Teures Parken Der R verr

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Teures Parken Der R verr
Prof. Dr. Hubertus Gersdorf
Wintersemester 2012/2013
Repetitorium Allgemeines Verwaltungsrecht
Fall 9: Teures Parken
Der R verreist im Mai 2010 für über einen Monat nach Australien. Weil er die hohen Kosten
für einen Mietparkplatz auf dem Flughafengelände sparen möchte, sucht er sich in der Nähe
des Flughafens einen Parkplatz (Richtzeichen Nr. 7 der Anlage 3 zu § 42 II StVO, Zeichen
Nr. 314), auf dem er das Auto während seiner Abwesenheit stehen lassen möchte. Einen Tag
nach seiner Abreise, am 10.5., stellt die zuständige Behörde das Vorschriftszeichen Nr. 62 der
Anlage 2 zu § 41 I StVO, Zeichen Nr. 283 (Absolutes Halteverbot) mit dem Hinweis
„vom 17.-21. Mai Straßenbauarbeiten“
auf und entfernt das Zeichen Nr. 314. Als das Auto am 17.5. noch an derselben Stelle steht,
ordnet der Bürgermeister B – in seiner Funktion als Straßenverkehrsbehörde – das Abschleppen an, damit mit den Bauarbeiten begonnen werden kann. Der Abschleppunternehmer U
führt die Anordnung aus und stellt den Wagen auf seinem Betriebsgelände ab, da in der Nähe
keine freien Parkplätze vorhanden sind.
Als der R am 26.6. von seiner Reise zurückkehrt, findet er in der Post einen Kostenbescheid
des zuständigen B vom 20.5., der ihn zur Zahlung von 100,- € auffordert. R legt gegen den
Kostenbescheid noch am selben Tag Widerspruch ein, nachdem er gegen Bezahlung der
geforderten Summe sein Auto zurückerhält.
Die Widerspruchsbehörde (Landrat) hebt daraufhin den Kostenbescheid auf.
B möchte wissen, ob der Landrat rechtmäßig gehandelt hat.
Vermerk: Die richtige Anwendung der kostenrechtlichen Vorschriften ist nicht zu prüfen.
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Lösungsskizze
Der Landrat hat rechtmäßig gehandelt, wenn der Widerspruchsbescheid formell und materiell
rechtmäßig ist.
A. Formelle Rechtmäßigkeit
I. Zuständigkeit
Der Landrat ist die zuständige Widerspruchsbehörde.
Fraglich ist, wie es sich auswirkt, dass R den Widerspruch verfristet eingelegt hat. Nach einer
in der Lehre vertretenen Ansicht ist die Widerspruchsbehörde in einem solchen Fall nicht
mehr zuständig für den Erlass eines Widerspruchsbescheids, da der Devolutiveffekt diese
Zuständigkeit nicht mehr trage.
Dagegen stellen die ständige Rechtsprechung und die h.L. darauf ab, dass die Widerspruchsbehörde die Herrin des Vorverfahrens sei. Zumindest in den Fällen, in denen nicht die
Interessen Dritter gefährdet sind, kann ein Widerspruchsbescheid auch auf einem verfristet
eingelegten Widerspruch ergehen. Die Zuständigkeit der Widerspruchsbehörde ist daher
gegeben.
(Vgl. hierzu H. Gersdorf, Verwaltungsprozessrecht, 4. Aufl. 2009, Rn. 40.)
II. Verfahren und Form (+)
B. Materielle Rechtmäßigkeit des Widerspruchsbescheids
Der Widerspruchsbescheid ist materiell rechtmäßig, wenn der im Widerspruchsverfahren
überprüfte Kostenbescheid rechtswidrig und R dadurch in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 I
1 VwGO analog) oder wenn er zwar rechtmäßig, aber unzweckmäßig ist.
I. §§ 114 I, 61 SOG M-V
Eine Sicherstellung (§ 61 SOG M-V) kann nur angenommen werden, wenn die Gefahrenabwehr gerade mit der Gewahrsamsbegründung durch die Behörde erfolgen soll. Der Wagen des
R wurde hier aber auf das Grundstück des U geschafft, weil kein geeigneter Stellplatz in der
Nähe des ursprünglichen Standortes gefunden werden konnte. Auf eine Inbesitznahme des
Fahrzeuges kam es der Behörde nicht an. Eine Sicherstellung scheidet daher aus.
II. §§ 114 I, 79, 80, 87, 89 SOG M-V
Die EGL müsste formell und materiell rechtmäßig angewendet worden sein.
Problem: enthält § 114 I SOG M-V eine VA-Befugnis zur Festsetzung eines Kostenbescheides? gewohnheitsrechtlich anerkannt, Vorbehalt des Gesetzes ist gewahrt
1. Formelle Rechtmäßigkeit des Kostenbescheids
a) Zuständigkeit:
B war nach dem SV zuständig.
b) Verfahren und Form
Vor dem Erlass des Kostenbescheides hätte der R angehört werden müssen, was nicht erfolgt
ist.
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Ausnahme gem. § 28 II VwVfG M-V Nr. 5 „Maßnahmen der Verwaltungsvollstreckung“? (-)
da es sich nicht um eine Maßnahme „In“ der Verwaltungsvollstreckung handelt, sondern eine
sich daran anschließende Maßnahme.
Formelle Rechtswidrigkeit des Kostenbescheides wegen dieses Verfahrensfehlers. Aber Heilung gem. § 45 I Nr. 3 VwVfG M-V durch Nachholung der Anhörung möglich.
2. Materielle Rechtmäßigkeit des Kostenbescheids
Der Kostenbescheid war materiell rechtmäßig, wenn die zugrunde liegende Amtshandlung
rechtmäßig war („für Amtshandlungen nach diesem Gesetz“) und die kostenrechtlichen Vorschriften rechtmäßig angewendet worden sind. Von letzterem ist nach dem SV auszugehen.
Zu prüfen ist demnach, ob das Abschleppen rechtmäßig war.
a) Vorliegen eines Grund-VA, § 79 SOG M-V
aa) Begriffsmerkmale des § 35 VwVfG M-V
-
Maßnahme einer Behörde auf dem Gebiet des öffentlichen Recht mit Außenwirkung (+)
-
Regelung: Halteverbot
-
(P) Einzelfall: kein Einzelfall i.S.d. § 35 S.1 VwVfG M-V, aber Allgemeinverfügung
gem. § 35 S. 2, 3. Alt. VwVfG M-V
bb) Vollziehbarer Inhalt des VA
-
VA muss auf Handlung, Duldung oder Unterlassung gerichtet sein, § 79 I SOG M-V
-
bei Ersatzvornahme kommt gem. § 89 SOG nur ein Handlungsgebot in Betracht
-
(P) Das Verkehrszeichen Nr. 283 drückt das Verbot aus, mit einem Fahrzeug im betroffenen Bereich zu halten. Dieses Verbot ist nicht im Wege der Ersatzvornahme vollziehbar.
-
Aber: Zugleich beinhaltet das Zeichen das Gebot, den betroffenen Bereich zu verlassen.
Diese Anordnung kann im Wege der Ersatzvornahme vollzogen werden.
cc) Wirksamkeit des Grund-VA
Nach h.M. ist für den Vollzug eines bestandskräftigen VA die Wirksamkeit ausreichend. Vor
eingetretener Bestandskraft bedarf es darüber hinaus der Rechtmäßigkeit des VA.
Nach anderer Ansicht muss der VA generell rechtmäßig sein.
Gegen die Rechtmäßigkeit des VA bestehen hier keine Bedenken.
Die Wirksamkeit setzt die Bekanntgabe des VA voraus gem. § 43 I 1 VwVfG M-V. Grds.
richtet sich dies nach § 41 VwVfG M-V, hier (-) da  Kenntnis des R.
Frühere Rspr. daher: Kein wirksames Ver- und Gebot durch das Aufstellen eines Schildes
ohne die tatsächliche Kenntnisnahme des Betreffenden.
Neuere Rspr. des BVerwG: Bekanntgabe bei Verkehrszeichen richtet sich nach §§ 39 II, III,
45 IV StVO. Offen bleibt, ob es sich um eine öffentliche Bekanntgabe eines nicht schriftlichen VA gem. § 41 III VwVfG M-V handelt oder ob die Vorschriften der StVO den § 41
VwVfG als lex specialis M-V verdrängen.
Demnach kommt es nicht auf die tatsächliche Kenntnis des einzelnen Verkehrsteilnehmers
an. Ausreichend ist, so das BVerwG, dass das Verkehrszeichen so angebracht ist, dass ein
durchschnittlicher Verkehrsteilnehmer es unter Anlegung des Sorgfaltsmaßstabes nach
§ 1 StVO hätte wahrnehmen können.
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Auch der Fahrer eines geparkten Autos bleibt Verkehrsteilnehmer, dem gegenüber ein Verkehrszeichen Wirksamkeit entfaltet, sofern er mit der Aufstellung des Zeichens hätte rechnen
müssen. Das Vertrauen auf die Aufrechterhaltung vorhandener Verkehrszeichen wird nicht
uneingeschränkt geschützt. Es muss damit gerechnet werden, dass sich Regelungen nach einer
angemessenen Vorwarnzeit ändern. Das BVerwG hat vier Tage nicht beanstandet. Da das
Schild hier fünf Tage vor der Geltung der Regelung aufgestellt worden ist, kann die Vorwarnzeit als angemessen angesehen werden.
Das Wegfahrgebot gilt daher auch gegenüber R als bekannt gegeben.
b) Vollstreckbarkeit des Grund-VA, § 80 SOG M-V
Des Weiteren müsste das Wegfahrgebot vollziehbar gewesen sein gem. § 80 I SOG M-V. Die
h.M. stellt Verkehrszeichen den unaufschiebbaren Anordnungen von Polizeibeamten gleich
und wendet § 80 II 1 Nr. 2 VwGO analog an. Danach entfällt die aufschiebende Wirkung
eines Rechtsmittels, und das Wegfahrgebot ist gem. § 80 I Nr. 2 SOG M-V vollziehbar gewesen.
c) Androhung und Fristsetzung, § 87 SOG M-V
Die Ersatzvornahme wurde weder angedroht noch wurde eine Frist gesetzt. Gem. § 87 I 2, 80
II Nr. 1 SOG M-V konnte die Androhung des Zwangsmittels unterbleiben, da durch das Auto
bereits eine Störung vorgelegen hat. Ebenso ist eine Fristsetzung gem. §§ 87 I 2, 80 II Nr. 1
SOG M-V analog entbehrlich.
d) § 89 SOG M-V
Das Wegfahrgebot ist auch eine vertretbare Handlung, so dass es im Wege der Ersatzvornahme gem. § 89 SOG M-V vollstreckt werden kann. Die Ersatzvornahme ist gem. § 89 I SOG
M-V sowohl im Wege der Selbstvornahme durch die Behörde als auch im Wege der Fremdvornahme durch einen Beauftragten zulässig.
e) Vollstreckungspflichtiger
R kann gem. § 83 I Nr. 1 SOG M-V als Vollstreckungspflichtiger in Anspruch genommen
werden.
f) Ermessensfehlerfreie Vollstreckung
Ermessensfehler ersichtlich? Fehlgebrauch, da Unverhältnismäßigkeit? Hier (+)/(-) I.E. keine
Ermessensfehler. Das Risiko, das damit verbunden ist, ein Auto nicht uneingeschränkt auf
einem Parkplatz stehen lassen zu können sowie die entsprechenden Folgen, ist der Sphäre des
R zuzurechnen. R hätte entsprechende Vorsichtsmaßnahmen treffen können.
g) Zwischenergebnis
Die dem Kostenbescheid zugrunde liegende Amtshandlung war somit rechtmäßig. Der Kostenbescheid war demzufolge materiell rechtmäßig.
3. Zwischenergebnis
Der Kostenbescheid ist rechtmäßig ergangen.
III. Ergebnis
Demzufolge ist der Widerspruchsbescheid materiell rechtswidrig.
C) Ergebnis
Da der Widerspruchsbescheid rechtswidrig ist, hat der L nicht rechtmäßig gehandelt.
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Literaturhinweise:
-
Bitter/Konow, Bekanntgabe und Widerspruchsfrist bei Verkehrszeichen, NJW 2001, 1386
-
Heyen/Collin, 40 Klausuren aus dem Verwaltungsrecht, 9. Aufl. 2008, S. 5 und 61 ff.
-
Pietzner/Ronellenfitsch, Das Assessorexamen im Öffentlichen Recht, 10. Aufl., 2000, §
42
-
Stelkens, Das Verkehrsschild, die öffentliche Bekanntgabe, das BVerfG und der VGH
Mannheim, NJW 2010, 1184
-
P. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl., München 2008, § 35 Rn. 330 ff.
Rechtsprechung:
-
BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v. 10.09.2009, NJW 2009, 3642 (zum
umstrittenen Problem, wann die Widerspruchsfrist bei Verkehrszeichen zu laufen beginnt)
-
BVerwGE 27, 181; 59, 221; 102, 316
-
VGH Mannheim, Beschl. v. 02.03.2009, Az. 5 S 3047/08, JZ 2009, 738
-
OVG Münster, NJW 1983, 1441
-
OVG Münster, NJW 1984, 284
-
OVG Münster, NZV 1996, 293, 294
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