DaswahreGesichtvonSotschi4
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NZZ am Sonntag 19. Januar 2014 FOTOS: ROB HORNSTRA / FLATLAND GALLERY, STEFANO SCHRÖTER, SCOTT HEPPELL / AP PHOTO Prinz Harry macht Ernst Worauf seine Freundin gefasst sein sollte 14 Chinesen am Hang Schweiz Tourismus sucht neue Gäste 16 Oliviero Toscani war da Der Benetton-Fotograf im Zentrum des Zürcher Partylebens 23 DaswahreGesichtvonSotschi4 In drei Wochen beginnen in Sotschi die Olympischen Winterspiele. Um dem globalen TV-Publikum das Bild eines glamourösen, dynamischen (und winterlichen) Russlands zu präsentieren, liess Wladimir Putin über 50 Milliarden Dollar investieren. Das Geld war nötig. Denn das wahre Sotschi ist ein ziemlich heruntergekommener Kurort am Schwarzen Meer. Von Rob Hornstra (Fotos) Willkommen zuden Sommerspielen inSotschi Die Prognosen für Sotschi in der kommenden Woche: wenig Sonne, aber beinahe Badewetter bei Temperaturen von rund 13 Grad. Sotschi wurde unter Stalin zum noblen Kurort, der Diktator hatte hier seine Lieblingsdatscha. Für einen bescheideneren Standard wurden die Sanatorien im Hintergrund gebaut. Am Strand macht sich stilistische Ungezwungenheit bemerkbar. Ob dickbäuchig, krummbeinig, angesäuselt oder sonnenverbrannt, hier ist jeder willkommen. 4 NZZ am Sonntag | 19. Januar 2014 19. Januar 2014 | NZZ am Sonntag 5 FOTOS: ROB HORNSTRA / FLATLAND GALLERY Sich von einer Sommerromanze zu verabschieden, ist nie einfach. In Russland ist die Wahrscheinlichkeit besonders gross, dass man sich in den unendlichen Weiten des Landes für immer aus den Augen verliert. Aber hier und jetzt, auf der Tanzfläche des Jugendferienlagers, lebt der Traum von der ewigen Liebe. 6 NZZ am Sonntag | 19. Januar 2014 Michail Pawlowitsch Karabelnikow ist 77. Noch immer reist er jedes Jahr von Nowokusnezk, wo er 37 Jahre lang als Mineur und Chefmineur arbeitete, mehr als 3000 Kilometer weit nach Sotschi. Er wohnt im Sanatorium Metallurg und verbringt so viel Zeit wie möglich am Strand. Mit anderen Veteranen spielt er Schach, Bier und Zigaretten sind in Reichweite. Seine Berufskarriere, sagt Michail Pawlowitsch, wäre steiler nach oben verlaufen, hätte er sich nicht geweigert, der Kommunistischen Partei beizutreten. 19. Januar 2014 | NZZ am Sonntag 7 8 NZZ am Sonntag | 19. Januar 2014 Sotschi, die Perle am Schwarzen Meer: Zu Sowjetzeiten war eine Reise hierher der Traum von Millionen. Danach gab es für geschäftstüchtige «neue Russen» und «Bisnesmeni» mondänere Feriendestinationen im Westen. Doch nun gerät die Universitätsstadt, in der 330 000 Menschen leben, auf die internationale Landkarte. Nach den Olympischen Winterspielen findet hier im Juni der G-8-Gipfel statt, im Oktober soll der erste Grosse Preis von Russland der Formel 1 in Szene gehen. Und 2018 ist die Stadt auch Austragungsort der Fussball-WM. 19. Januar 2014 | NZZ am Sonntag 9 Aliona tanzt im Restaurant Lubawa, in einem Obergeschoss des Hotels Zhemchuzhina. Sie windet sich zur Musik um eine Stange, um anschliessend, von einer Gesellschaft zur nächsten wechselnd, die Gäste an ihren Tischen aufzusuchen – so lange, bis keine weitere Kopeke mehr zu verdienen ist. Natalia Schorogowa arbeitet im Hotel Zhemchuzhina als Etagenfrau. In alter sowjetischer Manier überwacht sie den Gebrauch der Zimmer. Sie registriert, wer kommt und wer geht. Wankt man spätnachts nach der Disco an ihr vorbei, darf man mit einem verständnisvollen Blick rechnen. Im Cabaret-Klub des «Zhemchuzhina» ist es die meiste Zeit über ruhig. Aber wenn in einem der nahe gelegenen Kongresszentren eine Veranstaltung stattfindet, beziehen die Geschäftsmänner aus Moskau oder Sibirien abends das Lokal und lassen sich mit Krimsekt bedienen. 10 NZZ am Sonntag | 19. Januar 2014 Für 100 Rubel ist in Sotschi eine Foto mit «echten» afrikanischen Königen zu haben: In traditionelle Stammestrachten gekleidete Studenten der Moskauer Freundschafts-Universität gehen am Strand ihrem Sommerjob nach. Manchmal bauen sie auf der Promenade einen Thron auf und schmücken ihn mit Straussenfedern und Kissen aus Leopardenfell. 19. Januar 2014 | NZZ am Sonntag 11 12 NZZ am Sonntag | 19. Januar 2014 Die Stadien stehen. Allen Bedenken des Internationalen Olympischen Komitees zum Trotz hat Präsident Putin die Baufortschritte unter Kontrolle. Aus dem Ruder gelaufen sind allerdings die Kosten. Doch Putin bleibt gelassen. «Kostenüberschreitungen müssen gerechtfertigt sein», wird er zitiert. «Das Wichtigste ist, sicherzustellen, dass nichts gestohlen wurde.» RUSSLAND UKRAINE Wolgograd Donezk Odessa Bukarest Krasnodar Schwarzes Meer Sotschi Grosny GEORGIEN Istanbul TÜRKEI 300 km Das wahre Sotschi Am 7. Februar beginnen in Sotschi die teuersten Olympischen Winterspiele der Geschichte. Für Dutzende Milliarden Dollar hat Wladimir Putin der heruntergekommenen Ferienregion einen gleissenden Anstrich verpasst. Dahinter aber ist nach wie vor ein Alltag zu besichtigen, in dem sich die Menschen gerade so durchwursteln. Der niederländische Fotograf Rob Hornstra und sein Landsmann Arnold van Bruggen, ein Filmemacher, sind sechs Jahre lang immer wieder nach Sotschi und in die benachbarten Krisenregionen des Kaukasus gereist. Das war nicht immer ungefährlich; bei den Behörden machten sich die beiden so unbeliebt, dass sie inzwischen nicht mehr nach Russland einreisen dürfen. Aus ihren Recherchen ist eine Fotodokumentation entstanden, die als Wanderausstellung durch Europa tourt, – und ein prächtiger Bildband. Rob Hornstra (Fotos), Arnold van Bruggen (Konzept): The Sochi Project. An Atlas of War and Tourism in the Caucasus. Aperture-Verlag 2013. 412 Seiten, Fr. 88.90. 19. Januar 2014 | NZZ am Sonntag 13