts. Seine kleine Skizze von Gertrude
Stein nimmt sich gleichwohl eher poetisch inspiriert denn respektlos aus.
Wie der «Geschützturm eines Panzers»
dreht sich ihr «rhombenförmiger» Körper im Raum; als weiteres Beispiel für
die vielen Glanzpunkte der Prosa mag
Glasscos Feststellung gelten, dass man
sich die Dichterin «unmöglich liegend»
vorstellen könne.
SAMMLUNGEN DER MEDIZINISCHEN UNIVERSITÄT WIEN
Variantenreiche Liebe
Um 1900 war Wien ein Schmelztiegel und Brennpunkt der Kultur. Sigmund Freud entdeckte die
Psychoanalyse, Arthur Schnitzler setzte sie in
epochale Literatur um, Mahler komponierte seine
Sinfonien, Klimt und Schiele malten Bilder, die uns
heute als Chiffren des Säkulums erscheinen. Und es
wurde auch die Kunst von sogenannt Geisteskranken entdeckt. Dem komplexen Zusammenhang von
«Kunst und Wahn» ging eine Ausstellung nach, die
unlängst im Wien-Museum am Karlsplatz zu sehen
war und durch ein informatives Begleitbuch präsent
bleibt. Unsere Abbildung zeigt eine Karikatur des
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010
Literaten Peter Altenberg, die der Münchner Sezessionist Gustav Jagerspacher 1904 anfertigte. Sie
stellt den Dichter vor einer zerschlagenen Flasche
und einem zerbrochenen Glas dar, die Hände an den
Kopf gepresst, die Augen aufgerissen. Ein Bild, das
an Munchs «Schrei» von 1893 erinnert.
Manfred Papst
Madness & Modernity. Kunst und Wahn in Wien
um 1900. Im Auftrag des Wien-Museums hrsg.
von Gemma Blackshaw und Leslie Topp. Christian
Brandstätter, Wien 2010. 164 Seiten,
150 Abbildungen, Fr. 56.90.
Literarischer Small Talk nimmt in diesem Buch ebenso grossen Raum ein wie
die detailreiche Schilderung all der
sinnlichen Genüsse, die Paris zu bieten
hat. Essen und Trinken, die Liebe in
mancherlei Variationen: All das macht
den jungen Mann immer wieder
«schwindelig vor Freude». So fällt er
denn unentwegt von einem «Begeisterungszustand» in den nächsten, und
dies selbst dann, als ihn der zunehmende Geldmangel dazu zwingt, sich in
einem Bordell für ältere Damen zur
Verfügung zu halten. Zwischendurch
tippt er für Kollegen Manuskripte ab
oder arbeitet als Sekretär für eine mittellose Adlige. All das bringt ihm ebenso
wenig Geld ein wie die pornografische
Erzählung, die er unter Pseudonym veröffentlicht.
In der Schilderung seiner letzten
Tage in der Stadt gewinnt Glasscos
Bericht endgültig romanhafte Züge.
Nach dem Börsencrash sind die Checks
des Vaters ausgeblieben, «obdachlos,
frierend und hungrig» sucht er sich
unter den Bögen des Pont Neuf einen
Schlafplatz. Das Aufwachen als waschechter Clochard wird ihm zu einem
Augenblick der Ekstase. «An diesem
Morgen fühlte ich mich zum ersten Mal
aufgenommen im Paris Villons, Nervals
und Baudelaires, in einer Existenz, die
ohne Paris bedeutungslos wäre.»
Wie unspektakulär auch immer das
weitere Leben des 1981 in Kanada verstorbenen John Glassco verlief: Mit seiner Hommage an das «pflaumenblaue»
Licht des abendlichen Montparnasse
hat er uns ein bewegendes und überaus
vergnüglich zu lesendes Dokument
zum Lebensgefühl der sagenumwobenen «Lost Generation» geschenkt. l
Kriminalroman Henning Mankell schickt seinen erfolgreichen Protagonisten in Pension – jedenfalls
zwischen Buchdeckeln. Sein letzter Fall ist eine lange Reise in die Nacht
Der Abschied von Kommissar
Wallander fällt schwer
Eheproblemen, Scheidung und pubertierender Tochter, an die der Abschiedsband noch einmal erinnert – die Vergangenheit ist in jeder Hinsicht mächtig
präsent in dieser privaten und politischen Recherche nach der verlorenen
Zeit –, steht der Sechzigjährige nun an
der Schwelle zum Alter. Seine Pensionierung naht, bereits ist er aus der
Kleinstadt Ystad weggezogen in ein
Haus aufs Land, bereits hat er sich einen
Hund zugetan, bereits beängstigen ihn
vage Vorstellungen von einem Leben
ohne Arbeit und ohne Sinn, und immer
wieder bedrängen ihn in einsamen
Nächten Todesängste und Einsamkeitsschübe, plagen ihn in leeren Zwangsurlaubstagen eine schlimme Diabetes und
ein Gedächtnis, auf das manchmal kaum
mehr Verlass ist.
Henning Mankell: Der Feind im Schatten.
Aus dem Schwedischen von Wolfgang
Butt. Zsolnay, Wien 2010. 589 Seiten,
Fr. 42.90.
Von Pia Horlacher
Mit der Zeit konnte er einem ja schon
ein bisschen aufdringlich werden: Wallander, wohin der Blick fiel, Wallander
in den Bücher-Auslagen, Wallander auf
den Bestsellerlisten, Wallander auf allen
Fernsehkanälen, Wallander in allen
Medien. Der Kommissar aus der schwedischen Provinz, ein Melancholiker, der
schwer an der Welt, ihren Verbrechen
und sich selbst leidet, ist so präsent in
der deutschsprachigen Krimiwelt wie
kaum ein anderer Ermittler – ein Phänomen. Seit nunmehr zwanzig Jahren
und zehn Bänden stapft der grüblerische Einzelgänger im südschwedischen
Schonen durch die Sümpfe der menschlichen Seele. Und die weiten sich in der
globalisierten Welt gerne über ganz
Europa und die östlichen Nachbarn aus,
gelegentlich auch bis nach Afrika, der
zweiten Heimat seines mit ihm reich
und berühmt gewordenen Schöpfers
Henning Mankell.
Doch nun ist definitiv Schluss mit Wallander, wenigstens zwischen Buchdeckeln – und es wird einem doch tatsächlich ein bisschen traurig ums Herz.
Denn der seines Zauberlehrlings müde
gewordene Autor lässt ihn im zehnten
Band, nachdem er ihn bereits früher
einmal aufgegeben hat («Die Brandmauer») – nein, nicht gerade sterben,
und Genaueres wollen wir auch nicht
verraten, nur, dass es für dieses Genre
ein mutiges und kühnes Ende ist. Und
dass der deutsche Titel «Der Feind im
Schatten» über das eigentliche Krimithema hinaus – eine historische Spionageverschwörung – auch die Gründe
für diesen Abschied andeutet. Hardcore-Fans brauchen deswegen aber
nicht gleich in Tränen auszubrechen.
Über die Fernsehschirme, wo Wallander
seit Jahren einen festen Platz hat, wird
sein Geist noch eine Weile lang flimmern: Die ARD hat eine neue, dreizehnteilige Staffel von Fernsehfilmen gestartet, diesmal mit dem wunderbaren Krister Henriksson in der Titelrolle, einem
der grossen Bühnenschauspieler Schwedens (bis Mitte Juli).
Nach den alten ZDF-Koproduktionen
mit dem massigen Rolf Lassgard, nach
den aus England eingekauften BBCAdaptionen mit dem internationalen
Star Kenneth Branagh (von denen auch
noch ein paar auf Halde liegen) müssen
NILLE LEA / YELLOW BIRD / DEGETO
Historischer Spionagefall
Sehnsucht und Schmerz
wir uns nun also den omnipräsenten
Ermittler in einer Art schauspielerischen Dreifaltigkeit vorstellen: in jüngeren Jahren als den massigen hängebackigen Jagdhund Lassgard und/oder den
pausbäckigen Shakespeare-Tragöden
Branagh, mit zunehmendem Alter als
den zerfurchten Ingmar-BergmanGrübler Henriksson. Zum letzten Wallander, diesem früh gealterten und noch
immer knapp an der klinischen Depression vorbeischrammenden Melancholiker, passt Henriksson mit Jahrgang 1946
eindeutig am besten. Denn «Der Feind
im Schatten» ist eben nicht nur der
unbekannte Spion, der durch einen weit
in die Vergangenheit zurückführenden
Plot um die schwedische Marine geistert und Wallander das Hirn zermartert.
Der eigentliche und tödliche Feind in
diesem Abschiedsband ist das Alter, das
diesen literarischen Serienhelden, im
Gegensatz zu den meisten andern, sozusagen in Echtzeit mit seinem Autor eingeholt hat.
Nach all den Midlife-Krisen des jüngeren Kommissars mit Alkohol- und
Wallander-Darsteller
Krister Henriksson
im ARD-Film «Die
Cellospielerin» (S/D
2009).
«Der Feind im Schatten» ist also weniger
ein klassischer sozialkritischer Wallander-Krimi als eine fast schon elegische
Studie gebrochener Sehnsucht: nach der
verlorenen Jugend, der verlorenen Heimat, dem verlorenen Schweden von
einst, der verlorenen Familie – die Sehnsucht danach, wie es hätte sein können,
der Schmerz darüber, wie es nicht war.
Und dann liegt auch ein beklemmender
Hauch von Todessehnsucht und Sterbensangst über diesem letzten Fall,
worin einzig seine Tochter Linda und
sein neugeborenes Enkelkind kleine
Dämme der Lebensbejahung setzen. In
ihnen wird Wallander noch eine Weile
überleben, vielleicht ja auch literarisch,
wo Linda beruflich doch bereits fest in
die Fussstapfen ihres legendären Vaters
getreten ist. Jedenfalls ist das ein sehr
trauriges Buch geworden, und wenn
Mankell früher mit dem genretypischen
Scheitern des Antihelden manchmal gar
stark kokettierte, wirkt es hier dringlicher, weniger posierend.
Ohnehin steht Wallander bereits im
Schatten von Salander. Doch Stieg Larssons Punk-Heldin aus der «MilleniumsTrilogie» ist auch ein wenig seine Tochter, genauso wie er selbst ein Sohn jenes
einst ebenso erfolgreichen Martin Beck
aus den heute leider fast vergessenen
Sjöwall/Wahllöö-Romanen ist (Martin
Beck verbrauchte übrigens gar ein
halbes Dutzend Schauspieler in den
Filmadaptionen!). Das skandinavische
Krimiwunder, an dem noch viele kleinere Heilige mitbasteln, wird weiterstrahlen. Und etwas weiter westlich leuchtet
ja auch noch ein schottisches. Trost für
alle Trauernden. Auch dort wurde vor
kurzem ein Liebling des Krimipublikums in Pension geschickt: Ian Rankins
Rebus. Der hat bereits einen vielversprechenden Nachfolger gefunden. l
30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Roman Die deutsche Autorin Beate Rothmaier erzählt eine Geschichte von Liebe, Pubertät und Tod
Junge Mädchenblüte, gepflückt
im Schatten der Achtundsechziger
Beate Rothmaier: Fischvogel.
Deutsche Verlags-Anstalt,
München 2010. 216 Seiten, Fr 31.90.
Mika hat viele Namen. Getauft wurde
sie gut katholisch auf den Namen Mechthild. Ihre drei älteren Brüder nennen sie
auch Mickey oder Mick. Und der kleine
Bruder kräht: «Ickiii.» Mit ihm, dem
Namenlosen, dem krebskranken jüngsten
Kind der Familie, beginnt und endet das
Buch. Mika kommt von ihrem Lieblingsplatz, einem selbstgezimmerten Baumhausversteck, zurück an den Abendtisch
der Familie, wo «der Kleine» fehlt.
Weder die Eltern noch die Brüder wollen mit ihr darüber sprechen, erst nach
dem Essen sagt man ihr, dass das Kind
zur Überwachung in der Klinik bleiben
musste. Und wie beiläufig erfährt sie,
dass nun die Familiensommerferien am
vertrauten Fjord in Dänemark ausfallen
werden.
Schnell ist klar: die Brüder, die Buben,
dürfen alleine mit dem alten Auto und
den Zelten losziehen. Nur Mika, das
Mädchen, wird während des Sommers
zurückbleiben. Für Mika ist «der Kleine» schuld; er zerstört die einst heile
Familienwelt, ihre heitere, freie Geborgenheit. Was sie nicht reflektieren kann
und worüber niemand mit ihr spricht,
ist die Veränderung, der sie selbst unterworfen ist. Zeitgleich mit der letzten
Schwangerschaft der Mutter ist sie in
die Pubertät gekommen. «Der Kleine»
wirkt nur als Reaktionsbeschleuniger.
Mika fühlt sich fremd in einer Familie, in
der sie scheinbar keine Rolle mehr
spielt, da die Liebe der zunehmend vom
Schmerz paralysierten Mutter und die
Aufmerksamkeit des nun verstärkt
trinkenden alkoholkranken Vaters vom
Kleinsten absorbiert werden. Irgendwie
liebt Mika ihn ja, und zugleich wünscht
sie sich heftig seinen Tod.
Ende der Kindheit
Am Ende des Romans wird das Kind in
«einer weiss ausgekleideten Schachtel»
liegen, in einem «Reisekoffer». Und
Mika konstatiert kühl: «Er war geschrumpft und sah sehr tot aus.» Über
den Sommer seines langsamen Sterbens
aber ist auch für Mika etwas zu Ende
gegangen. Das lustvolle, unbeschwerte
Mädchen, der «Fischvogel», der im
nahen Fluss taucht und springt wie eine
Forelle oder in seinem Nest im hohen
Birnbaum hockt, ist von den stärkeren
Wellen und Böen der Geschlechtlichkeit
erfasst worden. Mit Ellen, der geliebten
«Freundinfeindin», isst Mika in einer
entdeckten Waldlichtung wilde Himbeeren um die Wette, aber sie versucht
auch die ersten Küsse mit der blonden
jungen Frau, und ein andermal streift sie
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010
ALAMY
Von Angelika Overath
Sexuelle Befreiung
im Zeichen der
Studentenrevolte:
Freiheit und Missbrauch verschwistern
sich in unheilvoller
Weise.
testend mit den Fingerspitzen die Innenseite der Schenkel ihres älteren Bruders
Nick. Mika verwechselt, und das wird
ihr zum Schicksal, eine Mutprobe im
stillen sommerlichen Fluss mit dem
ersten Geschlechtsverkehr.
Aber ein Koitus ist kein Kopfsprung.
Ungestüm waghalsig und sexuell neugierig lässt sich die 13-Jährige auf eine
Liebesnacht im Unterholz ein und wird
dabei missbraucht. Earl, der langhaarige
Motorradfahrer, ist ein erotischer Erlkönig, der sich das Mädchen beiläufig
nimmt. Auch wenn Mika mit einem
Stein zurückschlägt und Earl ebenfalls
verletzt, bleibt das Mädchen doch körperlich und seelisch geschunden.
Auf einmal gibt es die Bodenhaftung
der Scham, mit der ein Frauenleben beginnt. «Der Fischvogel war tot. Die Luftund-Wasser-Zeit zu Ende. Mika war nun
wie alle anderen.» Während das Mädchen enttäuscht die quälende Empfindung hat, schwerfällig auf der Erde bleiben zu müssen, imaginiert sie den toten
Bruder, der sich erhebt: «Ickiii. Sieh mal,
ich kann fliegen. Ich bin weg.» Nach seiner Beerdigung baut Mika ihr Baumhaus
ab und verbrennt es samt all ihren Habseligkeiten. Rituell gehen ihre Kinderjahre in Flammen auf.
Obwohl in dem Buch, das den wechselnden Wettern eines verregneten
Sommers folgt, wenig geschieht (die gewalttätige Nacht wird ausgespart, in
einer Seite satzzeichenloser lyrischer
Prosa vollzieht sich stellvertretend das
nicht exakt Benennbare des Missbrauchs), entwickelt das Buch einen ungeheuren, manchmal unheimlichen Sog.
Atemlos folgt der Leser der stehend im
Sommerkleid ohne Unterhose auf dem
Fahrrad davonrasenden Mika, diesem
mit und gegen den Flussstrom tauchenden wilden Kind, das dann im Baumhaus gierig aus der gelochten Kondensmilchbüchse trinkt (eine Vorwegnahme
der Mechthild, die den männlichen
Samen saugen wird).
Von archaischer Wucht
Beate Rothmaier gelingen – wie bereits
in ihrem mehrfach preisgekrönten
Début «Caspar» – sinnlich gesättigte
Augenblicke von oft archaischer Wucht.
In einer Szene wird Mika gezeigt, wie
sie scheinbar kalt, einem spontanen
Drang folgend, versucht, den kleinen
Bruder im Schlaf mit dem Kissen zu
ersticken, was nur im letzten Moment
durch das Hinzukommen der Mutter
verhindert wird. Doch Beate Rothmaier
verurteilt nicht. Es wird nicht moralisiert. Was geschieht, erscheint in unerhörter, mutiger Nähe.
Auch wenn «Fischvogel» durch seine
Thematik mit einem Jugendbuch verwechselt werden könnte, ist es doch der
Rückblick einer erfahrenen Frau auf gelebte Zeit und Mentalitätsgeschichte,
die verstanden werden will. Das Buch
spielt im Sommer 1974, es handelt von
einer Pubertät im Schatten der Studentenrevolte und dessen, was damals sexuelle Befreiung hiess. Es öffnet ein Fenster in eine Vergangenheit, in der, aus
heutiger Sicht, Freiheit und Missbrauch
sich unbemerkt zu einer exotischen Chimäre verschwistern konnten. Das Buch
berührt und macht nachdenklich. Die
Enkelinnen, so wollen wir glauben,
fechten’s besser aus. l
Roman Mit der List einer modernen
Scheherazade
Als in Libanon die
Idylle explodierte
Kurzkritiken Belletristik
Patrick Pécherot: Nebel am Montmartre.
Aus dem Französischen von Katja Meintel.
Krimi. Nautilus, 2010. 190 Seiten, Fr. 25.50.
Erika Burkart: Das späte Erkennen der
Zeichen. Gedichte. Weissbooks, Frankfurt
a. M. 2010. 96 Seiten, Fr. 29.90.
Manche Zeitgenossen kleiden sich gern
als Teddys, andere sammeln jedes Fitzelchen zum Thema Sissi. Und Patrick
Pécherot ist ganz offensichtlich mit dem
Kopf in den zwanziger Jahren zu Hause.
Der 57-jährige Journalist und Autor liefert mit «Nebel am Montmartre» eine
Hommage an den Krimischriftsteller
Léo Malet (1909–1996). Die Hauptfigur,
genannt «Pipette», schlägt sich (wie
damals Malet) als Poet im Kreise der
Surrealisten durch, ist mit André Breton
befreundet und wird Privatdetektiv; verklausuliert erfährt man seinen Namen:
Nestor Burma – so heisst der Detektiv
in 15 Krimis von Malet. Die versteckten
Wortspiele und Hinweise, kurzum das
historische Kolorit, sind um einiges
anregender als die holzschnittartig
ablaufende Geschichte um eine Erpressung im Zusammenhang mit (Nach-)
Kriegsprofiteuren.
Regula Freuler
Lange war die grosse Schweizer Lyrikerin Erika Burkart im Verlag von Egon
Ammann zu Hause. Der hat jedoch nun
keine Zukunft mehr. Das Vermächtnis
der Poetin, die am 14. April 2010 im Alter
von 88 Jahren verstorben ist, erscheint
deshalb im jungen Verlag des alten Literatur-Enthusiasten Rainer Weiss. Ein
schöner Band ist es geworden – und ein
würdiger Abschied. Noch einmal führt
uns Burkart, die wundersame Einsiedlerin an der Seite des Schriftstellers Ernst
Halter, in ihre Welt von Naturmagie und
Todesnähe. Kein Farn, kein Vogelruf
entgeht dieser Betrachterin. Doch in
jedem Augenblick ist ihr der eigene Verfall präsent. Die Müdigkeit. Die Vergeblichkeit. Das Zuspätkommen. Einmal
schreibt Erika Burkart: «Es gibt eine
Zeit, / da man nicht mehr wartet, / im
Leibfrost selbst / zum Fremdling entartet.» Ein bewegender Abgesang.
Manfred Papst
Deutsche Lyrik des späten Mittelalters.
Hrsg. B. Wachinger. Deutscher Klassiker
Verlag, Berlin 2010. 1070 S., Fr. 31.50.
Ingeborg Bachmann: Kriegstagebuch. Mit
Briefen v. Jack Hamesh. Hrsg. Hans Höller.
Suhrkamp, Berlin 2010. 108 Seiten, Fr. 26.90.
Das späte Mittelalter war eine Blütezeit
der deutschen Lyrik. Diese baute auf der
höfischen Dichtung auf, entwickelte sich
aber sowohl thematisch wie auch formal
weiter. Wir finden in jener Epoche
Lieder von schlichter Frömmigkeit und
umständliche Lehrgedichte, obszöne
und innige Liebeslieder, Sprachspiele,
Fürstenlob und deftige Satiren, Zeugnisse von Angst und Not wie von überschwänglicher Lebenslust. Von Neidhart
bis zu Oswald von Wolkenstein spannt
sich der Bogen. Burghart Wachingers
Edition bringt die – meist nach den
Handschriften neu erarbeiteten – Originaltexte mit neuhochdeutscher Übersetzung. Den rund 600 Seiten Primärtext
stehen 400 Seiten Kommentar gegenüber. Dieser würdigt die Autoren, ihre
Themen und Gattungen, erklärt schwierige Stellen. Die Ausgabe genügt wissenschaftlichen Ansprüchen, bietet aber vor
allem reiches Lesevergnügen.
Manfred Papst
Die letzten Kriegswochen, die Russen
schon in Wien, und in Kärnten stellt
eine 18-Jährige einen Sessel in den Garten und notiert: «Ich habe mir fest vorgenommen, weiterzulesen, wenn die
Bomben kommen.» Dann ist der Krieg
zu Ende, der Teenager Ingeborg Bachmann verliebt sich in den jüdisch-britischen Besatzungssoldaten Jack Ha–
mesh, der 1938 mit einem Kindertransport aus Wien geflohen war. «Das ist der
schönste Sommer meines Lebens», hält
sie im Juni 1945 fest. Doch was ist grösser: die Vorfreude aufs Studium oder die
Schmetterlinge? Eher Ersteres, schliesst
man aus den Briefen von Hamesh, der
Ostern 1946 nach Palästina emigriert.
Sie nehmen ungleich mehr Platz ein als
das Kriegstagebuch Bachmanns und
sind bewegende Dokumente eines Entwurzelten, der Eltern und Heimat verliert – und auch seine Freundin, von der
er Zeichen der Liebe vermisst.
Regula Freuler
Alawiyya Sobh: Marjams Geschichten.
Aus dem Arabischen von L. Chammaa.
Suhrkamp, Berlin 2010. 475 S., Fr. 54.90.
EKKO VON SCHWICHOW
Von Susanne Schanda
Marjam hält ihr Visum in den Händen. Sie
hat abgeschlossen mit diesem Leben in
Libanon, zerrissen zwischen Lebensgier
und Gewalt, Tradition und Aufbruch. Sie
will sich nur noch verabschieden von
Eltern, Verwandten, Nachbarn und den
Freundinnen Ibtisam, Jasmin und Alawiyya. Die Abreise verzögert sich. Denn
Alawiyya ist verschwunden und mit ihr
die Geschichten, die ihr die Freundinnen
über die Jahre hinweg anvertraut hatten,
auf dass daraus ein Roman entstünde.
Doch der Bürgerkrieg hat alles zerstückelt, die Erinnerungen, die Beziehungen,
die Lebensläufe, die Geschichten. So
erzählt Marjam, eine Figur auf der Suche
nach ihrer Autorin, vor ihrer Abreise,
«um den Geruch meiner Erinnerung festzuhalten, damit er nicht verfliegt». Die
losen, wie Teile eines alten Flickenteppichs verknüpften Geschichten handeln
vom Machismo der Väter und der List der
Mütter, von Liebe, Sex, Verrat und Heuchelei. Sie entlarven Feigheit und Gefühllosigkeit, wenn ein Mann nach einer jahrelangen geheim gehaltenen Beziehung
seine Geliebte verlässt, weil er unmöglich
eine Frau mit einer anderen Konfession
heiraten kann, während ein anderer ungläubig kichert, als er entdeckt, dass seine
Liebste noch Jungfrau ist.
Die 1955 als Tochter einer schiitischen
Familie aus dem Südlibanon geborene
Alawiyya Sobh wuchs in einem christlichen Viertel Beiruts auf, als die Religionszugehörigkeit noch keine Rolle
spielte und sie nicht einmal wusste, ob
ihre Mitschüler Christen oder Muslime
waren. Der Schock, den die Explosion
dieser Idylle im Bürgerkrieg hinterliess,
wirkt bis heute nach.
Für Alawiyya Sobh, die für Jahre literarisch verstummte, wurde das Schreiben schliesslich zu einer Überlebensstrategie. In ihrem ersten Roman nach
dem Bürgerkrieg zeigt sie, wie inmitten von Tod und Verzweiflung das
Leben weitergeht. Wo ein Besuch
im Schönheitssalon zwischen zwei
Bombardements ebenso ein rebellischer Akt ist wie das nächtliche Anstehen um Eiswürfel
für den Arrak, während die
israelischeArmeedieStadt
belagert. Diese banalen
menschlichen Bedürfnisse zu erzählen, um
den Tod fernzuhalten,
ohne ihn zu verleugnen, das ist die Kunst
dieser modernen
Scheherazade.l
30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Essay
Der Mann ist nicht mehr der unangefochtene Normalfall, sagen neuere
Publikationen. Aber was ist er dann? Der aktuellen Geschlechterdebatte
scheinen die Argumente auszugehen, meint Sieglinde Geisel
Die Männer,
das gefährdete
Geschlecht
Es ist wie verhext: Man kann Kinder noch so
egalitär erziehen – mit vier Jahren spielen die
Buben mit Autos und die Mädchen mit Puppen.
Obwohl unsere Gene älter sind als Spielzeugautos und Barbie-Puppen, gilt dies als Beweis
dafür, dass die Gene stärker seien als die Erziehung. Dabei wird jedoch die soziale Macht des
Geschlechts übersehen: Dieses nämlich versieht den Menschen mit seiner elementarsten
Zugehörigkeit. Dass es ein Mädchen oder ein
Bub ist, weiss ein Kind lange, bevor ihm bewusst
wird, ob es zu den Armen oder den Reichen, zu
den Schweizern oder den Ausländern gehört.
Kinder fürchten nichts mehr, als aus einer
Gruppe ausgeschlossen zu werden, deshalb
entwickeln sie ein feines Sensorium für alles,
was ihre Zugehörigkeiten gefährden könnte.
Für einen Buben gibt es nichts Bedrohlicheres
als den Verdacht, er wäre kein richtiger Bub –
dahinter stehen nicht die Gene, sondern eine
soziale Angst, und auch die Tatsache, dass der
umgekehrte Verdacht für Mädchen längst nicht
so alarmierend ist, spiegelt unsere soziale
Wirklichkeit. Schliesslich haben Männer nach
wie vor mehr Macht, Geld und damit Status.
Zu welchen Teilen das Geschlecht eine biologische Tatsache (engl. «sex») und zu welchen
ein soziales Konstrukt («gender») sei – in dieser Frage schwingt das Pendel seit Jahrzehnten
hin und her, ohne dass wir einer Antwort bisher
nähergekommen sind. Was die Geschlechterdebatten in den letzten Jahren verändert hat, ist
etwas anderes: Die Männer haben die Frauen in
der Rolle des problematischen (oder des problematisierten) Geschlechts abgelöst. Sowohl in
Ute Scheubs «Heldendämmerung» als auch in
Louann Brizendines «Das männliche Gehirn»
geht es um den Mann, denn er ist nicht mehr
der unangefochtene Normalfall. Dass das starke
Geschlecht schwächelt, war in letzter Zeit
überall zu lesen: Männer verüben mehr Gewalttaten und mehr Selbstmorde, sie leiden häufiger unter Süchten und Krankheiten, und schon
in der Schule schneiden die Buben durchschnittlich schlechter ab als die Mädchen. «Was
vom Manne übrig blieb», lautet – etwas weiner12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010
lich – der Titel eines Buchs, in dem der Soziologe Walter Hollstein vor zwei Jahren den Niedergang der Männlichkeit verkündete. Buben
würden in einem «Frauenkäfig» aufwachsen:
Unter Müttern, Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen fehlten ihnen männliche Vorbilder.
Doch war das je anders? Ist es nicht vielmehr
so, dass Väter sich heute mehr um ihre Kinder
kümmern? Die vielbeschworene Krise des
Mannes hat wohl nicht so sehr mit der Abwe-
Die Männer haben die
Frauen in der Rolle
des problematisierten
Geschlechts abgelöst.
Das starke Geschlecht
schwächelt.
senheit von männlichen Bezugspersonen zu
tun, sondern mit einem fehlenden Modell: In
die Krise geraten ist der Held; ein Wort übrigens, das im Althochdeutschen schlicht Mann
bedeutete. Das moderne Leben bietet kaum
noch Gelegenheiten für Heldentaten, die Männern vorbehalten wären. «Der starke Herkules
wird kaum mehr gebraucht. Er wurde ins Fitnessstudio verbannt und darf dort seine Kraft
verausgaben», heisst es in Ute Scheubs «Heldendämmerung». Im Westen bestehe die Kränkung des Mannes im Verlust seiner Rolle als
Alleinernährer, im Osten und in den islamischen Ländern wiederum werde seine Stellung
als patriarchalisches Familienoberhaupt untergraben. In der gekränkten Männlichkeit sieht
Scheub eine Gefahr für den Weltfrieden: «Aufgehetzt von skrupellosen Anführern, sehen solche Männer im Töten den Ausweg aus ihrer
Identitätskrise» – dies gelte für die nationalsozialistischen Massenmörder ebenso wie für die
Täter von Srebrenica und Rwanda sowie die
islamistischen Terroristen.
Wie das Konzept einer starren Männlichkeit
entsteht, zeigt Scheub etwa am Beispiel von
Deutschland, wo es seit dem 18. Jahrhundert
eine «künstliche Geschlechterpolarisierung»
gebe, die im Nationalsozialismus ihr Extrem
erreicht habe. Im Militär stehe die Männlichkeit unter besonderem Druck: Wer zaudert, gilt
als «Weichei» und wird gezielt mit dem Vorwurf der Verweiblichung beschämt. In Redewendungen werden Waffen zur Verlängerung
des Männerkörpers, bis hin zum Paradox, dass
die Atombombe mit ihrer Zerstörungswucht
offenbar den männlichen Gebärneid zu stillen
vermag: «Babies satisfactorily born», notierte
Churchill nach der ersten Testzündung. All dies
beweise jedoch nicht, dass Männer für das
Kriegshandwerk geboren seien, so Scheub: Das
Militär sei nur deshalb eine so brutale Institution, «weil Männer per se weder besonders
aggressiv noch besonders kriegerisch sind, sondern ständig aggressiv gemacht werden müssen, um als Krieger zu funktionieren». Ute
Scheub hütet sich vor Männerfeindlichkeit:
Auch die Männer selbst litten unter den Zwängen, die mit dem Männlichkeitsdiktat einhergehen, und im Übrigen seien sie «nicht ‹böse›,
sondern gefährdet».
Gene, Hormone, Gehirne
In Ute Scheubs Buch finden sich viele kluge
Beobachtungen – doch eine gross angelegte
Analyse sucht man vergebens. Je länger, je mehr
verliert sie die Männer, um die es ihr geht, aus
dem Blick und verzettelt sich in einem Rundumschlag, der kein Thema auslässt zwischen
Finanzkrise, Afghanistan, Klimawandel und
globalem Armutsgefälle. In ihrer Argumentation stützt sie sich vorwiegend auf Zeitungsartikel, die ihre Leser längst kennen – neuen
Gedanken begegnet man nur in den wenigen
Passagen, wo sie auf eigene Recherchen zurückgreift, so etwa in Interviews, die sie mit Männer-Experten geführt hat. Der Palästinenser
Gehad Marzarweh behandelt – als einer von
weltweit nur 16 arabischen Psychoanalytikern
– in Freiburg Folteropfer aus der islamischen
KOBAL COLLECTION
Heldendämmerung? Auch wahre Kerle leiden laut Ute Scheub unter den Zwängen des Männlichkeitsdiktats. Sean Connery in «Diamonds are forever» (1971).
30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Essay
In Brizendines Büchern erfahren wir nichts,
was wir nicht schon immer gewusst haben. Nun
haben wir es schwarz auf weiss: Männer muss
man nehmen, wie sie sind, nämlich unfähig
zum Zuhören und zur Einfühlung, ständig konkurrenz- und dominanzbereit – und immer auf
der Jagd nach dem nächsten runden Frauenpopo. Auch Brizendine ist keine Männerfeindin:
Sie können nichts dafür, die Männer, ihre
Gehirnschaltkreise sind schuld.
Man kann Brizendine nur als Phänomen
ernst nehmen. Ihre Botschaft ist in Zeiten der
Geschlechterverwirrung ein Erfolgsrezept – ihr
Buch über das weibliche Gehirn war ein Bestseller, und die Männervariante bietet dasselbe
in Grün. Sie enthebt uns der mühseligen Aufgabe, den Geschlechtervertrag jeden Tag neu
auszuhandeln. Wenn Hierarchien abgeschafft
werden, muss man über Dinge diskutieren, die
vorher geregelt waren: «Das gibt nur Streit zwischen Eheleuten», sagten vor einem Vierteljahrhundert jene, die dagegen waren, die
Gleichberechtigung in der Ehe in die schweizerische Verfassung aufzunehmen. Insgeheim
Louann Brizendine und Ute Scheub
Eduard Spelterini und
das Spektakel der Bilder
Margrit und Ernst Baumann
Die Welt sehen
Die kolorierten Lichtbilder
des Ballonpioniers
Fotoreportagen 1945–2000
Von den 1950er-Jahren an reisten
Margrit und Ernst Baumann als
Fotoreporter um den Globus.
Die Doppelmonografie präsentiert
foto- und pressehistorische Schätze
aus ihrem Archiv, einschliesslich des
Films über die Panamericana-Fernstrasse und eines Filmporträts der
Fotografen auf DVD.
<wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0MLWwMAcA9-o_vw8AAAA=</wm>
Die zur Entstehungszeit zwischen
ca. 1900 und 1920 aufwendig
kolorierten Bilder des Ballonpioniers Eduard Spelterini
erstmals in einem Buch: atemberaubende Fotografien von
Alpen, Wüstenlandschaften und
den Pyramiden.
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010
<wm>10CEXKOw6AIBBF0RVB3gDPAafkUxFj1Lj_pWhsLG5yijun0eOr9u3qhwmQ6ATMWY2FPiCpSQleuaiBLyFYhVEjAqP9v6vNncAAbojf23gAsB9fdF8AAAA=</wm>
Gebunden, 152 Seiten
87 farbige und 17 sw Abbildungen
ISBN 978-3-85881-303-9
sFr. 49.90 | E 37.–
Gebunden, 288 Seiten
129 farbige und 283 sw Abbildungen
ISBN 978-3-85881-302-2
sFr. 99.– | E 69.–
www.scheidegger-spiess.ch
Ute Scheub (rechts) ist freie Journalistin. Sie
wurde 1955 in Tübingen geboren und studierte in
Berlin Politologie, Germanistik und Publizistik.
Scheub schreibt zu politischen Themen und
engagiert sich in der Frauenfriedensbewegung.
Ihr Buch «Heldendämmerung. Die Krise der
Männer und warum sie auch für Frauen
gefährlich ist» erschien dieses Frühjahr bei
Pantheon (400 Seiten, Fr. 27.50).
Die 57-jährige Louann Brizendine studierte
Neurobiologie und Medizin. Sie arbeitet als
Wissenschaftsautorin und Psychotherapeutin
und ist Professorin für Neuropsychiatrie an der
University of California in San Francisco. Ihr
Buch «Das weibliche Gehirn» (2007) war ein
Bestseller. Ihr neuestes Werk «Das männliche
Gehirn. Warum Männer anders sind als Frauen»
ist soeben auf Deutsch bei Hoffmann und
Campe erschienen (300 Seiten, Fr. 34.90).
Kunst I Fotografie I Architektur
schaltkreise» – ein Wort, das in ihrem Buch
«Das männliche Gehirn» auf jeder Seite dutzendfach vorkommt. Wie schon im Vorgänger
«Das weibliche Gehirn» (2007) ist kaum je von
einem Bewusstsein oder einem Ich die Rede.
Unsere Gefühle, Gedanken und Handlungen
werden von einem maschinenartigen Gehirn
ferngesteuert. Männer sind «lösungsorientiert», denn ihr Gehirn gibt sich Ängsten nicht
hin: «Wenn es ein Gefühl wahrgenommen hat,
zapft es sehr schnell die temporal-parietalen
Verknüpfungen an, um die kognitive Gefühlsverarbeitung abzuschliessen. Das männliche
Gehirn gleicht einem Schnellzug: Es hält erst
dann an, wenn es seinen Bestimmungsort
erreicht hat.» Wenn es um Männer geht, greift
Brizendine gern zu Verkehrsmittel-Metaphern,
beispielsweise bei Matt, einem Patienten aus
ihrer Praxis. Mit einem kleinen «Positronenemissionstomografen» fahren wir durch sein
Gehirn. Wir wissen bereits, dass «der Penis ein
Eigenleben führt», und nun schauen wir Matt
unter dem Titel «Der Steuerknüppel in der
Heimliche Sehnsucht nach Helden
sehnen wir uns immer noch nach Männern, die
Helden sind, und wenn wir im Alltag auch
nichts mehr mit ihnen anzufangen wissen, dann
umso mehr im Kino: Dass der Weltenretter in
«Avatar» gelähmt ist, steigert nur seinen Helden-Appeal als Riesen-Android. Dass wir überhaupt über Geschlechterrollen diskutieren, ist
eine Errungenschaft der 1960er Jahre, und wir
vergessen leicht, dass wir die erste Gesellschaft
der Menschheitsgeschichte sind, in der es keinen Konsens mehr darüber gibt, was von Männern und von Frauen erwartet wird. Doch nach
fünfzig Jahren Geschlechterdebatten scheinen
uns die Argumente auszugehen. Es verhält sich
wie mit den einschlägigen Uno-Resolutionen,
von denen Ute Scheub in ihrem Buch berichtet:
Die Argumente und Absichten sind formuliert,
nur umgesetzt werden sie nicht.
Mittlerweile stossen wir auch sprachlich an
eine Grenze: Ein Begriff wie «Gender Mainstreaming» ist in seiner Künstlichkeit kaum
mehr zu überbieten. Er jagt einem Schauder
über den Rücken – dabei drückt er etwas ganz
Vernünftiges und Unspektakuläres aus: Es geht
nur darum, Gesetze darauf hin zu überprüfen,
welche Folgen sie für Männer und Frauen
haben. Die Sprachnot ist ein Entfremdungssymptom, ebenso die Faszination mit Klischees.
Wir flüchten uns in Zugehörigkeiten, die längst
nicht so starr sind, wie wir es gern hätten. Denn
für die Unterschiede zwischen den Geschlechtern gilt das Gleiche wie für die Unterschiede
zwischen Völkern: Zwischen den Individuen
einer Gruppe sind die genetischen Unterschiede grösser als zwischen den Gruppen. Wenn
wir das begreifen könnten, würden vielleicht
auch wieder Bücher über Männer und Frauen
geschrieben, die eine Lektüre lohnen. l
Scheidegger & Spiess
Über die Männlichkeit, die
sich angesichts der Widersprüche neu erfinden muss,
möchte man in den neuen
Publikationen gerne etwas
mehr erfahren.
Hose» beim Sex zu: «In dem Augenblick, da
seine Freundin ihm grünes Licht gibt, ist er
bereit, das Gaspedal durchzutreten und das
gelobte Land anzusteuern.» Wir sehen, «wie
alle Gehirnareale, die für Sex nicht notwendig
sind, deaktiviert und dunkel werden. Sein
Gehirn sendet an den Körper nur die Nachricht
‹Rein damit!›». Trostloser wurde über Liebe nie
geschrieben – was bei Woody Allen in «Was Sie
schon immer über Sex wissen wollten, aber nie
zu fragen wagten» 1972 noch Parodie war, wird
hier schlüpfriger Ernst.
UTE SCHEUB / MICHAEL JANG
Welt. «Der arabische Mann ist an den hohen
Erwartungen seiner Gesellschaft gescheitert»,
sagt Marzarweh; obwohl das Patriarchat auch
in den islamischen Ländern geschwächt sei,
«fordern die Väter weiterhin Macht und
Respekt und die Söhne weiterhin Schutz, denn
sie wollen ihre Väter als Helden sehen». Über
Männlichkeit, die sich angesichts solcher
Widersprüche neu erfinden muss, hätte man
gern mehr erfahren – ebenso über Rwanda, wo
nach dem Genozid im Parlament fast 50 Prozent
Frauen sitzen (die höchste Quote weltweit),
oder über Norwegen, wo das Gesetz seit einiger
Zeit in Aufsichtsräten eine Frauenquote von
40 Prozent vorschreibt. Ute Scheub erwähnt
diese Entwicklungen zwar, jedoch ohne sie
zu vertiefen.
Während Ute Scheub das Augenmerk ganz
auf die sozialen und politischen Bedingungen
von Männlichkeit richtet, sind Männer für die
amerikanische Neurobiologin und Psychotherapeutin Louann Brizendine nichts als die
Summe ihrer Gene, Hormone und «Gehirn-
Kolumne
Charles Lewinskys Zitatenlese
GAËTAN BALLY / KEYSTONE
Wo nehm ich nur all
die Zeit her, so viel
nicht zu lesen?
Charles Lewinsky,
63, ist Schriftsteller,
Radio- und TV-Autor
und lebt in Frankreich.
Sein letztes Buch
«Doppelpass» ist
2009 bei Nagel &
Kimche erschienen.
Kurzkritiken Sachbuch
Rudi Palla: Verschwundene Arbeit.
Brandstätter, Wien 2010. 264 Seiten,
335 Abbildungen, Fr. 56.90.
Lars Schultze-Kossack (Hrsg.): Zur(e)ich
brennt. Europa-Verlag, Zürich 2010.
255 Seiten, Fr. 26.–.
Was ein Nagelschmied, was ein Schriftgiesser tut, das können wir uns noch vorstellen. Aber was stellt ein Schopper her,
und was macht ein Schinder? Womit verdienten ein Löher oder ein Posamentierer ihr Geld? Der Autor liefert in seinem
liebevoll illustrierten Nachschlagewerk
ein A bis Z der Handwerke, die im
19. Jahrhundert noch praktiziert wurden
und heute fast verschwunden sind. Belehrend und gleichzeitig unterhaltend
erfahren wir von hoch spezialisierten
Tätigkeiten wie dem Schwammstoffkrämer, der aus Baumpilzen samtweiche
und federleichte Westen und Hosen herstellen konnte, indem er die Pilze in
Aschelauge legte, trocknete, zuschnitt
und zusammennähte. Wer könnte solches heute noch? Leider erfährt die interessierte Leserin nicht, welche Berufe
damals auch den Frauen offenstanden. Es
dürften – wie die Illustrationen zeigen –
mehr sein, als man gemeinhin annimmt.
Geneviève Lüscher
Vor 30 Jahren – am 30. Mai 1980 – erschütterte der Opernhauskrawall Zürich. Der
junge deutsche Verleger Lars SchultzeKossack will mit diesem neuen Jubiläumsbuch den alten Europa-Verlag von
Emil Oprecht wiederaufleben lassen. Das
zweite Ziel ist lobenswert, das erste
misslungen. Der Sammelband stellt ein
Konglomerat dar von Dokumenten der
damaligen «Bewegig» (Flugblätter, Fotos,
Covers), politischen Analysen (darunter
ein bemerkenswerter Text von Hugo
Bütler von 1981) sowie dem Nachdruck
von Reto Hännys Bericht über seine Verhaftung «Zürich, Anfang September»
(1981). Manches ist durchaus von historischem Interesse, anderes atmet den
Geist jugendseliger Nostalgie oder des
Schweiz-Lamentos damaliger Kulturschaffender. Alles scheint sehr, sehr fern,
kaum noch aktuell. Zudem ist das Buch
teils sprachlich unbeholfen und schlecht
lektoriert: ein Fehlstart.
Urs Rauber
Niklas Maak: Der Architekt am Strand.
Edition Akzente, Hanser, München 2010.
240 Seiten, Fr. 31.90.
Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines
Philologen. Philipp Reclam jun., Stuttgart
2010. 416 Seiten, Fr. 43.50.
Le Corbusier war der Architekt der rationalen Moderne, der klare Baukörper
bevorzugte und für seine urbanistischen
Ideen auch brachiale Eingriffe nicht
scheute. Nach 1945 gab er sich ein neues
Image, liess sich eher am Strand statt mit
Fliege und Anzug fotografieren und suchte Anregungen in der Natur. Die Kapelle in
Ronchamp wurde mit ihrem muschelförmig geschwungenen Dach und ihrem mystisch aufgeladenen Innenraum zu einer
Ikone des Wandels, auf den viele Zeitgenossen in heftiger Ablehnung reagierten.
Seine neuen Anschauungen gewann der
Architekt in Auseinandersetzung mit den
Gedanken Paul Valérys. Niklas Maak
zeichnetnach,wieLeCorbusierdieSchriften «Der Mensch und die Muschel» und
«Eupalinos» des Philosophen und
Muschelsammlers gelesen und missverstanden hat. Ein ebenso amüsantes wie
aufschlussreiches Vergnügen.
Gerhard Mack
Scharf erkannte er, wie Hitlers Kürzelmanie dazu diente, eine verschworene
Gemeinschaft zu suggerieren – und
brauchte doch selbst ein Kürzel für sein
Projekt: «LTI» für Lingua Tertii Imperii,
Sprache des Dritten Reiches, heisst das
Buch, an dem Victor Klemperer (1881–
1960), jüdischer Romanist in Dresden, in
den Jahren seiner Verfolgung arbeitete.
Als eigenwillige Mischung von Zeugenbericht, Tagebuch, Wörtersammlung und
philologischer Analyse erzählt «LTI»,
wie sich Hitlers verlogen-sentimentale
Sprache sämtlicher Lebensäusserungen
im Dritten Reich bemächtigte, vom
«Deutschen Katzenwesen» bis zur «stolzen Trauer» der Gefallenen-Anzeigen.
«LTI» wurde zum Kultbuch der Nachkriegsjahre, zunächst in der DDR, dann
auch im Westen. Nun liegt eine äusserst
sorgfältig gestaltete und kommentierte
Neuausgabe dieses Klassikers wieder vor.
Kathrin Meier-Rust
Karl Kraus
Manchmal sind uns die Götter der
Literatur gnädig.
Sie bestrafen uns nicht, weil wir ein
wichtiges Buch nie gelesen haben,
sondern belohnen uns noch dafür.
Indem sie uns in reifen Jahren ein
Vergnügen schenken, das wir als junge
Schnösel gar nicht richtig hätten geniessen können. Die Gnade der späten
Lektüre, gewissermassen.
Mir geht es immer wieder mal so.
Denn ich muss gestehen: Ich habe
ganze Buchhandlungen voller Bücher
nie gelesen. Für einen «Bücher am
Sonntag»-Kolumnisten bin ich definitiv
nicht belesen genug.
(Wobei mir das immer als falsche
Verbform erschienen ist. Eigentlich
müsste es doch heissen: «Für einen
‹Bücher am Sonntag›-Kolumnisten habe
ich mich nicht genügend belesen.»)
Über meinen Bildungsmangel habe
ich mich immer mit der Ausrede
hinweggetröstet, dass man bei vielen
Büchern die Zeit am besten investiert,
indem man sie nicht liest. Als Nichtleser weiss man ja zum Glück nicht,
was man verpasst.
Peinlich wird es nur, wenn einem
irgendwann ganz zufällig ein Buch in
die Hand gerät, an dem man desinteressiert vorbeigegangen ist. Und
man dann feststellt, welchen Lesegenuss man sich da hat entgehen lassen.
Mir ging das gerade so mit einem
Roman von …
Nein, halt, machen wir doch ein kleines Quiz daraus. Wenn Sie das Buch
kennen, dann wird Sie die Wortmächtigkeit und Formulierungsphantasie
des folgenden Zitates schon nach dem
ersten Halbsatz wissend nicken lassen.
Wenn Sie es aber, so wie ich, immer
verpasst haben, dann gratuliere ich
Ihnen von Herzen. Zu dem Lesespass,
den sie noch vor sich haben.
Hier also das Zitat. Es geht um
die Beschreibung einer Blasmusikprobe: «Im Gang hört man zuerst nur
ein Räuspern und Stühleschirken,
ein Antuten, Anfurzen und Anprusten,
ein Hintergrundgrunzen, Hinaufventilieren und Zugstöhnen, ein
Herumdudeln, Nachmuhen und Bassgrochsen, bis sich das Klöpfeln des
Dirigentenstocks durchsetzt.»
Wiedererkannt? Dann sind Sie jetzt
wahrscheinlich schon unterwegs zu
Ihrem Bücherregal, um die Bekanntschaft zu erneuern. Und sonst: Kaufen,
ausleihen, stehlen! Es gibt eine wunderbar verschrobene Schulmeisterund Friedhofsgeschichte zu entdecken.
«Schilten», von Hermann Burger.
Zum ersten Mal erschienen 1976.
In einem Jahr, in dem
ich offensichtlich genügend Zeit hatte, um ein
so faszinierendes Buch
nicht zu lesen.
30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
© Escargot Productions / Carey Moor
Der neue Roman
von Peter Mayle –
lustvoll und
unverschämt raffiniert .
Sachbuch
Biografie Er schrieb Weltliteratur und verzehrte sich nach der reinen
Liebe. Eine neue Monografie lässt den französischen Schriftsteller
Stendhal wieder aufleben
«Hättest Du
lieber drei
Frauen gehabt?»
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<wm>10CEXLMQ6AIBBFwRNB3gI_iFsiVsYYNd7_KCY2FlPOtrkinz72e5xuUFIAcpGbFBtF5nVStFarIyNhzEZGuQn_Q-hLuGCFB4vHsr64o4iQYAAAAA==</wm>
Johannes Willms: Stendhal.
Biographie. Hanser, München 2010.
333 Seiten, Fr. 42.90.
Von Andreas Tobler
Deutsch von Ursula Bischoff
Gebunden mit Schutzumschlag
256 Seiten | 31,90 CHF (empf.VK-Preis)
Französische Spitzenweine im
Wert von drei Millionen Dollar
sind in Los Angeles aus einem
Weinkeller gestohlen worden.
Die Spur führt nach Marseille ...
Eine spannende Handlung
voller Esprit, Charme und Flair.
Nähere Infos und Leseprobe
auf www.blessing-verlag.de
16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010
Ihm waren neunundfünfzig Jahre und
drei Monate beschieden. Die letzten
fünfundzwanzig Jahre seines Lebens
schrieb er unter dem Pseudonym, unter
dem wir ihn heute kennen: Marie-Henri
Beyle, geboren 1783 in Grenoble, gestor-
Stendhal (1783–1842)
Stendhal, eigentlich Marie-Henri Beyle,
schuf mit den Romanen «Rot und Schwarz»
(1830) und «Die Kartause von Parma»
(1839) zwei Monumente der Weltliteratur. Zu den wichtigsten Ereignissen
seines ausserliterarischen Lebens zählen die Teilnahme an Napoleons Italienfeldzug von 1800 und die Jahre in
Braunschweig (1806–1808), wo er eine
Zeitlang als Kriegskommissar der
französischen Besatzungsmacht wirkte.
1812 nahm Stendhal am Russlandfeldzug teil und erlebte den Brand von
Moskau als «ein grossartiges Spektakel».
Den Rückzug der Grande Armée überlebte er unbeschadet. Nach dem Sturz
Napoleons begann Stendhal in Mailand
und Paris seine Schriftstellerkarriere
voranzutreiben.
ben 1842 in Paris nach einem Schlaganfall, unsterblich geworden mit seinen
Romanen «Rot und Schwarz» und «Die
Kartause von Parma», die er als Stendhal
veröffentlichte.
Auf seinen Grabstein wollte Stendhal
die folgenden Worte setzen lassen:
«Arrigo Beyle, Milanese. Visse, scrisse,
amò. Quest’anima adorava Cimarosa,
Mozart e Shakespeare.» Auf Deutsch:
«Arrigo Beyle, Mailänder. Er lebte,
schrieb, liebte. Diese Seele verehrte
Cimarosa, Mozart und Shakespeare.»
Wie es dazu kam, dass der Pariser
Salonlöwe sich als Mailänder fühlte,
warum der Romancier auf seinem Grabstein mit Shakespeare ausgerechnet
einen Dramatiker aus seinem literarischen Pantheon hervorhob, warum er
darauf bestand, der Nachwelt die Information zukommen zu lassen, dass er
nicht nur gelebt und geschrieben, sondern – last but not least – auch geliebt
hatte, erläutert Johannes Willms im
grossen Bogen seiner ausgezeichneten
Stendhal-Biografie. Mit ihr hat der Kulturkorrespondent der «Süddeutschen
Zeitung» in Paris nach Napoleon und
Balzac einen weiteren Heroen aus
Frankreichs Ruhmeshalle in einem eingängigen Buch porträtiert.
Sehnsuchtsstadt Mailand
«Mailand umfängt mich mit sehr zarten
Erinnerungen. Hier verbrachte ich die
süssen Jugendjahre. Hier habe ich am
intensivsten geliebt. Hier auch wurde
BIANCHETTI / LEEMAGE
als Verkleidung aufgesetzt hatte. Mailand war für Stendhal zum verbotenen
Paradies und zum Ort seiner ungestillten Sehnsucht geworden.
Vergeblich waren in Stendhals Leben
aber vor allem seine kraftvollen Liebesmühen. Denn bei allen amourösen und
sexuellen Aktivitäten, die er entfalten
konnte und die ihm als Erinnerung an
seine Zeit in Braunschweig eine –
damals unheilbare – Syphilis eintrugen,
blieb seine Suche nach der grossen
Liebe vergeblich, die seinem Leben
ausserhalb der Literatur einen tieferen
Sinn zu geben vermochte. Anschaulich
schildert Willms, wie Stendahl – obwohl
alles andere als ein Beau – in jungen
Jahren in Gedanken einem Donjuanismus anhing, sich in die Rolle eines ausgebufften Schwerenöters vom Schlage
eines Valmonts aus Choderlos de Laclos’ «Liaisons dangereuses» träumte.
Bald wähnte er sich in der Rolle eines
Saint-Preux aus der «Nouvelle Héloïse»,
dann wieder ging er Liebschaften ein,
die nur seiner éducation sentimentale
dienten, die also von vornherein als
Experimente angelegt waren, um ausserhalb der Welt der Bücher praktische
Erfahrungen in der Liebe sammeln und
sich schon bald wieder die nächste Protagonistin für seinen Lebensroman
suchen zu können.
Von Balzac geadelt
mein Charakter entscheidend geprägt.
Jeden Tag wird mir aufs neue bewusst,
dass ich ein italienisches Herz habe»,
heisst es in einem Brief, in dem Stendhal
Rückschau auf sein Leben hielt. Eine
erste Bekanntschaft mit Italien und seiner späteren Sehnsuchtsstadt Mailand
machte Stendhal auf Napoleons Italienfeldzug von 1800, an dem er als ein nicht
uniformierter Hilfsarbeiter im Truppenverwaltungsdienst einer Invasionsarmee der Nachhut teilnahm. «Was! Mehr
ist es nicht?», soll der damals 17-jährige
Stendhal wiederholt während des Feldzugs gefragt haben, den der junge Mann
offensichtlich mit der Abenteuer- und
Sensationslust eines Schlachtenbummlers erlebte.
Den St. Bernhard überquert, hörte
er erstmals eine Oper von Domenico
Der Lebemann und
Romancier Stendhal
entfaltete amouröse
Aktivitäten und
suchte Shakespeare
nachzueifern (Porträt
19. Jahrhundert).
Cimarosa, und in Mailand konnte er die
Scala besuchen, ein erhebendes Erlebnis, das sich in den Jahren nach 1814
regelmässig wiederholen konnte, als
sich Stendhal in Mailand niederliess.
Doch im Juni 1821, sechs Jahre nach dem
Ende der Besatzung durch Napoleon,
wurde das Pflaster von Mailand zu heiss
für ihn: Die österreichische Obrigkeit
verdächtigte ihn, ein gefährlicher Liberaler zu sein, und die Mailänder Gesellschaft wähnte in ihm einen französischen Spitzel. Stendhal sah sich dazu
gezwungen, Mailand zu verlassen.
Weitere sechs Jahre später sollte er
nochmals einen verzweifelten Versuch
unternehmen, sich in seiner geliebten
Stadt mit dem Dom und der Scala niederzulassen. Vergeblich. Man erkannte
ihn trotz der teuren Perücke, die er sich
Rückblickend wirken diese zahlreichen,
letztlich immer schmerzvollen Liebesbemühungen wie eine Erfahrungsschule, eine Vorbereitung auf die grossen
Romane, die Stendhal nach einigen
dubiosen und wenig gelungenen Buchpublikationen erst jenseits der vierzig
schreiben konnte, nachdem er sich während Jahren mit Dramen abgemüht
hatte, weil er von der fixen Idee besessen war, dass es ein Patentrezept für
Stücke im Range eines Shakespeare gibt.
Noch ein Jahr vor seinem Tod, als
«Die Kartause von Parma» bereits von
Balzac mit einer hundertseitigen Kritik
geadelt worden war, stellte sich Stendhal
in seinem Tagebuch die Frage: «Hättest
Du lieber drei Frauen gehabt oder diesen Roman geschrieben?» Die Beantwortung dieser Frage war zu diesem
Zeitpunkt nur noch ein Gedankenspiel.
Die Frage, ob er Schöpfer von Weltliteratur sein oder ein erfülltes Liebesleben
haben möchte, war – wie Willms schreibt
– «letztinstanzlich» entschieden. Demütig blickt man in diesem Moment auf die
Stendhal-Bände im Bücherregal, auf den
Roman «Rot und Schwarz» und auf «Die
Kartause von Parma», die der HanserVerlag kürzlich in der ausgezeichneten
Übersetzung von Elisabeth Edl herausgebracht hat: Was für wundervolle
Bücher Stendhal den «happy few», seinen Lesern, geschenkt hat, denen er
seine beiden grossen Romane widmete!
Und doch trauert man in diesem
Moment um den Menschen Henri Beyle,
der mit Willms’ Biografie vor unseren
Augen auflebt, der Weltliteratur schrieb
und sich doch – last but not least – mit
ungestilltem Verlangen nach der reinen
Liebe verzehrte. l
30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch
Voodoo Vor der Fussball-Weltmeisterschaft in Südafrika stellt sich
die Frage, welchen Anteil Hexerei und Rituale am Sieg haben
Siebzig Prozent Zauber,
dreissig Prozent Training
Oliver G. Becker: Voodoo im Strafraum.
Fussball und Magie in Afrika. C. H. Beck,
München 2010. 198 Seiten, Fr. 17.90.
Von Martin Helg
ANDREAS MEIER
Fussball bleibt mysteriös. Noch nie hat
eine Mannschaft ein Turnier am Reissbrett gewonnen, und dennoch grassiert
weltweit der Aberglaube, der Ausgang
von Spielen lasse sich durch Technik und
Taktik in den Griff bekommen. Weltweit?
Nicht ganz. In Afrika jedenfalls, wo in
den nächsten Wochen die Weltmeisterschaft in Szene geht, gibt es noch ein paar
Dinge mehr zwischen Himmel und Erde
– Séancen auf Friedhöfen, geköpfte
Hähne und vergrabene Fuchskadaver
sind Ausdruck des Bemühens, okkulte
Mächte in die Strategiepläne einzubeziehen. «Die Spieler sollen nicht zu viel trainieren», hat ein ugandischer Heiler einmal geraten. «Sie sollten 70 Prozent Zauberei benutzen und 30 Prozent Training.»
Zum Wesen der Hexerei gehört, dass
sie ihre Rezepte geheim hält. Dennoch
ist es dem Politologen und Dokumentarfilmer Oliver G. Becker gelungen, den
Magiern auf die Finger zu schauen.
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010
Sogar eine Kamera durfte er mitnehmen, als er für den Dokumentarfilm
«Kick the Lion» (2006) drei Monate
lang durch Südafrika, Swasiland, Uganda, Tansania und Ghana reiste. Becker
sprach mit Spielern, Trainern und Wunderheilern, erlebte «Geschichten von
beglückender Lebensfreude» und tauchte in «Lebenswelten, deren Düsternis
den Betrachter mit Grauen erfüllt». So
sehr liess er sich von seinem Thema verhexen, dass er es jahrelang weiterverfolgte und nun ein Buch nachlegt.
Löwenfett am Trikot
Wie also wird’s gemacht? Beim südafrikanischen Klub Huntington United etwa
erkundigt sich der Trainer vor dem Spiel
beim Heiler des Klubs nach der magischen Taktik des Gegners und lässt sich
den entsprechenden, je nach Mannschaftsteil variierenden Gegenzauber
verschreiben. Dann werden die Trikots
in einem Bottich mit Tier- und Pflanzenteilen behandelt. Hufe von Zebras fördern Schusskraft und Ausdauer, Hände
von Affen die Sprungkraft. Etwas Löwenfett, am unteren Rand seines Goalie-Trikots angebracht, damit der Torhüter den
Ball daran reiben kann, bevor er ihn
abschlägt, lässt die Stürmer mit der Stärke von Löwen auftreten. Wegen ihrer
Beweglichkeit und hohen Verfügbarkeit
beliebt sind zudem schwarze Hähne;
aber auch weisse Kühe, lebendig begraben, kommen zum Einsatz.
So befremdend solche Bräuche Mitteleuropäern vorkommen mögen: Das
Schweizer Sturmtalent, das den Rasen
nur mit dem rechten Fuss betritt, der
deutsche Trainer, der im Team-BuildingWorkshop über glühende Kohlen geht,
sie sind gar nicht so weit von der Voodoo-Praktik entfernt. Hier wie dort
dient das Ritual, psychologisch gesprochen, dazu, den Glauben an den Erfolg
autosuggestiv zu bekräftigen. Im Fall
von Voodoo können die Psycho-Praktiken allerdings schnell in Widerspruch
zum Fairplay-Gedanken führen – nämlich dann, wenn sie auf die Schwächung
des Gegners zielen. So berichtet ein
malischer Magier von einem Medikament, das Fussballer befähigt, sich im
gegnerischen Strafraum zu verdoppeln.
Der Coach des südafrikanischen
Klubs Kaizer Chiefs erzählt, wie er bei
Auswärtsspielen wiederholt stinkende
Tierteile und blutverschmierte Wände
in der Kabine vorfand. Wenn solche Provokationen den Zorn der Massen erregen, wird es gefährlich. Als im Dezember 2008 der Goalie des kongolesischen
Klubs Nyuki Systems in den gegnerischen Strafraum stürmte, um einen
Fetisch, den er dort vermutete, mit einer
flüssigen Substanz zu neutralisieren,
kam es zu einer Prügelei mit Massenpanik. 13 Menschen starben.
Weltmeister aus Afrika
Zuschauer, Doktor,
Naturheiler oder
einfach Showeinlage?
Afrika Cup 2008 in
Accra, Ghana.
Solche Kollateralschäden sind aber
nicht das einzige Risiko der Hexerei.
Viel häufiger kommt es vor, dass eine
Voodoo-Prozedur nicht zum Ziel führt
– zumal der Gegner ja mit ähnlichen
Mitteln operiert. Wenn nicht sogar mit
besseren: Das behaupten Witch-Doctors, deren Methoden versagt haben, um
noch mehr Geld für Hexen-Material zu
fordern. Meist stossen sie bei Klub- und
Verbandspräsidenten auf offene Ohren.
In Tansania sollen Nationalspieler nicht
bezahlt worden sein, weil der ganze Etat
an die Magier ging. Durch kein Geld der
Welt zu beseitigen ist allerdings der
Missstand, dass magische Praktiken
einem Team den Schlaf rauben können
– dies deshalb, weil sie im Dunkeln besser funktionieren als bei Tageslicht. Wer
aber die ganze Nacht auf dem Friedhof
die Toten anruft, dem fehlt am nächsten
Tag die Spritzigkeit.
Allen magischen Fertigkeiten zum
Trotz ist noch nie ein afrikanisches
Team Weltmeister geworden. Zur WM
1974 in Deutschland liess der zairische
Staatspräsident Mobutu Sese Seko neun
als Betreuer getarnte Witch-Doctors
einfliegen, trotzdem verlor Zaire 0:9
gegen Jugoslawien. Aber Achtung:
Innerhalb Afrikas soll Voodoo weit besser funktionieren! Obwohl Oliver G.
Beckers Einführungswerk dem Anfänger durchaus einen Begriff davon gibt,
was Magie im Fussball so ungefähr sein
könnte, reicht es als Wegleitung zum
Gewinn der Weltmeisterschaft wohl
nicht aus. Nichtafrikanische Titelanwärter tun deshalb gut daran, sich direkt am
Kap der Guten Hoffnung nach einschlägigen Kontakten zu erkundigen. l
Islam Ayaan Hirsi Ali fordert eine bessere Integration und warnt vor Kulturrelativismus
Der Schleier, der die Trägerin versklavt
Ayaan Hirsi Ali: Ich bin eine Nomadin.
Mein Leben für die Freiheit der Frauen.
Piper, München 2010. 347 S., Fr. 34.90.
Leidenschaftlich und kämpferisch ist das
neue Buch von Ayaan Hirsi Ali. Nach dem
fulminanten Plädoyer gegen Genitalverstümmelung «Ich klage an» (2006) und
ihrer Autobiografie «Mein Leben, meine
Freiheit» (2007) richtet sich die 41-jährige Islamkritikerin «mit dem Look eines
Pariser Models und der Schärfe einer
Anklägerin des Haager Strafgerichts»
(«Die Zeit») nun an den Westen. Bejubelt
und verfolgt, musste die Somalierin nach
dem Mord an Theo van Gogh, mit dem sie
in den Niederlanden den Film «Submission» realisiert hatte, teilweise in den
Untergrund. Heute lebt sie in den USA
und ist dank ihren Bestsellern zu einer
Ikone der Frauenbewegung geworden.
Ihre zentrale Botschaft lautet: Der
Westen muss mit den Befürwortern des
Heiligen Krieges einen Kampf um die
Herzen der muslimischen Immigranten
führen. Er muss ihnen Bildung geben, die
Frauen schützen und eine andere Spiritualität anbieten. Für Ayaan Hirsi Ali sind
die verschiedenen Formen des muslimischen Schleiers nur Stufen der geistigen
Versklavung. Er schottet Frauen von den
Männern und von der Welt ab.
Hirsi Ali schildert ihre Herkunft, Traditionen und Familie: Vater, Mutter,
Schwester, Bruder, ihre Cousins und
Halbcousinen. Ihr Buch ist eine schmerzhafte Reise zurück zu den Wurzeln, offen
und selbstkritisch. Immer noch plagen
sie Schuldgefühle gegenüber ihrem Clan,
weil sie sich zur Schande ihrer Eltern von
der Religion ab- und westlichen Werten
zugewendet hat. Es war ihr persönlicher
Weg der Befreiung von Rückständigkeit
und patriarchalem Verhalten, hin zu
Toleranz, individuellem Verantwortungs- und Pflichtgefühl, zu Offenheit
und Fortschritt. Es wäre nach Hirsi Ali
auch der Weg der islamischen Gesell-
JUSTIN JIN / PANOS
Von Urs Rauber
Musliminnen in
Grossbritannien:
Ayaan Hirsi Ali
plädiert fulminant
für die Befreiung der
Frauen.
schaft, die durch Immobilismus und
Unterdrückung der individuellen Freiheiten sonst im Dunkeln der Armut und
Vergangenheit versinke.
2006 wurde Hirsi Ali von der niederländischen Immigrations-Ministerin Rita
Verdonk die Staatsbürgerschaft entzogen, weil bekannt wurde, dass sie im 15
Jahre zurückliegenden Asylverfahren
geschwindelt hatte (sie hatte politische
Verfolgung statt die Flucht aus einer
Zwangsehe vorgeschützt). Doch der
Sturm in Parlament und Öffentlichkeit
war derart gross, dass Verdonk den Entscheid zurückziehen musste und darob
die Regierung stürzte. Trotzdem entschloss sich Hirsi Ali, in die USA auszuwandern, wo sie seither für einen wirtschaftsnahen Think-Tank arbeitet.
Seither reist sie, auch wenn die Angst
vor fanatischen Muslimen nicht ganz weg
ist, im Land herum, hält Vorträge und
warnt vor der Zunahme «verschleierter
Schulmädchen» und vor dem Vormarsch
des radikalen Islams im Westen. Ihr Buch
stellt eine Mischung dar aus biografi-
schen Passagen – ihr Nomadenleben, das
sie aus Somalia über Kenya, Äthiopien
und die Niederlande in die USA führte –
und Reflexionen über die grundlegenden
Mängel und Schwächen ihrer Religion.
Als Lösung skizziert sie drei Hauptforderungen für die Intergration von Muslimen im Westen: Selbstbestimmung der
Frauen in der Sexualität, Übernahme von
Verantwortung in finanziellen Angelegenheiten, Durchsetzung des Gewaltverzichts in Erziehung und Alltag. An den
Islam richtet sie die Forderung, sich in
jeder Hinsicht zu öffnen. Seine Aufklärung stehe ihm erst noch bevor. Hirsi Ali
kritisiert aber auch den Kulturrelativismus gewisser westlicher Feministinnen
– sie nennt stellvertretend Germaine
Greer –, die sich bei der Kritik an afrikanischer Genitalverstümmelung seltsam
zurückhielten.
Dem sehr engagierten Buch Hirsi Alis
sind gerade jetzt, da sich der fundamentalistische Islam in westlichen Ländern
ausbreitet, möglichst viele Leserinnen
und Leser zu wünschen. l
neuerscheinungen bei hier + jetzt
In der Bergbahn von der
Muse geküsst
Schafwirtschaft in
extremis
embrüf, embri
Die Heimkehr der
Schafe
Thomas Schuppisser,
Michael T. Ganz
144 S., 100 Abb.,
gebunden
Fr.58.–, € 34.80
«Die kühnste Bahn
der Welt»
Die Rhä­tische Bahn in
Literatur und Kunst
Hg. Hans Peter Häberli
276 S., 58 Abb. und Karten,
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Die heilende Kraft der
Schweizer Natur
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Zauber Berge
Die Schweiz als
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Eberhard Wolff
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Russische Pionierinnen
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Ganz Europa blickt
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Das schweizerische
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30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Frauenfreundschaft Die Germanistin Angela Steidele schreibt die Geschichte der leidenschaftlichen
Liebe zwischen Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens
Intime weibliche Bekenntnisse
Angela Steidele: Geschichte einer Liebe –
Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens.
Insel, Berlin 2010. 335 Seiten, Fr. 42.90.
Von Kirsten Voigt
Zu einer Liebesgeschichte gehören leider meist nicht nur zwei. Das ist ein
Umstand, der liebesmüde macht. Die
Geschichte, die Angela Steidele souverän und sachlich, eng entlang an der
Fülle von ihr ausgewerteter historischer
Quellen erzählt, war reich an allem, was
eine Liebe gross und schmerzlich werden lässt. Denn in die Beziehung von
Adele Schopenhauer (1797–1849) und
Sibylle Mertens (1797–1857) mischten
sich nicht nur ein Ehemann, sechs Kinder, eine Mutter und ein Bruder, sondern auch reichlich attraktive Nebenbuhlerinnen ein – darunter sogar die
Schriftstellerinnen Annette von DrosteHülshoff und Anna Jameson.
Mit Liebeshändeln und Herzeleid
hatte Adele Schopenhauer, die Schwester des Philosophen Arthur Schopenhauer, schon in Weimar prägende Erfahrungen gesammelt, wo ihre Mutter
Johanna ihren berühmten Salon unterhielt. Dort war der kleinen Adele
Goethe zu einem über die Vielfalt ihrer
Talente entzückten Ersatz-Vater geworden, dort erwarb sie ihre literarische
und kunstkritische Kompetenz, aber
auch ihre Fähigkeit, die Freunde in
anmutigen Scherenschnitten zu porträtieren.
Mit siebzehn eröffnete sie ihrer
Freundin Ottilie von Pogwisch, was in
ihr vorging: «Mit jeder Kraft meines
Daseyns liebe ich Dich, mit jedem
Gefühle, das in mir ist.» Zu mehr als
Freundschaft mit Frauen empfand Ottilie allerdings keine Neigung – die richtete sich vielmehr ganz auf August,
den Sohn Goethes, den sie 1817 heiratete. Für Adele der bohrendste Kummer
ihres Lebens.
der Konvention, wovon auch Dokumente
zeugen, die Steidele vor dem Einsturz
des Kölner Stadt-Archivs exzerpierte
und so teilweise rettete.
Steideles Verdienst ist es ausserdem,
dass sie – anders als mancher Philologe
vor ihr – die Äusserungen ihrer Protagonistinnen unverbrämt wörtlich nimmt,
intime Bekenntnisse auch als das liest,
was sie waren: Ausdruck erotischer
Bedürfnisse und sexuellen Begehrens.
Die hier dokumentierten Frauenleben
wie auch Steideles bewegendes Doppelporträt sind die glänzendste Widerlegung
all jener verheerenden Äusserungen von
Adeles Bruder Arthur Schopenhauer
über Frauen, der ihnen Verstand, die
Fähigkeit zur Selbstbestimmung und jeglichen Sinn für Kunst und Wissenschaft
absprach. l
So lebte man zwischen 1829 und 1834
zusammen, hatte wohl in einer heimlichen Zeremonie, von der ein Gedicht
Adeles zeugt, sogar «geheiratet»: «Du
aber bleibst nun meine Welt / Im Ring,
der uns zusammenhält.» Doch Louis
Mertens hintertrieb die Beziehung, und
Sibylle zeigte sich anfällig für Avancen
anderer Damen.
Adele widerlegt Arthur
So trennten sich Sibylle und Adele für
sieben Jahre – auf der Suche nach Unabhängigkeit. Im Jahr 1842 stirbt Mertens.
Dieses Ableben öffnet ihnen den Rückweg in ihre nun vertiefte Beziehung.
Beide hatten sich in ihren Briefen, die
Angela Steidele sorgsam und ohne
Beschönigungen auswertet, selbst erforscht, ihren Gefühlen mehr vertraut als
Fotografie Inszenierte Wirklichkeit
Infiziert mit der Antike
Zur selben Zeit wird im von Steidele farbig beschriebenen Köln Sibylle als
Tochter des Bankiers Abraham Schaaffhausen geboren. Er ist ein enger Freund
des Kunstsammlers Ferdinand Franz
Wallraf. In dessen chaotischem Sammlungskosmos infiziert sich Sibylle mit
jener Leidenschaft für die Antike, die sie
schliesslich zu einer der bedeutendsten
Altertumskundlerinnen ihrer Zeit werden lässt. Im Jahr 1816 wird sie dem
geistlosen Bankkaufmann Louis Mertens zur Frau gegeben, mit dem sie nach
Ansicht der Droste eine «Höllenehe»
führte.
Als Adele und Johanna Schopenhauer
1828 den Salon der «Rheingräfin» Mertens-Schaaffhausen besuchen, sind sie
fast bankrott. Sibylle verliebt sich stürmisch in Adele, versteht es, Mutter und
Tochter zur Übersiedlung an den Rhein
zu bewegen und finanziert sie generös.
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010
Marianne Breslauers Porträt von Annemarie Schwarzenbach ist längst zur Ikone geworden. Das Werk der
Fotografin umfasst aber viele weitere Bilder von
Frauen – an der Arbeit, in der Freizeit (oben: am Ufer
der Havel in Sacrow, Potsdam 1934). Breslauer fotografierte den damals modernen Frauentyp: Mit eng
am Kopf liegender Kurzhaarfrisur und meist Zigarette
rauchend verkörpern diese Frauen eine der ersten
selbstbewussten, berufstätigen Generationen im Berlin der zwanziger und dreissiger Jahre, zu der sich
auch Breslauer zählt. Als Fotografin übt sie einen
Beruf aus, der damals geradezu als Verkörperung dieser modernen Frau gilt. Sie ist begabt und bildet sich
in Paris bei Man Ray weiter. Ihre Bilder verraten eine
gute Beobachterin, die gekonnt Licht und Perspektive
einzusetzen weiss. 1936 emigriert sie, da sie ihrer
jüdischen Wurzeln wegen in Deutschland nicht mehr
publizieren darf, nach Amsterdam, wo sie Walter Feilchenfeldt heiratet. Das Paar richtet sich in Zürich
eine neue Existenz im Kunsthandel ein. Das fotografische Werk kommt erst nach dem Tod Marianne Breslauers 2001 wieder zum Vorschein. Die Fotostiftung
Schweiz hat der Fotografin wenige Wochen nach
dem 100. Geburtstag in Winterthur eine Ausstellung
ausgerichtet. Geneviève Lüscher
Marianne Breslauer: Fotografien. Kathrin Beer,
Christina Feilchenfeldt (Hrsg.). Nimbus, Wädenswil
2010. 216 Seiten, Fr. 88.–.
Weltwirtschaft Nobelpreisträger Joseph Stiglitz handelt seine alten Thesen an neuen Entwicklungen
ab – nicht ganz frei von Moralisierung und Allgemeinplätzen
Es war kein Unfall – der Wurm
sitzt im System
Joseph Stiglitz: Im freien Fall.
Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft. Siedler,
München 2010. 448 Seiten, Fr. 43.90.
Wer sich schon länger mit der Person
des Nobelpreisträgers Joseph Stiglitz
und seiner Kritik am Weltwirtschaftssystem befasst, findet in dessen jüngstem Buch vielleicht nicht viel Neues.
Doch die Lektüre lohnt sich selbst
dann, wenn man sich «nur» darin
bestätigt fühlt, was man bisher schon
mit dem Volkswirtschaftsprofessor an
der Columbia University verbunden
hat. Der ehemalige Berater von US-Präsident Clinton und Ex-Chefvolkswirt
der Weltbank stellt die Verantwortlichen – Aufsichtsbehörden, Gesetzgeber, Notenbanken, Financiers – der
grössten Finanzkrise seit der grossen
Depression in den dreissiger Jahren
sowie deren volkswirtschaftliche Modelle an den Pranger. Eindrücklich und
gut verständlich fasst er die Gründe der
Krise zusammen und zeigt schematisch
auf, wie man das System auf eine gesundere Grundlage stellen könnte.
Gewusst, aber ignoriert
Grundsätzlich glaubt der Ökonom
daran, dass im Zentrum aller erfolgreichen Volkswirtschaften die Märkte
stehen. Er ist aber ebenso davon überzeugt, dass sie aus eigener Kraft nicht
richtig funktionieren. «Volkswirtschaften brauchen ein Gleichgewicht zwischen der Rolle von Märkten und der
Rolle des Staates», predigt Stiglitz seit
Jahren. Den Grund für die Ineffizienz
der Märkte sieht der Krisen-Veteran in
der sogenannten Informations-Asymmetrie: Wenn alle alles gleichzeitig
wüssten, könnten Märkte effizient
funktionieren. Doch das ist unmöglich;
ergo kommt es immer wieder zu Blasen
und Verzerrungen. Viele Experten, so
auch die Chefs der amerikanischen
Notenbanken, hätten dies zwar gewusst,
glaubt der Autor – doch hätten sie ihre
Erkenntnisse über Jahre ignoriert.
Immer wieder landet Stiglitz so bei
seiner Grundsatzkritik: Die (gekauften)
Politiker und Regulatoren hätten die
Märkte viel zu stark dereguliert; die
Anreize seien falsch, Gier würde belohnt und Ressourcen würden fehlgeleitet. Das Versagen des Finanzsystems ist
für den Nobelpreisträger Sinnbild für
ein allgemeines Versagen des Wirtschaftssystems. Nicht ein «Unfall» sei
passiert, nein, sondern der Wurm sitze
im ganzen System. Nicht verschont mit
Kritik wird seine eigene Gilde, die Wirt-
MARY ALTAFFER / AP
Von Charlotte Jacquemart
Betrüger und Treiber
der Finanzkrise:
Bernard Madoff vor
dem Bundesgericht in
New York, am
12. März 2009.
schaftswissenschafter: Sie hätten mit
ihren starren, mathematischen Modellen zum Absturz beigetragen, weil die
Konzepte zu falschen politischen Massnahmen geführt hätten. Auch würden
heute falsche, wirtschaftliche Kennzahlen gemessen, die für die Wirtschaftssubjekte falsche Anreize schaffen
würden. Als Beispiel nennt er das Bruttoinlandprodukt (BIP), das in allen Ländern gemeinhin als «Wohlstandsindikator» erhoben wird.
Nicht von ungefähr ist es Stiglitz,
der die vom französischen Präsidenten
Nicolas Sarkozy eingesetzte Expertenkommission leitet, die neue aussagekräftigere Wohlstandsbarometer erarbeiten
soll. Den Beweis dafür zu erbringen,
dass die heutige Messung das Wohlbefinden der Bürger verzerrt wiedergibt, fällt dem Ökonomen leicht: Die
individuelle Wohlfahrt der Bürger ist in
den letzten Jahren in vielen Ländern
gesunken, obwohl das BIP gewachsen
ist. Das bringt Stiglitz zum Schluss, dass
wir heute das «Falsche messen».
In den hinteren Kapiteln des Buches,
in denen Massnahmen aufgelistet sind,
wirkt der Professor dann oft etwas
moralisierend. Die Gefahr von Allgemeinplätzen ist offensichtlich, wenn es
heisst: «Der Staat muss Regeln aufstellen, die für Vollbeschäftigung, Innovation und ökonomische Stabilität sorgen;
Bürger dürfen nicht ausgebeutet und
müssen sozial abgesichert werden.»
Finanzmärkte und Staat hätten die Men-
schen «zwar im Stich gelassen», aber
ohne die beiden funktioniere die Wirtschaft nicht. Stiglitz nennt es «neue
Marktwirtschaft», nachdem die «alte»
versagt habe.
Leise Hoffnung auf Besserung
Grundsätzlich glaubt der Autor, dass
man den «Aufbau einer neuen Marktwirtschaft» schaffen kann. Skeptisch
stimmt ihn jedoch, wer für den Neubeginn verantwortlich ist. Für ihn ist
unverständlich, dass man die gleichen
Leute mit der Reparatur des Systems
beauftragt hat, welche den Fast-Kollaps
herbeigeführt haben. «Diese Krise war
das Resultat von Handlungen, Entscheidungen und Argumenten von
Finanzmarktakteuren. Das System, das
so jämmerlich versagte, fiel nicht vom
Himmel. Es wurde erschaffen.»
So fällt es den Lesern vermutlich
schwer, Stiglitz’ Fazit «Aufbruch zu
einer neuen Gesellschaft» wirklich zu
glauben. Nämlich, dass die Krise gleichzeitig eine Chance sei, und die eigentliche Gefahr nur darin bestünde, sie nicht
zu ergreifen. Viel eher ist man geneigt,
dem Vorwort beizupflichten: Infolge
der grossen Depression der dreissiger
Jahre habe die Welt eine Wirtschaftsordnung geschaffen, die – nach dem 2. Weltkrieg zumindest – Wachstum und Stabilität gebracht hat. Daraus leitet Stiglitz
ab: «Es besteht die leise Hoffnung, dass
uns dies ein weiteres Mal gelingen
wird.» Hoffnung ja, aber nur leise. l
30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Memoiren Die iranische Bestsellerautorin Azar Nafisi schreibt über ihre Kindheit und die schwierige
Beziehung zu ihrer Mutter
Gefangen im Netz der Familie
Azar Nafisi: Die schönen Lügen meiner
Mutter. Erinnerungen an meine iranische
Familie. Aus dem Amerikanischen von
Maja Ueberle-Pfaff. DVA, München 2010.
392 Seiten, Fr. 39.90.
Von Klara Obermüller
STEVE PYKE / CONTOUR / GETTY
Am Anfang von Tolstois «Anna Karenina» steht der Satz: «Alle glücklichen
Familien gleichen einander, jede unglückliche ist auf ihre Weise unglücklich.» Er
kam mir in den Sinn, als ich Azar Nafisis
Erinnerungen an ihre iranische Familie
las. So wie die heute in den USA lebende
Autorin und Literaturwissenschafterin
sie beschreibt, ist die Familie Nafisi eindeutig der Gattung der unglücklichen
Familien zuzuordnen, und sie ist es in der
Tat auf sehr eigene Weise.
Bis 1979 gehörten die Nafisis der
wohlhabenden und gebildeten Oberschicht des Landes an. Der Vater ist Bürgermeister von Teheran, die Mutter
stammt aus der Kadscharen-Dynastie
und sitzt eine Zeitlang im Parlament.
Den Kindern stehen jegliche Bildungsmöglichkeiten offen. Und selbst nachdem der Schah das Land verlassen und
Khomeini die Macht übernommen hat,
scheint der Familie Nafisi nichts wirklich Schlimmes widerfahren zu sein.
Gleichwohl ist sie unglücklich. Warum?
Mutter-Tochter-Problem
Kern des Unglücks ist die Mutter. Sie ist
eine schöne und wohl auch kluge Frau,
aber mit der Realität, wie sie ist, kommt
sie nicht zurecht. Sie hat ihren geliebten
ersten Mann früh verloren und lehnt
den zweiten ab, weil er nicht wie der
erste ist. In den Aufzeichnungen der
Tochter erscheint sie als Hysterikerin,
die der Familie bei jeder Gelegenheit
Szenen macht, ihren Mann drangsaliert
und auch die Kinder mit ihrem Zorn
nicht verschont. Die Tochter, die früh
zwischen die Fronten gerät, vermag ihre
Sympathie mit dem als langmütig und
charmant geschilderten Vater nicht zu
verhehlen. Er hat ihr gezeigt, wie man
vor der Realität die Augen verschliesst
und sich in Geschichten rettet. Er hat
laviert und zu schlichten versucht, bis es
auch ihm eines Tages zu bunt wird und
er zusammen mit einer Geliebten das
Weite sucht. Zurück bleiben eine
gekränkte Gattin – und eine Tochter, die
sich schuldig fühlt, weil es ihr nicht
gelungen ist, ihre Eltern zu versöhnen.
Ihr Erinnerungsbuch ist ein später Versuch, ein Unrecht gutzumachen, das sie
nicht begangen hat.
Wie in ihrem 2005 auf Deutsch erschienenen Bestseller «Lolita lesen in Teheran» vermischt Azar Nafisi in ihrem
neuen Buch wiederum persönliche Erinnerungen mit der Schilderung politischer Ereignisse. Nicht um die Darstellung allgemeiner Fakten sei es ihr
22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010
Die gebürtige Iranerin
Azar Nafisi, 54, lebt
seit 1997 in den USA.
In ihrem neuen Buch
schreibt sie über
familiäre Lebenslügen,
wie sie überall auf der
Welt vorkommen.
gegangen, schreibt die Autorin im Prolog, sondern um das Aufspüren jener
«Orte, an denen das private, persönliche
Erleben einzelner Menschen einen
Augenblick lang Teil historischer Abläufe ist und sie widerspiegelt». An manchen politisch besonders brisanten
Momenten – den Unruhen von 1963, der
Verhaftung des Vaters oder der Machtübernahme durch die Ayatollahs – gelingt
ihr dies durchaus. Doch über weite Strecken dominiert das private Unglück, und
die Autorin verliert sich in Familiengeschichten, die uns höchstens deshalb
interessieren, weil sie sich vor dem Hintergrund weltgeschichtlich relevanter
Geschehnisse zugetragen haben. Sie
selbst sind nicht relevant, und auch zum
besseren Verständnis der historischen
Ereignisse tragen sie wenig bei.
Fiktion besser als Realität
Nafisi hat sich offenbar vom Erfolg ihres
«Lolita»-Buches dazu verleiten lassen,
noch einmal im Fundus persönlicher
Erinnerungen zu graben. Nur konnte sie
sich leider nicht so recht entscheiden,
worüber sie denn eigentlich schreiben
wollte: über die Auswirkungen der islamischen Revolution auf das Leben einer
liberal denkenden Familie oder über
eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung, wie sie so oder ähnlich überall auf
der Welt vorkommt. Das beklemmende
Foto auf dem Umschlag weist auf Letzteres hin, und auch im Buch selbst dominiert dieser Konflikt. Darüber, das spürt
man, musste geschrieben werden: Über
die Last der Schuld, das drückende
Schweigen und die unheimliche Macht
der Lügen, die diese Familie wie in
einem Netz gefangen hielt. Gemessen
daran erscheint die iranische Geschichte manchmal fast wie Beiwerk.
In «Lolita lesen in Teheran» hatte Azar
Nafisi über das subversive Potenzial literarischer Erfindung und die Kunst als Akt
des Ungehorsams gegenüber den herrschenden Verhältnissen geschrieben. Im
neuen Buch geht es um Geschichten und
Lebenslügen: um «schützende Fiktionen», wie es einmal heisst, die das Dasein
erträglich machen sollen. Beide Male, im
Positiven wie im Negativen, erweist die
Fiktion sich als der Realität überlegen.
Die Geschichten, die ihr der Vater erzählte, nennt die Autorin heute ihre «portable
Heimat». Sie hat sie mit ins Exil genommen und sie zur Basis ihrer wissenschaftlichen Arbeit gemacht. Von den «schönen
Lügen» und der Realitätsverweigerung
der Mutter hingegen musste sie sich
befreien, um zu sich selbst und zu ihrer
eigenen Geschichte zu finden. Eine Erfahrung, die über den Kontext einer iranischen Familie weit hinausweist. l
Gastronomie Das Leben des französischen Bonvivants
und Werbetexters Maurice-Edmond Sailland
Inge Huber: Curnonsky oder das
Geheimnis des Maurice-Edmond Sailland.
Collection Rolf Heyne, München 2010.
255 Seiten, Fr. 67.90.
Von Christina Hubbeling
Im Jahr 1952 schrieb die berühmte französische Schriftstellerin und Variétékünstlerin Colette in einem offenen Brief
an ihren besten Freund: «Ich hatte, wie
man so sagt, etwas früher Erfolg als Du –
arm waren wir, das kannst Du mir glauben! –, aber das kam, weil ich das Variététheater ausprobiert habe. Ich konnte dir
allerdings nicht raten, nach meinem Vorbild ein Engagement als leicht bekleideter Pantomime anzunehmen … Von weitem hast Du gesehen, wie ich hier und da
geheiratet habe, während du die Kochkunst in den Rang einer wahren französischen Kunst erhoben hast.» Wer ist
dieser Freund, der Colette bei ihrem ersten Buch geholfen und sich ganz der französischen Küche verschrieben hat?
Ziemlich sicher kennt keiner seinen
Namen, weder sein Pseudonym Curnonsky noch seinen richtigen: MauriceEdmond Sailland. Dabei war Curnonsky
ein VIP, ein Bohémien, Bonvivant und
der wohl grösste Gourmet der Belle Epoque. Er kannte tout Paris, und alle kannten ihn oder zumindest eines seiner
Pseudonyme, unter denen er als Autor
und Texter für verschiedene Zeitungen,
Magazine oder Werbeanzeigen tätig war.
Maurice-Edmond Sailland (1872–1956),
der Spross einer alten Familie aus dem
Anjou, liebte das Leben. Er war Stammgast im Moulin Rouge, und in den grossen Theatersälen blieb für ihn stets ein
Platz in der ersten Reihe frei. Er besass
zwar nie einen Führerschein, half aber
mit, die Reifen von Michelin berühmt zu
machen. Und unter seinem Pseudonym
«Bibendum» schrieb er viele Jahre lang
eine Gastrokolumne, aus der schliesslich
der «Guide Michelin» resultierte. Curnonsky und sein Alter Ego, Marcel Rouff,
grasten in den zwanziger Jahren im RollsRoyce die Provinzen Frankreichs ab,
immer auf der Suche nach gastronomischen Trouvaillen; gemeinsam verfassten
sie den 28-bändigen Gastronomieführer
«La France gastronomique».
Wer sich für Historie, Kulinarik und
Ausschweifungen interessiert, dürfte
äusserst entzückt sein über diese hübsche Biografie über den wohl bekanntesten Unbekannten der Belle Epoque. Das
Buch von Inge Huber präsentiert sich
zwar wissenschaftlich nicht ganz so
streng, dafür aber wird man schon beim
ersten Satz in die Welt des Curnonsky
hineingerissen. Dazu tragen auch die vielen Illustrationen und Fotos bei, die praktisch auf jeder Buchseite zu finden sind.
Als Leser begleitet man den Bonvivant
Curnonsky, wie er mit Henri de ToulouseLautrec in der Bar des «Moulin de la
Galette» am Montmartre Absinth trinkt.
Oft traf er sich auch im Kabarett «Le Chat
Noir» mit seinen Künstler-Freunden,
Cancan-Tänzerinnen und Sängerinnen,
die im Blickpunkt des Presseinteresses
standen und über deren Lebenswandel
und Sittenlosigkeit sich das Bürgertum
FONDS CURNONSKY / KOLLEKTION INGE HUBER
Der unbekannte
Gourmet von Paris
Maurice-Edmond
Sailland (Mitte)
anlässlich der
Gründung der
«Chaîne des
Rôtisseurs» am
29. August 1950.
zu empören pflegte. Man begleitet den
Reisejournalisten in die Opiumhöhlen
von Indochina, geniesst mit dem Gourmet einen Le Clos Vougeot von 1900 oder
setzt sich mit ihm an eine Tafel, um das
beste Cassoulet von ganz Frankreich zu
essen.
Inge Huber zeichnet das Leben eines
Hedonisten nach, der in einer Zeit lebte,
als ein Ausflug mit dem Auto aufs Land
noch ein Abenteuer darstellte, weil es
weder geteerte Strassen noch Karten
oder flächendeckend Tankstellen gab.
Als ein Hotelzimmer mit elektrischem
Licht noch einer Sensation gleichkam
und man miterleben konnte, wie sich die
Welt durch die zahlreichen Erfindungen
des 20. Jahrhunderts rasant verwandelte.
Maurice-Edmond Sailland lebte in einer
Welt, die es heute nicht mehr gibt. Quel
dommage! Ein bisschen mehr Genuss
und Leidenschaft à la Curnonsky würde
keinem schaden, höchstens den Herstellern von Diätmahlzeiten. l
Zeitgeschichte Der britische Historiker Tony Judt porträtiert Intellektuelle des 20. Jahrhunderts
Von Hannah Arendt bis Tony Blair
Tony Judt: Das vergessene 20. Jahrhundert.
Die Rückkehr des politischen
Intellektuellen. Hanser, München 2010.
475 Seiten, Fr. 47.90.
Von Reinhard Meier
Der Titel dieser mehrheitlich sehr lesenswerten Essaysammlung des britischen
Historikers Tony Judt ist irreführend.
Weshalb Judt oder sein Verlag sich darauf
versteiften, das 20. Jahrhundert als ein
«vergessenes Jahrhundert» zu bezeichnen, bleibt schleierhaft. Die regelmässig
inszenierten Gedenkfeiern für den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust oder den
Fall der Berliner Mauer weisen in eine
andere Richtung. Die vorliegende Sammlung beginnt mit einem Porträt des
jüdisch-ungarisch-österreichisch-briti-
schen Intellektuellen Arthur Koestler.
Zum Beweis, dass dieser brillante und
kontroverse Autor nicht vergessen ist, sei
auf die vor kurzem erschienene monumentale Koestler-Biografie des Amerikaners Michael Scammell verwiesen.
Judt, der trotz seiner unheilbaren
Krankheit zu den produktivsten Publizisten linksliberaler Grundhaltung im angelsächsischen Raum zählt, setzt sich in seinen Werken mit eigenwilligen Persönlichkeiten wie Albert Camus, dem marxistisch gebliebenen und trotzdem respektierten Historiker Eric Hobsbawm,
dem polnischen Marxismuskritiker Leszek Kolakowski oder dem palästinensischen Intellektuellen Edward Said auseinander. Bei aller Sympathie etwa für
Hannah Arendt scheut er sich nicht, auch
deren Schwachpunkte unverblümt beim
Namen zu nennen. Tony Blair wirft Judt
«Schein-Authenti
zität» vor. Doch dieser
«Schein-Authentizität»
Essay wurde noch vor Blairs unpopulärer
Entscheidung zum Irak-Einmarsch verfasst. Somit fehlt ein entscheidendes
Kapitel zur vertieften Beurteilung des
Labour-Politikers.
Brandaktuell bleibt Judts luzide Analyse Israels – «ein Land, das nicht erwachsen werden will». Der Autor, der aus
einer jüdischen Familie stammt und in
einem Kibbuz arbeitete, argumentiert,
dass Israel den Sieg im Sechstagekrieg
wegen der Besatzung palästinensischer
Gebiete in eine moralische Niederlage
verwandelt habe. Waffen und Mauern
könnten Israel auf Dauer so wenig wie
die DDR oder Südafrikas Apartheidregime schützen. Israel benötige dringend einen reifen Staatsmann wie de
Gaulle, der die französische Herrschaft
couragiert und weitblickend beendete. l
30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Auswanderung Der Zürcher Textilkaufmann Emil Streuli verbrachte seine Lehrjahre in Amerika
Wie die Mode in New York
das Geschäft in Horgen beeinflusste
Hans Peter Treichler: Ein Seidenhändler in
New York. Das Tagebuch des Emil Streuli
(1858–1861). NZZ Libro, Zürich 2010.
336 Seiten, Fr. 44.–.
Bereits lange bevor die Globalisierung
zum vieldeutigen Schlagwort wurde,
war weltweite Vernetzung für viele
Schweizer und Schweizerinnen gelebter
Alltag. Das galt nicht nur für Auswanderer, die in der Heimat kein Auskommen
mehr fanden, sondern auch für erfolgreiche Unternehmer, die neue Märkte
für ihre Produkte erschlossen. Dass über
die Auswanderung aus wirtschaftlicher
Not mehr bekannt ist als über die
Auslandaufenthalte zur Anknüpfung
von Geschäftsbeziehungen, liegt an der
unterschiedlichen Quellenlage: Berichte
von wohlbestallten Kaufleuten über ihre
persönlichen Erfahrungen in der Fremde haben sich nur spärlich erhalten. Es
ist denn auch ein Glücksfall, dass der
bekannte Kulturhistoriker Hans Peter
Treichler das Archiv der Familie Streuli
in Horgen hat auswerten können, das
Einblick in Lebensstil und gesellschaftliche Normen grossbürgerlicher Seidenfabrikanten der Gründerzeit gewährt.
Nach der Familiensaga «Die Löwenbraut» (1999), die den weit verzweigten
Verwandtschaftsbeziehungen nachgeht,
legt Treichler nun eine Bearbeitung des
Tagebuchs vor, das der junge Emil Streuli um 1860 während seiner Lehrjahre als
GRAPHISCHE SAMMLUNG
Von Beatrix Mesmer
Vertreter der väterlichen Firma in New
York geführt hat. Er lässt aus den Berichten, die der pflichtbewusste Sohn in
regelmässigen Abständen nach Hause
schickte, das Bild einer Zeit entstehen,
die zugleich fern und nah anmutet. Dass
damals ein kaum der Pubertät entwachsener 19-Jähriger nach Amerika ging,
war nur möglich, weil der Jüngling in
die Familie des New Yorker Kommanditärs aufgenommen wurde.
Seine Berichte zeugen denn auch für
seine rasche Integration in die bereits
recht grosse Auslandschweizerkolonie,
zugleich aber auch für seine starke
emotionale Rückbindung an Eltern und
Brüder. Wenn von tiefer Trauer beim
Tod der Mutter und dem ersten Liebeskummer, aber kaum von Heimweh die
Rede ist, so wohl wegen der Faszination
angesichts der rasch wachsenden Grossstadt und ihrem Angebot an Vergnügungen und modernen Verkehrsmitteln,
23. Strasse zwischen
5. und 6. Avenue in
New York um 1870:
Ähnlich wie sie der
junge Emil Streuli
erlebt hat.
der immer grösseren und schnelleren
Dampfschiffe sowie der ersten, noch
gescheiterten Verlegung eines Kabels
über den Atlantik.
Es sind die Schilderungen dieser
atemberaubenden Modernisierung, auf
die auch Treichler bei seiner Bearbeitung des Tagebuchs das Hauptgewicht
legt, indem er die Beobachtungen Streulis durch sorgfältige Recherchen zur
Geschichte und Topografie New Yorks
ergänzt. Zudem liefert er auch das
nötige Hintergrundwissen zu den Meldungen über den Geschäftsgang im Seidenhandel, der stark von den jeweiligen
Modetrends abhing, und den übrigen
Investitionen des Horgener Unternehmens in New York.
So besassen die Streulis ein Grundstück, das Emil der besseren Rendite
wegen gegen zwei Mietshäuser tauschte.
Zu einer finanziellen Pleite führte dagegen die Beteiligung am Vertrieb einer
neu entwickelten Anlage zur Gasherstellung, die sich als untauglich erwies.
Dieses Lehrgeld wusste der Jungunternehmer jedoch als Erfahrung abzubuchen, die ihm zugutekam, als er kurz
nach seiner Rückkehr in die Schweiz
nach dem Tod des Vaters die Leitung
der Firma übernehmen musste. Seine
Ausbildung entsprach den Anforderungen der fortschreitenden Industrialisierung: Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden für Unternehmer die
Kenntnis technischer Innovationen
ebenso wichtig wie der Aufbau eines
internationalen Filialnetzes. l
Biografie Hedwig Dohm, frauenbewegte Pionierin, wird aus der Vergessenheit geholt
Radikale Denkerin, streitbare Autorin
Isabel Rohner: Spuren ins Jetzt.
Hedwig Dohm – eine Biografie. Ulrike
Helmer, Sulzbach 2010. 155 S., Fr. 33.50.
Von Geneviève Lüscher
Hedwig Dohm gehört «zu den wichtigsten Autorinnen der Wende zum
20. Jahrhundert», schreibt Isabel Rohner
in ihrer Biografie, und doch ist sie fast
unbekannt geblieben. Erst die Neue Frauenbewegung der siebziger Jahre hat sie
wiederentdeckt. Und Ende der achtziger
Jahre entstehen im Zusammenhang mit
der Geschichte der Familie Mann mehrere kleine Porträts, denn Katia Mann, die
Frau von Thomas Mann, war eine Enkelin
von Hedwig Dohm. Aber diese Texte
kranken laut Rohner alle daran, dass sie
das Leben der Schriftstellerin nur über
deren Romane erschliessen, obwohl diese
gar nicht autobiografisch seien.
24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010
Die Recherche der Autorin gestaltete
sich allerdings schwierig, weil von Dohm
kein Nachlass existiert. Dabei war die
Berlinerin äusserst produktiv: Märchen,
Gedichte, Romane, Theater, Essays,
Rezensionen und gesellschaftspolitische
Analysen stammen aus ihrer Feder. Im
Zentrum stehen die rechtliche Situation
der Frau, ihre Bildung und Berufstätigkeit. Vehement stellt sie sich auch gegen
die Verherrlichung der Mutterschaft.
Mit ihrer Forderung nach politischer,
sozialer und ökonomischer Gleichstellung von Mann und Frau war sie ihrer
Zeit voraus und wurde prompt heftig
angefeindet.
Hedwig Jülich wird 1831 als drittes von
18 Kindern in eine grossbürgerliche Welt
hineingeboren. Ihre Schulbildung ist
gering, worunter sie lebenslang leiden
wird. Sie bildet sich autodidaktisch weiter. 1853 heiratet sie den Redaktor Ernst
Dohm, von ihren fünf Kindern überleben
vier Töchter. Die Dohms führen einen
bekannten Berliner Salon, in dem viele
Intellektuelle jener Zeit verkehren. Hedwig Dohm schliesst sich dem radikalen
Flügel der Frauenbewegung an und publiziert in entsprechenden Zeitungen und
Zeitschriften. Ihr Engagement ändert
sich nicht bis zu ihrem Tod 1919.
Die Biografin hat, zusammen mit ihrer
Kollegin Nikola Müller, eine Fülle neuer
Materialien zutage gefördert, Gedrucktes, aber auch Handschriftliches und
Briefe. Sie ermöglichen erstmals einen
Blick ins Privatleben, in den Arbeitsalltag und in die sozialen Netzwerke der
streitbaren Publizistin. Zahlreiche Zitate
aus ihren Werken zeigen sie als witzige
Autorin, die sich gerne über die angebliche männliche Überlegenheit lustig
macht. Es gelingt Isabel Rohner, das herkömmliche blasse und bisweilen falsche
Bild von Hedwig Dohm zu korrigieren
und um neue Facetten zu bereichern. l
Autobiografie Die Selbsterforschung August Forels (1848–1931) zeigt die grossen, aber auch die
problematischen Seiten des Ameisenforschers und Sozialhygienikers
Einen besseren Menschen
heranzüchten
Das Buch ist, weil Forel eben eine strenge Selbsterforschung vorlegt, lesenswert. Weil der autobiografische Bericht
auch aberrante Seiten seines Denkens
zeigt, etwa in der Rassenfrage. Da
erzählt Forel von Reisen nach Tunis
oder Bulgarien, wo er stinkenden
Negern und faulen Arabern begegnet –
so seine Wahrnehmung. «Welche Rassen sind für die Weiterentwicklung der
Menschheit brauchbar, welche nicht?»,
fragt er sich. «Und wenn die niedrigsten
Rassen unbrauchbar sind, wie soll man
sie allmählich ausmerzen?» Und eigenartig fasziniert kehrt er doch wiederholt
zu den Minderwertigen im Maghreb
zurück.
Allmählich bildet sich bei ihm die
Einsicht, dass eine Besserstellung der
Menschheit mit der Höherentwicklung
der Rasse verbunden ist: «Die soziale
Hygiene erfordert eine totale Umwälzung unserer Anschauungen, um das
Übel an der Wurzel zu fassen, vor allem
eine rationelle menschliche Zuchtwahl.»
August Forel: Rückblick auf mein Leben.
Modernisierte Neuausgabe (Erstausgabe
1935). Römerhof, Zürich 2010.
406 Seiten, Fr. 44.–.
Von Willi Wottreng
«Der Mensch ist an sich nichts als ein
Glied in der Kette ungezählter Generationen.» Dies der Anfang eines Buches
und die Quintessenz eines Lebens. Als
Wissenschafter, der August Forel (1848–
1931) war, versuchte er zu ergründen,
welche Gesetze das menschliche Leben
bestimmen und wie die Höherentwicklung der Menschheit befördert werden
könnte. Sein eigenes Leben war diesem
Ziel gewidmet. Nun ist die Autobiografie von August Forel – dem grossen
Ameisenforscher und Psychiater – neu
aufgelegt worden.
Da waren ein protestantischer Vater,
tiefernst, eine Mutter von grosser Religiosität, die einen nachhaltigen Einfluss
auf ihn ausgeübt habe, und eben der
Bub, aufwachsend auf Landgütern, isoliert, schüchtern. «Ich schämte mich
furchtbar, meine nackten Füsse vor
irgendjemandem sehen zu lassen und
dergleichen mehr.» Eine nachdenkliche,
manchmal gar trübsinnige Seele.
In seiner Einsamkeit spielte August
mit Ameisen, erforschte sie richtiggehend: Liess ganze Ameisenheere gegeneinanderkämpfen, bis Tausende tot am
Boden lagen, und entdeckte dabei Verhaltensweisen, die Forschern entgangen
waren. Er sollte selber zum grossen
Ameisenforscher heranwachsen.
PHOTOPRESS ARCHIV / KEYSTONE
Eindrückliches Selbstporträt
Gegen alles Üble
Von den Ameisen ging er zur Untersuchung menschlicher Hirne über – und
dann war ihm die Welt der Naturwissenschaft zu eng. Es dämmerte ihm,
dass er sich der Psychiatrie widmen
sollte. Er wollte die Gesellschaft verstehen. Und nahm deshalb einen Ruf an die
Zürcher Psychiatrische Klinik Burghölzli an, wo er nach kurzer Zeit leitender Arzt und Direktor wurde. Da bekam
er es mit den Problemen der Menschen
zu tun.
Er bemühte sich, die Übel auszumerzen. Zuerst den Alkoholismus der
Wärter (durch Entlassung). Die Prostitution auf dem Anstaltsgelände (mit
Faustgewalt seines Assistenten). Die
epileptischen Anfälle von Patienten
(mittels Hypnose). Und stiess auf
immer neue Phänomene: «Ich bekam
einen furchtbaren Mörder namens
Gottschall, einen vollständigen moralischen Idioten, zur Beobachtung.» Und
dann machte er «Bekanntschaft mit
August Forel, Psychiater im Zürcher Burghölzli, verfocht die
Idee von der Höherentwicklung der
Menschheit und der
Ausmerzung «niedriger Rassen» (undatierte Aufnahme).
einer anderen Art abnormer Menschen,
nämlich den Homosexuellen».
So weitete sich sein Denken und sein
Tun auf die ganze Gesellschaft aus.
Wobei «der Jammer, der Streit und das
Unglück bei den Menschen» dem
düster Gestimmten fast übermächtig
schienen. So viel ist zu tun! Er gründet
Abstinenzler-Logen. Lanciert erfolgreich eine Kantonalzürcher Volksinitiative zur Abschaffung der Bordelle.
Arbeitet mit am Entwurf für ein nationales Irrengesetz. Schlägt gesellschaftliche Lösungen vor für Fragen der Sexualität und Kriminalität – Ideen, die aus
heutiger Sicht manchmal als schillernd
erscheinen, etwa die: «Heilung von
Gemüts- und Geisteskrankheiten durch
körperliche Arbeit und Beschäftigung».
Laut habe es in ihm geschrieen: «Du
musst Apostel der Wahrheit werden.»
All dies erzählt er radikal und
zugleich streng sich selbst gegenüber.
Was das wäre, lässt sich in dieser Biografie nur erahnen. Denn manches, was
aus Sicht der Sozialgeschichte im Denken und Handeln Forels wichtig ist,
wird doch nur gestreift. Wohl weil er in
anderen Schriften ausgiebig darüber
berichtet hat. So erzählt er nicht eben
viel von seiner Tätigkeit als BurghölzliPsychiater. Der Bericht über die europaweit ersten Kastrationen aus sozialen
Gründen findet sich denn im bereits
1905 erschienenen Werk über «Die
sexuelle Frage»: «Ich liess auch ein
hysterisches vierzehnjähriges Mädchen
kastrieren, deren Mutter und Grossmutter Kupplerinnen und Dirnen waren
und die sich bereits aus Vergnügen
jedem Knaben auf der Strasse hingab.»
Forel hatte nach 24 Jahren das Burghölzli verlassen. Gegen Schluss des
Lebens und im letzten Teil des Buches
wird er müder. 1912 traf ihn ein Hirnschlag. In den hinteren Seiten arbeitet
er seine Notizen oft nur noch schematisch chronologisch ab.
Doch bleibt die Biografie unmittelbar, eindrücklicher als Fremddarstellungen, weil sie eben ein Quellenwerk
ist. Die Neuauflage, die den deutschen
Text der Erstausgabe minim glättet, ist
darum sehr zu begrüssen.
Das Buch schliesst mit dem Testament Forels, worin er sein Bekenntnis
zur Religion der Bahai formuliert, er
war ihr 1920 begegnet: «Möge diese
Religion fortleben und von Erfolg
gekrönt sein; dies ist mein heissester
Wunsch.» l
30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Kulturgeschichte Seit 3000 Jahren sollen Frauen an der Dekadenz der Gesellschaft schuld sein
Hang zu Unzucht, Schlemmerei und Luxus
Gerhard Henschel: Menetekel.
3000 Jahre Untergang des Abendlandes.
Die Andere Bibliothek, Eichborn,
Frankfurt 2010. 370 Seiten, Fr. 50.90.
Von Kathrin Meier-Rust
Den «fatalen Hang zu Unzucht, Schlemmerei und allem sonstigen Luxus»
beklagte bereits der römische Historiker Sallust, um «ere, zucht und tugent»
wurde im 12. Jahrhundert getrauert, und
am Ende des zwanzigsten war es dann
die «zunehmende Bordellisierung» des
Landes und das «weitgehende Fehlen
von echtem Frauentum», das redlichen
Denkern zu schaffen machte. Unter dem
Titel «Menetekel» hat Gerhard Henschel sie alle gesammelt, die Verfallsklagen, Dekadenztiraden und Untergangsvisionen, von den alten Ägyptern bis zur
berserkerhaften Wut eines Rolf Dieter
Brinkmann. Immer wieder macht er sich
dabei den Spass, die als vorbildlich
gepriesene gute alte Zeit aufzusuchen –
um prompt einmal mehr die Verdammung dekadenter Zustände zu finden.
Mit schönster Regelmässigkeit ist es
das Weib, das mit unzüchtigen Reizen
und gefärbten Haaren den Niedergang
von Sitte, Moral, Anstand und Kultur zu
verantworten hat.
Der Spanier Ortega y Gasset bildet
hier eine Ausnahme. Auch er beklagt
zwar unablässig den Verfall von Sittlichkeit und Zucht des «verwöhnten
Massenmenschen». Doch immerhin
verpasste der Philosoph einen Auftritt
vor hohem Publikum, weil er sich mit
drei Damen im Bett amüsierte. Anders
Oswald Spengler, der neben Bolschewismus, Jazz und Warenhäusern vor
allem die «Ibsen-Weiber» für schlimmste Symptome des Niedergangs hielt: Der
gehemmte Angstneurotiker hat wohl
weder ein Ibsen- noch sonst ein Weib je
von nahe gesehen und notierte im Stil-
len: «Ich beneide jeden, der lebt.» Während die Kirchenväter die sinnlichen
Genüsse, die sie sich selbst verbaten,
offensichtlich auch anderen nicht gönnen wollten: Hinter der Weltverachtung
ist die Verachtung des eigenen Körpers
und seiner Wünsche oft mit Händen zu
greifen.
Es muss einigermassen trostlos gewesen sein, diese Zeugnisse der Frustration zu sammeln. Kein Wunder steht Henschels Furor dem seiner Unheilspropheten in nichts nach, unermüdlich ergiesst
er Hohn und Spott auf immer noch mehr
donnernde Dekadenzzitate. Doch so
ermüdend die Sammlung über 3000
Jahre ausfällt, so ernüchternd ist sie
auch. Wer, wie Schopenhauer, zwar
weiss, «dass jeder denkende Mensch
seine Zeit für die allererbärmlichste
hält», aber trotzdem von dieser Illusion
nicht ganz frei ist – der sollte sich durch
dieses Buch schleunigst von ihr kurieren lassen. l
Zum Abschied hat Wjatscheslaw
Molotow seinen britischen und amerikanischen Gesprächspartnern nach der
Konferenz von Jalta keine Friedenspalmen, sondern Zweige von Zitronenbäumchen überreicht. Dennoch war
die spontane Geste des sowjetischen
Aussenministers am 11. Februar 1945
freundlich gemeint und entsprach der
positiven Stimmung am Ende des
achttägigen Gipfels: Auch wenn Risse
in dem Zweckbündnis der «Grossen
Drei» gegen die Achsenmächte sichtbar wurden, verliess keiner der Beteiligten die Krim, den Tagungsort, mit
leeren Händen. Dies erklärt der in der
Ukraine geborene Historiker
S. M. Plokhy in seiner grossangelegten
Studie Yalta. The Price of Peace (Viking,
451 Seiten): Josef Stalin hatte Franklin
D. Roosevelt die Bäumchen zum Auftakt der Konferenz geschenkt, da er
wusste, dass der US-Präsident seine
Martinis am liebsten mit frischer
Zitronenschale genoss.
Mit derartigen Details bringt der an
der Harvard University lehrende
Plokhy dem Leser nicht nur die zwar
angespannte, aber keineswegs feindselige Atmosphäre in Jalta nahe. Er legt
auch die Dynamik zwischen den
Grossen Drei offen. Manipulativ und
durch seine Geheimdienste gut über
die Pläne der Westmächte informiert,
umwarb Stalin Roosevelt und zeigte
Winston Churchill die kalte Schulter,
war diesem jedoch in seiner Weltsicht
verwandter. Der Diktator und der
britische Premier hatten sich im Oktober 1944 hinter Roosevelts Rücken
in Moskau über eine Aufteilung des
Balkans in Interessensphären geeinigt.
Daran hielten beide in Jalta fest, ob26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010
AKG
Das amerikanische Buch Jalta – Konferenz zwischen Krieg und Frieden
Churchill, Roosevelt
und Stalin (von links)
an der Konferenz von
Jalta im Februar 1945.
Der Historiker
S. M. Plokhy (unten).
wohl Churchill damit die Forderung
der Westmächte nach einem freien und
demokratischen Polen untergrub. Stalin
verwies dagegen auf seine Zurückhaltung in Griechenland. Dort gingen die
Briten nach dem Abzug der deutschen
Armee brutal gegen kommunistische
Freiheitskämpfer vor, ohne dass die
Sowjets auch nur einen Finger rührten.
Plokhy macht Jalta als Konferenz verständlich, die vom noch laufenden
Krieg ebenso geprägt wurde, wie von
der Gestaltung einer stabilen Nachkriegsordnung. Hier konnten die Militärs die Operationsgebiete ihrer
Luftwaffen abstecken – was dann umgehend zur Bombardierung Dresdens
führte –, während die Diplomaten um
die neuen Grenzen in Europa und
Fernost rangen. Dachten Briten und
Sowjets in klassischen Einflusssphären,
war Roosevelt ebenfalls mit egoisti-
schen Zielen nach Jalta gekommen,
auch wenn er diese zumindest teilweise in Idealismus hüllte, so Plokhy.
Der US-Präsident wollte die Sowjets
zum Beitritt in die Vereinten Nationen
bewegen und damit in eine von
Amerika wirtschaftlich dominierte
Nachkriegsordnung einbinden, aber
auch für eine baldige Kriegserklärung gegen Japan gewinnen. Roosevelt
war in beiden Punkten erfolgreich.
Plokhy lässt keinen Zweifel daran,
dass Roosevelt hier die Minimierung
amerikanischer Verluste im Krieg gegen Japan über die Freiheit Polens
stellte – wobei den Westmächten klar
war, dass sie Stalin nicht von der Schaffung einer osteuropäischen Einflusssphäre abringen konnten, ohne einen
Bruch der «Grand Alliance» zu
riskieren.
Sehr gründlich recherchiert und auch
auf bislang unbekannten sowjetischen
Dokumenten basierend, ist Plokhy eine
frische und erstaunlich unterhaltsame
Zusammenschau gelungen, die zudem
mit vielen Mythen über Jalta aufräumt:
Roosevelt war acht Wochen vor seinem Tod keineswegs zu krank, um sich
durchzusetzen, und die Westalliierten
sind Stalin keineswegs naiv auf den
Leim gegangen, sondern haben ihre
Interessen sehr geschickt und hartnäckig vertreten. Damit weicht Plokhy
jedoch nicht wesentlich von den Studien postrevisionistischer USHistoriker der 1980er Jahre zum Kalten
Krieg ab. Aber eine revolutionäre Neuinterpretation von Jalta wäre selbst
von einem ausgesprochen begabten
und fleissigen Historiker wie Plokhy
zu viel verlangt. l
Von Andreas Mink
Agenda
Cowboys Mein Pferd ist meine Kirche
Agenda Juni 2010
Basel
Dienstag, 8. Juni, 19 Uhr
Werner van Gent, Antonia Bertschinger:
Iran ist anders. Lesung, Fr. 15.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Tel. 061 261 29 50.
Mittwoch, 9. Juni, 20 Uhr
Arne Svingen: Ein Mann der Tat. Buchvernissage, Lesung, Fr. 8.–. Unternehmen
Mitte, Gerbergasse 30, Tel. 061 263 36 63.
Samstag, 19. Juni, 17 Uhr
Poesie pur. Literarischer Stadtrundgang,
Fr. 30.–. Treffpunkt: Literaturhaus, Barfüssergasse 3. [email protected].
Bern
Mittwoch, 2. Juni, 19.30 Uhr
Mittwoch, 2. Juni, 19.30 Uhr
Ghada Abdelaal: Ich will
heiraten. Lesung und
Gespräch. Zentrum 5,
Flurstrasse 26 b,
Tel. 031 333 26 20.
Utah, Nevada, Texas. Einer dieser letzten Vertreter des
American Dream habe ihr gesagt: «Ich muss nicht in
die Kirche gehen. Mein Pferd ist meine Kirche.» Ob
religiös oder nicht: Wer diese Bilder anschaut, spürt
die Unendlichkeit. Regula Freuler
Jane Hilton: Dead Eagle Trail. Benteli, Bern 2010.
96 Seiten, 80 Farbabbildungen, Fr. 59.–.
Sachbuch
1 Zsolnay. 589 Seiten, Fr. 42.90.
2 Diogenes. 272 Seiten, Fr. 32.90.
3 Heyne. 543 Seiten, Fr. 34.90.
4 Scherz. 303 Seiten, Fr. 24.90.
5 Diogenes. 384 Seiten, Fr. 38.90.
6 Bastei Lübbe. 760 Seiten, Fr. 39.90.
7 Allegria. 304 Seiten, Fr. 29.90.
8 Bastei Lübbe. 749 Seiten, Fr. 26.50.
9 Penhaligon. 575 Seiten, Fr. 34.90.
10
Zsolnay. 443 Seiten, Fr. 31.90.
1 Faro. 221 Seiten, Fr. 29.90.
2 Kiepenheuer & Witsch. 259 Seiten, Fr. 26.50.
3 Hoffmann und Campe. 223 Seiten, Fr. 31.90.
4 Orell Füssli. 173 Seiten, Fr. 34.90.
5
Suhrkamp. 212 Seiten, Fr. 29.90.
6
Brockhaus. 1216 Seiten, Fr. 50.50.
7 Rowohlt. 223 Seiten, Fr. 33.90.
8 AT. 207 Seiten, Fr. 39.90.
9
Hanser. 266 Seiten, Fr. 42.80.
10
Rowohlt. 384 Seiten, Fr. 33.80.
Nicholas Sparks: Mit dir an meiner Seite.
Tommy Jaud: Hummeldumm.
Martin Walker: Grand Cru.
Dan Brown: Das verlorene Symbol.
William P. Young: Die Hütte.
Sarah Lark: Das Gold der Maori.
Trudi Canavan: Sonea.
Daniel Glattauer: Gut gegen Nordwind/Alle
sieben Wellen.
Horacio Castellano Moya: Der schwarze
Palast – Tirana Memoria. Zweisprachige
Lesung und Gespräch. Stadtbibliothek,
Löwenplatz 10, Tel. 041 417 07 07.
Zürich
Hommage an Erika Burkart (1922–2010).
Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus,
Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00.
Belletristik
Martin Suter: Der Koch.
Sonntag, 6. Juni, 19 Uhr
Donnerstag, 3. Juni, 20 Uhr
Bestseller Mai 2010
Henning Mankell: Der Feind im Schatten.
Luzern
Mittwoch, 9. Juni, 19.30 Uhr
Nik Hartmann: Über Stock und Stein 2.
Jürgen Wasim Frembgen: Am Schrein
des roten Sufi. Lesung. Museum Rietberg, Gablerstrasse 15, Tel. 044 206 31 31.
Michael Mittermeier: Achtung Baby!
Mittwoch, 16. Juni, 19 Uhr
Roman M. Koidl: Scheisskerle.
Paolo Colombani: Fette Irrtümer.
Max Frisch: Entwürfe zu einem dritten
Tagebuch.
Duden. Die deutsche Rechtschreibung,
25. Auflage.
Miriam Meckel: Brief an mein Leben.
Annemarie Wildeisen: Meine Expressküche.
Susan Levermann: Der entspannte Weg
zum Reichtum.
Eckart von Hirschhausen: Glück kommt
selten allein.
Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 18. 5. 2010. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Christoph Geiser: Der Angler des
Zufalls. Lesung. Hotel Steigenberger,
Utoquai 47. Anmeldung:
[email protected].
Donnerstag, 17. Juni, 20 Uhr
Sunil Mann: Fangschuss. Lesung. Orell
Füssli Krauthammer, Marktgasse 12.
Vorverkauf: [email protected].
Sonntag, 20. Juni, 11.15 Uhr
Franz Mon: Sprechende
Bilder. Mon trägt zu seinen
Bildern eigene Gedichte
vor. Fr. 19.–. Haus Konstruktiv, Selnaustrasse 25. Infos:
Literaturhaus (s. oben).
Bücher am Sonntag Nr. 6
erscheint am 27. 6. 2010
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange
Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,
8001 Zürich, erhältlich.
30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
GÜNTHER KÜHNEL
Früher sassen sie tagein, tagaus im Sattel, heute sitzen
sie vor dem Fernseher, umgeben von Insignien ihrer
untergehenden Zunft: Colts und Gewehren, Stiefeln
und Sporen, Geweihen und Hörnern. Sie sind Viehhändler, Bull Rider oder Waffen- und Sprengstoffexperten. Seit 2006 fotografierte Jane Hilton
Cowboys unserer Zeit und die einsamen Weiten von
KRISTINA BERGMANN
Esther Tusquets liest aus ihren autobiografischen Werken. LibRomania,
Länggass-Strasse 12, Tel. 031 305 30 30.
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