über Katia und weitere unglaubliche Geschichten aus Rio
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über Katia und weitere unglaubliche Geschichten aus Rio
T 4 REISE Frankfurter Rundschau Samstag/Sonntag, 11./12. Februar 2012 68. Jahrgang Nr.36 D/R/S REISE T 5 Samstag/Sonntag, 11./12. Februar 2012 68. Jahrgang Nr.36 D/R/S Frankfurter Rundschau Alles im Aufschwung: Karnevalsumzug im Sambódromo, das jetzt umgebaut wurde. Die Logen im Hintergrund sind inzwischen Tribünen gewichen. ALEXANDRE CAMPBELL/EMBRATUR Eine Stadt schwingt sich auf Der Umbau von Niemeyers Sambódromo in Rio de Janeiro, durch das an Karneval wieder die Sambaschulen defilieren, ist eines der ersten fertigen Projekte für die Olympischen Spiele 2016. Notizen aus einer Stadt im Wandel von Cornelia Tomerius Feijoada als Beilage fungiert – und frittiert das Ganze, bis es goldbraun ist. Die Croquette de Feijoada sind geboren, quasi eine Fingerfoodvariante der Feijoada. Als ein HobbyKritiker selbige serviert bekommt, meldet er Katia damit sogleich bei einem Wettbewerb an – wo sie prompt den zweiten Platz belegt. Danach rennen die Leute der Schwägerin die Bude ein. Katia eröffnet bald im Haus gegenüber ihr eigenes Restaurant, das „Aconchego Carioca“ – mit Hängematten, die sinnlos unter der Decke baumeln, und einer Bierkarte, die in Rio ihresgleichen sucht: 280 Biere aus aller Welt finden sich da heute, das teuerste ist aus Belgien und kostet 240 Reais die Flasche, etwa 100 Euro. Aus der ganzen Stadt kommen Katias Gäste – und aus allen Schichten. Bald prägen nicht mehr die Dealer und Prostituierten das Straßenbild von Praça de Bandeira, sondern die Besucher des Aconchego Carioca. Und so hat die Köchin nicht nur sich selbst und der Feijoada eine neue Identität verpasst, sondern auch dem einst eher zwielichtigen Stadtteil, der wieder ein lebendiger geworden ist. Fast klingt Katias Geschichte zu gut, um wahr zu sein. Als hätte sie nicht das Leben geschrieben, sondern die clevere PR-Beraterin, die sich die Köchin inzwischen ebenso leistet wie ihre Schwäche für Bier, dessen Resultat sie mit einem munteren Schlag auf ihre Bauchdecke auch gern lachend zur Schau stellt. Doch so erstaunlich Katias Geschichte ist, sonderlich außergewöhnlich ist sie nicht in einer Stadt, die gerade selbst eine unglaubliche Wandlung durchmacht – und eine Geschichte schreibt, die ebenfalls fast zu gut ist, um wahr zu sein – oder besser: wahr zu werden. Katia Barbosas Garnelen im Kürbis (links), die Köchin im Porträt (rechts). Tanzen zwischen Antiquitäten: Rio Scenarium in Lapa. PR Noch Baustelle: Das legendäre Maracana-Stadion wird umgebaut. RAUFELD/CORNELIA TOMERIUS (3) Jahrzehnte lang galt Rio de Janeiro als so bezaubernd wie: gefährlich. Wer hierher kam, fühlte sich zuweilen wie bei einer Verabredung mit einer Schönheit, die in ihrer Handtasche neben dem Lippenstift auch stets eine Knarre mit sich herumträgt – und man weiß nie, was von beidem sie wohl als nächstes zückt. Zwischen Angst und Anbetung, Vorsicht und Faszination verorteten Reisende ihr Gefühl für die Stadt, in der fast kein Tag vergeht, an dem nicht in den Favelas Menschen im Kugelhagel sterben. Rio hat zwei Gesichter. Und die Politik hat lange das eine gepflegt und das andere versucht zu ignorieren. Auf Stadtplänen für Touristen zum Beispiel waren die Favelas lange Zeit nicht eingetragen. Die Areale waren einfach nur grün – als stünden da Wälder statt Wellblech. Heute jedoch sind die Favelas nicht nur in allen Plänen verzeichnet und haben Namen wie andere Stadtteile auch. In einigen von ihnen können sich sogar Touristen inzwischen ziemlich gefahrlos bewegen. In gut 20 der rund 1 000 Favelas haben nicht mehr die Drogenbosse das Sagen, sondern die Soldaten der Unidades da Policía Pacificadora, kurz: UPP, einer Art Friedenspolizei. Diese besetzt eine Favela, nachdem die BOPE, eine Eliteeinheit der Militärpolizei, in einer gezielten Aktion die Drogenbosse festgenommen oder verjagt und die Waffen kassiert hat. Für die Eroberung der Rocinha, der berüchtigten Favela mitten in Rio, hat die BOPE im November gerade mal zwei Stunden gebraucht. „Operation Friedensschock“ hieß die Aktion. Wer heute durch eine befriedete Favela läuft, traut seinen Augen kaum. Da spielen Polizisten mit Kindern Fußball. Ehemalige Drogendea- ler führen den Besucher durch ihr neues Lebensmittelgeschäft oder ihr frisch eingerichtetes Internetcafé. Und manch einer hat Tränen in den Augen, wenn er erzählt, dass er jetzt nicht mehr täglich um sein Leben fürchten muss. Nicht nur Touristen gehen neugierig in die Favelas, auch immer mehr Cariocas, wie sich die Einwohner aus Rio nennen. Eine Annäherung ganz im Sinne der neuen Stadtpolitik, deren Ziel es ist, aus der städtebaulichen Integration – die Favelas sind über die ganze Stadt verteilt – auch eine soziale werden zu lassen. Und so spricht man offiziell auch nicht mehr von Favelas, sondern von Comunidades, Gemeinschaften. Höher, schneller, weiter Bernardo Carvalho geht der neue Begriff schon leicht über die Lippen. Er ist der Chef der städtischen Olympia-Gesellschaft und somit Manager der über 100 Projekte im Vorfeld der Olympischen Spiele, zu denen auch die Pazifizierung der Comunidades gehört. Bis 2018, so Carvalho – der fast ein bisschen zu jung wirkt für die gewaltige Aufgabe, die da vor ihm liegt – sollen sämtliche Comunidades befriedet sein. Die Jahreszahl ist ein Statement. Sie soll klarstellen, dass die Befriedung der Favelas nicht allein aus Sicherheitsfragen geschieht. Kritiker glauben, dass die Slums nach den Spielen 2016 ja doch wieder den Drogenbossen überlassen würden. Nein, lenkt Carvalho ein: „Nicht Rio soll Olympia dienen, sondern Olympia Rio.“ Man wolle die Events nutzen, die Stadt zu verändern. Und der allgemeine wirtschaftliche Aufschwung im Land gibt offenbar die nötige Schubkraft für ein städtepolitisches „Höher, schneller, weiter!“. Service Anreise Von Frankfurt nach Rio de Janeiro fliegt zum Beispiel TAM Airlines. Die brasilianische Fluggesellschaft und Lufthansa, beide Mitglied der Star Alliance, haben kürzlich auch ihre bestehende CodeshareVereinbarung erweitert. www.tamairlines.com Essen und Ausgehen Aconchego Carioca Das Restaurant von Katia Barbosa befindet sich in der Rua Barão de Iguatemi, 379, Praça da Bandeira. Rio Scenarium Das Tanzlokal ist eine Institution im Ausgehviertel Lapa und wird zwar von vielen Touristen, aber auch vielen Einheimischen frequentiert. Rua do Lavradio, 20. Centro Antigo www.rioscenarium.com.br Unterkunft Sheraton Rio Hotel Das Hotel liegt direkt am Strand und bietet nicht nur einen faszinierenden Blick aufs Meer, sondern auch auf die nahe gelegene und seit kurzem befriedete Favela Rocinha. www.sheraton-rio.com.br Caesar Park Das Hotel ist am Ipenama Strand und unweit des legendären Posto 9. www.caesar-park.com Informationen Alles über die Olympischen Spiele in Rio 2016 unter: www.rio2016.org Über Events und Unterkünfte in Rio: www.rioguiaoficial.com.br/en Südamerika 1000 km BRASILIEN Olinda Salvador Brasilia Sao Paulo Rio de Janeiro r he is c n t n a A t l a O ze Raufeld/K. Jaeger W enn Katia Barbosa, die Köchin, ihre Geschichte erzählt, tut sie das so routiniert und beiläufig, als referiere sie eins ihrer Rezepte, nach denen sie so oft gefragt wird. Doch im Gegensatz zu diesen, die man vermutlich tatsächlich problemlos nachkochen könnte, wäre das eins jener Gerichte, bei denen es mit den richtigen Zutaten und deren Zubereitung nicht getan wäre. Ein gutes Händchen braucht man noch. Und eine gehörige Portion Glück. Man nehme also eine junge Frau aus armen Verhältnissen, die in dem kleinen Restaurant der Schwägerin als Kellnerin arbeitet, sowie einen gelangweilten Koch, der sich eines Tages die Schürze vom Bauch reißt und fragt, ob sie nicht statt seiner kochen könne. „Ich kenne aber nur vier Gerichte“, sagt Katia. Garnelen in Maniokcreme und in Maniokpüree, Garnelen im Kürbis sowie „Baião de Dois“, Reis mit Bohnen – typische Speisen aus dem Nordosten Brasiliens, woher ihre Familie einst vor der Armut nach Rio floh. „Das ist besser als nichts“, sagt die Schwägerin. Also kocht Katia ihre vier Gerichte. Und zwar so gut, dass die Leute bald dafür Schlange stehen. Katia kommt auf den Geschmack und variiert ihre Speisen. Eines Tages erinnert sie sich daran, wie die Großmutter ihr als Kind aus den Resten einer Feijoada – dem brasilianischen Nationaleintopf aus Fleisch und Bohnen – kleine Bällchen formte und ihr in den Mund schob. Das bringt Katia auf eine Idee. Sie püriert eine Feijoada vom Vortag, mischt Maniokmehl unter, formt den Brei zu Bällchen, stopft etwas Couve mineira hinein – die brasilianische Grünkohlvariante, die sonst bei der Weiter ging es zunächst für das Sambódromo. Das wurde jetzt, gut 30 Jahre nach der Eröffnung, vollendet, und zwar ganz im Sinne des Architekten Oscar Niemeyer, dessen Plänen in den 1980ern eine Brauerei auf dem Gelände im Weg war. Für Olympia – hier sollen die Marathonläufer ins Ziel laufen – überließ die Brauerei der Stadt das Gelände. Und wenn jetzt an Karneval die Sambaschulen durch das Stadion defilieren, können das 18 000 Zuschauer mehr live miterleben als zuvor. Das Maracana-Stadion ist hingegen nicht so bald fertig. Im Stadionrund drehen sich die Kräne, ohrenbetäubend hallt der Lärm in der Schüssel wider. Schon zur FußballWM 2014 muss das legendäre Stadion fertig sein. Doch nicht nur Sportstätten werden gebaut. Der ehemalige Hafen zum Beispiel wird zum neuen Stadtviertel samt Museumsbau. An der Lagoa entsteht das Athletendorf. Und für die Infrastruktur muss auch noch so einiges getan werden. „Nach den Spielen haben wir eine andere Stadt“, sagt Carvalho. Doch den meisten Cariocas dürfte das noch gar nicht so bewusst sein. „Wenn sie es wüssten, würden sie aus Protest auf die Straße gehen“, sagt ein gut gekleideter Herr am Abend vertraulich im „Rio Scenarium“, einem berühmten Tanzlokal in Lapa. Er muss den Überblick haben, er ist Pilot und fliegt reiche Leute im Helikopter über die täglich verstopften Straßen. Doch momentan schweift sein Blick ebenerdig über die Tanzfläche, auf der sich gerade ein paar Europäer im Sambaschritt versuchen. Das Rio Scenarium könnte man auch für ein Antiquitätengeschäft halten, stünden zwischen den alten Grammophonen, Puppen und Mö- beln nicht so viele Menschen ’rum. An einer Wand hängen unzählige alte Uhren eng nebeneinander. Sie sind irgendwann stehen geblieben. Wenn sich ein Pendel bewegt, dann nur, weil ihn die Vibration des Tanzbodens dazu zwingt. Wie ein verzweifelter Versuch, die Zeit anzuhalten, wirkt die Uhrenparade. Und tatsächlich: Wer das Alte, das Ursprüngliche in Rio sucht, fühlt sich vermutlich bald wie Marc Fischer, der Journalist, der vor ein paar Jahren ein ganzes Buch darüber schrieb, wie er durch die Stadt irrte und Joao Gilberto suchte, den berühmten Bossa-Nova-Musiker, der sich in seiner Wohnung verschanzt und keinen Besucher mehr empfängt. Und wie Marc Fischer gibt man sich vermutlich auch irgendwann mit Spuren dessen zufrieden, etwa mit einer Ahnung von einer Zeit, als Tom Jobim und Vinícius de Moraes in einer Eckkneipe in Ipanema einem Mädchen nachstarrten und danach ihren berühmtesten Song schrieben. Die Bar heißt heute natürlich so wie der– „La Garota de Ipanema“ – und wirkt so authentisch, wie Erlebnisgastronomie wirken kann. Doch zurück zum Rio Scenarium, wo der Helikopterpilot auf einen Kellner zeigt, der sich gerade mit einer Gruppe Touristen fotografieren lässt. Es ist ein schwarzer, kräftiger Mann, einer dieser Originale, die für so einen Laden mehr wert sein dürften als die teuerste Antiquität auf der Empore. „Wer weiß, was er früher gemacht hat“, sinniert der Pilot, „vielleicht hat er Drogen vertickt, vielleicht hat er geklaut, vielleicht hat er auch immer schon in einer Bar gearbeitet. Man weiß es nicht.“ Aber vermutlich ist es wieder eine dieser Geschichten, die Rio schreibt – und die fast zu gut ist, um wahr zu sein.