Integrationsjournal Mai 2015

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Integrationsjournal Mai 2015
I-JOURNAL
Der Stadtschulrat für Wien informiert
Mai 2015
I-JOURNAL Mai 2015
Die Geschichte zum Deckblatt
Das Plakat entstand 2010 in der JPTK, Akziengasse 44-46, Wien 23.
Ich war damals Englisch-Lehrerin, habe aber auch im Kreativbbereich mit den Jugendlichen gearbeitet.
Als Vorlage diente das Kinderbuch „Wer guckt da so?” von Stephane Frattini. Ein Fotoklappbuch, das beim
Öffnen zuerst ein Tierauge zeigt und beim weiteren Aufklappen das Tier selbst preisgibt.
Die Arbeit hat den Jugendlichen großen Spaß gemacht, auf die Endfertigung als Plakat für ihre Einrichtung
im Foyer waren sie sehr stolz. Jedes mit Wasserfarben und Pastellkreiden gemalte Bild wurde verwendet.
Dipl.Päd. Andrea Kutschera, BEd
Wiener Heilstättenschule - Reintegration
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WICHTIGE INFORMATION
Bezug des I-Journals ab Herbst 2015
Das Integrationsjournal gibt es nun seit 1992. Es ist an der Zeit, eine Durchforstung/
Überprüfung des Verteilers vorzunehmen. Auch auf Grund der fortschreitenden Digitalisierung macht es Sinn, die automatische Aussendung von Druck-Versionen zu
hinterfragen. (Druck- und Portokosten)
Die Aussendung im Juni 2015 erfolgt noch EINMALIG lt. aktuellem Verteiler. Alle
Pädagog/innen erhalten das Journal ausschließlich an ihre Stammschulen.
Für Büchereien, PH, KPH, diverse Stellen wie FSW, Ambulatorien, Clearingstellen,
BAKIP, müssen Anfragen per Mail erfolgen. Individuelle Einzellösungen sind allenfalls möglich.
Bis 30. August 2015 an [email protected]
Ab 1. September 2015 an: [email protected] (zukünftige Ansprechperson)
Die digitale Version ist jederzeit im Lehrerweb abrufbar unter: http://lehrerweb.wien/stadtschulrat-fuer-wien/sonderpaedagogik/17-inspektionsbezirk/
Die Druckversion erhalten weiterhin automatisch alle Pflichtschulen in Wien. Jeweils
ein Exemplar für die Schulbibliothek und ein Exemplar für den Elternverein.
Für Eltern oder Interessierte liegen im Eingangsbereich des Stadtschulrats für Wien,
im Schulservice und in der Integrationsberatungsstelle des Stadtschulrats Druckexemplare auf.
Brigitte Mörwald
Integrationsberatungsstelle
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Inhalt
Sehr geehrte Leserin! Sehr geehrter Leser! ........................................................................................................... 7
Ein ganz besonderes Projekt in der Lernwerkstatt Donaustadt: Die Bürgschaft................................................... 16
Storytelling - English Language Lessons in the Integration Classroom ............................................................... 26
Besuch aus der Republik Moldau in der Volksschule 10., Neilreichgasse 111...................................................... 29
Erfahrungsaustausch mit Moldau zum Thema inklusive Bildung.......................................................................... 31
Wenn zwei eine Reise tun … Wien 2015.............................................................................................................. 33
Die Organisation einer humanen Schule nach Janusz Korczak........................................................................... 36
FIT für die Schule!................................................................................................................................................. 51
Trotz Hirntumor die Schule meistern .................................................................................................................... 53
Projekt „Lernblitz“.................................................................................................................................................. 56
Gemeinsam leben, lernen, lachen ........................................................................................................................ 57
Gegenüberstellung von oft verwendeten Begriffen zum Thema „Behinderung“.................................................... 60
Diversität – Inklusion – Gerechtigkeit.................................................................................................................... 61
Inklusion: Stolpersteine und Brücken auf dem Weg zu einer gemeinsamen Haltung........................................... 67
Ganggalerie „Kunst macht stark“ .......................................................................................................................... 70
OutsideTheBox...................................................................................................................................................... 73
Ausgleich und Leistungsbeurteilung bei Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störung................. 76
Die soziale Netzwerkerin - eine neue tragfähige Rolle im pädagogischen Geflecht............................................. 80
„KRAFT-WERK“..................................................................................................................................................... 84
Lesbische Lehrerinnen, schwule Lehrer oder Reflexionen zur Diversität des Systems Schule............................ 92
Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung und Perspektiven zum Umgang damit im Schulalltag........ 97
Wir stellen vor: Regine Striok.............................................................................................................................. 101
Buchempfehlungen:
• „Ärztliche Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen“............................................................................ 102
• „Gut leben mit einem autistischen Kind“ ...................................................................................................... 103
• Jugendbücher, die Sie lesen sollten!............................................................................................................ 105
• „Normal“ von Allen Frances.......................................................................................................................... 106
Erratum: Lebendiges Lernen .............................................................................................................................. 107
Brigitte geht......................................................................................................................................................... 108
Leserbriefe.......................................................................................................................................................... 112
Liebe Leserin! Lieber Leser!................................................................................................................................ 113
Was übrig bleibt ….............................................................................................................................................. 114
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Sehr geehrte Leserin!
Sehr geehrter Leser!
Dieses und alle anderen Bilder in diesem Artikel stammen aus: „Kallipädie“ - Moritz Schreber
SQA
Überlegungen zu Philosophie und Technik von Qualitätsmanagementprozessen
Die Absicht, Bildungssysteme leistungsfähiger zu optimieren, ist das erklärte Ziel jeder Bildungsreform.
Demgegenüber steht die Skepsis der praktisch tätigen Lehrerinnen und Lehrer, die hinter so vielen Reformen
keine wirkliche Verbesserung erkennen können, sofern diese nicht mit einem klaren Bekenntnis zu mehr
Ressourcen verbunden sind.
Ein weiterer Grund für die Vorbehalte ist der Umstand, dass mit praktisch jeder Veränderung auch neue
Begrifflichkeiten eingeführt werden. Je nach Mode sind es Anglizismen oder Abkürzungen, aber auch kompliziert eingeführte neuartige Begriffe mit teils schwerfälligen Definitionen. Auch der Sprachgebrauch hat
sich eigentümlich gewandelt und ist in so manchem Fall nur mehr von Experten im Kontext dechiffrierbar. Ein Beispiel gefällig? Im Entwurf zu einem neuen Grundsatzerlass zur Sexualerziehung im April 2015
heißt es: „Im Rahmen einer umfassenden Sexualerziehung sollen Kindern und Jugendlichen Informationen,
Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt werden, um mit diesem Potenzial verantwortungsvoll mit sich und
anderen umgehen zu können.“ Ist das nicht ein Gegensatz zur Aufgabe der österreichischen Schule nach
dem Schulorganisationsgesetz §2: „Die österreichische Schule hat die Aufgabe, an der Entwicklung der
Anlagen der Jugend nach den sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren,
Guten und Schönen durch einen ihrer Entwicklungsstufe und ihrem Bildungsweg entsprechenden Unterricht
mitzuwirken.“ Was bewirkt also Sexualerziehung? Fähigkeiten mit Sex umzugehen, Informationen aus dem
Internet zu holen? Verhindert der Kompetenzbegriff die Verwendung des Begriffes „Wert“? Dass Sprache
auch in Missverständnisse umschlagen kann, sei nicht weiter mehr ausgeführt, lediglich der Verweis angebracht, dass die Furche den oben zitierten Satz zum Grundsatzerlass für das Herrnbaumgartener Nonseum
vorschlägt (Link: http://www.herrnbaumgarten.at/).
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Es ließe sich, etwas pointiert gesagt, die Geschichte der schulischen Pädagogik der letzten Jahrzehnte auch
nach den jeweils neu eingeführten Begriffen gliedern: Curriculum, Lehr- und Lernziele, operationalisiertes
Lernen, Evaluation, Kompetenzorientierung, QM, SQA, etc. Gemeinsam ist all diesen Begriffen, dass sie
vorgeben, eine grundsätzliche Neuigkeit darzustellen und sich historisch kritischer Reflexion nicht oder nur
selten stellen. Über ein letzteres Kapitel namens „SQA“ handelt der nachfolgende Text.
Zur Vorgeschichte
Am 20. Mai 2011 wurde mit dem 28. Bundesgesetz das Bundesschulaufsichtsgesetz geändert. Mit diesem
Gesetz wird ein, nach den Beschreibungen der Akteure, umfassendes Qualitätsmanagementsystem in das
österreichische Schulsystem eingeführt. In weiterer Folge wird die Aufgabe der Umsetzung des Qualitätsmanagementsystems den Beamten der Schulaufsicht und den Schulleitern im Rahmen des Schulunterrichtsgesetzes §56 übertragen. Für Lehrer findet sich bis zum heutigen Tag kein entsprechend eindeutiger Auftrag
in den einschlägigen Dienstvorschriften.
Ein wesentliches Kriterium für Qualitätsmanagement im Bildungsbereich ist die Einführung des Nationalen
Qualitätsrahmens (wie es ausdrücklich im Bundesschulaufsichtsgesetz §18 Absatz 2 festgehalten ist). Erst
mehr als fünf Jahre nach dem Start wurde dieser für 2016 avisiert, was eine nicht unproblematische Verzögerung darstellt.
Da zudem die Nationalen Bildungsberichte, die in höchster Qualität in den Jahren 2009 und 2012 erschienen
sind, nach Stand der Dinge nicht mehr fortgeführt werden, stellt sich natürlich die Frage, wie dann verantwortungsvoll das lange Ausbleiben des Nationaler Qualitätsrahmens zu verantworten ist.
Somit ist SQA als Qualitätsmanagementsystem, unter dem dunklen Stern drohender Kürzungen im Bildungsressort, in der schwierigen Lage, die vielfachen Hoffnungen, die in den letzten Jahren darauf verwendet wurden, erfüllen zu sollen. Umso interessanter erscheint daher eine philosophische Reflexion zu
Grundsätzlichem.
Disziplin
„Die Disziplin ist die Kunst der Zusammensetzung von Kräften zur Herstellung eines leistungsfähigen Apparates.“, schreibt MICHEL FOUCAULT in seiner höchst lesenswerten Analyse „Überwachen und Strafe“
(S. 212). Qualitätsmaßnahmen sind Werkzeuge der Macht, neumodern als tools bezeichnet, um Disziplin
zu produzieren oder zu stärken. Daher ist es im ursächlichen Interesse von Führungsprozessen, mit diesen
tools auch effizient und richtig umgehen zu können. Im Lichte von Qualitätsmanagement ist die Technik der
Disziplin eine notwendige Fertigkeit.
Von der Industrie zur Dienstleistung
Im Bereich der industriellen Fertigung wurde es notwendig, Qualitäten in der Massenproduktion zu garantieren. Qualitätssicherung hat, im engeren Sinne, ihre Wurzeln im hersteller- und produktorientierten Ansatz. Ein einwandfreies Funktionieren, gute technische Eigenschaften und effiziente Lebensdauer sind Ziele
einer Massenproduktion. Der Schlüsselbegriff jeder Produktion ist „Garantie“, ein gegebenes Versprechen,
das Verbindlichkeiten schafft. Nach FRIEDRICH NIETZSCHE, Genealogie der Moral: „Eben das ist die
lange Geschichte von der Herkunft der Verantwortlichkeit. Jene Aufgabe, ein Thier (Anmerkung: Damit
ist der Mensch gemeint) heranzuzüchten, das versprechen darf, schliesst, wie wir bereits begriffen haben,
als Bedingung und Vorbereitung die nähere Aufgabe in sich, den Menschen zuerst bis zu einem gewissen
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Grade nothwendig, einförmig, gleich unter Gleichen, regelmässig und folglich
berechenbar zu machen.“ Qualität in der Produktion, gleich welcher Sektor, hat
nicht nur mit Maschinen sondern auch mit erzogenen Menschen zu tun - die
Geburtstunde der modernen Disziplin.
MOTOROLA führte im Jahre 1987 „SIX SIGMA“ ein. Das Konzept basiert auf
der Erkenntnis, dass Fehler in Produktion und Prozess Kosten verursachen und
damit negative Folgen für die Leistungsfähigkeit der Firma haben. SIX SIGMA wurde von Anfang an als Managementsystem betrachtet, das den Anspruch
erhoben hatte, alle Konzepte, Techniken und Messsysteme unter einen Nenner
zu bringen. Qualität umfasst in Six Sigma alle Dimensionen des Unternehmens
und muss daher ganzheitlich und voll integriert aufgesetzt werden, so die Vorgabe. Zur Implementierung von SIX SIGMA wurde eine Zahl äußerst übersichtlicher und knapp gehaltener Leitideen formuliert, die umfassend über alle Ebenen
kommuniziert wurden. In Summe hatte das System wirtschaftlichen Erfolg in
den Bilanzen von Motorola erzielt und stellte in weiterer Folge einen Startpunkt
für das sogenannte „TQM“ (= Total Quality Management) dar, das in der Managementlehre eine wichtige Bedeutung von nun an erhielt. (vgl. DUBS 2002,
Einführung in die Managementlehre, S. 684)
SIX SIGMA enthält viele Elemente, die auch für Qualitätsmanagement in Bildungsinstitutionen so typisch scheinen. Für den, der aber unmündig in TQM
eingebunden ist, lauert GEORGE ORWELLS „big brother“ überall: Eine unübersichtliche Zahl an Abkürzungen und Verknappungen, ein holistisch - pantheistischer Ansatz, eine Überstrapazierung von Anglizismen auch im deutschen
Sprachraum und ein ständiger Aufforderungscharakter der Unruhe. Auch der
Imperativ an das „lebenslange Lernen“ ist für ein System wie TQM sehr typisch.
Die prometheische Scham, von der GÜNTHER ANDERS so viel geschrieben hat („Die Antiquiertheit des
Menschen“), lässt den Nutzer (user) im Falle des Nichtfunktionierens an sich selbst zweifeln, denn die
Perfektion des Prozesses TQM an sich ist „unantastbar“. Ein Merkmal, das in vielen technischen Prozessen
von heute auffällt, ist, dass sich der Nutzer für das Nichtfunktionieren verantwortlich fühlt. Wer den Bankomatcode vergisst, wer seine Passwörter aufschreibt, wer Tabellenkalkulationsprogramme für einfache Listen
falsch befüllt – allen Fehlhandlungen ist gemeinsam, dass sie in der Masse der alltäglichen Anforderungen
längst das Humane verlassen haben. Der Schriftsteller JOSEF HASLINGER schrieb einst in den 90er Jahren
einen kurzen Beitrag für das Spectrum der Presse mit dem Titel: „Wer hier die Trotteln sind“. In diesem geht
es um das verzweifelte Gefühl des Nutzers vor einem Computer, der nicht das tut, was gewünscht wird. Der
Fehler wird zumeist im Humanen gesucht. Ich überlasse es gerne dem weiteren Nachdenken, wo des Pudels
Kern (Verweis auf J.W. Goethe) tatsächlich liegt. Wie das wohl auch an GÜNTHER ANDERS erinnert.
Die technisch orientierten Methoden des Qualitätsmanagements in der Industrie wurden auch für den Transfer auf kunden- und dienstleistungsorientierte Betriebe aufbereitet und an die verschiedensten Erfordernisse
der neuen Bereiche angepasst. Qualität wird in dienstleistungsorientierten Betrieben als Resultat subjektiver
Erfahrungen im Verhältnis zu den Erwartungen gemessen; eine große Anzahl an Rückmeldeverfahren werden im System Bildung und Schule implementiert. Das Kind, der Student, die Empfänger des Kernprozesses
Unterricht, erhalten eine Stimme und geben Feedback. Die neue Sichtweise des Qualitätsmanagements, das
von allen Beteiligten eine Rückmeldung einfordert, liegt im Trend des Zeitgeists und fördert demokratische
Prozesse, sofern ernst gemeint.
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Als Ziel für Totales Qualitätsmanagement fungiert ein lückenloses System der Erfassung der Bedürfnisse
und Wünsche von Menschen, die in den großen Fertigungshallen der Massenproduktion, sei es in Medienkonzernen oder in Textilhallen, global genutzt werden können. Sei es um im Onlineversand zugeschnittene
Verkaufsangebote zu platzieren, sei es um den neuesten Modetrend zu entwickeln.
Die Geburtsstunde der Disziplin
Ausgedehnte Übungen im preußischen Militär, die den Körper des Soldaten mechanisch durchdeklinierten,
führten zu einer Verschmelzung der Männer mit ihren Waffen. Die Automatik der menschlichen Handlungen
wurde der Automatik des Gewehres angepasst. „Wenn ein Peloton blind chargirt, so muß es von der Zeit,
da Feuer! kommandiert wird, 3 Sekunden haben, bis Hahn in Ruh ist, 1 Sekunde zur Ladung zu werfen,
2 zum Ladstock heraus, 2 in Lauf, 4 an seinen Ort und hoch zu nehmen, 12 Sekunden in allem.“ (Tagebuchaufzeichnung eines preußischen Fähnrichs 1755). Die perfekte Homogenität entpuppte sich aber als ein
Trugbild äußerer Bedingungen. Wohl war die Reihe, in der diese preußischen Soldaten auf dem Exerzierplatz aufgestellt wurden, beeindruckend uniform, wohl war die gleichförmige Entschlossenheit, mit der eine
Linie in den Kampf zog, furchterregend in ihrer Präzision, aber die Dressur von Soldaten konzentrierte sich
auf eine äußere Verhaltensweise, bei der es völlig egal war, mit welcher Einstellung die Sache angegangen
wurde. Gewissen, Gedanken oder Motivation der Soldaten waren ebenso wenig von Bedeutung wie ihre
persönliche Herkunft oder Einstellung, ob Freiwilliger oder Kriegsgefangener, ob Söldner oder Überläufer,
jeder taugte zur Dressur. Die kriegsführenden Offiziere achteten während der gesamten Kampfhandlungen
mit gezogener Waffe, dass niemand desertieren konnte. Ein Bajonett bedrohte jeden Soldaten im Rücken, der
die militärische Reihe verlassen wollte. Der preußische Soldat starb nicht für das Vaterland, sondern wollte
überleben. In der Frontreihe war er Schachfigur.
Die preußische erzwungene Disziplin war jedoch der französischen Leidenschaft für „La Grande Nation“
weit unterlegen. Einst genügte es, die technische Kontrolle über die industriell hergestellten Produkte zu
besitzen, so wie die Ständestaaten ihre gesellschaftliche Reproduktion betrieben. Doch mit dem Ende der
großen Monarchien schlug die Stunde der Sozialtechniken, die Geburtsstunde der Psychologie. „La Grande
Nation“ stand für eine Idee, und diese zeigte sich den Zwängen der preußischen Repression überlegen.
Die Technik der Disziplin des 20. Jahrhunderts fand ihren Ursprung auf den Kampfplätzen des frühen 19.
Jahrhunderts (vgl. ULRICH BRÖCKLING: „Disziplin“) und wurde stetig weiterentwickelt. So vollständig
wurden Disziplinartechniken entwickelt, dass auch Begriffe der Pädagogik neu gedeutet werden mussten.
Psychologie, Sozialwissenschaften und Pädagogik erlangten ihre Rollen. Am „schwärzesten“ und deutlichsten drückt das NIKLAS LUHMAN aus, wenn er über „System und Absicht in der Erziehung“ bilanziert:
„Am Ende kommt dabei die Lebenslüge der Pädagogik heraus: Die guten Absichten zu loben und die Gestaltbarkeit der Individuen als deren Freiheiten zu feiern.“ Für Leser der „Dialektik der Aufklärung“ (ADORNO/ HORKHEIMER) sind diese Sätze wenig überraschend. Den Ausweg dazu liefert IMMANUEL
KANT in der kleinen Schrift „Was ist Aufklärung“ (1784), wo die „Mündigkeit“ zum Ausgangspunkt der
Aufklärung erklärt wird.
Dr. Daniel Gottlob Moritz Schreber
Die Erziehung zur Schönheit durch naturgetreue und gleichmäßige Förderung zur normalen Körperbildung,
Lebenstüchtigkeit und geistigen Veredelung erfolgte in der Pädagogik in vielen Schriften im 19. Jahrhundert.
Gemeinsam ist diesen, dass sie, angelehnt an militärische Disziplinierungstechniken, dies auch auf die Pädagogik übertragen haben. Ein Autor unter vielen ist der Arzt Moritz Schreber – übrigens auch der Namenspate
der so bezeichneten „Schrebergärten“.
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„Dem Heile künftiger Geschlechter“ ist das
1858 in Leipzig erschienene Hauptwerk
„Kallipädie“ MORITZ SCHREBERS. Sehr
typisch zeigt sich in diesem Lehrbuch der
Erziehung für „Aeltern, Erzieher und Lehrer“ die Verbundenheit von Naturnähe, Gottesfürchtigkeit und Strenge. Das Kind wird
von Beginn an als unverdorben gezeigt, das
aus Gottes Kraft sich zum Guten entwickeln
würde, wenn die schädlichen Einflüsse von
außen ferngehalten werden könnten. Daher
ist es oberstes Ziel der Erziehung, die Umwelt
und die moralischen Grundsätze unter Kontrolle zu halten. Erziehung ist ein planmäßiges Einwirken, das alle Bereiche umfasst.
„Dessenungeachtet aber ist die Erziehung
im engeren und eigentlichen Sinne, d.h. die
gesamte den Menschen mögliche planmässig heraufbildende Einwirkung auf das Kind,
offenbar die Hauptgrundlage der künftigen
körperlichen und geistigen Beschaffenheit.
Selbst sehr mangelhafte Naturmitgabe ist
oft in staunenerregender Weise ausgleichbar
durch wohlberechnete Erziehung, wovon die
augenfälligsten maassgebenden Beispiele in
den immer höher steigenden Resultaten der
Erziehungsanstalten für Taubstumme, Blinde, Blödsinnige, Cretinen, sittlich verwahrloste Kinder u.s.w. zu erblicken sind. Die
glücklichste Naturmitgabe ist aber der Verkümmerung preisgegeben, wenn die erziehende Entwickelung derselben fehlt.“, heißt
es im Original. Auch der Körper der Kinder
wurde zur gesunden Erziehung gezüchtet und diszipliniert, denn damit kann mangelhafte Naturmitgabe ausgeglichen werden. Zweifelsohne enthält „Kallipädie“ auch eine Reihe sehr zweckmäßiger Methoden aus der
Pädiatrie, das gesamte Buch jedoch entspricht durch den strengen und fordernden Tonfall dem damaligen
Zeitgeist, auch mit sehr unheilvollen Vorschlägen.
Für den historisch geübten Leser, die historisch geübte Leserin, ist es unschwer zu erkennen, dass die Reformpädagogik der 20er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts ihre unheilvollen Wurzeln in dieser Zeit der
„Schwarzen Pädagogik“ (Literaturtipp: KATHARINA RUTSCHKY in dem gleichnamigen Buch), so wird
es vielfach bezeichnet, gefunden hatte. Nicht umsonst führten viele Entwicklungslinien der Pädagogik zu
einem guten Teil direkt auf die Schlachtfelder des zweiten Weltkriegs. Naturphilosophien gepaart mit Sozialdarwinismus, völkisches Denken und euphorisch gefeierte nationale Werte auf einer Folie einer streng zur
Displin erziehenden bürgerlich ständischen Kultur, eine radikal verblendete Reformpädagogik, machten die
Mischung aus, von der sich die Nachkriegspädagogik mit ziemlicher Mühe erst zu befreien lernen musst.
Wer sich dafür näher interessiert, dem sei unter dem Pseudonym „Von einem Deutschen“ das veröffentlichte
Werk „Der Rembrandtdeutsche“ empfohlen. JULIUS LANGBEHN schrieb damit das erfolgreichste und
auflagenstärkste Erziehungsbuch um die Jahrundertwende zum zwanzigsten Jahrhundert.
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Mündigkeit
Die Forderung an ein verantwortungsvoll inszeniertes Qualitätsmanagementsystem ist Mündigkeit. Nur
dann kann zwischen einer fremdgesteuerten TQM-Philosophie und einem auf Subsidiarität basierenden System von gegenseitiger Wertschätzung unterschieden werden. Nun ist das leichter gesagt als getan. Der an
der Universität Bamberg lehrende Soziologe RICHARD MÜNCH bilanziert: „Die neue Wissenselite von
Wissenschaft und Technik verdrängt die alte Bildungselite der Humanisten und die Fachelite der historisch
gewachsenen Berufe.“ (in: „Globale Eliten, lokale Autoritäten“, S. 34) Es bedarf keines Studiums der „Geisterstunde“ nach KONRAD PAUL LIESSMANN um festzustellen, dass die humanistischen Inhalte in den
Schulen an Bedeutung verlieren. Es genügt eine Analyse des aktuellen Lehrplans der Sekundarstufe oder der
Zentralmatura, um hier zu erkennen, dass ein echter Paradigmenwechsel vor sich geht. Ob „Mündigkeit“
als wesentlichstes Ziel der schulischen Bildung garantiert werden kann (vgl. ADORNOS Forderung in der
Rundfunkdiskussion 1969 „Erziehung zur Mündigkeit“), ist offen. In Anspielung auf das eingangs angeführte Zitat zur Sexualerziehung besteht ein lauter Zweifel, ob dafür in einer kompetenzmurmelnden Pädagogik
tatsächlich ein angemessener Platz gefunden werden kann. Es gibt jedoch auch Gegenbewegungen. Eine
davon stellt die soeben veröffentlichte Literaturliste des Stadtschulrates für Wien dar, gemeinsam mit der IG
Autoren (Gerhard Ruiss) und ORF III (Heinz Sichrovsky) erstellt. Ein klares Signal wurde damit gesetzt,
dass es auch anders geht. „Download“ unter www.stadtschulrat.at.
ANDY HARGREAVES (Boston College) beforscht seit Jahren die Wandlungen in Bildungssystemen. Er
hat im Buch „Sustainable Leadership“ allgemeine Forderungen an ein erfolgreiches „Change Management“
gestellt. Eine, wenn nicht die wichtigste, ist „Depth“, übersetzt mit „Wahrhaftigkeit und Integrität“. Jene
Firmen und Institutionen, die auch wirklich und konsequent ermöglichen was sie vorgeben zu sein, haben
nachhaltige Erfolge. BODY SHOP, als ein Beispiel von vielen, verdankt den Aufstieg zur Weltmarke der
konsequenten Umsetzung der auf ethischen Grundsätzen basierenden Firmenphilosophie in allen Strukturen.
Eine andere konkurrierende Drogeriemarktkette hingegen, die auf extremes Preisdumping kombiniert mit
schlechten Arbeitsbedingungen für ihre Mitarbeiterinnen gesetzt hatte, musste den Konkurs anmelden – ein
klarer Mangel an „Depth“.
Die Warnung von ANDY HARGREAVES ist deutlich: „Eine Tendenz von Organisationen ist es, mehr Initiativen zu starten als von den tätigen Personen verarbeitet werden können.“ Die Normenreihe über ISO
9000 ff (international Organization for Standardization) und EFQM (European Foundation for Quality Management) ist beeindruckend und konsequent, aber auch erdrückend. ULRICH BRÖCKLING beschreibt das
Führungsprinzip des TQM (zunächst ISO 8402, fortgeführt als 9000:2005) zynisch als „pastorales Modell
der Menschenführung“ in Anlehnung an MICHEL FOUCAULT. „Der Qualitätsmanager figuriert als guter
Hirte; er weiß, was die ihm anvertrauten Schäfchen brauchen, und ist stets auf ihr Wohl bedacht, auf dass
keines verloren geht. Durch diese gleichermaßen auf den Einzelnen wie auf die gesamte Herde gerichtete
Sorge versichert er sich ihrer Loyalität und steigert ihre Leistungen.“
Das Programm von Qualitätsmanagement könnte auch unter dem Titel „Austreibung der Faulheit“ gesehen
werden. Der Imperialismus des Fleißes ist auch ein Kulturkampf, ein Krieg der Arbeit gegen die Faulheit.
Die Faulen wurden bearbeitet, diszipliniert und verfleißigt, wie es RUDOLF HELMSTETTER (in: „Anthropologie der Arbeit“, Gunter Narr Verlag 2002) beschreibt.
Und heute?
Die Begriffe, derer sich Qualitätsmanagement bedient, sind allgemein „gut“, aber gesellschaftlich nicht diskutierbar. Wer Kritik übt, macht sich zum Außenseiter. Die Rhetorik des Qualitätsmanagements benutzt
Vokabeln, die allgegenwärtig sind (Team, Kontraktmanagement, Controlling, Kompetenz, Benchmarking...)
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und erweckt dabei den Eindruck, alle sind auf dem richtigen Weg. Das Nachrichtenmagazin Spiegel (Spiegel
JOB Nr 2/ 2014) hat dabei kritisch eine der wichtigsten Voraussetzungen für Qualitäts-Management hinterfragt. Ist Teamarbeit leistungsfähig genug? „Wo man auch hinblickt, man hat es mit Teams zu tun. Schreibt
man an eine Firma, antwortet irgendein Serviceteam. Soll ein Produkt neu konzipiert werden, wird zuerst ein
Konzeptteam konzipiert. Wer einen Job will, kann alle möglichen Vorzüge haben, Hauptsache, er oder sie ist
auch „teamfähig - die Mutter aller Schlüsselqualifikationen...“
Faktum ist, das Kollektiv kann gemeinsam irren - aber auch gemeinsam vor Irrtümern schützen. Umso bedeutsamer erscheint es, die richtigen Prozesse und die geeigneten strategischen Ziele zu lancieren.
Arbeit mit Qualitäten
Wenn der Eindruck entstanden wäre, dass Qualitätsarbeit nicht sinnvoll leistbar wäre, dass sie nicht beabsichtigten Zwecken dient, ist dieser falsch und nicht in der Intention des Autors. Sehr wohl gibt es eine
unbedingte Notwendigkeit für Qualitätsarbeit in Bildungseinrichtungen. Aber wesentlich dabei ist, dass dies
nur dann verantwortungsvoll funktionieren kann, wenn Haltung und Werte, gepaart mit einem kritischen
Bewusstsein, zugegen sind. Kurzum, wenn Mündigkeit bei den Mitwirkenden gefordert und gelebt wird.
Dass Mündigkeit sich nicht von selbst ergibt, sondern mühsam und individuell zu erarbeiten ist, stellt das
Schwierige an der Botschaft dar. Das hat auch „SQA“, eine Initiative des bmbf, parallel zum „QIBB“ platziert, entsprechend erkannt und gewürdigt, wenn grundsätzlich davon gesprochen wird, dass Gespräche auf
Augenhöhe ein wesentliches Merkmal darstellen. Nicht umsonst ist die auf den ersten Blick komplizierte
Konstruktion der Bilanzierung von Entwicklungsplänen äußerst sorgsam auf die verschiedenen Hierarchieebenen abgestimmt.
Dennoch, die Absicht von Qualitätsarbeit ist, unabhängig von der Verarbeitung, eine disziplinierende Maßnahme und sie baut darauf auf, Effizienz erkennbar zu steigern. Für pädagogisches Handeln genügt es jedoch
damit nicht. Pädagogik hat mit ihrer wissenschaftlich- philosophischen Begrifflichkeit Eingang auch in Qualitätsprozesse zu finden. Oder anders gesagt, die Entfaltung von Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit
ist das Ziel jedes pädagogischen Tuns, das nicht im Dschungel der Sozialtechniken verborgen bleiben darf.
Besonders hilfreich erscheint in Qualitätsprojekten die deutliche Unterscheidung zwischen Managementund Führungsaufgaben. Zurückgehend auf MAX WEBER („Politik als Beruf“) soll der „echte Beamte nicht
Politik treiben, sondern verwalten, unparteiisch vor allem ... sine ira et studio, ohne Zorn und Eingenommenheit, soll er seines Amtes walten. Er soll gerade das nicht tun, was der Politiker, der Führer sowohl wie
seine Gefolgschaft immer und notwendig tun muss: Kämpfen ...“ Im St. Galler Managementmodell - eine
übrigens hervorragend aufgebaute QM-Architektur mit hohem Nutzwert auch für den Gebrauch in Bildungssystemen - wird Management „nicht als eine Gruppe an Führungskräften im Sinne von >das Management<, sondern eine Funktion, ein System an Aufgaben ...“ wie Gestalten, Lenken und Weiterentwickeln
zweckorientierter soziotechnischer Organisationen verstanden. (JOHANNES RÜEGG, „Das neue St. Galler
Management-Modell“, S. 22)
ROLF DUBS hat in weiterer Konsequenz das Qualitätsmanagement an Schulen als Managementprozess und
nicht als Führungsprozess beschrieben. Mit kritischem Unterton warnt er vor einer falschen Überschätzung,
denn „Modeerscheinungen“, und da ist das QM in Gefahr als solche angesehen zu werden, enden nur allzu
häufig als Routine, Schematismus und Formalismus (vgl. „Die Führung einer Schule“, S. 197). Als Modeerscheinung würde QM zu einer geschäftigen Arbeit verkommen, die außer Papier und Aufwand nichts
gebracht hätte.
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Unklarheiten und Überschneidungen unklarer Themenstränge führen gerade bei Lehrkräften zu Demotivation. Genau deshalb ist die richtige Wahl der strategischen Ziele im QM so wesentlich. Sind die Ziele
nachvollziehbar und stehen in einem vernünftigen Kontext zueinander, sind sie bewältig- und erreichbar,
kann QM erfolgreich als Managementprozess an der Schule gestartet werden. Stoßen jedoch die strategischen Ziele des jeweiligen QM-Prozesses an wahrnehmbare Grenzen, deren Überwindung weit außerhalb
der Möglichkeiten der Akteure liegt, dann ist schon nach kurzer Zeit mit Frustration zu rechnen.
Wenn staatliche Normen und Vorgaben zueinander nicht kongruent sind - zum Beispiel das Quartett Lehrplan, Leistungsbeurteilung, Bildungsstandards und aussagekräftige Abschlusszeugnisse will sich so gar
nicht recht zu einer Einheit zusammenfügen - und diese zudem mit Bildungsutopien verschnitten werden,
dann stellen solche Themen ziemlich ungeeignete Grundlagen für ein erfolgreiches QM dar. Innovationsund Erneuerungsprozesse taugen im Gegensatz von Optimierungsprozessen nur schlecht für Themen des
Qualitätsmanagements. Wenn diese Innovationsprozesse in den Entwicklungsplänen auftauchen, sind diese
zumeist sehr umfangreich und können in einer überschaubaren Zeitfrist nicht abgeschlossen werden. Im
ungünstigen Fall wird auf diese Weise bei den Beteiligten Frust ausgelöst, der mit den Mitteln des QM, die
den Auslöser darstellen, nicht aufgelöst werden kann.
Resümee
Qualitätsmanagement hat positive Wirkungen und ist qualitätsfördernd, wenn es kritisch und von aufgeklärten Personen betrieben wird. Für den Einsatz in Bildungseinrichtungen ist die Existenz von leitenden Wertvorstellungen unersetzlich. Selbstbestimmung, Selbstwirksamkeit und Mündigkeit sind unverzichtbar und
gehören in den übersichtlich zu haltenden strategischen Leitzielen immanent eingearbeitet. Die Akzeptanz
des jeweilig eingesetzten QM-Systems steigt mit der Bewältigbarkeit und Klarheit der Ziele, und mit der
Möglichkeit der Akteure, persönlich wertvolle Erfahrungen einbringen zu können. Anders gesagt, wenn das
„New Public Management“ keinen Platz für aufklärende Begriffe wie zum Beispiel „Mündigkeit“ hat, darf
mit starkem Widerstand seitens einer aufgewachten Pädagogik gerechnet werden.
Mündigkeit für Unmündige
Die allgemeine Forderung von IMMANUEL KANT ist klar: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus
seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Im Gegensatz zur allgemeinen Forderung, die Unmündigkeit als
selbstverschuldet kennzeichnet, ist diese bei einem behinderten Menschen keine Frage der Schuldhaftigkeit.
Selbstverständlich sind daher die Ziele, die im sonderpädagogischen Bereich unter Mündigkeit zu verstehen
sind, anderer Dimension, aber sie sind genauso existent. MARIAN HEITGER, für den Bildung immer auch
mit Selbstbestimmung zu tun hat, fordert vehement und kompromisslos die Anerkennung jedes Menschen in
seiner Bildsamkeit. Daher ist es Ziel und Auftrag, schulische Bildung jedem Kind und jedem Jugendlichen
zu öffnen, und ihr oder ihm auch zu ermöglichen, ihren oder seinen eigenen Bildungsweg zu finden.
Sonderpädagogisch gedacht ist Differenzierung notwendig. Was immer im Einzelfall unter Mündigkeit zu
verstehen ist, kann nur höchst individuell festgelegt werden. Daher kann auch ganz selbstverständlich erwartet werden, dass ein Schulqualitätssystem im Bereich der Sonderpädagogik auch den Begriff der Mündigkeit
in abgewandelter Form enthält. Sehr wohl kann somit eine Person zwar rechtlich als unmündig gelten, im
pädagogischen Sinne jedoch ihre intraindividuell erreichbare Ausprägung an Mündigkeit besitzen. Das darf
dann mit gutem Recht als wirklich pädagogischer Erfolg gefeiert werden. Knapp 2000 Sonderpädagoginnen
und Sonderpädagogen sind tagtäglich im Einsatz in Wien (und es werden auch künftig nicht weniger), um an
diesen Erfolgen mitzuwirken. Ich darf sehr stolz darauf sein, mit ihnen zusammenarbeiten zu dürfen in meiner Funktion als Landesschulinspektor für Inklusion und Sonderpädagogik. Auch wenn mancher pädagogi14
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sche Erfolg aus der Ferne klein erscheint, er kann einen gewaltigen Schritt für die einzelne Persönlichkeit
bedeuten. Obwohl ich standardisierte Testergebnisse für sehr bedeutsame Maßzahlen für die Verbesserung
eines Bildungssystems halte, die zahlreichen intraindividuellen Fortschritte dank der professionellen Arbeit
der Pädagoginnen und Pädagogen sind der wahre Triumph der Wiener Sonderpädagogik. Und letztlich bleibt
es dabei: Mündigkeit ist das Ziel einer jeglichen aufgeklärten Pädagogik, uneingeschränkt.
Praktische Tipps zum Start von Qualitätsmanagement in Schulen
•
Verwenden Sie ein prozessorientiertes klares QM-System (z.B. St. Galler) und vermeiden Sie unklare QMStrukturen mit quantitativ und qualitativ nicht bewältigbaren Zielen/Fragen
•
Halten Sie die strategischen Leitziele übersichtlich und konkret, vermeiden Sie unabschließbare Visionen
•
Unterscheiden Sie klar zwischen Erneuerung und Optimierung
•
Vermeiden Sie Abkürzungen, Anglizismen und tautologische Zielformulierungen
•
Suchen Sie realistische Möglichkeiten, um Außenevaluationen und vergleichbare Daten zu erhalten
•
Starten Sie nicht mehr Initiativen als bewältigbar sind
•
Zwei zentrale Grundgüter (nach John Rawls) sind von ganz besonderer Bedeutung: Gedanken- und Gewissensfreiheit und Selbstachtung. Auf diesen zwei Grundgütern aufbauend sind Selbstwirksamkeit (Schwarzer &
Jerusalem) und daraus resultierende Selbstwirksamkeitserwartungen wichtigste Ergebnisse von pädagogischen
Prozessen.
Literaturtipps
•
Michel Foucault: Überwachen und Strafen, Verlag suhrkamp
•
Rolf Dubs: Die Führung einer Schule. Franz Steiner Verlag. Zürich 2005
•
Andreas Helmke: Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität Verlag Klett/ Kallmeyer 2012
•
Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst, Verlag suhrkamp 2007
•
Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
•
Andy Hargreaves: The Fourth Way, Verlag Corwin. Kalifornien
Rupert Corazza
Landesschulinspektor für Inklusion und Sonderpädagogik
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I-JOURNAL Mai 2015
Ein ganz besonderes Projekt in der Lernwerkstatt
Donaustadt: Die Bürgschaft
Eine Projektbeschreibung samt Fotos von Claudia Ovrutcki und dem Text von Friedrich Schiller
Eine Ballade spielen? Die Bürgschaft? Kann so etwas gelingen?
Unter der Regie von Sabine Rupar, meiner Klassenvorstandskollegin, ist das gelungen. Ich möchte darüber berichten und im Anschluss die einzelnen Szenen mit den Fotos der Kinder veranschaulichen. Beide
Klassen sind Integrationsklassen in der Lernwerkstatt Donaustadt, einer inklusiven Mittelschule und ZIS
(Zentrum für Inklusiv- und Sonderpädagogik) in der Steinbrechergasse im 22. Bezirk in Wien.
Mein Name ist Claudia Ovrutcki und ich arbeite schon seit 14 Jahren in der Lernwerkstatt Donaustadt als
Integrationslehrerin und Schulentwicklerin. Und immer wieder bringen mich unsere Kinder zum Staunen,
welch tolle Projekte hier umgesetzt werden können!
Die Bürgschaft handelt von Verantwortung und Zivilcourage. Das ist unser Jahresmotto in diesem
Schuljahres 2014/15. „Treffpunkt Schule“ findet zweimal pro Jahr statt und ist eine Plattform zur Darbietung von im Unterricht behandelten Themen, das kann ein Musikstück sein, eine Performance aus dem
Turnsaal, die Herstellung von Gipsmasken und die Ausstellung darüber, die Ergebnisse aus den Lernwerkstätten usw., der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Wir – das Team der 2. Klassen – führen „Die Bürgschaft“ von Friedrich Schiller auf.
Veronika und Jenny erzählen hier den ZuschauerInnen die Handlung der „Bürgschaft“, da die Sprache sehr
altertümlich ist, erklären sie allen Kindern die Geschichte von Damon und seiner heldenhaften Tat – und
den Abenteuern, die er bestehen muss, um seinen Freund – den Bürgen – letztendlich noch vor dem Galgen zu retten. Friedrich Schiller hat das Ende offen gelassen. Veronika und Jenny befragen die Zuschauer
am Ende der Aufführung nach ihrer Meinung, wie das Stück ausgehen wird. Nehmen Damon und sein
Freund Dionys, den Tyrannen in ihre Mitte? Die Kinder der Steinbrechergasse haben sich für dieses Ende
entschieden. Jetzt geht es los: Die Kinder der 2. Klassen spielen die Bürgschaft. Der Chor spricht die Stimmen, die SchauspielerInnen agieren – und das im Rhythmus der Cajón.
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I-JOURNAL Mai 2015
Die Bürgschaft – von Friedrich Schiller, aufgeführt für „Treffpunkt Schule“ am 5.3.2015 in
der Lernwerkstatt Donaustadt, Steinbrechergasse 6, von der 2.A und 2.B
Der Tyrann Dionys
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I-JOURNAL Mai 2015
1. Im Königspalast
Zu Dionys, dem Tyrannen schlich
Damon, den Dolch im Gewande,
ihn schlugen die Häscher in Bande.
„Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!“
Entgegnet ihm finster der Wüterich.
„Die Stadt vom Tyrannen befreien!“
„Das sollst du am Kreuze bereuen!“
Damon wird von den Häschern gefasst.
„Ich bin“, spricht jener, „zu sterben bereit,
und bitte nicht um mein Leben;
doch willst du Gnade mir geben,
ich flehe dich um drei Tage Zeit,
bis ich der Schwester dem Gatten gefreit;
ich lasse den Freund dir als Bürgen,
ihn magst du, entrinn ich, erwürgen.“
Damon bittet um Aufschub, sein Freund bürgt für ihn.
Da lächelt der König mit arger List
Und spricht nach kurzem Bedenken:
„Drei Tage will ich dir schenken;
Doch wisse! Wenn sie verstrichen, die Frist,
eh`du zurück mir gegeben bist,
so muss er statt deiner erblassen,
doch dir ist die Strafe erlassen.“
Drei Tage hat Damon nun Zeit.
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I-JOURNAL Mai 2015
2. Beim Freunde
Und er kommt zum Freunde: „Der König gebeut,
dass ich am Kreuz mit dem Leben
bezahle das frevelnde Streben;
doch will er mir gönnen drei Tage Zeit,
bis ich der Schwester dem Gatten gefreit.
So bleib du dem König zum Pfande,
bis ich komme, zu lösen die Bande.“
Damon erklärt dem Freund die Situation.
Und schweigend umarmt ihn der treue
Freund
und liefert sich aus dem Tyrannen;
der andere ziehet von dannen.
3. Schwester - Vermählung
Und ehe das dritte Morgenrot scheint,
hat er schnell mit dem Gatten die
Schwester vereint,
eilt heim mit sorgender Seele,
damit er die Frist nicht verfehle.
Die Vermählung der Schwester
4. Vorm Fluss
Da gießt unendlicher Regen herab,
von den Bergen stürzen die Quellen,
und die Bäche, die Ströme schwellen,
Und er kommt ans Ufer mit wanderndem Stab,
da reißet die Brücke der Strudel hinab,
und donnernd sprengen die Wogen
des Gewölbes krachenden Bogen.
Regen gießt herab, die Brücke stürzt ein.
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I-JOURNAL Mai 2015
Und trostlos irrt er an Ufers Rand;
wie weit er auch spähet und blicket
und die Stimme, die rufende schicket,
da stößt kein Nachen vom sichern
Strand,
der ihn setze an das gewünschte
Land,
kein Schiffer lenket die Fähre,
und der wilde Strom wird zum
Meere.
Damon irrt umher
Da sinkt er ans Ufer und weint und fleht,
die Hände zum Zeus erhoben:
„O hemme des Stromes Toben!
Es eilen die Stunden. Im Mittag steht
die Sonne, und wenn sie niedergeht
und ich kann die Stadt nicht erreichen,
so muss der Freund mir erbleichen.“
Damon ruft, weint und fleht
Doch wachsend erneut sich des
Stromes Wut,
und Welle auf Welle zerrinnet.
Und Stunde an Stunde entrinnet.
Da treibt ihn die Angst, da fasst er
sich Mut
und wirft sich hinein in die brausende Flut
und teilt mit gewaltigen Armen
den Strom, und ein Gott hat Erbarmen.
Damon stürzt sich in die Fluten
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I-JOURNAL Mai 2015
Und gewinnt das Ufer und eilet fort,
und danket dem rettenden Gotte;
da stürzet die raubende Rotte
hervor aus des Waldes nächtlichem
Ort,
den Pfad ihm sperrend, und schnaubet Mord
und hemmet des Wanderers Eile
mit drohend geschwungener Keule.
Da kommen die Räuber
„Was wollt ihr?“,
ruft er vor Schrecken bleich,
„Ich habe nichts als mein Leben,
das muss ich dem Könige geben!“
Und entreißt die Keule dem Nächsten
gleich:
„Um des Freundes Willen erbarmet
euch“
Und drei mit gewaltigen Streichen erlegt er,
die anderen entweichen.
Damon schlägt die Räuber in die Flucht
5. Sonne (heiß und erbarmungslos)
Und die Sonne versendet glühenden
Brand,
und, von der unendlichen Mühe ermattet, sinken die Kniee:
„Oh, hast du mich gnädig aus Räubershand,
aus dem Strom mich gerettet ans heilige Land,
und soll hier verschmachtend verderben,
und der Freund mir, der liebende,
sterben!“
Der Chor spricht den Text
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I-JOURNAL Mai 2015
6.
7. Quelle
Und horch! Da sprudelt es silberhell
Ganz nahen wie rieselndes Rauschen,
und stille hält er, zu lauschen.
Und sieh, aus dem Felsen, geschwätzig,
schnell,
springt murmelnd hervor ein lebendiger
Quell,
und freudig bückt er sich nieder
und erfrischet die brennenden Glieder.
Damon hört die rettende Quelle
8. Sonne blickt durch die Zweige - Wanderer
Und die Sonne blickt durch der
Zweige Grün
und malt auf den glänzenden Matten
der Bäume gigantische Schatten;
und zwei Wanderer sieht er die
Straße ziehn,
will eilenden Laufes vorüberfliehn,
da hört er die Worte sie sagen;
„Jetzt wird er ans Kreuz geschlagen.“
Die Wanderer kommen des
Weges, der Chor begleitet sie
9. Abendrot: Begegnung mit Philostratus
Und die Angst beflügelt den eilenden
Fuß,
ihn jagen der Sorge Qualen;
da schimmern in Abendrots Strahlen
von Ferne die Zinnen von Syrakus,
und entgegen kommt ihm Philostratus,
des Hauses redlicher Hüter,
der erkennt entsetzt den Gebieter:
Damon begegnet Philostratus
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I-JOURNAL Mai 2015
„Zurück! Du rettest den Freund nicht
mehr,
so rette das eigene Leben!
Den Tod erleidet er eben,
Von Stunde zu Stunde gewartet er
mit hoffender Seele der Wiederkehr,
ihm konnte den mutigen Glauben
der Hohn des Tyrannen nicht rauben!“
Damon erfährt, dass er den Freund nicht mehr retten kann
„Und ist es zu spät, und kann ich ihm
nicht,
ein Retter, willkommen erscheinen,
so soll mich der Tod ihm vereinen.
Des rühme der blut`ge Tyrann sich
nicht,
dass der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht;
er schlachte der Opfer zweie
und glaube an Liebe und Treue.“
Luciano spricht die Stimme von Philostratus
10.Am Tor/ beim Henker/ Sonne geht
unter
Und die Sonne geht unter, da steht er am
Tor
und sieht das Kreuz schon erhöhet,
das die Menge gaffend umstehet;
an dem Seile schon zieht man den
Freund empor,
da zertrennt er gewaltig den dichten Chor:
„Mich Henker!“ ruft er, „erwürget!“
Da bin ich, für den er gebürget!“
Das Kreuz ist schon erhöht, der Freund in Gefahr!
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I-JOURNAL Mai 2015
Und Erstaunen ergreifet das Volk umher,
in den Armen liegen sich beide
und weinen vor Schmerzen und Freude.
Da sieht man kein Auge tränenleer,
und zum König bringt man die Wundermär,
der fühlt ein menschliches Rühren,
lässt schnell vor den Thron sie führen.
Gerettet! Nun werden sie vor den Thron geführt
11.Im Königspalast
Und blicket sie lange verwundert an;
Drauf spricht er: „Es ist euch gelungen,
ihr habt das Herz mir bezwungen;
und die Treue, sie ist doch kein leerer
Wahn;
so nehmet auch mich zum Genossen
an:
Ich, sei, gewährt mir die Bitte, in eurem
Bunde der Dritte.“
Dionys bittet um die Freundschaft der beiden
Veronika und Jenny: Wie entscheidet
sich das Publikum, wie das Ende ausgehen soll?
Das Publikum – die Kinder der Lernwerkstatt - entscheiden sich für die
Gewährung der Bitte des Tyrannen: Er
wird in die Mitte der beiden Freunde
genommen.
Veronika und Jenny wenden sich ans Publikum
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I-JOURNAL Mai 2015
„Die Bürgschaft“ von Friedrich Schiller – ein kleines Regiebuch
Regie: Sabine Rupar
Assistenz: Kathi Hancke, Mary Pauppill, Claudia Ovrutcki, Waltraud Kotz
Musik und Takt: Willi Barth, Lilli Strauß /Chorleitung
Fotos: Christoph Gebauer, Claudia Ovrutcki
DarstellerInnen: Die Kinder aus der 2.A und 2.B der Lernwerkstatt Donaustadt
Tyrann DIONYS
Damon
2 Häscher
Freund von Damon
Räuber
Quelle
2 Wanderer
Philostratus
Gatte - Schwester
Henker
Volk = Bäume
Requisiten
Wasser schwingen
Regen
Brücke
Instrumente
Cajón
Chor
Sprecherinnen/INTRO
Besa, Mina, Yen, Ronja
Veronika, Patricia, Katarina, Berkant
Sary, Benny
Georg
Raphael
Benni
Benny, Justin, Emir, Philip
Tobias
Jenny, Andre
Luciano
Justin
Marcel, Mina
Benny
Benni F., Filip, Turgay,
Paul,Achmed
Justin, Philip
Erdogan
Andre, Turgay
Melanie, Tobias
Willi Barth
Luciano, Viktoria, Michelle, Andrea, Marcel, Emir, Mirko, Maxi,
Christian
Jenny, Veronika
Eine tolle Leistung der Kinder!
Wir, das LehrerInntenteam der 2. Klassen, sind sehr stolz auf sie
und feiern gemeinsam den Erfolg der Aufführung!
Abschiedsapplaus!
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I-JOURNAL Mai 2015
Storytelling
English Language Lessons in the Integration Classroom
Telling stories is something I really enjoy as part of English language teaching and have used it in various
teaching situations, including nursery and primary schools, lower secondary and now in integration classes. In January this year, our focus in Year 1 at lower secondary school was on fairy tales and I chose to
concentrate on a children’s story that I know really well and is still popular in the UK today, namely the tale
of the ‘Three Little Pigs’.
Storytelling, of course, can be done with the help of a book; reading a story out loud and sharing a book
is something special and has an important place at home and at school. However, I would like to tell you
about how I tell a story freely, making it interactive by getting the pupils involved as much as possible; by
drawing on the passive and active language skills of the pupils and teaching new vocabulary and structures.
All teachers are ‘actors’, often relying on their gestures, body language, facial expressions and creative
use of language to get their message across. Storytelling is no different; it requires acting skills and enthusiasm. The pupils will probably not understand every word that is said, but they will get the gist and the
follow-up work after the story reinforces the language you would like them to learn and use.
The story of the ‘Three Little Pigs’ is an old tale; first mentioned in printed form in The Nursery Rhymes of
England (1886), by James Orchard Halliwell-Phillipps and then slightly later in English Fairy Tales (1898),
by Joseph Jacobs. It is one of those fairy tales that has been changed and adapted over the years and was
eventually made into a cartoon film by Disney.
For those of you who are not familiar with the story, it is the story of three little pigs sent out into the world by
their mother, with a warning to watch out for the big, bad wolf who likes nothing more than to catch and eat
little pigs. In the tradition of many fairy tales, the animals take on human characteristics such as speaking,
wearing clothes and living in houses.
The first pig is rather lazy and cannot be bothered to spend much time building his own house and therefore
quickly builds a house of straw. His brother, who is slightly cleverer and a bit more hard-working, builds his
house of wood. The third little pig is the most intelligent and diligent; he builds his house of bricks. Needless to say, the wolf tracks down the little pigs; he tries to get into the house of straw by knocking and asking
the little pig to let him in. The little pig refuses, so the wolf blows the house down. In the original tale, the
wolf catches the pig and eats him. In the ‘softer’ version, the pig escapes and runs to his brother’s house.
The same thing happens at the house of wood. However, at the house of bricks, the wolf is unable to blow
the house down and must find another way of getting inside the house in order to catch those pigs. The
wolf is outwitted by the third little pig’s intelligence. The story ends with the wolf climbing down the chimney
and falling into a pot of boiling water; in the original version the wolf dies, but the adapted version tells of
the wolf burning his bottom and running off never to be seen again, and the three little pigs live happily ever
after in the house of bricks.
I have to admit I have taken over the ‘softer’ version of the story as per Disney, where the wolf does not eat
the little pigs, but they run safely to their brother’s house, nor does the wolf die in a pot of boiling water, but
burns his bottom and runs away never to be seen again. It occurs to me that times have changed, when
growing up, we as children, were confronted with the original, quite violent version of the story, no adult
seemed to think it necessary to change the story to spare our feelings, and as children, we just accepted it
for what it was – a fairy tale. However, today we adults see these traditional tales from a different perspective and feel the need to ‘soften’ things and spare our pupils gruesome details and unnecessary violence – I
ask myself what has changed?
To return to the storytelling in the classroom; I chose this tale, firstly, because I know it so well. I am able
to re-tell the story in my own words, adapt, adjust and simplify (if necessary) according to the needs of my
audience. There is quite a lot of repetition in the story, both in the language structures used and the speech
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I-JOURNAL Mai 2015
of the wolf and pigs, this aids in understanding and reinforcement of the language, the pupils know what to
expect and can then actively join in when re-telling the story.
From a language teacher’s point of view the story provides opportunities to focus on the melody of the
English language; there is vocabulary concerning feelings and characteristics, it can be told in the present
tense or the simple past tense, structures such as ‘made of’ and ‘blow something down’ are used, as well as
nonsense phrases, such as, ‘not by the hair on my chinny-chin-chin’, which are quite a challenge to explain,
even in the first language of the pupils, but pronunciation and intonation are important and a bit of fun is an
important aspect of language learning.
When preparing for the storytelling lesson, I searched books and the internet for pictures that would help
support my spoken language. I did not really want very detailed pictures that would leave nothing to the
imagination of my pupils or put restrictions on the language I could use. I found just what I was looking for
at www.sparklebox.co.uk. They offer colourful visual aids that are free to download; they also have other
things that are useful for storytelling; vocabulary cards, character cut-outs, masks and sequencing pages.
Initially, I took some of the vocabulary cards from Sparklebox and added some of my own, so that I could
explain the most important vocabulary before the story began. It is not essential for the pupils to understand
every word, but understanding key words that I wanted them to then use later was part of the preparation.
The next step was the follow-up; what could I realistically expect my pupils to do as far as using the language was concerned? Firstly, all of them would be able to join in orally to help retell the story. After that, some
of them would be able to write simple sentences to retell the story, others would be able to draw a picture of
their favourite part of the story and label it; others would be able to write a sentence about their own picture.
As we know the ability range in integration classes varies widely, and the challenge is to find activities, so
that everyone is able to work at their own ability level, be actively involved and have a feeling of success.
A Brief summary of our Storytelling Lesson
1. Brainstorm ´Fairy Tales’, how many do the children know? By writing a few examples of famous ones
with similar names to those in German (Rumpelstiltskin, Cinderella, Snow White) on the board, they got
the idea. I explained how a fairy tale begins with ‘Once upon a time…’ and ends with ‘happily ever after’!
2. I introduced the important vocabulary via pictures, word cards and gestures;, I then kept these vocabulary cards on a separate part of the board to refer back to during the storytelling if necessary. The pupils
repeated the words using gestures or facial expressions wherever it was helpful or appropriate.
3. Using my voice, body language and the help of large pictures on the board I told the story. I put emphasis on the vocabulary words and referred back to the vocabulary cards by pointing at them during
the story telling.
4. Once the story came to an end, I got the pupils involved. The boys were the wolf (or the pigs) and the
girls the pigs (or the wolf). After practising the phrases the animals used and added intonation, I told
the story again, with the pupils taking over the roles of the wolf and the pigs. A third telling of the story
involved swapping the roles and stopping sentences halfway through to see who could finish the sentence. For example, ‘The first little pig was…, (lazy); he built a house of … (straw).
5. After the storytelling, all of the pupils got a sheet of six pictures to cut up and to sequence in the correct
order (www.sparklebox.co.uk ). They stuck these pictures in the right order in their exercise books.
Some of the pupils wrote a sentence about the picture, using their own language next to or under the
picture. They used the vocabulary cards to help with spelling and asked when they needed help with
the structure of the sentence.
Others labelled their pictures with such phrases as ‘straw house’ or ‘big, bad wolf’; others wrote the phrases
we had learnt together like, ‘Little pig, little pig let me come in!’ This part of the lesson was very productive,
with everyone working at their own ability level.
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I-JOURNAL Mai 2015
Another follow-up activity, for a classroom display, was to draw the favourite part of the story. Again, some
pupils were able to write their own sentence to describe the picture, others were able to label it.
This storytelling lesson was one of the memorable ones, where everyone was motivated and engaged in
the language lesson. Everyone was able to work at their level and actively use the English language. Not
only was the artwork produced very impressive, a month later I still hear ‘Little pig, little pig let me come in!’
or ‘Not by the hair on my chinny-chin-chin!’ and as an added bonus I got a round of applause from the pupils
after I had finished telling the story.
By Deborah Burger
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Öffentliche Volksschule
SKZ : 910271
Neilreichgasse 111
1100 Wien
Direktion: Eveline Nitschko
Tel: 01/616 15 60/111 FAX: 01/616 15 60/110
Lehrerzimmer:
Tel: 01/616 15 60/112
e-mail : [email protected]
Homepage: http://vs-neilreichgasse.schule.wien.at
Besuch aus der Republik Moldau
in der Volksschule 10., Neilreichgasse 111
Eine Delegation aus SchulleiterInnen und LehrerInnen sowie VertreterInnen der Sonderpädagogischen Beratungsstellen und des Ministeriums der Republik Moldau besuchten am 13. November
2014 die vier Integrationsklassen der Volksschule Wien 10, Neilreichgasse 111.
KulturKontaktAustria fördert im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Frauen die Bildungskooperation mit Ost- und Südosteuropa, im Speziellen die Kooperation mit der Republik Moldau im Bereich der
Integration.
Im Rahmen des Projektes „Auf dem Weg zur inklusiven Schule“ konnte den BesucherInnen aus der Republik Moldau gezeigt werden, wie Integration in der Volksschule Neilreichgasse gelebt und im Unterricht
umgesetzt wird.
Die Kinder der 1.b Klasse wurden im Turnsaal während des Turnunterrichts besucht.
In der 2.b Klasse und in der 3.b Klasse konnten die Kinder bei ihrer Arbeit am Tagesplan beobachtet werden.
Die individuelle Arbeit mit Karteien im Rahmen von Projektarbeit faszinierte die Besucher und Besucherinnen in der 4.b Klasse.
Beim Besuch in den Klassen sammelten die Gäste viele Eindrücke und Anregungen. Sie waren wirklich begeistert von der Art und Weise, wie bei uns auf jedes Kind ganz individuell eingegangen wird. Vor allem die
Tatsache, dass die Kinder im Unterricht an unterschiedlichen Themen arbeiten und mit unterschiedlichen
Arbeitsmaterialien beschäftigt sind, fand großen Anklang, verursachte aber auch großes Erstaunen. Offene
Arbeitsformen wurden als völlig neu bezeichnet. Sie kommen in der Republik Moldau nicht zum Einsatz.
In einer den Besuch abschließenden Gesprächsrunde beantworteten die Wiener Volksschullehrerinnen
und Sonderpädagoninnen die zahlreichen Fragen der Gäste, ein reger und sehr herzlicher Austausch fand
statt.
Dass viele Anregungen aus dem Alltag einer Volksschule in Wien Favoriten in die Republik
Moldau mitgenommen werden können, freut mich als Direktorin ganz besonders.
Eveline Nitschko, Direktorin, 13.11.2014
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I-JOURNAL Mai 2015
Erfahrungsaustausch mit Moldau
zum Thema inklusive Bildung
KulturKontakt Austria (KKA), ein Verein, der im Auftrag des BMBF die Bildungskooperation mit Ost- und
Südosteuropa fördert, engagiert sich bereits seit neun Jahren im Bereich SEN in der Republik Moldau.
Begonnen hat dieses Engagement mit einem niederschwelligen Projekt für sonderpädagogische Internatsschulen („Drama in Education“). In weiteren Schritten wurden LehrerInnen an vier Schulen, die bereits Schritte zur Inklusion von SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf gesetzt hatten, mit
Fortbildungsangeboten durch österreichische ExpertInnen unterstützt.
In der derzeit laufenden Projektphase (2014 – 2016) werden diese vier Schulen, die nun als Good
- Practice - Kompetenzzentren
etabliert sind, darin geschult, ihre
Erfahrungen durch Peer Learning
an andere Schulen weiterzugeben. Daneben werden die von der
moldauischen Bildungsverwaltung
bereits etablierten psychosozialen
Förderzentren in der Entwicklung
bedarfsgerechter Beratungsleistungen unterstützt und die MitarbeiterInnen des Nationalen Zentrums
sowie von sechs weiteren Beratungszentren fachlich geschult, um
ihre neuen Aufgaben bestmöglich
erfüllen zu können.
Die nun etablierten psychosozialen
Förderzentren samt der dazugehörigen nationalen Koordinationsstelle sind ein wichtiger Meilenstein in
der moldauischen Inklusionspolitik.
Diese sind ähnlich den Entwicklungen in Österreich nicht (mehr) an
exklusiven Bildungseinrichtungen
angesiedelt, sondern entweder Teil
von bestehenden Schulen oder an
der Bezirksverwaltung untergebracht.
Parallel dazu wird der bildungspolitische Dialog zum Thema Special
Eductional Needs mit den Verantwortlichen im moldauischen Bildungsministerium und relevanten
Stakeholdern gefördert. So hat
etwa die erste nationale Inklusionskonferenz mit über 200 TeilnehmerInnen im Frühjahr 2015 stattgefunden und es konnte ein nationales Regierungsberatungsgremium für Inklusion etabliert werden.
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I-JOURNAL Mai 2015
Im November 2014 wurde der Erfahrungsaustausch mit Österreich im Rahmen einer einwöchigen Studienreise vertieft. 30
moldauische TeilnehmerInnen konnten
durch den Besuch von Modellschulen und
Beratungseinrichtungen in Österreich die
eigene Inklusionspraxis reflektieren.
Ziele unserer Reise waren der Bezirk
Reutte, Innsbruck und Wien. LehrerInnen
aus den vier schulischen Kompetenzzentren für inklusive Bildung, die SPZ-Teams
sowie die MitarbeiterInnen des Bildungsministeriums konnten ländliche wie auch
urbane Inklusionsbeispiele im Pflichtschulbereich (VS, NMS, PTS) sowie die
zuständigen ZIS / SPZ und deren regionale wie landes- und bundesweite Struktur und Organisation kennenlernen.
Nach einigen Jahren der Weiterbildung
und des Austausches vor Ort mit österreichischen ExpertInnen in Moldau konnten
die 30 TeilnehmerInnen ihre eigenen Erfahrungen und Modelle nun praktisch reflektieren. Im Besonderen
waren Good Practice Beispiele des Teamteaching, Formen der inneren Differenzierung, inklusive Schulkulturen, klientenzentrierte Beratungsformen und Rollenverständnisse der SPZ / ZIS wichtige Beispiele, die
den TeilnehmerInnen interessante Lern- und Reflexionsfelder geboten haben, um Inklusion als Netzwerk
zu erleben.
KKA bedankt sich bei der Integrationsberatungsstelle des SSR für Wien für die
Organisation und fachkundige Begleitung
des Aufenthalts in Wien.
Mag. Monika Mott
(Bereichsleiterin Bildungskooperation
KulturKontakt Austria)
Dr. Fabian Mayr
(Bildungsbeauftragter des BMBF für die
Republik Moldau)
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Wenn zwei eine Reise tun … Wien 2015
Wien im Februar bei Sonnenschein und herrlichem Wetter ist natürlich immer
eine Reise wert, doch nicht aus touristischen Gründen wurde die Wienreise geplant, sondern vor dem Hintergrund eines der Schlagworte, die das deutsche Bildungs- und Schulsystem in den
letzten Jahren entscheidend geprägt hat: INKLUSION. Nachdem Deutschland im Jahr 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet hat, wurden Schritt für Schritt Maßnahmen
getroffen, um beispielsweise Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf in Regelschulklassen zu inkludieren. Wir, als Vertreter
der Biologie- und Englischdidaktik der Katholischen Universität
Eichstätt-Ingolstadt, haben im Rahmen des Verbundprojekts „Inklusion“ unserer Universität diese Reise geplant, um einen Eindruck
zu erhalten, wie auch in anderen deutschsprachigen Ländern inklusiv
bzw. integrativ unterrichtet wird.
Die Rahmenbedingungen des inklusiven Unterrichtens in Deutschland, konkret in Bayern, direkt vorweg:
Grundsätzlich existieren vier Möglichkeiten, wie Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf unterrichtet
werden. So können unter anderem einzelne Schülerinnen und Schüler an den allgemeinbildenden/beruflichen Schulen in Regelklassen beschult werden. Unterstützung erhalten die Lehrkräfte, Schülerinnen,
Schüler und Eltern durch den sogenannten mobilen sonderpädagogischen Dienst, dessen Förderschullehrer stundenweise zur Verfügung stehen. Des Weiteren existiert in Bayern bereits eine große Anzahl an
Schulen mit dem Schulprofil Inklusion. An diesen Schulen werden die Kinder durch Lehrertandems (Lehrkraft der allgemeinbildenden Schule und Lehrkraft für Sonderpädagogik) unterrichtet. Unter dem Konzept
der Partnerklassen wird verstanden, dass Schulklassen der allgemeinbildenden Schulen (ohne Kinder mit
Förderbedarf) und Klassen von Förderschulen für eine festgelegte Stundenzahl gemeinsam unterrichtet
werden. Kooperationsklassen sind hingegen Klassen allgemeinbildender Schulen, deren Schülerinnen
und Schüler Kinder mit und ohne Förderbedarf besuchen. Der Lehrkraft der allgemeinbildenden Schule
wird stundenweise eine Förderschullehrkraft des bereits zuvor erwähnten mobilen sonderpädagogischen
Dienstes zur Seite gestellt.
Insgesamt gesehen erfolgt zurzeit in Deutschland eine Umstrukturierung des Schulsystems, die in einigen
Teilen Deutschlands sogar eine Abschaffung von Förderschulen beinhaltet oder beinhalten könnte, wenn
beispielsweise die Zuweisung einer mobilen sonderpädagogischen Lehrkraft gegenüber der Zuweisung
von Kindern an eine Förderschule bevorzugt wird.
Dennoch: Auch wenn es durchaus positive Beispiele von gelungener Inklusion in Deutschland gibt, existiert zugleich auch eine große Skepsis diesem Konzept gegenüber. Lehrer und Lehrerinnen fühlen sich
überfordert – schließlich können nun potenziell in jeder Klasse Kinder mit besonderem Förderbedarf sitzen
– Kinder, auf deren Umgang die Lehrer nicht vorbereitet und ausgebildet wurden. Eltern schreien auf, da
sie Bedenken haben, dass das Leistungsniveau der gesamten Klasse unter der Inklusion leiden könnte.
Warum aber nun ausgerechnet Wien? Zwar steht das „I“ der I-Klassen nicht für Inklusion, sondern für Integration, dennoch schienen uns diese Klassen als passende und bereits seit 30 Jahren etablierte Beispiele,
um zu sehen, wie in der Praxis, im Alltag, Schülerinnen und Schüler mit und ohne Förderbedarf gemeinsam
unterrichtet werden. So wurde uns aber auch berichtet, dass das Konzept der I-Klassen wechselndem Ansehen unterlag: Herrschte zunächst Skepsis der Idee gegenüber, schlug diese dann in positives Wohlwollen um wegen einer geringeren Schülerzahl bei einer doppelten Lehrkraftbesetzung. Welch vermeintlicher
Luxus aus Sicht einiger Eltern, so wurde uns berichtet. Ganz abgesehen von dem Umstand, dass eine
Anmeldung des eigenen Kindes in I-Klassen nur aus dem Beweggrund der reduzierten Klassengröße bei
doppelter Lehrerbesetzung sehr fraglich ist, war jedoch auch für uns das Tandemsystem eine interessante
Komponente während der Hospitationen. Wie bereits beschrieben, existiert die Idee der Doppeltbesetzung in Bayern ausschließlich in Schulen mit dem Profil Inklusion, jedoch nicht in Regelschulen. Auch die
33
I-JOURNAL Mai 2015
Klassengröße unterscheidet sich: So gilt in Bayern die Richtlinie, dass die durchgängige Unterrichtung im
Tandem bei einer Gesamtschülerzahl von maximal 25 mit etwa 7 Schülerinnen und Schülern mit sehr hohem Förderbedarf einsetzen soll. Im Vergleich zu den bayrischen Klassen haben die Klassen in Wien eine
geringere Gesamtanzahl der Kinder und weniger I-Kinder in einer I-Klasse.
Die Tandembesetzung ist auch die Komponente, die wohl als DIE Basis der I-Klassen gelten kann. Der
Beruf der Lehrkraft ist schon lange nicht mehr nur ein 8-bis-12-Uhr-Job. Wenn der Unterricht endet, beginnt
eigentlich erst die Vernetzung für und rund um das Kind: Kontaktaufnahmen mit Eltern oder anderen Familienangehörigen, Unterrichtsplanung und -nachbereitung mit dem Tandempartner, Absprache mit Kollegen
und das Erstellen von individuellen Förderplänen und der stetige Besuch von Fortbildungen usw.
Auch das Auftreten der Lehrkräfte im Unterrichtsgeschehen ist uns positiv im Gedächtnis geblieben. Beide
Lehrkräfte agierten als gleichwertige LehrerInnen im Klassenraum und wussten voneinander genau, was
geplant war. Auch die sonderpädagogischen Lehrkräfte fixierten sich dabei nicht auf die Schülerinnen und
Schüler mit Förderbedarf, sondern standen allen mit Rat und Tat zur Seite.
Methodisch beobachteten wir in den meisten Fällen offenere Unterrichtsformen wie Wochenplanarbeit und Stationenarbeit, wobei thematisch und didaktisch teilweise für die I-Kinder differenziert wurde.
Beispielsweise wiederholten diese Schülerinnen und Schüler im
Englischunterricht grammatikalische Basisthemen, da das aktuell bearbeitete Thema kognitiv zu anspruchsvoll war oder aber
den Kindern mit Förderbedarf wurden quantitativ weniger Aufgaben gestellt. In vielen Klassenräumen sahen wir spezielle
Uhren für die I-Kinder, die somit ihre Arbeitszeit individuell
eingestellt bekamen oder aber es gab speziell für sie angelegte „1,2,3-fertig-Mappen“, in denen sie ihr Material
fanden oder auch Kopfhörer, um ihnen ein ruhiges Arbeiten zu gewährleisten. Insbesondere die Frage nach der
Separation schien besonders interessant, ist doch der Ansatz von
Inklusion eine Vermeidung des Separierens. Nahezu alle Lehrkräfte
bestätigten jedoch, dass die Arbeit mit allen oder mit einzelnen I-Kindern
in Nebenräumen sehr wichtig sei. Zum einen, um ihnen kognitive Pausen zu
erlauben, aber auch um mit ihnen speziell arbeiten zu können. Darüber hinaus wurde
uns insbesondere im Zusammenhang mit der Arbeit mit Autisten deutlich gemacht, dass
es durchaus Fälle gibt, in denen zunächst individualisiert gearbeitet werden muss, um eine Integration oder
Inklusion überhaupt zu ermöglichen. Einige Kinder müssen erst den sozialen Umgang und das Verhalten
im Klassenverband regelrecht erlernen, bevor sie mit Mitschülern und Mitschülerinnen interagieren können.
Ist dieser Aspekt in dem Inklusionskonzept in Deutschland bedacht worden?
Auch wurde uns mehrfach während der Hospitationen berichtet, dass die Schülerinnen und Schüler der
I-Klassen über eine sehr ausgeprägte Sozialkompetenz verfügten, was natürlich für den Gedanken einer
größeren gesellschaftlichen Akzeptanz von Menschen mit Förderbedarf spricht. Eine Lehrkraft brachte das
sehr aussagekräftige Beispiel, dass sich alle Kinder ihrer Klasse meldeten, als eine fremde Person fragte,
welches Kind ein I-Kind sei. Dennoch: Trotz dieser vielen positiven Stimmen wurde jedoch auch kritisch
angemerkt, dass bei solchen Beobachtungen wiederum nicht die Kinder mit Förderbedarf im Zentrum der
Aufmerksamkeit stünden, da der Kompetenzzuwachs bei den Kindern ohne Förderbedarf zu beobachten
sei. Auf der anderen Seite stand jedoch auch die Frage nach der Förderung der Schülerinnen und Schüler
ohne Förderbedarf im Zentrum unserer Gespräche. Einige der Lehrkräfte bestätigten, dass sie nicht nur
für I-Kinder differenziert arbeiteten, sondern auch für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler in ihrem
Unterricht beispielsweise durch entsprechende Materialien differenzieren würden.
Nicht zuletzt beschäftigte uns während des Aufenthalts eine Frage sehr: Wenn also Lehrkräfte und Sonderpädagogen so essentiell für das Gelingen der I-Klassen sind – uns wurde mehrfach berichtet, wie wichtig
die Ergänzung der Ausbildungen und Arbeitsschwerpunkte beider Lehrkräfte im Schulalltag ist –, wieso
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I-JOURNAL Mai 2015
kommt es dazu, dass a) die intensive Sonderpädagogen-Ausbildung in der alten Form eingestellt wird und
b) dadurch in den kommenden Jahren bis zum Abschluss der ersten Absolventen des neu geschaffenen
Masters keine neuen Sonderpädagogen in die Arbeitswelt eintreten, während ältere KollegenInnen in den
Ruhestand gehen? Wie soll diese Lücke, die wohl entstehen wird, geschlossen werden?
Was nehmen wir also für Eindrücke vom Wien-Besuch mit?
Es bleibt die Frage, ob sich die Akzeptanz der I-Kinder in Klassen und der sehr positive Umgang der MitschülerInnen mit ihnen auch nach der Grundschulzeit in den weiterführenden Schulen fortsetzt und welche
Perspektive diese Schülerinnen und Schüler nach Beendigung ihrer Schullaufbahn haben. Bedenken, die
auch durch unseren Besuch nicht ausgeräumt werden und übrigens auch auf der DIDACTA 2015 in Hannover für Deutschland nur sehr kritisch beantwortet werden konnten. In Deutschland scheint die Inklusion
den Bereich der Ausbildung noch nicht erreicht zu haben.
Des Weiteren haben wir fast ausschließlich sehr motivierte, engagierte und ihren Beruf als Berufung sehende Lehrkräfte kennen lernen dürfen, die sich auch über die Pflichtstunden hinaus auf freiwilliger Basis
fort- und weiterbilden. Insbesondere den Aspekt, dass die Fortbildungsveranstaltungen mit der Schulleiterin
oder dem Schulleiter abgestimmt werden müssen bzw. durch sie oder ihn vorgegeben werden, haben wir
mit nach Deutschland genommen.
Wohl den nachhaltigsten Eindruck haben bei uns die Tandemlehrkräfte hinterlassen. Hier waren keine Einzelkämpfer, für welche wohl auch generell der Lehrerberuf weniger geeignet ist, am Werk, sondern Teams
für die Klasse, für jedes einzelne Kind und sein Wohl. Wesentlich ist dabei auch das gegenseitige Ergänzen beider LehrerInnen mit unterschiedlichen Professionen gewesen. Denn man darf nicht vergessen: Die
Kinder sind keine Maschinen, die funktionieren, sobald sich zwei Lehrkräfte im Klassenraum befinden. Erst
durch den Austausch von Erfahrungen, dem Wissen und Können und dem sich gegenseitigen Ergänzen
schien die Tandemarbeit auch für die Schülerinnen und Schüler sinnvoll und hilfreich zu sein. Eine Lehrkraft berichtete beispielsweise, dass ein I-Kind nicht mit ihr arbeiten wolle und keine Arbeitsaufträge von
ihr annehme, jedoch sich bereitwillig von der anderen Lehrkraft helfen lasse. Die Frage ist also, welche
Ressourcen jede einzelne Lehrkraft mitbringt, um jedem Kind sein Recht auf Bildung bestmöglich zu erfüllen und wie sich diese Ressourcen der Lehrkräfte für das Wohl des Kindes ergänzen können. Bei allen
Entscheidungen, Gedanken und Handlungen sollte dabei das Kind im Zentrum stehen und, wie es Frau
Mörwald von der Integrationsberatungsstelle des Schulrates von Wien in unserem Gespräch formulierte,
„vom Kind aus“ gedacht werden.
Neben all den gelungenen Beispielen, die wir beobachten durften, darf aber auch nicht vergessen werden,
dass ein Handeln im Sinne des Kindes auch unter Umständen bedeutet, dass man Einrichtungen wie Förderzentren weiterhin benötigt.
Wir möchten uns an dieser Stelle sehr für die informative und lehrreiche Zeit und die herzliche Gastfreundschaft in Wien bei den Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern und beim Schulamt bedanken.
Vergelt´s Gott!
Dr. Helga Rolletschek, promovierte Biologin,
ehemalige Lehrerin, leitete viele Jahre ein Seminar zur Ausbildung von Grundschullehrern, seit
letztem Jahr Leiterin der Didaktik der Biologie an
der kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt
Julia Dose, Lehrerin für Deutsch, Deutsch als
Fremdsprache und Biologie, ist seit letztem Jahr
wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur
für Englischdidaktik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und Doktorandin im
Verbundprojekt Inklusion
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I-JOURNAL Mai 2015
Karl Garnitschnig
Die Organisation einer humanen Schule nach Janusz Korczak
Die innere Logik der Überlegungen Janusz Korczaks ist die Logik der Achtung, ohne diese je
selbst systematisch zu formulieren. Implizit schlägt sie aber in seinem ganzen Werk durch.
Sein Erziehungsverständnis ist durch Achtung vor dem Kind, durch die Liebe zum Kind und
seine Wertschätzung bestimmt.1 Diese Erziehereinstellungen bilden das Zentrum seiner
Pädagogik. Alles andere was Janusz Korczak noch als Pädagogen bzw. seine Arbeit mit den
Kinder kennzeichnet, müsste sich dieser Prämisse der Achtung vor dem Kind unterordnen
lassen. Es sind dies mit Friedhelm Beiner „vier Arbeitsprinzipien ... die gleichzeitig auch die
Wege Korczakscher Erkenntnissuche verdeutlichen:
1. Beobachten
2. Einfühlen
3. Aus Fehlern lernen
4. Experimentieren“ (Beiner 1999, S. 28 f.; vgl. auch Beiner 1996)
Gemäß der hier nachzuweisenden Hypothese betont auch Beiner, dass diese Arbeitsprinzipien
und zugleich Erkenntnismethoden Bedingungen eines achtvollen Umgangs mit Kindern sind
und den Aufbau einer humanen und demokratischen Schule ermöglichen, aber auch die
wissenschaftlichen Methoden darstellen, diese Bedingungen zu erfassen und zu evaluieren.
Friedhelm Beiner hat diese Arbeitsprinzipien in hervorragender Weise mit vielen Bezügen
und Belegen aus Korczaks Schriften beschrieben, hier mögen sie in ihrem welchselseitigen
Bedingungsverhältnis sowohl als pädagogische als auch erkenntnistheoretische Methoden aus
dem Prinzip der Achtung vor dem Kind begründet werden. Wir gehen hier also davon aus,
dass die proflexive Handlung der Achtung vor dem Kind reflexiv zu erfassen ist, um seine
positive Wirkung zu erkennen.
Eine Verwirklichung dieses Prinzips wird nur möglich sein, wenn entsprechende strukturelle
und organisatorische Maßnahmen getroffen werden. Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich
die Einrichtungen seiner konstitutionellen Pädagogik relativ leicht auf die Schule übertragen,
wenn man formuliert, durch welche Rahmenbedingungen Schule gekennzeichnet ist. Es ist
also nicht von Unterricht die Rede, sondern vom erzieherischen Aspekt der Schule. Akzeptiert
man ferner den pädagogischen Topos, dass die zu erreichenden Ziele schon in der Methode
und in der Weise der Interaktion mit den Schülern enthalten sein müssten, sollen diese und
1
Vgl. als neuesten Beitrag zu dieser Thematik Beiner 2003
36
I-JOURNAL Mai 2015
nicht irgendwelche versteckten Ziele2 erreicht werden, müssen sie von jedem Lehrer selbst
reflektiert umgesetzt werden. Dies bedeutet, dass die Pädagogik, die eine Person für sich als
richtig erkannt hat, nur wieder von einer Person genuin nachvollzogen richtig sein kann, weil
sie sonst zu einem Ismus verkommt.
Akzeptiert man schließlich die Sicht Janusz Korczaks, dass Wissenschaft nicht in fertigen
Produkten, sondern in weiteren Fragen besteht, wird jeder Lehrer seine Entdeckungen und
Methoden selbst für sich neu nachvollziehen müssen. Für Korczak ist es der erste Schritt zum
Erziehersein zu wissen, dass man nichts weiß und dass der Erzieher/Lehrer seinen „eigenen
Weg“ sucht (SW 4, S. 147). Voraussetzung dafür ist, dass er sich selbst kennt und danach
trachtet, die Kinder zu erkennen. Es ist nicht die Unwissenheit, die hier gelobt wird, sondern
die Unwissenheit, die in sich die Chance birgt, sich selbst aufzuklären.
Nach diesen einleitenden Bemerkungen betrachten wir jene zentralen Aspekte pädagogischen
Handelns, die alles pädagogische Handeln leiten und die auch Korczak als zentral gesehen
hat. Es sind zunächst das Menschenbild, dann die lebensgeschichtlichen und psychischen
Bedingungen aufwachsender Menschen in der Hinsicht, wie sie in pädagogisches Handeln
einfließen sollen, um dieses im Sinne der Kinder und Jugendlichen zu gestalten, und
schließlich jene institutionellen Bedingungen, unter denen Kinder sich optimal entwickeln
können, um zu kompetenter, sozial verantwortlicher Handlungsführung zu kommen.
Vorher aber besinnen wir uns auf die sprachlich-wissenschaftliche Form seiner Aussagen, die
Korczak in seinen pädagogischen und auch dichterischen Werken verwendet, denen ein
pädagogischer Charakter nie mangelt. Sowohl in der Dichtung als auch der Wissenschaft der
Pädagogik, wie er sie versteht, hängen diese vier Prinzipien zusammen. Dichtung ist
Verdichtung der Wirklichkeit aus einfühlender Beobachtung. Fehler, Irrtümer, Irrungen und
daraus entstehende Spannungen zum „Wahren“, „Guten“ treiben die Handlung voran und die
Figuren verkörpern mehr oder weniger ein Lebensexperiment manchmal ein Totalexperiment.
Pädagogik als Wissenschaft entwirft Vorstellungen über Formen des Zusammenlebens unter
der Bedingung der Autonomie und Selbstbestimmung von Individuen, formuliert
Rahmenbedingungen, unter denen die entworfenen Vorstellungen real werden können und
überprüft dann einfühlend beobachtend, wie weit sie tatsächlich real geworden sind. Seine
2
In der Pädagogik als „versteckter Lehrplan“ in aller Munde.
37
I-JOURNAL Mai 2015
Entwürfe sind Experimente, die scheitern können, bei deren Umsetzung Fehler gemacht
werden, die aber im Sinne des Entwurfs korrigiert werden, um wieder geprüft zu werden.
1. Die realistisch illusionslose, poetische Pädagogik Janusz Korczaks
Theorien erklären Phänomene, Tatsachen und Prozesse auf der Ebene von Gesetzesaussagen,
können die Spannung von Allgemeinheit und Individualität bis hin zum Prinzip der
Individualisierung (Leibniz 1960, S. 12) formulieren und jene Konsequenzen ableiten, die
sich daraus für die Handlungsebene ergeben. Die Individualität als solche wird durch eine
poetische Sprache erfasst, wie sie Korczak als Dichter auch in seinen pädagogischen Schriften
verwendet.
Poesie verdichtet und bringt umgekehrt das Allgemeine am Konkreten, am
Individuellen zum Ausdruck. An diesem leuchtet eine Einsicht allgemeiner Art auf. Eine
solche Sprache spricht mehr zum
Gemüt und wirkt so in die Richtung, sein Handeln
sinngemäß zu motivieren. Diese verdichteten Berichte individueller Begebenheiten führen
und wollen zum Verstehen führen. Aus ihnen wird ein bestimmter Geist deutlich. Janusz
Korczak muss nicht noch hermeneutisch erschlossen werden, er wendet selbst durch die Art
seiner Beschreibung die Methode des Verstehens von alltäglichen Begebenheiten und
pädagogischen Anlässsen an und führt so unmittelbar zum Verstehen des Anderen. Aus der
Schilderung der konkreten Einzelsituation wird unmittelbar deutlich, was gemeint ist und das
in einer Weise, die betroffen macht und aus der Betroffenheit heraus nicht nur Einsicht,
unmittelbare Einsicht fördert, sondern Handlungsmotive erweckt. In diesem Sinne ist seine
Sprache zugleich reflexiv-analytisch und proflexiv-synthetisch. Dies wird besonders an dem
kurzen Episodenessay „Wer kann Erzieher sein?“ (Korczak 1985, S. 118 f.) deutlich. Die
konkreten, scheinbar nichtigen Episoden, die Menschen zum Weinen veranlassen, führen zu
der Einsicht, dass wer das Weinen eines anderen bagatellisiert, nicht versteht und daher nicht
Erzieher sein kann. Daraus leitet sich die Einsicht und damit der allgemeine Satz als Theorie
ab: erziehen, heißt verstehen, oder: um richtig pädagogisch handeln zu können, muss man
verstehen können. Diese Einsicht führt unmittelbar in die Praxis über: Lasse dich von den
Tränen der anderen betreffen, suche die Tränen zu verstehen und du wirst erst dann
angemessen handeln. Du wirst dich auf die Situation einlassen und aus ihr auf den Menschen
hin (proflexiv) handeln, dass er wieder sich selbst findet.
Auch der Pädagogik als Wissenschaft liegt eine die Wirklichkeit aus dem Konkreten
aufschließende Methode zu Grunde, die zur Einsicht durch das Verstehen des je individuellen
Kindes führt. Es ist der Weg vom Konkreten zum Allgemeinen, den der Dichter Janusz
38
I-JOURNAL Mai 2015
Korczak selbst geht. Das Allgemeine und die Handlungsmotive entspringen der Wirklichkeit
der Darstellung, man braucht sich auf sie nur einzulassen. Die Deutung leistet der Text durch
seine Konkretheit selbst. Das ist „poetische Pädagogik“. Die Evokation des Tuns bzw. die
Handlungsmotive entstehen aus genauer einfühlender Beobachtung und konkretem Entwurf
und aus dem inneren Erleben, das aus sich heraus weiß, was in der Situation zu tun ist, wenn
das Erleben die Qualität der Anerkennung, der Beachtung der Person-, Situations- und
Kontextmerkmale, kurz der Achtung hat. Dies ist Produkt einer genauen Beobachtung, wie sie
Janusz Korczak immer wieder dem Pädagogen empfohlen und selbst gelebt hat.
Janusz Korczak vertritt eine äußerst realistische und nüchterne Pädagogik. Aus seinen
Beobachungen mit Kindern kennt er alle Nuancen von Gutheit und Bosheit, aber nie verurteilt
er, sondern fragt immer nach dem Warum des Verhaltens. Aus dieser Haltung heraus sieht er
auch den Erzieher als jemanden, dessen vordringlichste Kompetenz es ist, zu verstehen. Jeder
Mensch ist gleich, aber jeder eine Individualität.
Genauso realistisch wie er die Kinder sieht, sieht er auch die Erzieher/Lehrer. Der gute
unterscheidet sich vom schlechten Erzieher „nur durch die Anzahl der begangenen Fehler und
des begangenen Unrechts“ (SW 4, S. 168). Der gute Erzieher ist „selbstkritisch“, „weiß, daß
es sich lohnt über eine kleine Episode nachzudenken“, und man kann hinzufügen, sei sie noch
so klein, „er überlegt, forscht nach und befragt die Kinder“, lernt so aus seinen Fehlern, die
dann weniger werden. Er lässt sich und das ist Janusz Korczak besonders wichtig, von den
Kindern belehren, „sie nicht allzu empfindlich zu verletzen“ (SW 4, S. 168 f). Daraus wird
deutlich, dass er mit „von den Kindern belehren“ meint, dass er aus seiner sensiblen
Beobachtung heraus auf die Reaktionen der Kinder achtet und daraus sein eigenes Handeln
bestimmt. Er nimmt die „Beschwerden“ der Kinder ernst, weil er sie sonst nicht kennen lernt
(SW 4, S. 179). Er ist ihnen gegenüber „zart fühlend“ und betrachtet das betroffene Zuhören
als seine Pflicht (SW 4, S. 193). Seine Devise lautet: „Erlaube den Kindern, Fehler zu machen
und frohen Mutes nach Besserung zu streben.“ (SW 4, S. 187). Janusz Korczak beschönigt
nichts, und es gibt in seinen Schriften unzählige Äußerungen, dass er dies auch auf sich
bezieht. Er ist aber bedacht, aus allem für sein Handeln Schlüsse für sich und den
konstruktiven Umgang mit Kindern zu ziehen.
Die Realistik seiner Pädagogik ist gepaart mit Illusionslosigkeit. Es gibt „sanfte, passive,
gutmütige, vertrauensvolle Kinder ... – bis hin zu den bösartigsten, offen feindseligen und
39
I-JOURNAL Mai 2015
denen, die voller tückischer Initiative sind oder bis zu den heuchlerisch Nachgibigen,
konspirativ Bösartigen – intriganten und verbrecherischen Kindern“, kurz es gibt unter den
Kindern genauso wie unter den Erwachsenen gute und schlechte Menschen (SW 4, S. 194). Er
hat jedoch die Tendenz, selbst den schlechtesten Ausgangsbedingungen eine gute Wende zu
geben.3 Darin zeigt sich sein Humanismus: Er gesteht jedem Menschen zu, dass er zu dem
werden kann, zu dem er werden möchte. Niemand hat das Recht, einem anderen etwas
vorzuschreiben.
2. Korczaks Methoden des Erkennens
Janusz Korzcak ist originär. Er bindet sich an keine Strömung, sondern seine Pädagogik
entwickelt sich aus dem direkten Erleben mit den Kindern. Seine Pädagogik erwächst aus
authentischer Erfahrung. Einer seiner Biographen, Wolfgang Pelzer weist darauf hin, dass
Janusz Korczak seine Pädagogik eine „erzählende Pädagogik“ nennt.4 Er als Anwalt des
gegenüber den Erwachsenen schwachen, hilflosen, mit subtiler und offener Gewalt geächteten
Kindes erzählt erlebte und gelebte Geschichten. Er weiß, was er sagt, er schildert genau aus
genauer, sensibler Beobachtung das Leid, das Leiden der Kinder. „Gemeint ist eine
Pädagogik, die darstellt und nicht fordert, die verstehen will und nicht - aus der Distanz befindet, eine Form der Theorie, die die Nähe zu Lebenszusammenhängen sucht, indem sie
sie erzählend bewahrt.“ (Pelzer 1987, S. 43) Gerade im Erzählen wird Janusz Korczak ganz
genau. Er vermittelt darin die Sensibilität, die er dem Kind gegenüber hat.
Janusz Korczak als nicht gelernter Pädagoge gewinnt seine Inhalte aus Beobachtung,
Erproben von Interaktionen und strukturellen Maßnahmen und daraus abgeleiteten
Erfahrungen. Aber diese sind nicht beliebig, sondern sie sind von seiner Achtung zum Kind
getragen, die nicht vorschnell verallgemeinert, vorschnell Prognosen stellt, was aus dem Kind
werden wird (vgl. SW, S. 206) und auf diese Weise Vorurteile gegenüber dem Kind aufbaut.
Der andere ist ein einmaliges, unverwechselbares Subjekt, dem man in dienender Beachtung
begegnet und daraus nie ganz erfährt, wer er ist. „Wer versteht, urteilt nie definitiv.“ (Pelzer
1922, S. 47)
Janusz Korczak schwebt „eine Pädagogik der Unabgeschlossenheit und Offenheit“ vor (a. a.
O., S. 48). Genaue, sensible Beobachtung ist für ihn die zentrale Bedingung richtigen
pädagogischen Handelns. Janusz Korczak zieht eine Parallele zwischen der klinischen
3
Vgl. die Kurzerzählung „Der Klassenletzte“ (SW 6, S. 89 - 92)
4
Untertitel der Textsammlung „Verteidigt die Kinder“ 1987, S. 43
40
I-JOURNAL Mai 2015
Beobachtung in der Medizin und der ebenso klinischen Beobachtung in der Pädagogik (vgl.
dazu auch Piaget 1988). Als Mediziner wie als Pädagoge hat man Symptome vorliegen, sie
sind nur von anderer Qualität. Sind es in der Medizin Ausschläge, Husten oder Fieber usw.,
sind es in der Pädagogik „Lächeln, Lachen, Erröten, Tränen, Gähnen“ usw. (SW 4, S. 202).
Janusz Korczak treibt die Parallele sogar noch weiter, dass es in der Pädagogik „ein Weinen
mit Tränen, mit Schluchzen und fast ohne Tränen“ gäbe wie in der Medizin „einen trockenen,
einen feuchten und einen erstickenden Husten“ (ebd.). An diesen Zitaten erkennt man, mit
welcher Genauigkeit Janusz Korczak beobachtet und mit welcher sich betreffen lassenden
Sensibilität er mit den Kindern arbeitet. Erst nach der genauen Feststellung der Symptome
können Maßnahmen, eine Behandlung angesetzt werden.
An dieser Stelle wird Janusz Korczaks Auffassung von Wissenschaft deutlich. Es geht ihm in
der Wissenschaft nicht um Ergebnisse oder neue Entdeckungen, sondern um je und je neue
Fragen. Er sagt von sich selbst, dass er „einen Forscher-, keinen Erfindergeist“ habe. Er will
nicht forschen, um zu wissen oder den Dingen bis auf den Grund zu gehen, sondern
„forschen, um immer weiter- und weiterzufragen. Ich richte meine Fragen an Menschen
(kleine Kinder und Greise), an Tatsachen, Ereignisse, Schicksale. Mich packt nicht der
Ehrgeiz, eine Antwort zu finden, ich möchte vielmehr zu weiteren Fragen vordringen – nicht
unbedingt nach demselben Gegenstand.“ (Erinnerungen, S. 328). Er bekennt, dass er,
trotzdem er auf dem Gebiet der Pädagogik „kein Neuling“ war und er auch schon „viele
Bücher über die Psychologie des Kindes“ gelesen hatte, „hilflos vor dem Geheimnis der
kollektiven Seele einer Kindergemeinschaft“ stand (SW 4, S. 219). Daraus wird wieder
deutlich, wie sehr es in der Pädagogik um die Einmaligkeit jeder Situation und noch mehr um
die Einmaligkeit jedes Menschen geht. Dies zeigt sich auch in seiner praktischen Haltung.
Scheitert man, macht man Fehler, dann ärgere man sich nicht, sondern forsche weiter. Alles
kann von Bedeutung sein und es gibt „keine Bagatellen“ (ebd.), sondern es geht um die
„mikroskopische Beobachtung feinster Regungen“ (SW 4, S. 203). Dies drückt noch einmal
deutlich aus, dass Janusz Korczak jede Äußerung des Kindes ernst nimmt und genau dadurch
in seiner Einmaligkeit achtet. Man ärgert sich nicht über den Zorn oder die
Unaufmerksamkeit eines Kindes, vielleicht sogar in Situationen, die Kindern gefallen,
sondern wundert sich über sie „wie ein Naturforscher“ (ebd. ) und sieht alles als Symptom
für innere sehr häufig nur schwer erkennbare psychische Prozesse. Er zeichnet
„Gewichtskurven, Entwicklungsprofile“ auf und erstellt daraus einen „Wachstumsindex“,
eine „Prognose der körperlichen und psychischen Evolution“ der Kinder (SW 4, S. 208).
41
I-JOURNAL Mai 2015
Gerade durch diese nicht wertende Klarheit und Deutlichkeit der Beobachtung kommt Janusz
Korczak zu dem Schluss – und damit deckt er sich mit anderen Pädagogen, für die das Kind
im Mittelpunkt steht –, dass wir das Kind nicht kennen. Nur solche Pädagogen, die diese
Feinheit der Beobachtung nicht kennen, glauben zu wissen, wie Kinder sind und verfahren
mit ihnen entsprechend.
Janusz Korczak hat – wie es der Arzt Michael Kirchner ausdrückt – „die mühsame Spur hin
zum Kind gewählt – es ist dies die Spur zum Anderen“ (2002, S. 90). Um diese aufzunehmen
müsse sich der Erzieher
1. um „die Bereitschaft zum ständigen ,Weiter-denken’“, auch zum Anders-denken und
2. um „die Bereitschaft, das Andere des Kindes als Anderes wahrzunehmen und
anzuerkennen“ (ebd. ) bemühen.
Das Kind ist als eine unbekannte Größe für uns nicht fassbar wie jedes Du (Buber 1977), denn
Kinder sind anders (Montessori 1988). Wir haben daher nur die Wahl, andere genau, liebevoll
und unermüdlich zu beobachten. Nach dem intimen Korczak-Kenner Erich Dauzenroth
(1992) gibt es drei Quellen, aus denen Janusz Korczak für seine pädagogischen Schriften und
auch seine Arbeit schöpft, die überzeitliche Bedeutung und Aktualität haben: Unermüdliche
Beobachtung, vorsichtige Diagnose, illusionslose Therapie (S. 59). Korczak betrieb geradezu
einen Kult mit Notizen, Eintragungen, Berichten, Protokollen, Diagrammen usw. Er hat kein
besonderes Ziel für die Kinder im Auge, er spricht nicht von einem Muss oder einem Soll,
sondern er beobachtet, reagiert aus der unmittelbaren Situation. Daraus leitet sich das Paradox
der Erziehung ab. Der Erzieher muss sich überflüssig machen können, soll das Kind wachsen
können. Was für den Erzieher bleibt, ist „forschendes Fragen ohne Abschluß“ (Dauzenroth
1992, S. 67). Erziehung ist ohne Illusion. Mit der Einsicht, das Kind so sein zu lassen wie es
ist, ist die oft „schmerzliche Bereitschaft lieber zu belassen, als verändernd einzugreifen und
umformen zu wollen“ verbunden (Pelzer 1987, S. 57).
Korczak fordert nicht nur auf genau zu beobachten, sondern es ist ihm bewusst, dass auch das
Instrument der Beobachtung einkalkuliert werden muss. Sowohl in diesem als auch im
erzieherischen Sinn fordert er eindringlich, dass der Erzieher sich selbst zuerst erkennen
müsse, will er Erzieher sein. Selbsterkenntnis ist die Vorbedingung für das Erkennen des
anderen. In „Wie liebt man ein Kind“ (1918 in der Zeit als Militärarzt während des Krieges
nach vier Jahren Erfahrungen im Waisenhaus entstanden) schreibt er: „Sei du selbst – suche
42
I-JOURNAL Mai 2015
deinen eigenen Weg. – Lerne dich selbst kennen, ehe du Kinder zu erkennen trachtest.“ (SW
4, S. 147) Es ist auch gut, sich jeder Illusion sich selbst gegenüber zu entschlagen. „Ich bin
nicht dazu da, um geliebt und bewundert zu werden, sondern um zu wirken und zu lieben.
Meine Umgebung ist nicht verpflichtet, mir zu helfen, sondern ich habe die Pflicht, mich um
die Welt, um die Menschen zu kümmern.“ (Das Recht des Kindes auf Achtung, S. 304) Der
sensible Beobachter fordert sozusagen, dass das Beobachtungsinstrument nicht getrübt sei. Er
fordert Selbstkritik statt Schuldzuweisung, die immer Gewalt ist.
Janusz Korczak steht da zunächst in der breiten Bewegung der Pädagogik vom Kinde aus. Sie
ist aber nicht eine solche der Förderungen, sondern der konkreten Beschreibungen der
Gefühle der Kinder, wenn sie von den Erwachsenen hin und her geschubst werden. Es ist
insgesamt eine Pädagogik des einfühlenden Verstehens in die Nöte der Kinder, wenn sie von
den Erwachsenen schlecht behandelt werden und auch des Verständnisses für die
Erwachsenen. Man erzeugt Verstehen wiederum nur durch Verstehen. Seine Methode besteht
nicht in der Anwendung von Theorien – sie können nur unterstützen, auch zuweilen den
Fokus der Beobachtungen erweitern und nur zu oft sind sie falsch – sie besteht in der
genauen Beobachtung des Kindes, einerseits um Defizite und andererseits und im besonderen
um Entwicklungschancen zu erkennen. In diesem Sinn wären viele Texte von Janusz Korczak
selbstreflexiv zu lesen: Achte ich auch so genau auf die Psyche des Kindes, oder gehe ich
über Vieles hinweg. Die Texte sind also Einübung in Verstehen, in die Achtung vor der
Eigenart des Kindes und in genaue sensible Beobachtung. Er hat immer wieder die Kinder
ganz genau beobachtet und aus ihrem Tun seine pädagogischen Ideen abgeleitet und was die
jeweils zweckmäßigste Weise ist, mit Problemen umzugehen.
Wegen der großen Bedeutung der Beobachtung und ihrer Systematisierung für einen richtigen
Umgang mit dem Kind, empfiehlt Korczak den Erziehern nachdrücklich an mehreren Stellen
als ein selbstreflexives Instrument das Schreiben von Tagebüchern.5
3. Pädagogisch anthropologische Grundannahmen
Wenn von „Grundannahmen“ die Rede ist, so heißt dies, dass sie nicht auf einer empirischen,
sondern auf einer metatheoretischen Ebene liegen, von denen her empirische Daten geordnet
und gedeutet werden. Die erste bedeutsame Grundannahme betrifft das Kind als solches und
die Bedingungen seines Lernens. Sie betrifft die Existenz des Kindes und sein Werden, das
5
Vgl. das Tagebuch in der Aktionsforschung bei Altrichter/Posch 1990
43
I-JOURNAL Mai 2015
aber schon von allem Anfang an Mensch ist. Pädagogik ist nach ihm nicht die Wissenschaft
vom Kind, sondern vom Menschen, weil das Kind schon von Anfang an und zuerst Mensch
ist. Pointiert formuliert er: „Es ist einer der schlimmsten Fehler zu meinen, die Pädagogik sei
die Wissenschaft vom Kind und nicht – vom Menschen.“ (SW 4, S 147). Und weiter heißt es,
„es gibt keine Kinder – es gibt nur Menschen; aber Kinder haben eine andere Begriffsskala,
einen anderen Erfahrungsschatz, andere Impulse, eine andere Gefühlswelt.“ (a. a. O., 147 f.)
Aus seiner von der Achtung für das Kind getragenen Sicht bezeichnet er im Gegensatz zu
Piaget die „egozentrische Weltsicht des Kindes als eine auf den unmittelbaren Augenblick
gerichtete ...., weil es aus Mangel an Erfahrung nur im Jetzt lebt“ (SW 4, S. 82). Das Kind
muss also nicht zum Menschen erzogen werden, es ist Mensch. Damit es sich entwickeln
kann, müssen wir ihm Bedingungen bereit stellen, unter denen es sich optimal entfalten kann.
Dieser Mensch, das Kind, ist nach Janusz Korczak, wie die Erwachsenen menschlich. Das
heißt bei ihm nicht zuschreibend, sondern verstehend. Bei seiner Entwicklung muss es Fehler
machen dürfen. Angesichts dieser macht er keine Zuschreibungen, sondern beobachtet,
registriert und will erfassen, verstehen, erklären, warum sich ein Kind so verhält. Janusz
Korczak ist es wichtig zu betonen, um niemandem von vorn herein Gewalt anzutun, dass das
Kind schon mit einem bestimmen Maß an Antriebspotential geboren wird, durch welches das
zur Entfaltung kommt, was ursprünglich angelegt ist.
Janusz Korczak hat einen optimistischen Blick auf den Menschen und seine Möglichkeiten.
„So unterliegt der Mensch der ständigen Evolution, er wird sich anpassen und ändern unter
den ständig wandelnden Lebensbedingungen. Welchen Veränderungen er ausgesetzt sein wird
und wie weit tragend sie sein werden, wissen wir heute noch nicht.“ (SW 5, S. 28) Letzlich ist
der Mensch nur böse, „weil er es nicht wußte oder es nicht anders verstand“ (SW 5, S. 153)
und „die Menschen sind gut, wenn sie wissen und können“ (SW 5, S. 158). Die 1938
entstandene Schrift „Die Menschen sind gut“ ist Janusz Korczaks Bekenntnis zum
Menschen, das einer ursprünglichen Haltung der „Ehrfurcht vor dem Leben, der Ehrfurcht vor
den niedersten Kreaturen, den Läusen und Spatzen, bis hin zur Ehrfurcht vor dem ‘aus Staub
entstandenen Wesen, in dem Gott Wohnung genommen hat’“ (SW 4, S. 12, zit. nach
Dauzenroth 1992, S. 75) entspringt. Dahinter steht seine nicht an Konfessionen gebundene
Religiosität, die von der jüdisch-christlichen Tradition genährt ist. Es ist klar, dass dies keine
empirische Aussage ist, wohl aber enthält sie das Bekenntnis jener Menschen, die bereit
waren, sich für die Menschen einzusetzen. Es findet sich bei Albert Schweitzer, bei Maria
Montessori, bei Martin Buber, um nur einige zu nennen. Es ist schade, dass Menschen diese
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I-JOURNAL Mai 2015
Haltung immer wieder als romantisch deuten. Bei Janusz Korczak ist sie alles eher als das.
Mit einer unglaublichen Realistik, die er aus einem Diskrepanzerleben zu seiner Sehnsucht
nach Liebe schöpft, sieht er immer wieder nur zu leidvoll die andere Seite (vgl. Frühlingslied,
in: VK, S. 137 - 141). Halten wir nicht daran mit aller Kraft fest, dass der Mensch gut ist,
werden wir beginnen, ihm Gewalt anzutun, in ihn etwas hineinzustopfen, ihn umzudressieren,
aber wir werden nicht den Versuch machen, ihn zu sich selbst zu führen, dass er die Kraft des
Guten in ihm entdeckt. Es ist pädagogisch die einzig sinnvolle Einsicht, dass Menschen auf je
individuelle Weise dann ihre besten Kräfte entwickeln, wenn ihnen von allem Anfang an
Liebe, Achtung und Anerkennnung ohne Wenn und Aber gegeben wird. Da aber die Kinder
in der Regel Macht, Missachtung und Nichtanerkennung erfahren, sie aber Liebe, Achtung
und Anerkennung brauchen, setzen sie alle ihre Kräfte dazu ein, um diese zu bekommen. Man
tut nur etwas um eines Guten willen.
4. Strukturelle Bedingungen
Ziel seiner pädagogischen Bemühungen sind freie, phantasievolle Kinder mit Poesie. Dem
müssen auch die Methoden und Strukturen entsprechen, soll dieses Ziel erreicht werden.
Janusz Korczak, der seine Pädagogik aus dem leidvoll erlebten Kontrast entwickelt, prangert
die Schulen an. „... wir gleichen ihre Charaktere an, ordnen ihre Initiative aus. Wir haben die
Kinder nummeriert, haben eine mit
Tausenden von Gesetzen, Verordnungen und
Anordnungen dem Gefängnis ähnliche Disziplin eingeführt. Wir führen mit ihnen kluge
Reden, die zum sophistischen Verständnis beitragen sollen. Die Kinder bekommen fast keine
Luft in diesem brutalen, kalten, künstlichen Leben, das ohne jegliche Illusion und Poesie ist.“
(VK 51)
Janusz Korczak hat in seiner „Schule des Lebens“ (1907/08 geschrieben) eine Schule nach
seinem Sinn entworfen. Vorher hatte er Erfahrungen mit seinem Waisenhaus. Das Internat
und wir dürfen in unserem Zusammenhang sagen, die Schule, wird nach Janusz Korczak nur
zu einer „moralischen Heilanstalt“ (SW 4, S. 150), wenn jedes Kind in seiner Individualität
ernst genommen wird und der Erzieher/Lehrer Bedingungen schafft, organisiert, durch die
auch er einer Kontrolle über sich unterworfen ist (SW 4, S. 312).
Janusz Korczak nennt sich daher einen „neuen, »konstitutionellen«" Pädagogen, der den
Kindern nicht deshalb kein Unrecht zufügt, weil er sie gern hat oder liebt, sondern deshalb,
weil es eine Institution gibt, die sie vor Ungerechtigkeit, Willkür und Despotismus des
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I-JOURNAL Mai 2015
Erziehers schützt“ (SW 4, S. 312, vgl. dazu auch Beiner 1996, S. 339). Er führt eine
Anschlagtafel ein, die das Leben in einer Gemeinschaft erleichtert, weil durch sie
Informationen zwischen allen, Erziehern und Kindern, leicht ausgetauscht werden können,
einen Briefkasten, Regale für Spiele, Lexika, eine Handbibliothek, ein Heft für Eintragungen
aller Art, ein „Kontrollbuch“ für Ausgänge und ein Heft für Tausch- und Kaufaktionen der
Kinder und Jugendlichen, einen Schrank für Fundsachen, einen kleinen Laden 6. Er hat diverse
Dienste, eine Betreuungskommission, Konferenzen mit den Kindern, eine Zeitung von
Kindern für die Kinder, ein Kameradschaftsgericht mit einer extra Gerichtszeitung und einen
Sejm7, ein Kinderparlament eingeführt (SW 4, S. 256 - 315 ). Korczak gibt allen diesen
Einrichtungen eine besondere Bedeutung für die Entwicklung der Kinder. So lehrt die
einfache Einrichtung des Briefkastens auf „eine Antwort zu warten“, zwischen wichtigen und
unwichtigen Angelegenheiten zu unterscheiden, „zu denken und zu begründen“, „zu wollen
und zu können“ (SW 4, S. 259). In seinem Konzept der „Schule des Lebens“ (1907/08) weist
Korczak auf die Fähigkeiten hin, die durch solche Einrichtungen motiviert und im Prozess der
Tätigkeiten erlernt werden. Alles was auf den Entwicklungsprozess wirkt – und da hat der
Erzieher ein unendliches Feld des Beobachtens und Forschens – wird in einer Weise gestaltet,
dass es in die Richtung von mehr Handlungskompetenz in allen Erfahrungsbereichen in sich
ausweitenden Räumen bis hin zum Globalen führt.8 Was vermögen nun nach Korczak diese
Einrichtungen für die entwicklungsdynamisch angemessene Handlungskompetenz der Schüler
im genannten Sinn zu leisten?
In der „Schule des Lebens“, die eine „»Schule des Volkes«" ist, weil in ihr alles aus den
Erfordernissen des alltäglichen Lebens und der Arbeitsprozesse abgeleitet ist, die daher wie
das Leben selbst ständig in Veränderung sind, sind die zu lernenden Fähigkeiten aus den
Tätigkeiten abgeleitet. Jede dieser Tätigkeiten setzt bestimmte Fähigkeiten voraus und fördert
diese. Korczak teilt diese wie bei einer Berufsbeschreibung in physische, intellektuelle und
moralische Fähigkeiten (SW 7, S. 338, 415) ein, wobei ihm letztere, wenn man sich das Ziel
und die mit ihm verbundene Schul- und Gesellschaftskritik näher anschaut, von großer
Bedeutung sind. Ziel sind ihm „freie Menschen ..., die den Menschen achten“ (SW,7, S. 314),
die selbständig denken, für andere und die Entwicklung der Gesellschaft etwas tun wollen.
6
vgl. Der Bakrott des kleinen Jack (SW 12)
7
Name des polnischen Parlaments
8
vgl. König Macius der Erste (SW 11), vgl. dazu auch Dietrich Benners Konzept des ersten regulativen Prinzips
der Pädagogik, der „pädagogischen Transformation gesellschaftlicher Einflüsse und Anforderungen“ (2001, S.
128).
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I-JOURNAL Mai 2015
„»Wir werden eine Schule errichten, wo die Zöglinge nicht tote Buchstaben von totem Papier
lernen, sondern wo sie statt dessen lernen werden, wie die Menschen leben, warum sie so
leben, wie man anders leben kann, was man können und tun muß, um in der Fülle eines freien
Geistes zu leben.«" Dies entspricht der Idee des Aufklärers, der sich gegen die Macht und
Korruption der Reichen und die Willkür und Dummheit der Staatsmacht, die jene noch
unterstützt, wendet (SW 7, S. 409 ff.). Er will glückliche Menschen, die ein klares
Bewusstsein entwickeln. Janusz Korczak glaubt man den Ausruf: „Oh, wie schön ist der
Mensch, wenn er erwacht.“ (SW7, S. 343)
Seine Schule ist auch insofern eine „Schule des Lebens“, als in ihr an den Fragen gelernt
wird, die das Leben bei der Ausführung von Tätigkeiten aufwirft. In ihr gibt es alles, was eine
sich selbst erhaltende Gemeinschaft braucht: alle Gemeinschaftseinrichtungen, Werkstätten,
eine Landwirtschaft, Handel, eine Darlehenskasse, ein Beratungsbüro, eine Bibliothek, ein
Spital, eine wissenschaftliche Abteilung, aber auch Einrichtungen für die Ärmsten der
Gesellschaft, ein Asyl oder Bettenhaus. In all diesen Einrichtungen arbeiten Kinder und
Jugendliche je nach ihren Fähigkeiten. Sie wechseln nach ihren Motivationen zwischen diesen
Einrichtungen mit ihren verschiedenen Abteilungen und lernen ohne Zwang von sich aus. Es
gibt „Keinerlei Druck, keinerlei Gewalt! ...“ (SW 7, S. 408), weil sie wissen, wofür sie etwas
lernen. Es ergibt sich aus den Erfordernissen der Tätigkeit selbst und der Schüler weiß selbst,
was er braucht, um sich verändern zu können, „in der Hierarchie der Tätigkeiten weiter
aufzusteigen“ (ebd.). Mit dem Recht werden die Kinder schon von allem Anfang konfrontiert,
daher lernen sie es ab der ersten Klasse (SW 7, S. 405). Der Arbeit gibt Korczak die höchsten
Prädikate (SW 7, 319 f.), weil ihm Arbeit und Tätigkeit „ein Synonym des Lebens – eines
gesunden, normalen, vollen Lebens“ (SW 7, S. 340) ist. Unter dieser Vorstellung wird die
Motivation der Schüler dieser Schule, die Korczak einem Schüler in den Mund legt,
verständlich: „»Wir schöpfen Ermunterung und Belohnung aus der Arbeit selbst«" (SW 7, S.
341) – eine klare Formulierung intrinsischer Motivation, die in einem Klima der Achtung und
des Wissens, warum man etwas, wie, zu welchem Zweck tut.
Nach einer siebenjährigen Geschichte der Dienste bewertet Korczak die Dienste lapidar, dass
sie „ihre Feuerprobe in vielen Internaten bestanden“ hätten. „Die Küche, die Wäscherei, das
Inventar, die Betreuung des Gebäudes, die Aufsicht über die kleinen Kinder – sind den
Zöglingen anvertraut, die sich inzwischen von zehnjährigen diensttuenden Kindern in
vierzehn- bis fünfzehnjähriges Hauspersonal verwandelt haben. Die Anstaltszeitung besteht
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noch, das Gericht arbeitet seit zwei Jahren ohne Unterbrechung. Wir sind gereift in unserem
Versuch der Selbstverwaltung.“ (SW 4, S. 312) Das Gericht hat auch Krisen durchgemacht,
wurde von Kindern und Jugendlichen missbraucht und auch lächerlich gemacht, es wurde
umorganisiert, aber es wurde beibehalten.
Hätte nur jeder Lehrer den Mut, was in der Schule geschieht, so das Werk der Schüler sein zu
lassen, wie Korczak es sieht. In seinem Heim ist das Kind „Hausherr, Mitarbeiter und Leiter
des Hauses“ (SW 4, S. 256). Gegenüber dem Unrecht, das Kindern von Erwachsenen
zugeführt wird, fordert Janusz Korczak Rechte für das Kind. Er traut auch nicht „dem
falschen Schein“ des „zärtlichen und duseligen, geradezu gnädigen Verhältnisses zum Kind“.
Er fordert dagegen „eine durchdachte, konkrete, wissenschaftliche Definition“ der Beziehung
zum Kind (SW 5, S. 23 f.).
„Phantasie und Humor“ als „Schlüssel ... für einen vertrauensvollen, wohlwollenden Blick
und für realistisches, aufbauendes Handeln“ (Beiner 1999, S. 20). Beiner fasst zusammen:
Janusz Korczak „setzt [bei Raufereien] weder auf ungezämtes Faustrecht noch auf autoritären
Druck noch auf eine durch Moralpredigten zu erzwingende straffreie Gemeinschaft, sondern –
auf Selbstkontrolle und Willensbildung der Kinder, die er humorvoll zu stützen weiß“ (a. a.
O., S. 22). Janusz Korczak formuliert die Rechte des Kindes aus der Achtung vor ihnen und
um ihnen in der Schule des Lebens Entwicklung zu ermöglichen. Seine Kinderrechte bilden
Prinzipien des Wachsens zu freier Lebensgestaltung. In einer solchen Umwelt können Kinder
zu dem werden, zu dem sie werden möchten und können.
Literatur
Altrichter, Herbert/Posch, Peter: Lehrer erforschen ihren Unterricht. Eine Einführung in die
Methoden der Aktionsforschung. – Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt, 1990
Beiner, Friedhelm: Wer kann Erzieher sein? – Ein Bild des Erziehers bei Janusz Korczak. –
In: engagement – Zeitschr. f. Erziehung und Schule, 1996, S. 326 - 342
Beiner, Friedhelm: Korczak-Pädagogik: Legitimation und Praxis Erzieherischen Handelns.–
In: Öhlschläger, Rainer (Hrsg): Von Korczak lernen, heißt.... Zwei Aufsätze zur KorczakPädagogik.– Stuttgart: Akademie der Diözese Rottenburg, 1999 S. 11 - 39 (Kleine
Hohenheimer Reihe, Band 37)
Beiner, Friedhelm: Achtung als zentraler Begriff der Ethik Kants und der Pädagogik
Korczaks. – In: Korczak-Bulletin, Jg. 12 (2003), H. 2, S. 16 - 21
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I-JOURNAL Mai 2015
Benner, Dietrich: Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche
Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. – Weinheim und
München: Juventa, 2001, 4. völlig neu bearb. Aufl.
Buber, Martin: Ich und Du. – Heidelberg: Lambert Schneider, 1977, 9. Aufl.
Dauzenroth, Erich: Ein Leben für Kinder.– Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1992
Kirchner, Michael: Janusz Korczak: „Wo aber ist der Arzt – der Mensch ist?“ – Gedanken zu
seiner Anthropologie. – In: Beiner, Friedhelm (Hrsg.): Zweites Wuppertaler KorczakKolloquium 1984, S. 33 - 39
Kirchner, Michael: Der diagnostische Blick Janusz Korczaks. Medizinische Phänomenologie
als Methode zur Beobachtung des Kindes. – In: Ermert, Karl (Hrsg.): Erziehung in der
Gegenwart. Zur aktuellen Bedeutung der pädagogischen Praxis und Theorie Janusz
Korczaks. – Rehburg-Loccum: Evangelische Akademie Loccum, 1988, S. 65 - 84 (=
Loccumer Protokolle 60/1987)
Kirchner, Michael: Das kind lebt „anderswo in der Zeit“. Korczaks pädagogisches Handeln
am Ort und in der Zeit des Kindes. – In: Pädagogische Rundschau, 56. Jg. (2002), H.1 S. 81 91
Korczak, Janusz: Erinnerungen. – In: Das Recht des Kindes auf Achtung. Hrsg. von Elisabeth
Heimpel und Hans Roos. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1970, S. 236 - 345
Oelkers, Jürgen: Was ist poetische Pädagogik? – Beiner, Friedhelm (Hrsg.): Zweites
Wuppertaler Korczak-Kolloquium 1984, S. 226 - 245
Korczak, Janusz: Von Kindern und anderen Vorbildern. – Gütersloh: Gütersloher
Verlagshaus, 1985
Korczak, Janusz: Der Frühling und das Kind. – In: Sämtliche Werke. Bd. 5. Hrsg. von
Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth. Bearbeitet von Erich Dauzenroth und Friedhelm
Beiner. – Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1997, S. 7 - 28
Korczak, Janusz: Die Menschen sind gut. – In: Sämtliche Werke. Bd. 5. Hrsg. von Friedhelm
Beiner und Erich Dauzenroth. Bearbeitet von Erich Dauzenroth und Friedhelm Beiner. –
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1997, S. 139 - 158
Korczak, Janusz: Die verhängnisvolle Woche. – In: Sämtliche Werke. Bd. 3. Hrsg. von
Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner
und Silvia Ungermann. – Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1999, S. 29 - 58
Korczak, Janusz: Die Beichte eines Schmetterlings. – In: Sämtliche Werke. Bd. 3. Hrsg. von
Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner
und Silvia Ungermann. – Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1999, S. 61 - 131
Korczak, Janusz: Wenn ich wieder klein bin. – In: Sämtliche Werke. Bd. 3. Hrsg. von
Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner
und Silvia Ungermann. – Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1999, S. 138 - 274
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Korczak, Janusz: Wie liebt man ein Kind. – In: Sämtliche Werke. Bd. 4. Hrsg. von Friedhelm
Beiner und Erich Dauzenroth. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia
Ungermann. – Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1999, S. 12 - 315
Korczak, Janusz: Das Recht des Kindes auf Achtung. – In: Sämtliche Werke. Bd. 4. Hrsg. von
Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner
und Silvia Ungermann. – Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1999, S. 385 - 413
Korczak, Janusz: Bobo. – In: Sämtliche Werke. Bd. 3. Hrsg. von Friedhelm Beiner und Erich
Dauzenroth. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann. –
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2000, S. 9 - 25
Korczak, Janusz: Die Schule des Lebens. – In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Hrsg. von Friedhelm
Beiner und Erich Dauzenroth. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia
Ungermann. – Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2002, S. 311 - 456
Leibniz, Gottfried Wilhelm: Monadologie. – Stuttgart: Reclam, 1960
Montessori, Maria: Kinder sind anders.
Taschenbuchverlag, 1988, 2. Aufl.
– Stuttgart:
Klett-Cotta
im Deutschen
Pelzer, Wolfgang: Janusz Korczak – mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. – Reinbek:
Rowohlt, 1992
Piaget, Jean: Das Weltbild des Kindes. – Stuttgart: Klett-Cotta im Deutschen
Taschenbuchverlag, 1988 (= dtv 15044)
Tschöpe-Scheffler, Sigrid: Korczak-Pädagogik: „Erkenne dich selbst, bevor du Kinder zu
erkennen trachtest.– Erziehungssysteme, kindliche Persönlichkeit, Erzieherpersönlichkeit. –
Öhlschläger, Rainer (Hrsg): Von Korczak lernen, heißt.... Zwei Aufsätze zur KorczakPädagogik. – Stuttgart: Akademie der Diözese Rottenburg, 1999 S. 41 - 65 (Kleine
Hohenheimer Reihe, Band 37)
Karl Garnitschnig, Dr. phil., Univ.-Prof.
Geb. 1941 in St. Veit/Glan, 1959 - 1963 Studium der Theologie, 1963 – 1972 Studium der Philosophie,
Logistik und Pädagogik mit Ausflügen in die Geschichte, Germanistik und Psychologie an der Universität Wien, 1972 Promotion zum Dr. phil., Universitätsassistent am Institut für Erziehungswissenschaft der
Universität Wien, 1986 Habilitation in Erziehungswissenschaft und Organisationstheorie. Zwischendurch
mehrjährige Schulpraxis in verschiedenen Schultypen, freier Mitarbeiter in der
Erwachsenenbildung. Lehre von pädagogischen und wissenschaftspropädeutischen Fächern in der Krankenpflege, Ausbildung in der Psychoanalyse, Projekte in der Organisationsentwicklung, seit 2007 wissenschaftlicher Leiter des Universitätslehrgangs Waldorfpädagogik. 1996 – 2005 eigenes kollegial geführtes
Institut für Kommunikationspädagogik mit den Aufgabenbereichen Therapie,
Beratung und Organisationsentwicklung. Seit 2011 Betreuung von Dissertationen an der Sigmund Freud Privatuniversität.
Veröffentlichungen zur Werttheorie und zur Entwicklung des moralischen Urteils, zur Didaktik und Organisationsentwicklung
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FIT für die Schule!
Schulische Integration von Kindern und Jugendlichen mit einem Hirntumor
Eine Broschüre für Lehrer und Lehrerinnen
Kinder und Jugendliche mit einem Hirntumor können durch
ihre Erkrankung, aber auch durch die intensive medizinische Behandlung an unterschiedlichen Spätfolgen leiden.
Es kann sich dabei neben medizinischen Spätfolgen (z.B.
eingeschränktes Wachstum, Hormonausfälle) um Beeinträchtigungen im kognitiven, emotionalen oder sozialen Bereich handeln, die ihre weitere Entwicklung und damit auch
den Weg zurück in die Schule deutlich erschweren können.
Ob Schwierigkeiten vorliegen, welche das genau sind und in
welchem Ausmaß sie vorkommen, muss für jeden Betroffenen individuell festgestellt werden (z.B. in einem neuropsychologischen Gutachten).
Broschüre „FIT für die Schule“ (ÖKKH)
Dabei ist ein breites Spektrum an Möglichkeiten bekannt: Ein
großer Teil der Kinder/Jugendlichen zeigt erfreulicherweise
keine oder nur geringe Spätfolgen, mit denen sie gelernt haben, gut umzugehen; andere Kinder/Jugendliche sind wiederum stärker betroffen und zeigen z.B. Schwierigkeiten im
Bereich der Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit
oder in ihren Planungs- und Problemlösungsfähigkeiten.
Häufig kann auch das Arbeitstempo verlangsamt oder ihre
Belastbarkeit eingeschränkt sein. Es handelt sich dabei in
den meisten Fällen um Beeinträchtigungen einzelner Funktionen, die sich zwar stark auf die Gesamtleistung auswirken können, aber nicht unbedingt etwas mit der Intelligenz
der Betroffenen zu tun haben müssen.
Beispielsweise kann die allgemeine Verarbeitungsgeschwindigkeit eines/einer Betroffenen durch die Erkrankung langsamer geworden sein und somit auch das Schreibtempo. Der/die Schüler/in benötigt deshalb
mehr Zeit als zuvor, um sein/ihr Wissen unter Beweis stellen zu können. Die gefragten Lerninhalte sind
zwar noch alle vorhanden, ohne „Zeitbonus“ kann der/die Betroffene die eigentliche, „wahre“ Leistungsfähigkeit aber nicht zeigen.
So individuell wie mögliche Spätfolgen sein können, so individuell müssen daher auch die Unterstützungsmöglichkeiten sein! Nur dadurch kann den betroffenen Schülern trotz der schweren Erkrankung eine möglichst erfolgreiche Schullaufbahn ermöglicht werden.
Die Broschüre „FIT für die Schule“ möchte mögliche Hilfestellungen im schulischen Kontext aufzeigen.
FIT steht für FAIR, INTEGRIERT und TRANSPARENT und soll damit auch gleichzeitig das Motto dieses
Heftchens unterstreichen: Ziel ist ein fairer Ausgleich eines krankheitsbedingten Nachteils, der nichts mit
einer „Bevorteilung“ der betroffenen SchülerInnen zu tun hat. Die Autorinnen sind darüber hinaus überzeugt
davon, dass ein TRANSPARENTER Umgang mit der Erkrankung und gute Kommunikation aller Beteiligten
die INTEGRATION der Betroffenen deutlich erleichtert.
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I-JOURNAL Mai 2015
Leider findet sich in der Österreichischen Gesetzgebung kein sogenannter „Nachteilsausgleich“, der
in allen deutschen Bundesländern und auch in der
Schweiz in den Schulgesetzen individuell verankert
ist. (Chronisch) kranken SchülerInnen mit oder ohne
SPF wird somit die Möglichkeit gegeben, durch Ausgleichen der erkrankungsbedingten Nachteile, in der
Schule bestehen zu können. Dieser Nachteilsausgleich kann in den meisten deutschen Bundesländern formlos bei der Schule beantragt werden. Er ist
meist nicht antragsgebunden und fester Bestandteil
der täglichen pädagogischen Arbeit in den Schulen
unserer Nachbarländer.
In der FIT-Broschüre findet sich eine Sammlung von
möglichen Unterstützungsmöglichkeiten im schulischen Kontext: 1. allgemeine und 2. in Bezug auf
bestimmte Beeinträchtigungen spezifische Unterstützungsmöglichkeiten sowie die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen.
„Wo war Patrizia?“
Aufklärungsfilm, onkologische Erkrankungen und Schule
(ÖKKH)
Die einzelnen Maßnahmen sollten individuell, der spezifischen Beeinträchtigung entsprechend, eingesetzt werden. Dabei ist ein gemeinsames Vorgehen mit den
jeweiligen Schülern, den Eltern und dem zuständigen Klinikpersonal sehr zu empfehlen, um ein optimales
Förderpaket zu schnüren. So können die einzelnen Punkte auch mit allen Beteiligten (Kind/Jugendliche/r,
Mitschüler, Lehrerkollegium, Eltern) besprochen und vorbereitet werden, bevor sie in den Unterricht implementiert werden.
Dieses Infoheft entstand in Kooperation mit und Unterstützung durch folgende Institutionen: Österreichische
Kinder-Krebs-Hilfe, AKH Wien, Stadtschulrat für Wien, Wiener Heilstättenschule, Medizinischen Universität Wien. Geschrieben wurde das Infoheft von einem Autorinnenteam der Kinderklinik des Wiener AKH:
Dr. Ulrike Leiss (Klinische Psychologin) und Dipl.Päd. Andrea Kutschera, BEd (Heilstättenlehrerin).
Bestellmöglichkeiten:
Download und Link zum Online-Shop der ÖKKH (Broschüre und Aufklärungsfilm):
http://www.kinderkrebshilfe.at/ich-suche-hilfe/information/fuer-schulen
Autorinnen:
Dr. Ulrike Leiss
Dipl.Päd. Andrea Kutschera, BEd
Klinische Psychologin, AKH Wien Kinderklinik
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Reintegration, Heilstättenschule
I-JOURNAL Mai 2015
Trotz Hirntumor die Schule meistern
Ein Betreuungsprojekt in Wien hilft bei Lernschwierigkeiten durch Spätfolgen
Während und knapp nach der Behandlung finden junge HirntumorpatientInnen in der Regel schulische
Unterstützung durch Stations- und HauslehrerInnen. Manchmal aber zeigen sich mögliche Beeinträchtigungen durch Krankheit und Therapie erst Jahre später oder werden erst dann entdeckt. In solchen Fällen
ist es für Betroffene nicht immer einfach, entsprechende kompetente Hilfe zu finden. Ein Betreuungsprojekt
des AKH, der Medizinischen Universität Wien und der Wiener Heilstättenschule will diese Lücke schließen.
Dass etwas anders war als vorher, wurde Iljaz Brica aus Mattersburg erst so nach und nach klar. „Zum
Beispiel hat mich meine Lehrerin einmal im BWL-Unterricht zwei bis drei Mal aufrufen müssen, bis ich es
registriert habe“, schildert der heute 18-jährige Handelsschüler. Mit fast 14 Jahren hatte man bei ihm ein
Medulloblastom entdeckt. Es folgten eine Operation, eine Chemo- und eine Strahlentherapie. Mit Unterstützung eines Hauslehrers schloss Iljaz die 4. Hauptschulklasse ab und entschied sich schließlich für die
Handelsakademie. Heftige Übelkeit und Kopfschmerzen führten allerdings dazu, dass Iljaz oft in der Schule
fehlte und so viel vom Unterricht versäumte. War er in der Schule, hatte er oft Probleme, sich zu konzentrieren. So musste er die 1. Klasse der HAK wiederholen. LehrerInnen und MitschülerInnen waren zwar über
seine ehemalige Krankheit informiert, Ausnahmeregelungen gab es aber nicht. „Ich hab’s aber auch nicht
verlangt“, betont Iljaz.
Es war ein längerer Bewusstseinsprozess, der ihn dazu brachte, sich mit seiner Krankheit und ihren Folgen
auseinanderzusetzen - und schließlich Unterstützung anzunehmen.
Hirnfunktionen
Unterstützung auch viele Jahre nach der Erstdiagnose
„Es ist eine große Herausforderung für Jugendliche, zu akzeptieren, dass man eine Spur anders ist. Ganz
besonders in diesem Alter“, erklärt Dr. Ulrike Leiss, die an der Univ. Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde
des Wiener AKH als Klinische Psychologin PatientInnen mit Hirntumoren in der Nachsorge betreut. „Wir
versuchen, sie zu begleiten. Dabei geht es nicht darum, sie aus der Normalität zu reißen, sondern transparent mit dem Thema umzugehen“, so Leiss. In dem seit 2009 laufenden Betreuungsprojekt für HirntumorpatientInnen ist sie federführend beteiligt. Im Rahmen einer Forschungsarbeit mit dem Titel „Partizipation oder
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I-JOURNAL Mai 2015
Marginalisierung“ hat sie - gemeinsam mit ihrem Berufskollegen Mag. Thomas Pletschko - wissenschaftlich
untersucht, wo Schwächen und Benachteiligungen von HirntumorpatientInnen zur Ausgrenzung führen und
welche spezifischen individuellen Ressourcen andererseits eine gelungene Partizipation ermöglichen. Eine
Arbeit, für die das PsychologInnen-Duo 2012 den Nachsorgepreis der Deutschen Kinderkrebsnachsorge
bekommen hat.
Einen großen Bedarf an Unterstützung bei Lernschwierigkeiten sieht Leiss nicht nur während oder knapp
nach der Behandlung, sondern immer stärker auch danach - oft viele Jahre nach der Erkrankung.
„Früher war das kein so großes Thema. Weil heute aber glücklicherweise viel mehr Patienten überleben,
gibt es eine größer werdende Gruppe von
Menschen, die mit schulischen Problemen
durch Spätfolgen konfrontiert sind“, sagt
Leiss.
Viele Kilometer für die Reintegration
Und weil der Bedarf wachsend ist, gibt es
seit dem Schuljahr 2011/2012 eine eigene Reintegrationslehrerin für betroffene
Schüler: Andrea Kutschera von der Wiener Heilstättenschule ist für junge PatientInnen, die an der Universitätsklinik für
Kinder- und Jugendheilkunde am AKH
Wien behandelt wurden, zuständig. Sie
ist vor allem auch zu einem Zeitpunkt zur
Stelle, an dem PatientInnen bisher eben
oft auf sich allein gestellt waren, nämlich
mehrere Jahre nach der Erstdiagnose. Im
Schule im Krankenhaus
vergangenen Schuljahr hat sie bei 52 von
den rund 100 Kindern, die über die neuroonkologische Nachsorgeambulanz zu ihr gekommen sind, definitiven Schulkontakt gehabt, sowohl telefonisch als auch persönlich. In dieser Zeit hat sie für ihre jungen PatientInnen sehr viele gefahrene Kilometer
zurückgelegt. Als Mittlerin zwischen der betroffenen Familie, Klinik und Schule erlebt Kutschera täglich,
wie subtil die Beeinträchtigungen der ehemals erkrankten Schüler sein können – wie etwa bei Iljaz Brica.
„Manchmal werden Spätfolgen wie chronische Erschöpfung oder eingeschränkte Aufmerksamkeit gar nicht
mit der Krankheit in Verbindung gebracht, was eine rasche Unterstützung verzögert“, erzählt Kutschera.
In den anderen österreichischen Bundesländern gibt es keine vergleichbare Stelle in der Nachsorge, sehr
wohl aber das gut funktionierende System der Stations- und HauslehrerInnen während und nach der Behandlung.
Im Schnitt kommen HirntumorpatientInnen des AKH Wien rund zehn Jahre oder länger in die Nachsorgeambulanz. „Unser multiprofessionelles Team hier ist schon der erste wichtige Filter, der hilft, schulische
Probleme früh zu erkennen“, sagt Ulrike Leiss. „Das Ziel ist ja, dass die Kinder und Jugendlichen in der
Gesellschaft wieder gut integriert sind. Denn dass sie körperlich gesund, aber sozial nicht integriert sind, ist
nicht das, was wir wollen.“
„Nicht hinzuschauen ist keine Lösung“
Wenn durch diesen „Filter“ der Nachsorgeambulanz Probleme auffallen, kommt es in den meisten Fällen
zu einer neuropsychologischen Untersuchung. Mithilfe normierter, altersentsprechender Testverfahren wird
das Problemfeld – etwa eingeschränkte Aufmerksamkeit – ins Visier genommen und die Ergebnisse inklusive Empfehlungen zur Förderung und Unterstützung in Schule und Alltag, festgeschrieben. „Es geht nicht
darum, Defizite zu betonen und damit unter Umständen die Person zu stigmatisieren“, unterstreicht Leiss,
„sondern vielmehr darum, ein umfassendes Bild von Schwächen und Stärken der Kinder oder Jugendlichen
zu bekommen, um die Schwächen umgehen zu lernen und dabei die Stärken zu nutzen.“
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I-JOURNAL Mai 2015
Nicht hinzuschauen sei keine Lösung, meint die Psychologin, denn: „Würde man die Kinder nicht untersuchen, wären sie mit ihrem Wissen, dass etwas nicht stimmt, allein.“ Zudem gebe es immer ein ausführliches
Gespräch über die Ergebnisse, auch mit dem Kind alleine. Und man lasse kein Kind gehen, ohne es wissen
zu lassen, dass es mindestens eine Stärke hat, so Leiss.
„Wenn Stigmatisierungen oder Mobbing passieren, dann eher von Menschen, die nicht aus dem unmittelbaren Umfeld der Patienten kommen“, beobachtet Reintegrationslehrerin Andrea Kutschera. Etwa bei
Eltern anderer SchülerInnen.“ Da hieße es oft einmal: „Der oder die hat’s ja leichter als die anderen.“
Dabei, sagt Leiss, handle es sich nicht um einen Vorteil, den die betroffenen SchülerInnen durch spezifische Unterstützungsmaßnahmen genießen, sondern um einen Ausgleich des Nachteils: „Wenn man etwa
jemanden in Mathematik prüfen will, erleichtert man ihm das Drumherum – zum Beispiel durch größere
Schrift – oder wenn jemand beim Schreiben motorisch nicht nachkommt, durch eine Computertastatur.
Aber man hilft ihm nicht beim Rechnen.“ (Wertvolle Information und Tipps finden LehrerInnen in der neuen
Broschüre „FIT für die Schule“, siehe Bericht ab Seite 51).
Rechtlicher Spielraum
Einen gesetzlich festgeschriebenen Nachteilsausgleich für beeinträchtigte SchülerInnen wie in manchen
deutschen Bundeländern gibt es in Österreich nicht. Der Paragraph 11 Absatz 6 des Schulunterrichtsgesetzes weist aber explizit auf einen „gewissen Spielraum für SchülerInnen ohne sonderpädagogischen
Förderbedarf (SPF) mit mangelnden Anlagen und körperlichen Fähigkeiten“ hin.
„Und diesen Spielraum nutze ich aus, ohne Bedenken zu haben“, sagt Mag.a Eva Priester-Zuchtriegl, Klassenvorständin von Iljaz Brica in der Handelsschule Mattersburg, wohin Iljaz wegen seiner vielen Absenzen
und der Konzentrationsschwierigkeiten inzwischen gewechselt ist. Außer ihm hat Priester-Zuchtriegl in ihrer
bisherigen Laufbahn bereits auch ein krebskrankes Mädchen unterrichtet. Das Klima in der Schule hat sie
in beiden Fällen als sehr unterstützend empfunden. Die größte Herausforderung in Bezug auf ehemals
krebskranke SchülerInnen ist es für sie, „den Schüler bzw. die Schülerin normal zu behandeln – denn in
diesem Alter will man nicht die Ausnahme sein - und auf der anderen Seite nicht nur Mitleid zu verteilen.“
Auch Iljaz sieht sich, abgesehen von seinen Absenzen, nicht als große Ausnahme in der Klasse. Sonderregelungen, wie etwa bei Schularbeiten zehn Minuten länger arbeiten zu dürfen, wolle er nun nicht mehr
für sich in Anspruch nehmen, sagt er. Dafür hat er im Zuge seiner Auseinandersetzung mit seiner früheren
Krankheit begonnen, ein neuropsychologisches Training am AKH zu besuchen, das ihm helfen soll, seine
Konzentrationsfähigkeit zu verbessern.
Bewusste Beschäftigung mit der Erkrankung
Warum es bei HirntumorpatientInnen so oft vorkommt, dass Jahre nach der Erstdiagnose Probleme auftreten, kann ganz unterschiedliche Gründe haben. Manche brauchen lange, bis sie um Hilfe bitten. Bei anderen treten die Beeinträchtigungen erst später auf oder sie werden durch neue Anforderungen erst später
sichtbar. Oft sei es gerade das Jugendalter, das ehemalige PatientInnen fragen lässt: „Wie war das damals,
als ich als Vorschulkind erkrankt bin?“, schildert AKH-Psychologin Leiss.
Zentrale Aufgabe sei es in jedem Fall, „genau hinzuschauen, ohne zu stigmatisieren“.
Barbara Schwarcz, freie Journalistin in Wien
Dieser Bericht stammt aus der Zeitschrift „Sonne“ 3/2013 der ÖKKHmit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Österreichischen Kinder-Krebs-Hilfe.
Beide Bilder stammen aus dem Bilderbuch von Anna Sommer „Eugen und der kleine Wicht“
(copyright in den Bildern vermerkt)
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I-JOURNAL Mai 2015
Ehrenamtliche MitarbeiterInnen gesucht!
Die Kinder-Krebs-Hilfe für Wien, Niederösterreich und Burgenland sucht
ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die onkologisch
erkrankte Kinder und Jugendliche während oder nach Abschluss der
Therapie regelmäßig beim Lernen unterstützen.
Voraussetzungen:
Ø Freude an der pädagogischen Arbeit mit Kindern
Ø Flexibilität, Geduld und Einfühlungsvermögen
Ø Bereitschaft zur Inanspruchnahme von Coaching und Supervision
Ø Zeit für regelmäßige Lernhilfe über einen längeren Zeitraum
Bewerbungen mit Lebenslauf ab sofort an:
Kinder-Krebs-Hilfe für Wien, NÖ und Bgld.
Elterninitiative St. Anna Kinderspital/AKH Wien
Kinderspitalgasse 7
1090 Wien
oder E-Mail an: [email protected]
Nähere Informationen auf www.elterninitiative.at
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I-JOURNAL Mai 2015
Gemeinsam leben, lernen, lachen ...
Die 2a Integrationsklasse zeigt, wie sie das macht!
Hallo!
Wir sind die 2a Integrationsklasse! Unsere Schule ist die PVS Breitenseer Straße 31-33 im 14. Bezirk, auch
Josefinum genannt. Unsere Klasse besteht aus 24 Kindern, 2 Lehrerinnen, dem Drachen Konstantin und
dem lustigen Vogel Fipsi.
Was uns zu einer Integrationsklasse macht, fragst du dich sicher! Unsere Klasse zeichnet sich durch Vielfalt, Gemeinsamkeiten und auch durch Unterschiede aus. Wir finden, das ist eine tolle Mischung. In unserer
Klasse hat jedes Kind unterschiedliche Talente. Wir lernen mit unseren Stärken und Schwächen richtig
umzugehen, aber auch jene der anderen wahrzunehmen.
In unserer Klasse wachsen wir Kinder mit und ohne besonderen Förderbedarf gemeinsam auf. Wir unterstützen uns gegenseitig und lernen auch unsere Unterschiede zu achten und zu akzeptieren.
Unsere beiden Lehrerinnen schaffen es, den Unterricht so zu gestalten, dass wir gemeinsam lernen können. Zu zweit ist es ihnen möglich, auf individuelle Bedürfnisse eingehen zu können und dort zu fördern und
zu fordern, wo es gerade notwendig ist. Unterschiede stellen bei uns kein Problem dar, sondern werden als
Chance gesehen. Dabei steht der Wettbewerb nicht im Vordergrund, was aber nicht heißt, dass wir nicht
auch um die Wette laufen können1.
Unsere Lehrerinnen sind ein eingespieltes Team und sie sind immer zu zweit für uns da. Dadurch ermöglichen sie uns das höchst mögliche Maß an Chancengleichheit und Förderung. Lerninhalte werden für uns
so aufbereitet, dass wir alle, wie auch immer unser unterschiedlicher Lernstand ist, unsere individuellen
Ziele erreichen können.
1
vgl. Krämer-Kilic 2009
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I-JOURNAL Mai 2015
Wir sind immer alle gemeinsam in der Klasse. Wir nützen aber auch unseren Nebenraum, damit ein paar Kinder manchmal intensiver an etwas üben können. Das sind aber
nicht immer die selben, das kommt eben darauf an, wer gerade in einem bestimmten
Bereich noch mehr Übung braucht. Auch hier ist es natürlich wieder toll, dass wir zwei
Lehrerinnen haben, sonst wäre das nicht möglich.
Der Unterricht ist sehr abwechslungsreich. Wie unser Schultag aussieht, besprechen
wir immer in der Früh. Unsere Lehrerinnen hängen uns den Stundeplan an die Tafel. Er
ist für alle Kinder eine tolle Orientierung.
Unser Schultag ist breit gefächert gestaltet:
Lehrerzentrierter Unterricht: Manchmal ist es wichtig ein Thema gemeinsam zu erarbeiten und es von unseren Lehrerinnen genau erklärt zu bekommen.
Freie Lernphase: Die gefällt uns besonders gut! Hier können wir selbstständig und eigenverantwortlich in
unterschiedlichen Sozialformen lernen. Oder wir lernen in Form von Stationenbetrieben, Projekttagen, Freiarbeit, ... da ist immer für jeden etwas dabei!
Aber auch außerhalb der Schule erleben wir viel. Gerne besuchen wir Museen und Ausstellungen oder
nehmen an kreativen Workshops teil, wir besuchen regelmäßig die Bücherei, gehen ins Theater, auf den
Ostermarkt und Weihnachtsmarkt. Im Winter gehen wir oft Eislaufen. Je nach Themengebiet besuchen wir
z.B. auch einen Bauernhof, den Zahnarzt, die Feuerwehr ...
Wie du siehst, bei uns tut sich wirklich viel. Wir lernen viel, wir lachen viel, wir unternehmen viel, wir lernen
viel voneinander, wir erleben viel, wir unterstützen uns viel, wir sind vielfältig, wir sind ...
... VIELFALT.
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I-JOURNAL Mai 2015
Diese Vielfalt sehen wir Lehrerinnen als Herausforderung, die Klasse zu begleiten, aber dies mit Orientierung, Offenheit, Klarheit und Struktur und der Option auch Fehler machen zu dürfen.
Natürlich setzen wir uns als Pädagoginnen einer Integrationsklasse auch mit dem Thema Inklusion auseinander. Mit einem nochmaligen Blick auf die Vielfalt der Pädagogik hinterfragen wir, ob Inklusion uns alle ein
Stück weiter führen könnte zu einer noch gerechteren, ja sogar idealen und perfekten Schule.
Wenn im österreichischen Schulwesen Inklusion mit angemessenem, nichthierarchischem und damit demokratischem Eingehen auf die vorhandene Heterogenität der SchülerInnen beantwortet wird2, dann wäre
dies durchaus positiv, aber dieser Aspekt wäre auch mit Integration bewältigbar. Aber so weit sind wir ja
schon, dass es müßig erscheint, dieses Begriffspaar zu unterscheiden3.
Gehen wir noch einen Schritt weiter: Eine moderne Gesellschaft, die liberal, multikulturell und individuell
geprägt ist, sollte logischerweise auf eine Vielfalt von pädagogischen Problemen auch mit einer Vielfalt
an Lösungsmöglichkeiten reagieren. Unterschiedliche Ansätze und Strategien sollten ihren Platz finden.
Jegliche wirksame Betreuungsform hat somit ihre Berechtigung und diese auch beizubehalten, wäre aus
unserem Blickwinkel gesehen, wünschenswert.
Für unsere Situation bedeutet dies, gelebte Integration mit zwei Lehrerinnen, die Kinder mit und ohne Beeinträchtigung gemeinsam unterrichten und somit einen Ort schaffen, an dem Anderssein täglich erfahrbar
wird. Der Herausforderung, eine hohe Qualität des Unterrichts zu gewährleisten, stellen wir uns täglich.
Dies gelingt dadurch, dass zwei Personen (Volksschul- und Sonderschullehrerin) ständig zusammenarbeiten und auch auf die Unterstützung weiterer Fachkräfte und die Vernetzung mit den zuständigen Institutionen zählen können.
Integration und Inklusion, aber auch Klein- und Spezialklassen sind wichtig. Es bringt nichts, Unterschiede
von außen einzuebnen4. Nicht jede Unterscheidung ist bereits eine Diskriminierung5.
Natürlich ist eine Weiterentwicklung wichtig und es gilt Ziele anzustreben, auch wenn sie hoch gesteckt sein
mögen. Allerdings muss man sich im Klaren darüber sein, dass das Erreichen nie zu einem Muss werden
darf. Wenn das Ideal zum Zwang, das Soll zum Muss (wie es Bonelli ausdrückt)6 wird, setzt das Kinder,
Eltern und Lehrer gleichermaßen unter einen unnötigen Druck.
Wir
nen
ren
Nur
erleben täglich aufs Neue in unserem Unterricht, dass das gemeinsame Leben und Lerin der Integrationsklasse für alle Kinder eine Bereicherung darstellt. Die Kinder können in ihFähigkeiten und Fertigkeiten wachsen und bekommen die Unterstützung, die sie brauchen.
im Team ist es uns möglich, die Kinder in ihrer Vielfalt entsprechend zu fördern und zu fordern.
Mag. Kathrin Klaghofer, B.Ed.
Volksschullehrerin
Sprachheillehrerin
Mag. Petra Pirker-Müller
Sonderschullehrerin
Literaturverzeichnis
Boban, Ines; Hinz, Andreas (2003): Index für Inklusion. Martin-Luther-Universität: Halle-Wittenberg.
Bonelli, Raphael M. (2014): Perfektionismus. München: Pattloch-Verlag.
Corazza, Rupert (2014): Leitfaden zur Inklusion. Wien.
Liessmann, Konrad Paul (2014): Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Ulm: Zsolnay.
Krämer-Kilic, Inge (2009): Zwei Pädagogen unterrichten gemeinsam (Teamteaching) - Aspekte zur Umsetzung im gemeinsamen Unterricht
(Inklusion). Abrufbar unter: http://bidok.uibk.ac.at/library/kraemerkilic-teamteaching.html (28. 2. 2015)
2
3
4
5
6
vgl. Boban und Hinz 2003, S. 3
vgl. Corazza 2014, S. 4
vgl. Liessmann 2014, S. 35
Liessmann 2014, zit.n. Kuhlmann, S. 35
vgl. Bonelli 2014, S. 35
59
I-JOURNAL Mai 2015
Gegenüberstellung von oft verwendeten Begriffen
zum Thema „Behinderung“
Die Begriffe, die man sich von was macht, sind sehr wichtig.
Sie sind die Griffe, mit denen man die Dinge bewegen kann.
Bertolt Brecht
Bitte vermeiden:
Bitte besser so formulieren1:
an den Rollstuhl gefesselt
Person XY sitzt, benutzt oder fährt Rollstuhl, ist
auf den Rollstuhl angewiesen oder im Rollstuhl
unterwegs
Person XY leidet an...
Person X hat die Behinderung ABC…
lebt mit Krankheit ABC
der/die Behinderte, die Behinderten
Mensch mit Behinderung oder behinderter Mensch
Handicap / gehandicapt
Behinderung / behindert
invalide, schwerbeschädigt
behindert
gesund / normal vs. krank
nichtbehindert vs. behindert
das Leben / die Behinderung „meistern“
mit der Behinderung leben
trotz seiner / ihrer Behinderung
mit seiner/ihrer Behinderung
aufgrund seiner / ihrer Behinderung
mit seiner/ihrer Behinderung
taubstumm, Taubstumme/r, Gebärdendolmetscher, taub, gehörlos/Gehörlose, schwerhörig/SchwerhöZeichensprache
rige, hörgeschädigt, hörbehindert, Gebärdensprache, Gebärdensprachdolmetscher…
„Sorgenkind“, „Schützling“, „Du“ statt „Sie“
Nehmen Sie die Person ernst (sowohl Kinder als
auch Erwachsene)
geistige Behinderung / geistig behindert
Mensch mit Lernschwierigkeiten
Mongoloismus / mongoloid
Mensch mit Trisomie 21 / Down-Syndrom
Pflegefall
Mensch mit Assistenzbedarf
Zwerg, Liliputaner
kleinwüchsiger Mensch
noch hinderliche Formulierungen
Stattdessen kann einfach gesagt werden2
an den Rollstuhl gefesselt
„Einen Rollstuhl benutzen“ oder „auf den Gebrauch
eines Rollstuhls angewiesen sein“
„eine Behinderung hat“ oder „mit einer Behinderung lebt“
hat Cerebralparese
hat einen Hydrocephalus
Menschen mit Lernschwierigkeiten
an einer Behinderung „leiden“
Spastiker
Wasserkopf
schwachsinnig, debil, geistig behindert
1 Andi Weiland: „Tabelle: Wie man gängige Sätze anders formulieren kann.“
unter: http://leidmedien.de/wp-content/uploads/2012/07/Leidfaden.pdf, (abgerufen am 16.03.2015)
2 B.Firlinger, M. Braunreiter, B. Aubrecht: „MAINual – Handbuch Barrierefreie Öffentlichkeit“
unter: https://www.bizeps.or.at/downloads/MAINual.pdf, (abgerufen am 16.03.2015)
Dipl. Päd. Markus Rilk
Sonderschullehrer / Pädagogischer Berater
ZIS 3, Petrusgasse 10
60
I-JOURNAL Mai 2015
Diversität – Inklusion – Gerechtigkeit
Dissertation „Diversity Management in Schulen“
Beruflicher Ausgangspunkt für die Dissertation „Diversity Management in Schulen“ war unsere Ausbildung
und Tätigkeit als Sonderpädagog/innen in Wien. Unsere Beschäftigung in unterschiedlichen (sonder)pädagogischen Kontexten bringt eine ständige Auseinandersetzung mit der Vielfalt von Schüler/innen sowie den
damit verbundenen Chancen und Herausforderungen mit sich. Vielfalt zeigt sich dabei nie neutral. Während
sich manche Eigenschaften als förderlich zeigen, erweisen sich andere Identitätsmerkmale als hinderlich
für den Erfolg in der Schule. Einzelne Benachteiligungen intendiert das Bildungssystem insbesondere durch
die Zuweisung von Personalressourcen auszugleichen (z.B. erhöhte Personalintensität im sonderpädagogischen Bereich, Lehrer/innen für muttersprachlichen Unterricht, ...), andere hingegen bleiben unberührt
bzw. werden nicht erkannt oder beachtet. Diskriminierung und auf der anderen Seite Privilegierung stehen
unserer Erfahrung nach auf der schulischen Tagesordnung und bleiben oft, insbesondere aus Systemperspektive, unerkannt und unbewusst. Daraus ergaben sich folgende grundlegende Fragestellungen:
•
Wie kann ein Schulsystem, bzw. eine einzelne Schule, mögliche Benachteiligungen aufgrund bestimmter Identitätsmerkmale erkennen und ausgleichen, insbesondere da Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten begrenzt sind?
•
Schulische Gleichbehandlung erweist sich im Angesicht der Vielfalt und Unterschiedlichkeit von Identitäten und den damit verbundenen besonderen Bedürfnissen als ungerecht. Wie kann folglich ausgleichende Gerechtigkeit in der Schule verstanden werden und welche Gerechtigkeitskriterien können
Anwendung finden, um nicht weiterer Beliebigkeit Vorschub zu leisten?
•
Personelle, räumliche und zeitliche Ressourcen sind auch im schulischen Kontext begrenzt. Das Beste
für jeden Schüler/jede Schülerin zu wollen, bleibt als berufsethisches Ideal immer aufrecht. Nichtsdestotrotz erfordert der schulische Alltag permanent Entscheidungen unter Knappheit, die gleichzeitig
pädagogische Maßnahmen ermöglichen und damit auch verunmöglichen. Wie kann also die Aufmerksamkeit wirksam und begründbar darauf gerichtet werden, wo der größte Handlungsbedarf besteht?
Diversität und Gerechtigkeit
Vielfalt gewinnt stetig an Komplexität und ist das Ergebnis gesellschaftlichen Wandels. Vielfalt verändert
sich je nachdem, ob neue Merkmale und Lebensweisen hinzutreten bzw. mit vertrauten neu kombiniert
und wahrgenommen werden oder sich gesellschaftliche Perspektiven ändern. In jedem Fall bleibt Vielfalt nur über Differenzen bestimmbar. Differenz wurde somit als Ergebnis von gesellschaftlichen Praxen,
eingebettet in soziale Bezüge, aufgefasst. Der Gesellschaft und der Sozialisation wurde eine wesentliche
Rolle in deren Herstellung zugeschrieben. Entlang von Kategorien wurden Differenzlinien und Grunddualismen identifiziert. Unter diesem Aspekt erwiesen sich Differenzen nicht als neutral, sondern, orientiert
an Normalitätsvorstellungen, Hierarchien und Machtverhältnissen, als Ursache für Diskriminierungen bzw.
Privilegierungen. Benachteiligungen wurden dabei sowohl auf die Gesellschaft im Allgemeinen als auch im
Besonderen auf den schulischen Raum bezogen. Differenz ist somit vielschichtig aufzufassen. Die Lösung
besteht nicht darin, Differenzen zu negieren, sondern Bewusstsein für daraus resultierende Effekte zu entwickeln, wenngleich auch dieses Vorgehen Gefahren, wie z. B. jene der Re-Stereotypisierung birgt. Diese
sozialen Wirkmechanismen und damit die Sozialisationsinstanz Schule sind für die Identitätsentwicklung
bedeutsam.
61
I-JOURNAL Mai 2015
Der Zusammenhang der Vermittlung zwischen Sozialisation und Identität wurde mit dem Habituskonzept
erläutert. Unter Einbezug leiblicher Wirkungen zeigt dieses, wie einflussreich der Sozialisationsprozess
im schulischen Kontext im Hinblick auf die Identitätsentwicklung ist. Der Sozialisationsraum Schule als
komplexes soziales Erfahrungsfeld nimmt Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung von Schüler/innen.
Die Schulkultur kann als prägender Faktor identifiziert und Auswirkungen auf die Identität von Schüler/
innen abgeleitet werden. In schulischen Sozialisationsprozessen führen Differenzlinien zu benachteiligenden Effekten und damit zu institutionellen Diskriminierungen und werfen folglich Fragen der Gerechtigkeit
auf. Sowohl bei der Beschäftigung mit Vielfalt und Differenz als auch mit Sozialisation zeigten sich Anerkennung und Gerechtigkeit (u. a. im Sinne von Gleichstellung) als wesentliche Momente im Umgang mit
Vielfalt. Offen bleibt nach dieser Auseinandersetzung, woran sich Schule in ihren Handlungen und Praktiken orientieren soll, wie Gerechtigkeit in der Bildungsinstitution Schule konkret verstanden werden kann.
Gerechtigkeit in Schule ist auf mehreren Ebenen zu diskutieren, nämlich auf der institutionellen Ebene, auf
der individuellen Kompetenzebene sowie auf der Ebene der erlebten Anerkennung in sozialen Bezügen.
Die Frage nach Gerechtigkeit in der Institution Schule lässt sich mit Prinzipien beantworten, welche die
Verteilung von Grundgütern regeln. Gerechtigkeit wird in diesem Verständnis u. a. dann angestrebt, wenn
die Verbesserung der Aussichten der am schlechtesten gestellten Gruppe im Zentrum steht. Im Hinblick
auf Identitätsentwicklung und Sozialisation wurde als ein zentrales Grundgut im schulischen Kontext die
Selbstachtung bestimmt. Damit wurde zugleich auf die Limitationen eines institutionalen Gerechtigkeitsverständnisses verwiesen. Für die Bildungsinstitution Schule ist eine Erweiterung des institutionalen Gerechtigkeitsverständnisses um den Aspekt der Teilhabegerechtigkeit hinsichtlich der Verwirklichung von Chancengerechtigkeit notwendig. Das Verfolgen von Prinzipien der gerechten Güterverteilung stellt alleine noch
nicht sicher, dass Schüler/innen ein bestimmtes Kompetenzniveau erreichen, welches die gleichwertige
gesellschaftliche Partizipation garantiert. Ebenso finden in diesen Prinzipien weder Gemeinschaftsaspekte
noch persönliche Haltungen Beachtung. Anerkennungsverhältnisse, in der Schule besonders in Form von
sozialer Wertschätzung, wurden als Voraussetzung für Bildungsprozesse herausgearbeitet und sind damit
ebenso Gegenstand von Gerechtigkeit.
Diversity Management in Schulen – das DiMiS-Verfahren
Die Befragung von Diversity Management Theorien auf ihre Übertragbarkeit für pädagogische Kontexte
brachte zahlreiche Ansatzpunkte für die Entwicklung eines DiMiS-Verfahrens. Der Vergleich unterschiedlicher Diversity Modelle ermöglichte die Formulierung von strukturierten Entscheidungsgrundlagen für die
Festlegung schulisch relevanter Dimensionen und damit für die Entwicklung des Verfahrens.
Menschliche Vielfalt fassen zu wollen erschließt sich in einer schier unendlichen Zahl von Möglichkeiten.
Daher galt es für die Konzeption des DiMiS-Verfahrens Entscheidungen zu treffen, welchen Formen von
Vielfalt besondere Relevanz in schulischen Kontexten zuzuschreiben ist. Von einem undifferenziert-euphemistischen Verständnis von Vielfalt wurde Abstand genommen. Im Gewahrsein aller damit verbundenen
Gefahren, wurden in der Auseinandersetzung mit Diversity-Modellen Kategorien für eine schulische Adaption bestimmt, um schulisch besonders relevante Aspekte von Vielfalt strukturiert für Schulentwicklung
in den Blick nehmen zu können. Das DiMiS-Modell umfasst die Kerndimensionen Ethnie/Sprachenvielfalt,
soziale Herkunft, Gender (Sexuelle Orientierung), Religion und Weltanschauung sowie psychische/physische Fähigkeiten. Als allgemeine (nicht dimensionenspezifische) Indikatoren wurden die Schulkultur und
Selbstwirksamkeitserwartung in das DiMiS-Verfahren aufgenommen.
Die gerechtigkeitstheoretisch aufgeworfenen Fragen und Problemstellungen, fanden ihre Antworten in antidiskriminierenden und potenzialorientierten sowie an Chancengerechtigkeit orientierten Konzepten des Diversity Managements. Risiken wie Essentialismus und Re-Stereotypisierung wurden als beständige Gefahren identifiziert. Höher erscheinen aber die Chancen, die mit der Einführung eines Diversity Managements
verbunden werden. Dazu zählen für pädagogische Kontexte beispielsweise das ganzheitliche Verständnis
des Ansatzes, die Vermeidung von Diskriminierung und die Potenzialorientierung. Als besondere Chance
für Schulen wurde die Ausrichtung auf Strategie und Organisationsentwicklung identifiziert.
62
I-JOURNAL Mai 2015
Anknüpfungspunkte aus dem bildungswissenschaftlichen Diskurs wurden im Diversity-Learning bzw. in der
Diversity-Pädagogik identifiziert. Diese Ansätze beziehen pädagogische Aspekte bzw. das schulische Feld
differenziert mit ein. Haltungen des Schulteams, Interaktions- und Kooperationsprozesse unter Schüler/
innen, curriculare Verankerungen und insbesondere die Schule als Organisation finden darin Betrachtung.
Daran anknüpfend wurde Schule als lernende Organisation beschrieben. Dieser Ansatz verweist ebenso
auf die Bedeutung der Beachtung der Gesamtheit der Prozesse einer Institution. Organisationales Lernen
fokussiert Wissen, Werte und Handlungsfähigkeit einer Organisation unter Einbeziehung aller Akteursgruppen. Darüber hinaus erwiesen sich für eine diversitätsorientierte Entwicklung der Schule als lernende Organisation vor allem jene Ansätze der Schulentwicklung als bedeutsam, die Datenerhebungen und Datenrückmeldungen als Qualitätsmerkmale definieren. Diese Entscheidung wurde deshalb getroffen, weil durch
diese beiden Qualitätsmerkmale ein objektivierter und strukturierter Zugang zu Komplexität von Diversität
in Schulen möglich schien.
Als Bausteine des DiMiS-Verfahrens wurden eine Online-Erhebung und eine Diversity Scorecard entwickelt.
Die Online-Erhebung gibt durch Rückmeldung quantitativer Daten zu den dimensionsspezifischen Umwelteinschätzungen (Diversity-Environment-Index: Wie nehme ich mein schulisches Umfeld dimensionsspezifisch als Schüler/in wahr?) und Haltungen (Diversity-Attitude-Index: Welche dimensionsspezifischen
Haltungen habe ich als Schüler/in?) sowie allgemein zu Schulkultur und Selbstwirksamkeitserwartung von
Schüler/innen Hinweise auf subjektiv empfundene Diskriminierung bzw. Anerkennung. Eine besondere Herausforderung bestand darin, die theoretischen Grundlagen der einzelnen Dimensionen in Einklang mit der
Konzeption des Fragebogens zur Online-Erhebung zu bringen. Als wesentliches Qualitätskriterium bestätigte sich die Sicherstellung sprachlicher Verständlichkeit für die Schüler/innen, da damit das Anliegen einer
möglichst niederschwelligen Partizipation an der Online-Erhebung verknüpft war.
Das DiMiS-Verfahren intendiert eine evidenzbasierte Grundlage für die Formulierung gemeinsamer Ziele.
Dies sollte konzeptiv über eine Befragung von Schüler/innen der 4. Klassen als Bild für die gesamte Schule
realisiert werden. Über eine niederschwellige, schnell les- und interpretierbare Auswertung dieser Daten
sollte es dem Schulteam ermöglicht werden, einen ganzheitlichen Diversity-Blick auf die Schule zu richten,
mit dem Ziel, einen Ausgangspunkt für fokussierte Schulentwicklungsprozesse und in weiterer Folge für
deren Evaluation zu schaffen.
Forschungsergebnisse
Da die Handlungsfähigkeit der Schule erhöht werden soll, wurden Berufsfeldbezogenheit und damit Praktikabilität als Qualitätskriterien formuliert, um sicherzustellen, dass das DiMiS-Verfahren möglichst breite
Akzeptanz und damit Einsatz findet. Neben der wissenschaftsbasierten Entwicklung des DiMiS-Verfahrens
standen daher im Rahmen der Forschungsfrage Nützlichkeit, Anwendbarkeit und Übertragbarkeit des Verfahrens im Fokus. Diese Erfolgsparameter wurden im Rahmen der Dissertation mit Hilfe von Ergebnissen
der Schulentwicklungsforschung definiert und im Kontext einer Evaluationsstudie durchgeführt als MultipleCase-Studie mit 2 Fällen (zwei Wiener APS-Schulstandorte der Sekundarstufe 1) durchgeführt.
Die Nützlichkeit des DiMiS-Verfahrens wurde als gegeben definiert, wenn professionsorientierte Bewusstseinsbildung der Praktiker/innen (Lehrer/innen, Schulleitung) sowohl auf individueller als auch auf organisationaler Ebene (vgl. Finke 2005, S. 8 f, vgl. Hartmann & Judy 2005, S. 60 f, vgl. Rosken 2009, S. 59)
befördert sowie die Problemlösungs- und Handlungskompetenz (vgl. Probst & Büchel 1994, S. 17 und
25) erweitert wird. Außerdem wird Nützlichkeit mit einer Sensibilisierung für die Dimensionen von Diversität und damit auch mit der Erhöhung eines reflexiven Umgangs verbunden (vgl. Vedder 2006, S. 12).
Die Forschungsergebnisse zeigen, dass reflexive Auseinandersetzung im Zuge der Erprobung des DiMiSVerfahrens breit erfolgt ist. Diese wird in jedem Fall auf das eigene pädagogische Wirken bezogen. Professionsorientierte Bewusstseinsbildung ist auf individueller Ebene über beide Fälle hinweg festzustellen.
63
I-JOURNAL Mai 2015
In beiden Fällen wird die Nützlichkeit des DiMiS-Verfahrens mit dem Zugang zu sonst wenig erfassbaren
Informationen über die Schüler/innen verbunden. Damit ist mit dem DiMiS-Verfahren eine Grundlage für die
Erhöhung der Problemlösungs- und Handlungskompetenz der Praktiker/innen geschaffen. Nützlichkeit ist
damit jedenfalls auf der individuellen Ebene, d. h. für das konkrete pädagogische Wirkungsfeld gegeben.
Für Schulentwicklung ist die Nützlichkeit aus Schulleitungssicht ebenfalls gegeben.
Das DiMiS-Verfahren ist auch für die Formulierung spezifischer, messbarer, relevanter Ziele für einen bestimmten Zeitraum (vgl. Stuber 2009, S. 119 f) konzipiert. Die durch das DiMiS-Verfahren erhobenen Ergebnisse werden als nützlich erfahren. Nützlichkeit bezieht sich nach Aussage der befragten Lehrer/innen
hauptsächlich auf eine ergebnisorientierte Reflexion hinsichtlich möglicher Ursachen. Der Nützlichkeitsaspekt für die Formulierung von Zielen im Rahmen der Erstellung einer Diversity Scorecard wird nicht mit dem
DiMiS-Verfahren verbunden.
In seiner inhaltlichen Gesamtkonzeption löste die Erprobung des DiMiS-Verfahrens breite Akzeptanz aus.
Die Auswahl der Dimensionen wird in beiden Fällen mehrheitlich gut angenommen und positiv konnotiert, da
sowohl allgemeine als auch ergebnisorientierte Reflexionen mit unterschiedlichen Fokussierungen erfolgt
sind. Nützlichkeit wird als intersektionale Bewusstseinsbildung in beiden Fällen realisiert. Die pädagogische
Nützlichkeit der Online-Erhebung im Bereich Schulkultur bestätigt sich über eine sehr hohe Akzeptanz der
befragten Lehrer/innen und Schulleitungen. Dies ist für den Bereich Selbstwirksamkeitserwartung nicht
festzustellen. Ein möglicher Schluss ist, dass die Selbstwirksamkeitserwartung in der Praxis aufgrund der
geringen Bekanntheit des Konstrukts und der Formulierungen nur wenig angenommen wird. Außerdem ist
zu beachten, dass sich eine erfolgreiche Anwendung sehr stark von einer hohen sprachlichen und reflexiven Kompetenz der Schüler/innen abhängig zeigt. Auch für einige Items der Dimensionen ist entsprechende sprachliche Kompetenz notwendig, was je nach Bezugsgruppe besonders zu berücksichtigen wäre.
Vorausgesetzt wurde, dass die Anwendbarkeit des DiMiS-Verfahrens dann gegeben ist, wenn Datengewinnung und Datenrückmeldungen unmittelbar, übersichtlich sowie mit möglichst geringen statistischen Vorkenntnissen möglich sind und damit den Anforderungen der Schulwirklichkeit entsprechen (vgl. Altrichter
2010, S. 238 f). Die Online-Erhebung des DiMiS-Verfahrens erfährt aufgrund der einfachen Implementierung und der unmittelbaren und schnellen Datenrückmeldung über beide Fälle hinweg Akzeptanz und wird
sowohl von Lehrer/innen als auch von den Schulleiter/innen als praxisorientiert eingeschätzt. Die eigenständige Durchführung der Online-Erhebung ist in beiden Fällen vorstellbar. Eine eigenständige Interpretation der Ergebnisse ist durch die Praktiker/innen grundsätzlich gegeben. Die Interpretation von umkodierten Items führte in beiden Fällen punktuell zu zusätzlichem Erklärungsbedarf. Die Balkendiagramme und
das gewählte Farbschema wurden positiv bewertet. Die vorgeschlagene Diversity Scorecard hingegen löst
kaum Resonanz aus. Eine eigenständige Anwendung war in den Interviews nur mit erheblichen Einschränkungen vorstellbar und scheint damit den Anforderungen der Schulwirklichkeit wenig zu entsprechen. Die
Anwendbarkeit ist für die Diversity Scorecard damit nur sehr eingeschränkt anzunehmen. Weiters hat sich
bestätigt, dass eine pädagogische Vorbereitung und Begleitung der Schüler/innen bei der Online-Erhebung
zur gelingenden Durchführung beiträgt.
Die Übertragbarkeit des DiMiS-Verfahrens ist dann gegeben, wenn Nützlichkeit und Anwendbarkeit für
Folgeperioden am Schulstandort bzw. für weitere Schulstandorte anzunehmen ist. Diese bestätigte sich
für die Online-Erhebung. Als hinderliche verfahrensunabhängige Faktoren wurden hauptsächlich mangelnde Zeitressourcen und Überlastung im Schulalltag angegeben. Außerdem wurden externe Unterstützung
bzw. Begleitung, erinnernde Impulse sowie die thematische Offenheit der Schulleiter/innen in beiden Fällen
als Voraussetzungen genannt. Primär wurde als Form weiterer Anwendung in beiden Fällen eine klassenbezogene Durchführung als zyklische Evaluierung von Entwicklungen angegeben. Fokussiert wurde
vorwiegend das eigene pädagogische Wirkungsfeld. Insgesamt konzentrierten sich die Angaben zu künftigen Einsatzmöglichkeiten eher auf eine klassenbezogene Evaluierung und weniger auf den Einsatz als
Schulentwicklungstool. Als Voraussetzung wurden die Koordination durch eine spezifisch verantwortliche
64
I-JOURNAL Mai 2015
Person sowie externe Begleitung thematisiert. Daher ist anzunehmen, dass die Übertragbarkeit des DiMiSVerfahrens inklusive Diversity Scorecard im Bereich der Schulentwicklung durch externe Begleitung bzw.
Koordination des Prozesses erhöht werden kann.
Resumée
Die mit der Entwicklung des DiMiS-Verfahrens verbundenen Zielsetzungen konnten insofern realisiert werden, als mit dem DiMiS-Verfahren die Erfassung diversitätsrelevanter Einschätzungen und Haltungen von
Schüler/innen in einer Gesamtkonzeption ermöglicht wird. Mit dem DiMiS-Verfahren war der Anspruch verbunden, jene pädagogischen Wirkungsfelder gezielt zu fokussieren, die in dieser Form nicht Gegenstand
von bestehenden Rückmeldeverfahren sind. Diese Intention konnte in weiten Teilen erreicht werden. Das
DiMiS-Verfahren hat zahlreiche Wirkungen über das Forschungsvorhaben hinaus angestoßen. Diese beziehen sich auf eine hohe Zugänglichkeit der Lehrer/innen für einen individuellen, d. h. klassenbezogenen
Gebrauch. Diese Form des Einsatzes scheint mit einem höheren Mehrwert verbunden zu sein. Persönliche
Ressourcen und Haltungen werden in dieser Anwendung gezielter angesprochen und reflektiert, als dies
bei einer Übertragung einer allgemeinen Interpretation statistischer Ergebnisse einer gesammelten Erhebung für alle 4. Klassen der Fall ist. Die individuelle klassenbezogene Anwendung steht mit dem eigenen
Wirkungsfeld in direkter Verbindung und ermöglicht damit einen hohen Grad an Autonomie bezüglich des
Einsatzes.
Der Wunsch nach persönlicher Rückmeldung oder die individuelle Verwendung zur Evaluierung von Entwicklungsschritten stand im Vordergrund. Der systemischen Komplexität und Langfristigkeit von Schulentwicklung steht das Bedürfnis nach konkreten, schnell verfügbaren Ergebnissen und pädagogischen Handlungsoptionen gegenüber. Dieses Bedürfnis erscheint durch erlebte Schnelllebigkeit und multifaktorielle
Anforderungen des schulischen Alltags erklärbar. Die Online-Erhebung des DiMiS-Verfahrens entspricht
diesem Bedürfnis.
Da das DiMiS-Verfahren in der vorliegenden Form lediglich die Schüler/innen und deren Einschätzungen
adressiert, wäre für ein ganzheitlicheres organisationales Diversity-Bild von Schule der Einbezug weiterer Akteursgruppen (z. B. insbesondere die Umwelteinschätzungen und Haltungen von Lehrer/innen)
bedeutsam. Aufgrund der Mehrdimensionalität von Diversität sind sowohl für die individuelle als auch für
die organisationale pädagogische Maßnahmenplanung Unterstützungsangebote notwendig, um nachhaltig
Veränderungen zu initiieren. Sowohl auf Systemebene als auch auf der individuellen pädagogischen Handlungsebene sind Professionalisierungsprozesse dafür ein konstitutiver Baustein. Dies ist umso mehr von
Bedeutung als eine pädagogische Interpretation der Ergebnisse der Online-Erhebung nur in enger Auseinandersetzung mit dem jeweils spezifischen Kontext erfolgen kann und dazu entsprechende Kompetenzen
erforderlich sind. Diese können einerseits am Schulstandort vorhanden sein oder durch externe Beratung
einfließen und in weiterer Folge transferiert werden. Mit der Konzeption des DiMiS-Verfahrens wurde ein
Anstoß zur Initiierung und Umsetzung von Diversity Management in Schulen gegeben. Der weitere Erfolg
wird auch davon abhängen, inwieweit es gelingen wird, konkrete pädagogische Perspektiven für einen potenzialorientierten Umgang mit Diversität in Schulen zu entwickeln.
Auch an dieser Stelle möchten wir den Schulleiterinnen und -leitern, den Lehrer/innen-Teams sowie den
Schüler/innen jener beiden Schulstandorte, an denen wir die Fallstudien durchführen konnten, ganz herzlich danken.
65
I-JOURNAL Mai 2015
Literatur
Altrichter, H. (2010): Handbuch Neue Systemsteuerung im Schulsystem. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Finke, M. (2005). Diversity Management: Förderung und Nutzung personeller Vielfalt in Unternehmen.
München und Mering: Rainer Hampp Verlag.
Hartmann, G. & Judy, M. (2005): Unterschiede machen. Managing Gender & Diversity in Organisationen.
Wien: Ed. Volkshochschule.
Probst, G. B. J. & Büchel, B. S. T. (1994): Organisationales Lernen. Wettbewerbsvorteil der Zukunft. Wiesbaden: Gabler.
Rosken, A. (2009): Diversity und Profession. Eine biographisch-narrative Untersuchung im Kontext der
Bildungssoziologie. Wiesbaden: VS Research.
Stuber, M. (20092): Diversity. Das Potenzial-Prinzip. Ressourcen aktivieren - Zusammenarbeit gestalten.
Köln: Luchterhand.
Vedder, G. (2006): Die historische Entwicklung von Diversity Management in den USA und in Deutschland.
In: Krell, G. & Wächter, H. (Hg.) (2006): Diversity Management – Impulse aus der Personalforschung. München und Mering: Rainer Hampp Verlag.
Autor/innen:
Prof. Mag.a Dr.in Claudia Kaluza, BEd
Hochschullehrperson
Pädagogische Hochschule Wien
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Prof. Mag. Dr. Bernhard Schimek, BEd
Hochschullehrperson
Pädagogische Hochschule Wien
I-JOURNAL Mai 2015
Inklusion: Stolpersteine und Brücken auf dem Weg zu einer
gemeinsamen Haltung
im Zuge eines EU-Comenius-Regio-Projekts:
SCHULE INKLUSIVE „AUGENMERKKINDER“1
Die aktive Beziehungsarbeit der Pädagoginnen und Pädagogen als zentraler Baustein für eine
erfolgreiche Lern- und Entwicklungsbegleitung von „Augenmerkkindern“ in einer inklusiven Schule
Eine Erzählung aus der Sicht von Projektteilnehmerinnen aus dem Rudolf Ekstein Zentrum
Senatsrätin Gabriele Münzberg aus Berlin Pankow strebte gemeinsam mit Schulleiterinnen und Schulleitern aus ihrem Bezirk ein Comenius Regio Projekt zum Thema Inklusion mit dem Wiener Stadtschulrat und
Wiener Schulen an. Auf Wiener Seite nahmen die Integrative Lernwerkstatt Brigittenau sowie das Sonderpädagogische Zentrum Rudolf Ekstein Zentrum die gemeinsame Herausforderung an. Des Weiteren sollten
die Universitäten Wien (Institut für Erziehungswissenschaften) und die Berliner Humboldt Universität das
Projekt wissenschaftlich begleiten. Gemeinsam entwickelten wir bei einem Treffen im Vorfeld das konkrete
Thema und freuten uns auf das gemeinsame Tun.
Über die Erwartungen, Unterschiedlichkeiten und Gemeinsamkeiten der Projektteilnehmer
Wir erwarteten mit viel Spannung unser erstes Treffen der Projektteilnehmer und -teilnehmerinnen in
Berlin:
•
Wie werden wir das Thema aufgreifen und bearbeiten?
•
Welche Aspekte und Erfahrungen wird jede Einrichtung einbringen?
•
Welche Schlüsse werden wir gemeinsam daraus ziehen?
•
Was wird der SSR für Wien mit den Ergebnissen und Vorschlägen tun?
Auch die Berliner Kollegen und Kolleginnen wirkten erfreut und gespannt und empfingen uns sehr gastfreundlich und herzlich. Alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen erhielten Wochenpläne mit Programmpunkten
und Informationen zu Treffpunkten und Themen. Berlin hatte sich bemüht, durch eine sehr klare Planung
uns den Einstieg so leicht wie möglich zu gestalten. Am ersten Tag lösten einander viele Vorträge ab. Am
Nachmittag des ersten Tages wurde uns ein Projekt vorgestellt, das bereits fertig ausgearbeitet war und
alle Arbeitsunterlagen für uns enthielt: Die „Kollegiale Hospitation“. Wir sollten damit vertraut gemacht und
in Folge instruiert werden, diese Form der Beobachtung und Besprechung auszuprobieren. Das war soweit
sehr zuvorkommend gemeint und hätte dem Team, das dieses Konzept entwickelt hatte, die Möglichkeit
einer Art Promotion sowie Evaluation geboten.
Aber: Wir vom Rudolf Ekstein Zentrum waren irritiert. Wir waren nicht gewillt eine vorgefertigte Antwort auf
unsere Fragen zu bekommen. Ebenso wollten wir auch nicht Spielball jener sein, die dieses spezielle Konzept entwickelt und als fertiges Produkt ins EU-Projekt eingebracht hatten.
Erstmals prallten hier völlig verschiedene Erwartungen bezüglich der Herangehensweise an das Thema
aufeinander und ein Kollege aus dem Rudolf Ekstein Zentrum hatte den Mut, einen sehr umfangreichen
Vortrag zum Thema „Kollegiale Hospitation“ zu unterbrechen und das Procedere des Zugangs zur gemeinsamen Projektarbeit zu hinterfragen. Die schwierigen Kinder waren noch nicht Thema gewesen und das
Konzept der „Kollegialen Hospitation“ entsprach einer gegenseitigen Unterrichtsbeobachtung unter Lehrern
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„Augenmerkkinder“: Kinder mit ausgeprägtem Begleitbedarf, Fokus: stark verhaltensauffällige Kinder)
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und Lehrerinnen und Anregungen, wie diese stattfinden konnten. Aber die Augenmerkkinder, wie wir sie im
Projekttitel definiert hatten, waren noch nicht wirklich zur Sprache gekommen. Wir vermissten den Fokus
auf die schwierigen Kinder und auf die aktive Beziehungsarbeit.
Dieses Stoppen eines Vortrages der Gastgeber, um den Inhalt erst einmal in Frage zu stellen bzw. den Bezug zum Thema zu erfassen und zu klären, war zu diesem Zeitpunkt auf Grund der sich erst anbahnenden
Beziehungen untereinander ein sehr gewagter und aufregender Schritt. Schon an diesem ersten Nachmittag knisterte es im Raum vor Aufregung und Anspannung. Werden die Gastgeber diese unerwartete Unterbrechung akzeptieren und verkraften können?
Eine Schlüsselsequenz in unserer Zusammenarbeit! Das Thema Inklusion verhaltensauffälliger Kinder forderte vom Anbeginn von den Teilnehmern und Teilnehmerinnen Kompetenz und Professionalität im Umgang mit Schwierigkeiten. Sowohl die Berliner Kollegen und Kolleginnen als auch wir Wiener hatten jeweils
unsere unausgesprochenen und vielleicht auch unbewussten Hoffnungen und Erwartungen in die Zusammenarbeit und in mögliche gemeinsame Ergebnisse mitgebracht. Die Enttäuschung war nun auf beiden
Seiten groß. Es hing einzig und allein von uns allen als Personen ab, in dieser emotional sehr angespannten
Situation das Thema im Auge zu behalten, einen sachlichen und fachlichen Dialog zu starten und die Frustration der jeweils anderen zu verstehen. Das gelang sehr gut, ohne gegenseitige Angriffe oder Vorwürfe.
Der Vortrag wurde vorzeitig beendet, Leiter und Leiterinnen, Lehrer und Lehrerinnen traten in großer Runde
in einen Dialog, wir berichteten einander von unserer Arbeitsweise und unseren jeweiligen Erfahrungen im
Umgang mit schwierigen Kindern, wovon wir als Vertreter und Vertreterinnen eines sonderpädagogischen
Zentrums für Kinder mit besonderen emotionalen und sozialen Problemen einiges anbieten konnten.
Über Stolpersteine zum Miteinander
Unsere Diskussionen und die Beschreibung unserer jeweiligen Arbeitsbereiche, der Austausch über Bedingungen und Nöte, über politische, soziale und gesellschaftliche Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen
den Regionen Berlin Pankow und Wien brachten uns ein großes Stück näher und machten uns klar, wo
Berlin und Wien im Hinblick auf die Diskussion um Inklusion von verhaltensauffälligen Kindern jeweils stehen.
Während unserer Hospitationen in Berliner Schulen waren die Lehrer und Lehrerinnen schließlich weniger
daran interessiert, dass wir ihren Unterricht besprechen, sondern baten uns, konkrete Kinder zu beobachten und unsere Wahrnehmungen bezüglich deren emotionaler und sozialer Entwicklung zu teilen. Wir
entwickelten bald gemeinsam eine sehr motivierte Arbeitsstimmung, die gegenseitige Bereicherung und
gemeinsame Erkenntnisse zuließen. Das gemeinsame Nachdenken über Kinder in konkreten, gemeinsam
erlebten Unterrichtssituationen führte uns zueinander. Hier gab es keine Unterschiede zwischen Berlin und
Wien. Hier fanden einfach Fallbesprechungen statt.
Als die Berliner ein halbes Jahr später nach Wien kamen, konnten wir erneut die Spannung wahrnehmen.
Die Berliner strebten nach raschen Lösungen und konkreten Anleitungen, wir Wiener eher nach Wahrnehmen
und Verstehen als Basis einer aktiven Beziehungsgestaltung. Erst im Zuge eines Workshops, indem wir uns
auf dem Boden von wissenschaftlichen Erkenntnissen
der Hirnforschung und der psychoanalytischen Pädagogik gemeinsam mit unseren eigenen Gefühlen und
den Gefühlen von schwierigen Kindern, mit Entwicklung und geeigneten Entwicklungsbedingungen auseinandersetzten, wich die Anspannung und wir fühlten
uns auf einem gemeinsamen Weg.
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Im zweiten Jahr kannten wir einander schon so gut, dass wir uns auf das Aufeinandertreffen der Unterschiedlichkeiten freuten und diese bereits mit Humor beschreiben konnten. Frau Münzberg nannte es: „Die
Berliner mit ihrem Tempo, die Wiener mit den Gefühlen“.
Bis zum letzten Workshop und bis kurz vor der Abschlusspräsentation entstanden immer wieder divergierende Ansichten über die Beschreibung von Projektergebnissen. Es gelang uns aber - immer wieder - in
Arbeitsgruppen die Probleme zu klären und uns zu einigen. Bei unserer Präsentation zum Abschluss des
Projektes im Wiener Stadtschulrat hatten wir Spaß und genossen unser Miteinander - das spürte auch
unser Publikum.
Warum haben wir den Fokus in dieser kurzen Erzählung auf diese Erfahrungen unserer Zusammenarbeit gelegt?
Beispielhaft spiegeln sich hier die unterschiedlichen Zugänge aller Beteiligten zum Thema Inklusion wider,
die dann bedeutsam werden, wenn die Herausforderung zur Umsetzung im Schulsystem bzw. an konkreten
einzelnen Schulen angenommen worden ist. In der Absicht der Implementierung wird der Vorrang meist
ausgearbeiteten „Maßnahmen“ („Tools“) als Instrument (Werkzeug) gegeben, von deren Anwendung Impulse zur Veränderung von Sichtweisen erwartet werden.
Unsere jahrelange Erfahrung in der Integration von Schülern und Schülerinnen mit emotionalen und sozialen Problemen zeigt uns aber, dass die Reflexion des persönlichen Zugangs, das Wahrnehmen des Gegenübers und eine gemeinsame Einschätzung der Problemlage - also der Zeit und Raum beanspruchende zwischenmenschliche Prozess - die elementare Grundlage für ein tragfähiges Verstehen und Handeln bilden.
Aus unserer Sicht führt kein Weg an diesem Prozess vorbei, wenn es um die Veränderung von Haltungen
geht, die dem großen, gesellschaftlich wichtigen Thema Inklusion erst eine Chance geben!
In einem folgenden Beitrag in der nächsten Ausgabe des Integrationsjournals wollen wir Ergebnisse dieses
EU Comenius Regio Projektes und die Frage der Umsetzung darstellen.
SDn Eva Posch-Bleyer Leiterin des Rudolf Ekstein Zentrums bis August 2014 69
Mag.a Waltraud Perkonig
Mobile Mosaiklehrerin
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Ganggalerie „Kunst macht stark“
Im Rahmen des von KulturKontakt Austria unterstützten Projektes „Kunst macht stark“ durften die Schülerinnen und Schüler
der Familienklasse und der 1.VS f Gh des BIG (Bundesinstitut
für Gehörlosenbildung) die Ganggalerie im 3. Stock des Stadtschulrates für Wien gestalten. Es handelt sich dabei um ein
inklusives Projekt: Die altersheterogene, nach dem S-Lehrplan
geführte Familienklasse arbeitet zusammen mit einer nach
dem Lehrplan der VS für Gehörlose geführten altershomogenen Klasse. Die Freude der hörbeeinträchtigten Kinder und Jugendlichen (einige von ihnen mit zusätzlichen Handicaps) und
die Wertschätzung der Anwesenden war bei der Eröffnung der
Ganggalerie am 3.3.2015 enorm. Herzlich danken wir unserer LSI Frau Mag. Mangl, Hrn. AL LSI Dr. Gröpel, Hrn. LSI Dr.
Corazza, Frau Dipl.Päd. Mörwald, Fr. Mag. Stender und allen
anderen Teilnehmenden für die Freundlichkeit und Anerkennung, die sie den Schülerinnen und Schülern und ihren Werken
entgegengebracht haben. Besonders danken wir Fr. LSI Mag.
Mangl für die Einladung zur Gestaltung der Ganggalerie, Fr.
Dipl.Päd. Mörwald und Fr. Mag. Stender, die uns Pädagoginnen in der Vorbereitungsphase sehr unterstützten und Herrn
Lebert, der unsere Werke aufhing. Auch für jene Verwandten
unserer Schülerinnen und Schüler, die am 3.3. dabei waren,
war es ein unvergesslicher Tag.
Ceylan und eines ihrer Bilder.
In der ersten Schulwoche 2014/15 begannen
meine Planungen mit der Kunstpädagogin,
Kunstvermittlerin und Künstlerin Fr. Mag. Andrea Marbach. Unser erster Projektentwurf lautete
„Kunst ist nicht schwierig, Kunst macht stark!“ und
war von Anfang an an Entdeckungen und kreative Phasen in folgenden Museen rückgebunden:
MUMOK, KHM, Hofjagd- und Rüstkammer und
Wagenburg. Von zentraler Bedeutung sind die
KHM-Sonderausstellung zu Velázquez und auch
die Ermöglichung vielfältiger Sinneserfahrungen
(z.B. Wie fühlt sich Samt, Leder, etc. an?).
Zu Beginn besuchten wir einen Workshop im MUMOK. Danach kam Fr. Mag. Marbach mehrmals
zu uns ans BIG, um die Kinder und Jugendlichen
mit verschiedenen Techniken und Materialien
Die erste Station unserer Ganggalerie.
(zwei- und dreidimensional) auf den Höhepunkt
des Projektes vorzubereiten: Im Rahmen der Velázquez-Ausstellung durften wir mit unseren großartigen Kunstvermittlerinnen Fr. Mag. Marbach und (an
diesem Tag auch) Fr. Mag. Ilona Neuffer eine Stunde alleine in die Gemäldegalerie. Danach setzten wir
das Gesehene im Atelier des KHM um. So gestalteten die jungen Künstlerinnen und Künstler elf Ölbilder im
Format 70x100cm sowie kleinere Bilder. Thematisch entstanden dabei durch die Inspiration in der Gemäldegalerie viele Darstellungen von Infantinnen und Infanten bzw. von sich selbst in der Rolle einer Prinzessin
oder eines Prinzen bzw. eines glücklichen Mädchens oder Bubens. Wir danken Fr. Mag. Herbst (KHMKunstvermittlungsleitung) und Fr. Mag. Marbach sehr herzlich für ihr großes Engagement für unsere Schülerinnen und Schüler. Fr. Mag. Marbach ging von Anfang an sehr herzlich, fröhlich und achtsam auf unsere
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Schülerinnen und Schüler zu; die Zusammenarbeit mit ihr war
für alle Beteiligten eine reine Freude. Durch ihre guten Ideen
brachte sie unsere Schülerinnen und Schüler zu Höchstleistungen. Wir wurden nicht nur von KulturKontakt Austria, sondern
auch von Fr. Mag. Direktorin Strohmayer (BIG) unterstützt. Für
ihr besonderes Engagement möchten wir auch der ehrenamtlichen Mitarbeiterin der Familienklasse, Frau Yvonne Stas, und
dem Zivildiener Ruiji Zhao danken; beide sind sehr engagiert
und feinfühlig und wurden von den Schülerinnen und Schülern
schon längst in ihre Herzen geschlossen.
Das Wort ‘Reinknien’ gewinnt eine neue
Bedeutung durch Pavarsi.
Da nicht alle Kinder ins KHM mitkommen konnten, malten wir
danach in der Schule noch weiter. Dabei entstanden auch Gemeinschaftsbilder (wieder im Format 70x100cm), die mit Ölkreiden und Aquarellfarben gestaltet wurden. Unser Projekt geht
bis 13.6. weiter – drei Lehrausgänge haben wir noch vor uns.
Im Juni dürfen wir einen Teil unserer Werke gemeinsam mit anderen Schulklassen in den Hofstallungen im Museumsquartier
ausstellen. Außerdem werden wir noch weitere großformatige
Bilder umsetzen. Der eigentliche Rahmen des Projektes ist der
Lehrgang „Kulturelle Bildung in und mit Museen“ der PH NOE,
im Zuge dessen ich Fr. Dipl.Päd. Waschkau-Homberg vom
SPZ Herchenhahngasse kennengelernt habe.
Gemeinsam mit ihr und ihren Schülerinnen und
Schülern waren wir auch schon im MUMOK und
im KHM und werden einen Teil der Ausstellung
unserer Schülerinnen und Schüler zusammen
gestalten. Diese abschließende Ausstellung in
den Hofstallungen im Juni stellt den Höhepunkt
des Lehrganges dar. Für diese Möglichkeit danken wir Fr. Mag. Ehgartner (MUMOK-Kunstvermittlungsleitung), Fr. Mag. Krottendorfer (PH
NOE, Lehrgangsleitung) und Hrn. Mag. Lexmüller (PH NOE; Bundeszentrum für schulische Kulturarbeit) sehr.
Abschließend gilt unser herzlicher Dank nochmals allen, die es unseren Schülerinnen und
Schülern ermöglicht haben, im Stadtschulrat und
in den Hofstallungen ausstellen zu dürfen und zu
können. Viribus unitis!
LSI Mag. Mangl, LSI AL Dr. Gröpel, Fr. Mörwald, Fr. Spendier,
Fr. Nickel, Fr. Stas, Fr. Dir. Mag. Strohmayer.
Belinda Spendier,
Anne Nickel und
Elisabeth Bacher,
Lehrerinnen am BIG
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Pavarsi freut sich vor einem ihrer Bilder über den Applaus.
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Zerengül vor einem ihrer Bilder.
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Ein inklusiver Vormittag im KHM.
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OutsideTheBox
Technologien neu gestalten mit Kindern mit Autismus
Christopher Frauenberger
Senior Researcher
Human Computer Interaction Group, UT Vienna, Austria
Mitarbeiterinnen:
Julia Makhaeva, Katharina Spiel
OutsideTheBox ist ein Forschungsprojekt an der TU Wien, das sich mit der Gestaltung von neuen
Technologien für und mit Kindern mit Autismus beschäftigt. Seit Beginn des Schuljahres 2014/15
arbeiten wir regelmäßig mit Kindern im Alter von 6 bis 8 Jahren zusammen, um darüber nachzudenken, welche Rollen Technologien in ihrem Leben haben könnten. Wir sind dabei ganz ergebnisoffen
und lassen uns von den Ideen und Vorstellungen der Kinder leiten. Die einzigen Vorgaben die wir
uns gemacht haben sind, dass die Technologie die wir mit den Kindern gemeinsam entwickeln Spass
und Sinn ihrem Leben macht und, dass die Kinder dabei unterstützt werden diese positiven Erfahrungen mit ihrem sozialen Umfeld zu teilen.
Wir arbeiten dabei eng mit dem MentorInnenprogramm der Integrationsstelle des Stadtschulrats und
mit den jeweiligen Schulen und Lehrern zusammen. Um von unseren Erfahrungen hier zu berichten,
erzählen wir die Geschichte von zwei Kindern, Martin und Martina, deren Identitäten zwar fiktiv sind,
aber stark von den realen Partnerkindern inspiriert sind. Wir zeigen wie Martin und Martina mit uns
ihr eigenes, smartes Objekt entwickeln.
Martin ist ein aufgewecktes, sechs Jahre altes Kind. Er wurde erst kürzlich mit einer Form von autistischer Wahrnehmung diagnostiziert. Er ist äußerst wissbegierig, weiß viel und gibt sein Wissen auch gerne weiter. Manche
soziale Situationen versteht er allerdings nicht. Dann fehlt ihm oft die Zeit, sie ausgiebig genug zu beobachten und
adäquat zu reagieren. Und dann gibt es immer wieder mal Ärger in der Klasse.
Martina ist acht Jahre alt, sie spricht wenig und mag neue Situationen gar nicht. Es fällt ihr schwer, ihre eigenen
Bedürfnisse auszudrücken. Sie zeichnet jedoch mit Leidenschaft Tiere und erzählt damit Geschichten. Ihre Zeichnungen zeigt sie dann nicht nur auch gerne her, sie setzt diese auch oft in einen neuen Kontext und erzählt immer
neue Geschichten. Foto- und Videokameras nutzt sie ebenso gerne zu spielerischen Inszenierungen. Sie mag es,
wenn andere Leute mit ihr lachen, braucht allerdings immer wieder viel Zeit, um auch schon bekannte Personen
an sich heran zu lassen.
Martin beschäftigt sich gern mit Technik. Später will er unbedingt Forscher und Erfinder werden. In aller Konsequenz sieht er sich deshalb auch jetzt schon als Kollege zu diesem Berufsstand, als Erfinderkind. Begeistert erzählt er über die Dinge, die ihn faszinieren. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob die Gesprächspartner interessiert
sind oder etwas zu dem Thema sagen möchten.
Auch soziale Situationen mit anderen Kindern sind sehr schwierig für ihn. Denn sie sind laut, haben ganz andere
Interessen und Bedürfnisse, die insbesondere im Klassenzimmer geballt auf ihn einwirken. Seine Verhaltensweisen und Reaktionen werden oft als übersteuert wahrgenommen, er sagt aber, er kann sich an diese Episoden
meist nicht erinnern.
Schulunterricht macht Martin wenig Spass. Am liebsten wäre er jetzt schon Erfinder. In unserem Projekt findet er
die Möglichkeit endlich auch als Forscher tätig zu sein. Unsere regelmäßigen Projekttreffen findet er so wichtig,
dass er um einen Kalender gebeten hat, um die Tage bis zum nächsten Mal anzukreuzen. Wir bringen viel Zeit
und Aufmerksamkeit mit, die im Schulalltag schwer aufzubringen sind. Um mit Martin über Forschungswerkzeuge
der Zukunft nachzudenken, haben wir eine Designmethode „Future Workshop“ an unsere Zwecke und die individuelle Zusammenarbeit mit Martin
angepasst.
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Wir entwerfen Zukunftsszenarien, die an die ihm bekannte Welt
anknüpfen, uns aber auch die Möglichkeit geben, frei von bereits
bekannten technischen Einschränkungen über neue Konzepte
nachzudenken. Martin kann auch in der fiktiven Zukunft über
Probleme nachdenken, die ihn in der Gegenwart beschäftigen.
Martina kann mit einem Konzept der Zukunft weniger anfangen.
Für unsere Zusammenarbeit mit Martina haben wir uns für eine
andere Herangehensweise entschieden, eine die über Basteln
und Zeichnen Ideen generiert. Bei unseren Treffen gibt Martina
die Richtung vor. Sie braucht dennoch jedes mal zehn Minuten,
bis sie sich auf uns einlassen kann. Wir geben ihr die Zeit und
unterstützen sie durch vertraute Strukturen, mit dem Freiraum
umzugehen. Wenn sie einmal aufgetaut ist, dann macht ihr das
Spielen und Basteln mit uns sehr viel Spaß und ihr gefällt das
neu entdeckte Selbstbewusstsein mit dem ihre Ideen die Arbeit
bestimmen. Nach unseren Treffen erzählt sie ihrer Lehrerin immer wieder, wie toll es war.
Wir lassen uns von den beiden Kindern leiten und erkunden gemeinsam ihre besonderen Interessen und Blickwinkel auf die
Welt. Einer von uns ist immer der Spielpartner, eine aktive Beobachterin. Während der aktive Beobachter die Treffen strukturiert,
die Aufgaben stellt und auch die Hoheit über das Material hat, bildet das Kind und die Spielpartnerin ein Team. Dabei stehen sich
beide Teammitglieder gleichberechtigt gegenüber und ergänzen
sich durch die eigenen individuellen Fähigkeiten. Vielleicht können Erwachsene besser schreiben oder zeichnen, aber die Kinder sind die Experten ihres eigenen Lebens und nur sie wissen
was Sinn und Spass darin macht. Der Spielpartner wird zum verlängerten Arm des Kindes, um dessen Ideen umzusetzen.
Anhand der vielen Zeichnungen von Martina entwickeln wir ihr
„smartes Ding", mit dem sie ihre Zeichnungen digital aufnehmen,
animieren und so in Geschichten einbetten kann. Dabei soll das
smarte Ding es ihr nicht nur ermöglichen, ihre Werke mit anderen
zu teilen, sondern auch, sie im Nachhinein digital zu verändern
oder zu ergänzen.
In ruhigen Schulstunden kann Martina für sich zeichnen und die
Projektionsfläche auf das Blatt Papier vor sich richten, um zu
sehen, was sie genau zeichnet. Heute ist es eine „Raudikatze“.
Martina legt Animationsbereiche fest, indem sie auf dem Papier
markiert, dass die Beine sich auseinander und der Kopf von links
nach rechts bewegen soll. Ihr smartes Ding erstellt dann automatisch mehrere Einzelbilder, die zusammen eine Animation ergeben. Diese werden individuell mit Kostümen versehen. In der
Pause projiziert sie ihre Kreation mit ihrem smarten Ding an die
Wand, um den anderen Kindern in der Klasse die Geschichte der
„Raudikatze“ zu erzählen. Dabei steuert sie die Geschwindigkeit
der Animation mit der Geschwindigkeit ihrer eigenen Körperbewegungen. Das smarte Ding erzeugt für Martina eine soziale
Situation, die sie selbst dirigiert, Struktur die ihr Sicherheit gibt.
Durch diese Sicherheit ist es ihr dann auch möglich auf unvorhergesehenes leichter zu reagieren.
Zusammen mit dem Forscher Martin stellen wir fest, dass man-
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che sozialen Situationen so komplex sind, dass sie es wert sind,
besonders genau unter die Lupe genommen zu werden. Um sie
in den Griff zu bekommen, benötigen wir besondere Forschungswerkzeuge aus der Zukunft, die es ermöglichen passende Lösungsstrategien zu finden. Deswegen haben wir uns gemeinsam
zum Ziel gesetzt, ein smartes Ding zu entwickeln, das Martin
dabei hilft, solche unüberschaubaren Situationen besser zu verstehen. Martin hat eine Maschine in Form eines Stirnbandes
vorgeschlagen, wir nennen es den Reflektor. In einer für Martin verwirrenden Situation kann er den Reflektor aufsetzen und
damit verschiedenste Aspekte der Situation aufzeichnen. Eine
kleine Kamera macht etwa kurze Videos oder Bilder, ein Mikrofon nimmt die Geräuschkulisse auf. Der Reflektor hilft Martin
dann die Situation zu analysieren. Durch gezielte Fragen, die wir
mit Martin entwickeln, strukturiert der Reflektor die Reflexion auf
das Geschehene und ermöglicht es Martin darin die Verhaltensmuster und den Sinn zu verstehen. Die Basisstation des Reflektors zu Hause kann auch dazu benutzt werden, um besonders
knifflige Situation am Abend mit den Eltern zu besprechen. Die
Bedienung des Reflektors erfolgt berührungslos, die dazu erforderlichen Gesten hat Martin selbst festgelegt. Der Reflektor ermöglicht ihm, sich aus der Situation „rauszunehmen“ und mit viel
Ruhe und Konzentration zu forschen. Wenn Martin den Reflektor
trägt, ist das auch ein Zeichen an seine Umwelt, dass er sich gerade intensiv mit der Situation auseinander setzt und ein wenig
Zeit braucht. Der Reflektor wird zum smarter Begleiter im Alltag.
Die Technologien, die wir im Projekt OutsideTheBox entwickeln,
sind individuell auf das Kind zugeschnitten. Denn jedes Kind hat
seine individuellen Bedürfnisse und erfordert so auch individuelle
Herangehensweisen. Wir nehmen jedes Kind einzeln, mit all seinen Fähigkeiten, Bedürfnissen und Interessen wahr, eingebunden in sein soziales und kulturelles Umfeld. Nicht umsonst heißt
es auch „Hat man ein Kind mit Autismus gesehen, hat man ein
autistisches Kind gesehen”. Der Reflektor ermöglicht Martin einen Blick auf die eigene Umwelt, der durch seine eignen Interessen geleitet wird und produktiv Lösungsansätze ermöglicht. Martinas Zeichenprogramm ermöglicht ihr das Teilen ihrer eigenen
Kunst. Beide smarten Dinge helfen den Kindern, positive Erfahrungen zu machen, die aus ihren Interessen gespeist sind, und
diese Erfahrungen mit anderen zu teilen. Wären wir lediglich von
den diagnostischen Kriterien, Limitierungen und Defiziten ausgegangen, könnten diese Technologien so nicht zustandekommen.
Derzeit arbeiten wir gemeinsam an der Realisierung von Prototypen, die wir dann weiter mit Kindern testen und optimieren.
OutsideTheBox liefert einen ganz neuen Ansatz, Technologien
für autistische Kinder mit autistischen Kindern zu entwickeln. In
der Forschung sind solche Ansätze zur Gestaltung noch wenig
bekannt. Wir müssen noch viel lernen, um zu verstehen, wie wir
es anstellen, dass Kinder mit Autismus in die Lage versetzt werden können, ihre Ideen in den Gestaltungsprozess einzubringen.
Martin und Martina haben uns aber jetzt schon gezeigt, wofür
Technologien benutzt werden können, und uns in neue Anwendungsgebiete geführt, von denen wir vorher nichts wissen konnten.
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Ausgleich und Leistungsbeurteilung
bei Kindern und Jugendlichen
mit Autismus-Spektrum-Störung
(Handreichung des 17. IBs)
In meiner Tätigkeit als Mentorin für Schülerinnen und Schüler mit Autismus-Spektrum-Störung unterstütze ich Kinder und Jugendliche im gesamten autistischen Spektrum mit unterschiedlicher Ausprägung der Symptomatik sowie unterschiedlichen, teils sehr inhomogenen Begabungs- und
Leistungsprofilen.
Für mich selbst ist der Blick auf ihre Stärken, Besonderheiten und Beeinträchtigungen, die diese Entwicklungsstörung und die Individualität der einzelnen Kinder und Jugendlichen mitbringen, ein klarer und selbstverständlicher. Auch die Behinderungen, die diese Kinder und Jugendlichen täglich erfahren und die sich
so stark auf ihr Lern-, Arbeits- und vor allem auch auf ihr Sozialverhalten auswirken, sind für mich meist
schnell offensichtlich.
Mir fällt es mittlerweile meist verhältnismäßig leicht, durch meine vielseitige Erfahrung und gutes Fachwissen aus einem Pool von Möglichkeiten auszuwählen, die eine Unterstützung bei der Bewältigung des
Schulalltages und des Lernstoffs darstellen, die die Besonderheiten und Schwächen ausgleichen, um das
kognitive Leistungsvermögen und die Kinder und Jugendlichen hinter der Symptomatik überhaupt zeigen
zu können.
Angefangen bei strukturellen Veränderungen zu personellen, räumlichen und zeitlichen Faktoren des
Schulalltags und des Unterrichts über Anpassungen und Übungen zur besonderen sensorischen Wahrnehmung und Verarbeitung, Kommunikation, Sprache und Interaktion, bis hin zu Hilfestellungen aufgrund
der besonderen Denk- und Lernstile im Bereich der Aufmerksamkeit sowie der Informationsaufnahme und
-verarbeitung.
Dabei ist das visuelle Organisieren von zeitlichen Abläufen, das Finden von Hilfen zur Selbstorganisation
bei der Arbeits- und Aufgabenplanung durch die Modifizierung und Strukturierung des Materials und der
Aufgabenstellungen, der Einsatz unterstützender Unterrichtsmittel und auch das Finden von Entlastungsmöglichkeiten, Bestandteil und eigentlich sogar Grundlage meiner Arbeit und der Entwicklungsprozess
steht immer im Mittelpunkt.
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Gerade die Arbeit als ambulante Pädagogin gibt mir hier die Möglichkeit, einen Blick auf die Kinder und Jugendlichen zu haben, der nicht oder nur wenig behindert ist, durch eine Zuordnung zu einer Kategorie wie
z.B. einer Lehrplanzuordnung oder eingeschränkt durch eine Verantwortung, die Vergleichbarkeit der Leistung innerhalb einer Gruppe von Kindern zu gewährleisten, die Leistung zu bewerten und wenn notwendig
auch nach außen zu begründen.
Anders kann das aus der Perspektive der Sonderschulpädagoginnen und -pädagogen und den Volksschuloder NMS Kolleginnen und Kollegen in den Integration- und Regelschulklassen sein:
Obwohl die persönliche Entwicklung und damit notwendige Individualisierung von Lehr- und Lernprozessen
im Vordergrund stehen müsste, ist die Umsetzung der Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern mit ASS
natürlich bedingt durch Bemessung an standardisierten Lernzielen und Überprüfungen des Leistungsstandes, der dem Lehrplan angemessen sein muss.
Die verlangte Einordnung in unser Notensystem, um die Leistung vergleichbar zu bewerten, lässt objektiv
gesehen nur wenig Spielraum zu, eine Entwicklung, besonders in krisenbehafteten Zeiten, positiv zu benoten.
Ich erlebe in diesem Bereich der schulischen Arbeit zunehmend Unsicherheiten bei meinen Kolleginnen
und Kollegen die diese Bewertung durchführen müssen und spüre den Druck, dem sie ausgesetzt sind
oder den sich selbst dadurch machen und der immer häufiger auch zu Konfliktsituationen führt, die das
Schulleben zusätzlich belasten. Denn gerade die zunehmende Zahl von Schülerinnen und Schülern mit
ASS mit Regelschullehrplan der Volksschule oder Neuen Mittelschule lässt diesen Spagat zwischen der
Anerkennung der positiven Entwicklung einerseits, und der Beurteilung der Leistung im direkten Vergleich
mit den anderen Schülerinnen und Schülern andererseits, oft zu einer Herausforderung werden.
Und dabei ist deutlich, dass eben nicht nur das Ziel der Partizipation am Schulleben im Mittelpunkt steht,
sondern eben auch das Schaffen von (Rahmen-) Bedingungen um das persönliche Leistungspotenzial
ausschöpfen zu können.
Bei Kindern und Jugendlichen mit einer Körper- oder Sinnesbehinderung und durchschnittlicher kognitiver
Intelligenz ist das Bereitstellen von sogenannten Nachteilsausgleichen und Entfernen von Barrieren für die
Leistungserbringung ein leicht nachvollziehbarer Gedankengang. Kaum jemand würde auf die Idee kommen, diesen Ausgleich in Form einer Seh- oder Hörhilfe, eines Rollstuhls, eines Leseapparats oder auch
besonderen Materialien zur besseren Erfassung des Lernstoffes nicht bereitzustellen und zu verweigern.
Auch die Möglichkeit einzuschränken, länger für einzelne Anforderungen zu brauchen und diese, mit Hilfsmitteln erreichten Leistungen schlechter zu bewerten, was im schlechtesten Fall eine Lehrplanabstufung
bedeutet, ist eher undenkbar.
Die Autismus-Spektrum-Störung stellt in vielen Fällen ebenso einen Nachteil dar, der durch zu treffende
Maßnahmen ausgeglichen werden muss, um eine gerechte Basis zu schaffen, auf der Anforderungen erfüllt und Leistungswille und Leistung gezeigt werden können.
Bei Schülerinnen und Schülern mit einer Autismus-Spektrum-Störung treten aber gerade in der praktischen
Umsetzung besondere Schwierigkeiten auf. Warum?
Autismus wird, besonders bei Schülerinnen und Schülern mit einer Regelschullehrplanzuordnung, in unserer Schullandschaft sehr undifferenziert wahrgenommen.
Das liegt einerseits sicher an dem noch fehlenden Fachwissen auf breiter Ebene aber auch daran, wie uns
das Störungsbild des Autismus‘ begegnet.
Die Diagnose, die aus einer Verhaltensbeobachtung und -beschreibung gestellt wird, stellt anders als bei
verschiedenen anderen Behinderungskategorien kein sehr objektives Mittel als Basis für die schulische
Förderung dar.
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Es gibt keine eindeutige Zuordnung zu einer Körper- oder Sinnesbehinderung, was dazu führt, dass Autismus oft nur in der Symptomatik und daher als Verhaltensstörung wahrgenommen wird. Diese sichtbaren
Verhaltensweisen lassen sich aber ohne entsprechende Fachkenntnis nicht so einfach auf die spezifischen
Ursachen einer ASS zurückführen und werden dann in eine Schublade mit andern „Verhaltensauffälligkeiten“ gesteckt. Dadurch entstehen auch fehlangesetzte, pädagogische Interventionen, die nichts bewirken
oder aber die Symptomatik und damit die Problematik für die gesamte Klassensituation verstärken.
Das heißt, Autismus ist für viel Pädagoginnen und Pädagogen außer auf dem Papier, unsichtbar.
Zusätzlich kämpft der Autismus im Schulsystem noch immer gegen eine unaufgeklärte Haltung. Denn die
pädagogische Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit ASS erfordert eine kleinstschrittige, entwicklungsorientierte und auch manchmal paradoxe Art der Auseinandersetzung, die eine Vielzahl von persönlicher
Unterstützung, Extramaterial, Möglichkeiten der Entlastung, ein Finden von Ausnahmen und auch Rückschritte zulassen muss, ohne gleich am Gelingensprozess zu zweifeln.
Das heißt, es erfordert von Pädagoginnen und Pädagogen die Perspektive zu verändern und hinter das Offensichtliche zu schauen und in anderen, neuen Strukturen zu denken, Werte und Normen zu überdenken
und wenn nötig, auch eine Veränderung der eigenen Pädagogik und Rolle in Erwägung zu ziehen, auch
wenn oder gerade weil Kinder und Jugendliche mit ASS uns Pädagoginnen und Pädagogen schnell an die
scheinbaren Grenzen unseres Systems und auch an unsere eigenen pädagogischen Grenzen bringen.
Unser Schul- und Unterrichtsalltag ist nach Regeln und sozialen Normen aufgebaut, die für Kinder und
Jugendliche mit ASS oft nicht verständlich oder nicht wichtig sind. Das macht es schwer auch als gute Pädagogin oder Pädagoge handlungsfähig zu bleiben, wenn wir eben nicht lernen die Perspektive zu wechseln,
neue Wege zu beschreiten, und uns Unterstützung und Wissen zu holen und eine andere, eventuell auch
paradoxe Pädagogik neben der liebgewonnenen und bei den anderen Kindern der Klasse auch zielführenden anzuwenden.
Der Nachteil, die individuelle Besonderheit oder Schwäche der diagnostizierten und anerkannten Entwicklungsstörung muss pädagogisch berücksichtigt werden, um möglichst gleiche oder zumindest ähnliche
Grundvoraussetzungen für Kinder und Jugendliche mit ASS zu schaffen.
Als Grundlage für den Nachteilsausgleich ist u.a. klarzulegen, dass
•
Schülerinnen und Schüler mit ASS oft ein inhomogenes Begabungsprofil haben, dass es für Außenstehende erschwert, das Leistungsvermögen konkret einzuschätzen. Dazu kommt, dass Lernen und
Entwicklung oft in anderen Bahnen und anderen Schritten erfolgt.
•
es bei vielen Schülerinnen und Schülern mit ASS schwierig ist, ihre Kompetenzen, Fähigkeiten und
Kenntnisse in der üblichen Vorgangsweise zu überprüfen, da sie diese oft in bestechend klarer 1:1-Reproduktion ohne erkennbarer Bearbeitungsphase präsentieren, oder dass eine Form von Lernen stattfindet, die von außen nicht (immer) eindeutig beobachtet werden kann.
•
das Leistungsvermögen durch Instabilität und andere, innere und äußere Umstände zwischenzeitlich
so behindert sein kann, dass typische Symptomatik verstärkt auftritt und die Schülerinnen oder Schüler
nur schwer in der Lage sind, adäquat auf jegliche Form der Anforderung zu reagieren.
•
Schülerinnen und Schüler mit ASS oft nicht in der Lage sind, ihre Leistung in den entsprechenden
Unterrichts- und Prüfungssituationen abzurufen, da Stress und andere störende Faktoren schlechter
kompensiert werden können.
Ein Ausgleich soll den Schülerinnen und Schülern dabei aber keineswegs einen Vorteil verschaffen, sondern ihnen das ermöglichen, was andere ohne diese Beeinträchtigung erreichen können.
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Vor allem ist es dafür notwendig die Frage zu stellen: „Welchen Ausgleich braucht die Schülerin / der
Schüler, um die Anforderungen erfüllen zu können?“ Das erfordert sowohl eine Auseinandersetzung mit
den Rahmenbedingungen als auch eine Auseinandersetzung mit der Art, wie der fachliche Inhalt von Pädagoginnen und Pädagogen präsentiert wird sowie von Schülerinnen und Schülern als erkennbare Leistung
widergespiegelt werden soll.
Diese pädagogisch qualitätsvolle Arbeit stellt eine Aufgabe sowohl an die Allgemeine Pädagogik als auch
an die Sonderpädagogik. Eine gute Förderdiagnostik ist Grundlage für jede Zielsetzung und Umsetzung
im Schulalltag und zu guter Letzt notwendig, um die Leistungsbewertung adäquat und mit einer pädagogischen Sicherheit durchführen zu können.
Die Handreichung „Ausgleich und Leistungsbeurteilung bei Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störung“ soll an dieser Stelle die Basis für die gemeinsame Förderarbeit und praktische Unterstützung
zur Umsetzung im Schulalltag sein.
Aufgebaut und abgeleitet aus dem Gleichbehandlungsgrundrecht und dem Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz enthält sie eine Einleitung zur Dimension der ASS, den rechtlichen Grundlagen zur Leistungsbeurteilung und Lehrplanzuordnung sowie eine Neuerung im Umgang mit dem Sonderpädagogischen Förderbedarf von Kindern und Jugendlichen mit ASS und Regelschullehrplan in der Sekundarstufe 1.
Konkrete, pädagogische Handlungsmöglichkeiten im Unterricht, Möglichkeiten der Veränderung von Rahmenbedingungen bei der Leistungsüberprüfung, erweiterte Möglichkeiten der Mitarbeitsanerkennung und
Umsetzungsvorschlägen zur Bewertung der Leistung sollen das Spektrum aufzeigen, in dem die pädagogische Arbeit stattfinden kann.
Mein Entwurf wurde von Herrn LSI Dr. Mag. Rupert Coarzza ergänzt und von Frau Dipl. Päd. Brigitte Mörwald strukturell und inhaltlich mitbearbeitet und mit meinen Kolleginnen vom Mentorinnen-Team im praktischen Teil ergänzt und fertiggestellt.
Die Handreichung wurde herausgegeben vom 17.IB – zuständig für Inklusion, Integration und Sonderschulen im Bereich APS/SSR für Wien und ist über die Direktionen der ZIS und die I-Beratungsstelle zu erhalten.
Dipl.Päd. Sabrina Haider
Sonderschullehrerin, Praxislehrerin
Mentorin für SchülerInnen mit ASS im Pflichtschulsystem Wien
Referentin in der LehrerInnenfortbildung an der PH Krems und PH Wien
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I-JOURNAL Mai 2015
Die soziale Netzwerkerin - eine neue tragfähige Rolle im
pädagogischen Geflecht
„Wenn Du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht die Männer zusammen, um Holz zu
beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen,
sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer."
Antoine-Saint-Exupery
„An einem Seeufer sitzt ein Mann und versucht, mit seinen Händen Fische zu fangen.
Ein Wanderer kommt vorbei, klopft dem Fischer auf den Rücken und sagt:
„He, guter Mann, komm ich zeige Dir, wie man ein Netz knüpft. Damit kannst Du viel
schneller und mehr Fische fangen, als von Hand."
Der Fischer ist so auf den See konzentriert, dass er kaum richtig zugehört hat.
Ohne aufzublicken antwortet er dem Wanderer:
„Keine Zeit. Ich muss jetzt Fische fangen."
Rene Egli
Beide Zitate beziehen sich auf reale Aspekte des Schullebens. Wir Lehrerinnen und Lehrer haben die
Aufgabe unsere Schülerinnen und Schüler zu motivieren, ihnen das Fenster zum Leben zu öffnen, ihnen
Verantwortungsbewusstsein näherzubringen und fachliche Inhalte zu vermitteln, in der Form, dass wir sie
nach individueller Begabung fördern. Viele unserer Kinder können jedoch nicht mit Begeisterung annehmen, was in der Schule angeboten wird. Sie haben einen schwierigen Start, weil es Probleme im familiären
Umfeld gibt oder weil ihnen nur begrenzt Ressourcen mitgegeben werden können, sowohl finanzielle als
auch emotionale und soziale. Ursachen dafür gibt es viele.
Nun brauchen aber junge Menschen für ihre Entwicklung Begleitung und Förderung - manche mehr als
andere - und der Mangel an diesem Grundelement der Erziehung zeigt sich deutlich im Klassenzimmer.
Probleme werden mitgebracht und entpuppen sich in den verschiedensten Formen als Unkonzentriertheit,
als unkooperatives Verhalten oder schlicht fehlende Motivation am Lernen. Täglich nehmen Pädagoginnen
und Pädagogen die Sorgen um die schwierigen Situationen der Kinder mit nach Hause und das nicht nur in
Form von Gedanken. In der Praxis nimmt der Aufwand zu, denn es kommt zu vielen Elterngesprächen und
Telefonaten mit dem Jugendamt. Formulare werden ausgefüllt, Untersuchungen beantragt, Helferkonferenzen organisiert, psychologische Betreuung veranlasst und so weiter. Ich nenne dieses Phänomen liebevoll
den „Katastrophenalltag“ (Eckhard Schiffer, Heidrun Schiffer: Nachdenken über Zappelphilipp, Beltz Verlag
2002). Allzu oft kracht es im Klassenzimmer und man hat rundherum viel zu tun um die Krisen einzudämmen, auch lange nach Unterrichtsschluss. Es wäre möglich, ewig weiter aufzuzählen.
An dieser Stelle soll jedoch ein kurzer Problemaufriss genügen, um das Wirrwarr an Aufgaben für das
pädagogische Personal im Ansatz vorzustellbar zu machen. Bald ist der Rahmen gesprengt, in dem man
als Team koordiniert „an einem Strang ziehen“ kann und dann kommt eventuell noch die eine oder andere
Kleinigkeit hinzu, wie zum Beispiel eine Jugendliche oder ein Jugendlicher der eine Begleitperson braucht,
um zum AMS zu gehen, im privaten Umfeld aber keine hat. Dann ist da noch das Kind das ständig fehlt.
Schwierige Situationen wiederholen sich und jede Lehrerin und jeder Lehrer fängt immer wieder von vorne an zu organisieren, recherchieren, auch was die individuellen Vorgeschichten von Schülerinnen und
Schülern betrifft. Wenn jede und jeder das Rad neu erfinden muss, bleibt Schule in ihrer Wirksamkeit sehr
eingeschränkt.
Schülerinnen und Schüler aus einem multifaktoriell belasteten Umfeld bringen diverse Komplikationen mit,
das kann man nicht ändern. Die Auseinandersetzung damit ist notwendig, wenn man Kinder sinnvoll in ihrer Entwicklung fördern will. Aber nicht ohne Unterstützung. Die verschiedenen Institutionen die im System
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I-JOURNAL Mai 2015
Schule mitwirken, bringen Personen ins Spiel, die zusätzlich zu Lehrerinnen und Lehrern Kinder in Spezialgebieten betreuen. Psychagoginnen und Psychagogen, Psychologinnen und Psychologen für psychologische Betreuung, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter für Kinder aus sozial benachteiligten Umfeldern
oder für Fälle, die im Zusammenhang mit Vernachlässigung und Gewalt stehen, Arbeitsassistenzen für
Betreuung bei der Arbeitsfindung oder zur Begleitung im Beruf .
Nun fehlt noch jemand, der den Überblick bewahrt und die Zeit hat, Maßnahmen durchzuführen, die in keiner der bisher genannten Rollen enthalten sind. Hier kommt die soziale Netzwerkerin ins Spiel, welche die
Fäden zusammenhalten soll. Seit diesem Schuljahr darf ich diese Funktion an meinem Standort, der NMS
Roda-Roda-Gasse 3, 1210 Wien durchführen. Im Folgenden sollen die Zielgruppe und die Aufgabenbereiche der Netzwerkerin beschrieben werden.
Zielgruppen:
•
Schülerinnen und Schüler die aufgrund ihrer Lernfähigkeiten oder Lebenssituationen Unterstützung
benötigen, dies aber durch andere Personen in der Schule nicht abgedeckt werden kann.
•
Schülerinnen und Schüler die von Absentismus betroffen sind.
•
Schülerinnen und Schüler die aufgrund ihrer Sprachkenntnisse, Lehrplanzuordnung oder sozialen Situation Begleitung zu Institutionen benötigen.
Das Ziel ist, Kinder und Jugendliche dort zu unterstützen, wo Maßnahmen vonnöten sind, die vom pädagogischen Personenkreis in der Schule nicht alleine getragen werden können. Die Hilfe, die von Seiten
der Schule zur Verfügung gestellt werden kann, soll durch die Unterstützung der Netzwerkstelle effektiver
und reibungsloser angeboten werden können. Die Bandbreite der möglichen Hilfestellungen soll um die
im Weiteren beschriebenen Elemente ergänzt werden. Die Netzwerkstelle kann bestimmte Situationen, in
denen ihr Einsatz vonnöten ist, fokussiert angehen und mit anderen Kolleginnen und Kollegen ein Netzwerk
bilden, welches in Bezug auf das zu unterstützende Kind sprichwörtlich „an einem Strang“ zieht.
Die Idee ist inspiriert von dem Konzept der Neuen Autorität von Haim Omer1.
Aufgabenbereiche:
• Überblick bieten
Die Netzwerkstelle erstellt und verwaltet einen Netzplan, der von allen pädagogischen Personen verwendet werden kann. Dieser beinhaltet für alle Kinder sämtliche Betreuungsformen, Erreichbarkeit der
Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, wichtige Ereignisse oder Maßnahmen und andere Informationen, deren schnelle Zugänglichkeit relevant sein könnte.
• Maßnahmen koordinieren
Bei personenübergreifenden pädagogischen Maßnahmen behält die Netzwerkstelle den Überblick,
verfolgt den Verlauf der Durchführung, führt Gespräche mit den Beteiligten und organisiert die Netzwerkkonferenzen mit mehreren Personen. Je nach Situation führt sie bestimmte Maßnahmen selbst
aus.
• Gespräche mit dem Kind
In Absprache mit den Lehrerinnen und Lehrern, die sich am Prozess beteiligen, kann die Netzwerkerin
gezielte pädagogische Gespräche mit Schülerinnen und Schülern führen.
1
Haim Omer, Arist von Schlippe: Stärke statt Macht - Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde,
Verlag Vandenhoeck &Ruprecht 2010
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I-JOURNAL Mai 2015
• Begleitung des Kindes im Unterricht und zu Terminen
• Unterrichtsbeobachtung
Bei Schwierigkeiten im Unterrichtsgeschehen kann die Netzwerkpädagogin für Beobachtungen herangezogen werden.
• Einzel- oder Gruppeneinheiten/ -besprechungen mit den Schülerinnen und Schülern
über soziale und für den Unterricht relevante Inhalte
Hierbei handelt es sich um die praktische Durchführung pädagogischer Ansätze der Lehrerinnen und
Lehrer.
• Unterrichtsstunden mit sozialen Inhalten
• Vorgeschichte erheben und einbinden
Situationen aus der Vergangenheit brauchen oft lange bis sie im Schulalltag in vollem Umfang zutage
treten. Die Netzwerkstelle soll darum bei Auffälligkeiten ermitteln, ob es schon in der vorhergehenden
Schule oder in der Zusammenarbeit mit dem Jugendamt Probleme gegeben hat und wie diese ausgesehen haben. Hierbei lassen sich auch Erfahrungen in der Betreuung nutzbar machen.
• Strategiebesprechungen planen und moderieren
Im Fall einer personenübergreifenden Situation oder Maßnahme organisiert die Netzwerkerin die
notwendigen Besprechungen, schlägt Strategien vor und setzt auch die teilnehmenden Personen im
Verlauf der Durchführung in Kenntnis.
• Weiterverfolgen der Durchführung des erstellten Maßnahmenplans, teilweise auch
Durchführung an sich
Wenn Maßnahmen beschlossen wurden, sollen sie durch die Netzwerkerin transparent gemacht werden. (Protokolle von Helferkonferenzen)
• Kontakt zu außenstehenden Personen und Institutionen
• Organisation von sozialen Projekten im Unterricht
• Beratung bei institutionellen Fragen:
Die Netzwerkstelle informiert auch über in bestimmten Fällen relevante Fristen, die Erreichbarkeit von
Ansprechpersonen etc.
• Suche nach Förder- und Beratungsmöglichkeiten im außerschulischen Bereich, auch
für den Einsatz in der Schule
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I-JOURNAL Mai 2015
Nun befindet sich die Netzwerkstelle dieses Schuljahr in einer Testphase. Ich durfte mit meiner Tätigkeit als
Netzwerkerin mit einer Stunde pro Woche beginnen. Um die nötigen Vernetzungsaufgaben auch erfüllen zu
können, brauche ich schlicht mehr Zeit. Eine solche Aufgabe braucht nicht nur persönliches Engagement,
sondern auch Ressourcen für die Umsetzung.
Das bringt mich wieder zurück zu dem Zitat mit dem Fischer. Zunächst kostet der Aufbau einer Netzwerkperson vielleicht mehr Ressourcen, als wenn man einfach so weiter gemacht hätte wie bisher. Eine bessere
Vernetzung jedoch macht ein Schulteam effektiver, erweitert die Wirksamkeit von Maßnahmen und entlastet die einzelnen Beteiligten. In der Zusammenarbeit zeigt sich deutlich, dass sich durch das Netzwerk
einiges bewegt hat. An dieser Stelle möchte ich mich bedanken bei Frau Direktor Mag. Petra Ebenauer,
mit der ich diese Funktion aufbauen durfte und bei Herrn Direktor Peter Schwarzmann, Leiter des Sonderpädagogischen Zentrums Wien 21, der mich unterstützt hat, die Vision ins Leben zu rufen. Hier die obig
beschriebenen Erläuterungen zu den Aufgabenbereichen auf einen Blick:
Mag. Bettina Demel, BEd
arbeitet als Integrationslehrerin und soziale Netzwerkerin
an der NMS Roda-Roda-Gasse 3, 1210 Wien
[email protected]
www.schulemitherz.wordpress.com
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I-JOURNAL Mai 2015
„KRAFT-WERK“
Ein Projekt der Lernwerkstatt Donaustadt
initiiert von DSA Andrea Walenta
in Zusammenarbeit mit Mag. Alfons <Neby> Nebmaier
unterstützt vom Aktivspielplatz Rennbahnweg
Zeit: 2.10. - 22.10 2014
Kurzbeschreibung:
Angelehnt an die Totempfähle indigener Stämme der amerikanischen Nordwestküste wurden annähernd
200 SchülerInnen zuerst inhaltlich durch Andrea Walenta und Alfons< Neby> Nebmaier an das Thema
„Kraft! - Was gibt mir Kraft und macht mir Freud?“ herangeführt.
Anschließend wurden von den Kindern und Jugendlichen Skizzen gemacht, auf vier Kiefernstämme übertragen und geschnitzt.
Zum Abschluss wurden die Stämme nach dem Bemalen im Schulgarten aufgestellt und feierlich präsentiert.
Ablauf: Traumreisen
Klassenweise wurden die SchülerInnen durch eine Traumreise in das Thema eingeführt.
Totempfähle, auch Wappenpfähle genannt, sind wie die Wappen des europäischen Mittelalters lesbar. Die
Pfähle erzählen Geschichten über Herkunft und Erfahrungen ihrer HerstellerInnen.
Angelehnt daran, sollten die Kinder und Jugendlichen überlegen was für sie Kraft bedeutet und woraus sie
Kraft schöpfen. Das Thema wurde um den Begriff „Freude“ erweitert.
Bäume schälen
Ausgangsmaterial waren vier Kiefernstämme à 6 m Länge mit Rinde, die uns das Forstamt der Stadt Wien
gespendet hatte. Aus der Not eine Tugend machend, haben viele Schüler erstmal Kraft und Zeit investiert
um die Bäume zu entrinden. Durch diese Aktion entstand schnell ein klassenübergreifendes Wir-Gefühl.
Die ersten Erfahrungen mit der Widerstandskraft eines Baumes und die sichere Nutzung von Werkzeugen
wurden gemacht.
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Skizzen machen
Parallel zum Entrinden begannen die SchülerInnen bereits
Skizzen anzufertigen, um ihre entstandenen Ideen zweidimensional umzusetzen. Diese Skizzen wurden gleich im passenden Verhältnis für die langen, schmalen Stämme auf lange, schmale Papiere gezeichnet.
Dabei wurde entschieden, dass alle Bäume in vier Teile unterteilt und jede Jahrgangsstufe in unterschiedlichen Höhen
einen Part zur Bearbeitung hatte.
Mit zunehmender Dauer des Workshops lösten sich die Unterteilungen zugunsten der Motive wieder auf. Jedes Kind
konnte an mehreren Motiven mitarbeiten.
Nach dem Übertragen der Skizzen wurden die Kinder und Jugendlichen im Gebrauch des Werkzeugs unterrichtet.
Zum Einsatz kamen große Schnitzwerkzeuge, Kettensäge
und Flex. Schnitzeisen nutzen die TeilnehmerInnen eigenständig, die Kettensäge nur unter Aufsicht.
Während des kompletten Verlaufs hat sich kein/e TeilnehmerIn ernstlich verletzt!
Die Technik des Schnitzens beschränkte sich in der Hauptsache auf Reliefschnitzereien, die sich maximal drei bis fünf
Zentimeter über den Grund erhoben.
Bemalen
Nach Fertigstellung der Schnitzereien wurden diese, zur Verstärkung ihres Ausdrucks, farblich gestaltet.
Aufstellen der Stämme
Dank der engagierten Mutter einer Schülerin konnte eine Baufirma gewonnen werden, welche die fertigen Stämme kostengünstig im Schulgarten aufstellte.
Präsentation der Stämme
Nach der Aufstellung im Schulgarten gab es eine feierliche
Präsentation mit allen SchülerInnen, LehrerInnen, Eltern,
UnterstützerInnen des Projektes, Vertretern des Stadtschulrats und dem Bezirksvorsteher.
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I-JOURNAL Mai 2015
Bemerkenswertes:
Neben dem insgesamt großen Interesse aller Teilnehmenden waren einige Kinder besonders engagiert
bei der Sache. Diese kamen auch in den Pausen und erbaten sich Freistunden von den Lehrkräften um
weiterarbeiten zu können.
Besonders im Gedächtnis blieb ein autistischer Bursche, der zuerst Angst hatte, sich eine Hand abzuschneiden. Über das Zeichnen auf den Stämmen erhielt er die nötige Sicherheit um mit Schnitzwerkzeugen
selbständig arbeiten zu können.
Überraschend einfach fiel den SchülerInnen die Motivfindung und Umsetzung derselben. Obwohl es nicht
ganz einfach ist, zeichnerische Fähigkeiten auf grobe Umrisse, passend zum Material zu reduzieren, gelangen markante und anschauliche Bilder.
Leider konnte die geplante Zusammenarbeit mit der „kunstschule.wien“ nicht durchgeführt werden, weil
diese zum Ende des Jahres 2014 geschlossen wurde.
So war ein erheblicher Mehraufwand an privater Eigenleistung des Künstlers Alfons Nebmaier erforderlich,
um das Projekt durchführen zu können.
Das unentgeltliche Bereitstellen von Werkzeugen und eines Zeltes durch den Aktivspielplatz konnten die
Kosten für das Projekt erheblich gesenkt werden.
Interessant zu erwähnen ist, dass dieses Projekt evaluiert wurde. Sie bestätigte den überaus positiven Eindruck, der bereits während des Workshops spürbar war.
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I-JOURNAL Mai 2015
Fazit:
Das kreative und entspannte Miteinander ohne Leistungsbewertung fand bei allen viel Beifall.
Aufgrund der offenen und wertschätzenden Atmosphäre an dieser Schule und während des Workshops
wurden Ergebnisse erzielt, die weit über vergleichbare Projekte hinausgehen.
Ein sehr gelungenes Projekt im Zusammenspiel von SchülerInnenn, KünstlerInnen, LehrerInnen und SozialarbeiterInnen.
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Evaluierung des Projekts KRAFT-WERK
Methode
Teilnehmende Beobachtung beim letzten Projekttag im Schulhof am 15.10.2014 und
vier Gruppenbefragungen mit am Projekt beteiligten SchülerInnen aller vier
Jahrgänge (rund 15-20 Kinder)
Teilnehmende Beobachtung/Erstes Resümee:
Sozialarbeiterische Interventionen: DSA fällt auf, dass ein Mädchen abseits sitzt
und nicht mitmacht; im Gespräch über ein Motiv, mit der „falschen“ Farbe, spricht
das Mädchen sehr schnell ihren Frust an und es werden sehr persönliche Dinge
besprochen; Mädchen erhält Zuwendung, Zuneigung (Umarmung) und Gespräch
mit konkreten Ideen/Tipps
Berufsorientierung: Ein Bursche schildert beim Arbeiten, dass ihm die Holzarbeit
gefällt, dass sein Bruder seine Schnupperpraxis in einer Tischlerei macht und
dass eine Tischlerlehre u. U. eine Option wäre; Erkenntnis, dass es sich bei
dieser Tätigkeit um Arbeit handelt.
Nachhaltigkeit: Für die Kinder ist es etwas Bleibendes, auch wenn sie nach vier
Jahren nicht mehr in der Schule sind
Die SchülerInnen sprachen in den Interviews die zentralen Dimensionen der
Gesundheitsförderung an (wissenschaftlich übersetzt:) Partizipation,
Freiwilligkeit, Ganzheitlichkeit (körperliche, psychische und soziale Gesundheit),
Nachhaltigkeit
Ganz zentral in Gesundheitsförderungsprojekten mit der Zielgruppe Kinder und
Jugendliche ist der „Spaßfaktor“, Angebote müssen Spaß machen: Dass es
gelungen ist, wird sehr oft von den Befragten angeführt.
Die Kinder machen im Projekt Lernerfahrungen auf mehreren Ebenen und
bestätigen somit die Zielsetzung des Projektes: Handwerk, Teamarbeit, sozialer
Zusammenhalt werden oft erwähnt; sie scheinen auch ihre Identität mit ihrer
Schule zu stärken, weil sie den Garten verschönern, sich beim Dank der
Direktorin gegenüber beteiligen und etwas von sich selbst zurücklassen. Es ist
„ihr“ Projekt, einige zeigen mir nach der Erläuterung der einzelnen Symbole den
Platz, wo die Pfähle hinkommen, erläutern, die Nebennutzung (Fußballtore) und
zeigen mir, wo die Rindenschnitzel der Kiefern gelandet sind.
1
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I-JOURNAL Mai 2015
Fragestellungen und Protokoll der Befragungen
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Warum macht Ihr hier mit?
Wie gefällt euch das Projekt?
Wieso findet dieses Projekt an eurer Schule statt?
Wisst Ihr, wie das Projekt heißt? Warum heißt es KRAFT-WERK?
Wenn Ihr auf das zurückblickt, was Ihr hier gemacht habt: Was habt Ihr dabei gelernt?
Wie ist das Projekt in Eurer Klasse angekommen? Gab es Kinder, die nicht
mitgemacht haben? Wisst Ihr, wieso sie nicht mitgemacht haben?
7. Verbesserungsvorschläge
Frage 1: Warum macht Ihr hier mit?
1.Klasse
um eigene Ideen in den Baum zu schnitzen und das hat dann eine Bedeutung
(z.B. soll der Engel die ganze Schule beschützen);
die Idee hat gefallen, Handwerk, macht Spaß und ist lustig
ich arbeite gerne mit Holz
2. Klasse
ist lustig und macht Spaß; ist interessant so etwas zu machen; macht nicht jede
Schule, es ist echt cool geworden, es ist einmalig
3. Klasse
Das Projekt ist freiwillig; wer will, geht hinaus und macht mit, nachdem er die
Lehrerin gefragt hat.
4. Klasse
ist interessant und etwas Besonderes, macht Spaß; da bleibt was;
Frage 2: Wie gefällt euch das Projekt?
1.Klasse
es ist sehr interessant, was eigenes zu schaffen und man kann stolz sein
es ist einfach eine Ehre, das zu machen
die Bäume sagen etwas
2. Klasse
Nebi hat ihnen nur gezeigt, wie es geht und hat ihnen Tipps zur Verbesserung
gemacht und sie gelobt (gut gemacht); Nebi mit der Kettensäge war urcool;
3. Klasse
gut, sehr gut; würde sofort wieder mitmachen, macht Spaß
man ist an der frischen Luft
man kann sich austoben,
man kann mit Werkzeug arbeiten,
mir gefallen die Farben und das Malen
4. Klasse
ist sehr gut, urcool alles; hat Spaß gemacht, etwas Neues zu machen; das macht
man nicht jeden Tag, ist etwas Besonderes
2
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I-JOURNAL Mai 2015
wir machen etwas aus einem Baum, obwohl wir das nicht gelernt haben
es ist ein Superprojekt, wo alle Jahrgänge mitmachen konnten; sie haben sich
dadurch auch besser klassen-/jahrgangsübergreifend kennengelernt
Nabi hat genau gezeigt, wie man etwas macht, war urcool
Frage 3: Wieso findet dieses Projekt an eurer Schule statt?
1.Klasse
haben wir für die Direktorin gemacht und die Nachbarn können sehen, in welche
schöne Schule wir gehen
2. Klasse
das ist eine Überraschung für die Direktorin beim Abschlussfest
3. Klasse :
es ist für die Abschlussfeier der Direktorin
4. Klasse
damit wir die Teamarbeit lernen und der Garten schöner wird
Frage 4: Wisst Ihr, wie das Projekt heißt? Warum heißt es KRAFT-WERK?
1.Klasse
Totempahl
2. Klasse
Totempfähle, weil das eigene Kraft gibt, das wird hier verewigt, wir haben uns
überlegt, welche Tiere oder was uns Kraft gibt, der Name Kraftwerk ist super
„Mir gibt die Eule Kraft, weil mich das an meine Oma erinnert“
3. Klasse (2 Kinder):
Namen kennen sie nicht
4. Klasse
kennen den Begriff KRAFT-WERK, verstehen aber den Zusammenhang nicht,
erinnert an Atomkraftwerk meint eine, ein anderer mutmaß, weil man mit Kraft
arbeiten muss
Frage 5: Wenn Ihr auf das zurückblickt, was Ihr hier gemacht habt: Was habt Ihr dabei gelernt?
1.Klasse
mit dem Hammer arbeiten ist schwierig, aber das überstehende Holz muss
weggemacht werden
mit Werkzeug umgehen
was manche Zeichen bedeuten
Aufpassen und sich nicht weh tun
aus einem Baumstamm etwas richtig Schönes machen
so ein Projekt kann man nur gemeinsam machen, sonst braucht man Stunden
oder ein Jahr, man braucht die Teamarbeit (Nebi war mit der Kettensäge schon
etwas schneller)
2. Klasse
zuerst auf Papier Skizzen entwerfen, jedes Kind hat sich ein Motiv überlegt, sie
haben alles selbst gemacht
wenn man sich schlecht fühlt, kann man sich Kraft holen
wie man mit Werkzeug umgeht, z.B. mit Hammer
wie man groß malt
3
90
I-JOURNAL Mai 2015
dass diese Arbeit anstrengend ist (körperlich) und dass die Arme nachher weh
tun
dass man genau hinschauen muss, wo man klopft, dass man überhaupt
aufpassen muss
3. Klasse (2 Kinder):
Umgang mit neuen Werkzeugen; Nebi hat uns gezeigt, wie man mit Werkzeug
umgeht.
4. Klasse
es ist eine Zusammenarbeit, man lernt im Team zu arbeiten; man lernt
aufeinander Rücksicht zu nehmen, sich abzusprechen
Entwurf auf Papier
wie ein Baum geschält werden muss
genau zu sein, richtig schauen;
Umgang mit Werkzeug
dass nicht immer alles geht: einer war zu spät und hatte dann kein eigenes
Symbol mehr
Nachdenken und dass es Zeichen gibt, die uns glücklich machen (Schokolade,
Musik)
Frage 6: Wie ist das Projekt in Eurer Klasse angekommen? Gab es Kinder, die nicht mitgemacht haben?
1.Klasse
war freiwillig, aber weil es so toll ist, hat fast jeder mitgemacht; nur ein paar Faule
haben lieber gespielt
2. Klasse
in den verschiedenen 2. Klassen haben fast alle mitgemacht, 1 Kind das sich nicht
beteiligt, hat nicht mitgemacht erzählt ein Bub (ist faul und schaukelt lieber)
Manche lachen auch über das Projekt und würden nicht auf ihre Pausen und Freizeit
verzichten
3. Klasse (2 Kinder):
unterschiedliche Ansicht: sehr viele aus der Klasse haben mitgemacht/nur 5-6 Kinder
haben mitgemacht
4. Klasse
alle wollten mitmachen, ging aber nicht gleichzeitig und es wurde aufgeteilt, es ist in
ihrer Klasse sehr gut angekommen, sie haben sogar in der Freizeit und Pause
gearbeitet
Frage 7: Verbesserungsvorschläge
1.Klasse
nein, ich würde das sehr gerne öfters machen
2. Klasse
jeder soll sein Motiv selbst anmalen, sind zum Teil mit der Farbauswahl nicht
zufrieden; jeder sollte ein eigenes Motiv haben oder eine Gruppe gemeinsam; wenn
man die Motive kleiner gestaltet, haben mehr Platz
4. Klasse
jeder sollte ein kleines Zeichen haben, man sollte den Baum auch auf der Rückseite
bemalen
blöd war, dass Nebi zwei Tage krank war, so sind sie in Verzug geraten
4
91
I-JOURNAL Mai 2015
Lesbische Lehrerinnen, schwule Lehrer
oder
Reflexionen zur Diversität des Systems Schule
Prolog
Mai 2014. Wir befinden uns im Büro der Antidiskriminierungsstelle der Stadt Wien für gleichgeschlechtliche
und transgender Lebensweisen. Anwesend sind Mag. Wolfgang Wilhelm, der Leiter der Antidiskriminierungsstelle, Dipl.-Päd. Markus Pusnik und Dipl.-Pädn. Melanie Tassev. Wir suchen einen Namen. Prägnant
soll er sein und darüber hinaus aber verdichtet ein Anliegen präsentieren. Nach vielen Versuchen formt
sich, zuerst vage und zweifelnd, dann eher zustimmend ein Wort: AUSGESPROCHEN. In diesem Begriff
vereint sich Betonung, Handlung und Sichtbarkeit. – Doch worum geht es? Was soll AUSGESPROCHEN
werden? Und dem Umkehrschluss folgend: Wurde denn bisher etwas verschwiegen?
Rückblick
Beginnen wir vielleicht mit meiner Person: Ich heiße Markus Pusnik und bin als Sonderschullehrer für den
Wiener Stadtschulrat tätig; darüber hinaus kennzeichnet mich die simple Tatsache, dass ich schwul bin.
In dieser Aussage begegnen wir dem Spektrum eines Teilbereichs meiner Identität und meiner beruflichen
Funktion. Die hier betonte Trennung zwischen Sein und Tun ließe die konsequente Haltung einfordern, wonach eine so gedachte Differenzierung jederzeit ihre Gewichtung in beruflichen beziehungsweise privaten
Kontexten Geltung beanspruchen dürfte. Das heißt also, ich arbeite als Lehrer und das ist meine funktionelle Aufgabe. Ich bin schwul und das ist meine Privatsache. Eine gegenseitige Einflussnahme dieser
„Positionen“ hat nicht stattzufinden.
Diesen Ansatz vertrat ich auch, als ich mich vor 15 Jahren meiner Aufgabe als Sonderschullehrer gestellt
habe: Der pädagogische Auftrag, die Vermittlung von Wissen und Grundwerten stehen im Vordergrund,
meine Person rückt dadurch in den Hintergrund. Die pädagogische Wirklichkeit und der Berufsalltag erzählten mir jedoch eine andere Geschichte. Kinder und Jugendliche wollen wissen, mit wem sie es da im
Unterricht zu tun haben. Fragen nach meiner Privatheit werden gestellt, meine Authentizität durch kritische
Beobachtung überprüft. Eltern und Erziehungsberechtigte wollen meine pädagogische Expertise durch eigene Erziehungsbetroffenheit fundiert wissen, manche möchten mich sogar in einer stabilen Beziehung
verankert sehen. Auch im Kollegium wird nicht nur über pädagogische Belange gesprochen, sondern vor
allem werden beim morgendlichen Kaffee Alltagserfahrungen reflektiert. In all diesen Fragen, den kritischen
Berechtigungsabklärungen der Erziehungsberechtigten und den Erzählungen im Kollegium wurde jedoch
stets ein heterosexuelles Identitätskonzept von mir vorweggenommen. Ich bin ein Mann und darum wurde
ich nach einer Frau und Kindern gefragt. Diese kulturell idealisierte und simplifizierte Kausalkette bildet
scheinbar das Zentrum aller möglichen diskursiven Fragestellungen und damit begreifbaren Erkundungen
meiner Existenz und meiner Befähigung als Lehrer.
So gesehen wurde mir klar, dass die Schülerinnen und Schüler, das Kollegium, die Eltern oder Erziehungsberechtigten und die Schulhierarchie in einem solcherart erzählten und betont heteronormativen Geflecht
miteinander verwoben sind. Ich bin also stets in meiner Funktion mit einem vermuteten Identitätskonzept
von mir konfrontiert, das bewahrheitet und bestärkt werden möchte. In diesem pädagogischen Setting werde ich auch privat mitgedacht. Hier stehe ich als Lehrer und vor allem als Mensch.
Meine Antwort auf die bohrenden Fragen und Vermutungen war ein sich jährlich wiederholendes Coming
Out bei den neuen Schülerinnen und Schülern, aber auch im Lehrerinnen- und Lehrerzimmer bei neuen
Kolleginnen und Kollegen. Und, wenn es sich ergeben wollte, auch bei den Erziehungsberechtigten. Seit
meiner Verpartnerung 2011 ist aufgrund meines veränderten Personenstandes auch mein Dienstgeber
über meine Lebensidentität informiert. Dabei stand und steht allerdings der Versuch im Vordergrund, mein
Coming Out nicht bühnengleich als Besonderheit zu inszenieren, sondern mit Alltagssprache abseits von
92
I-JOURNAL Mai 2015
Anlassbezogenheiten auszusprechen.
Ich möchte jedoch keine langen Geschichten darüber erzählen, welche der bisherigen Reaktionen zu meiner Offenheit mich verblüfft, bestärkt oder auch zermürbt haben, und wie viel Aufklärungsarbeit manchmal
nötig war, welche sich an mir als Rollenmodell schärfen, reiben und abarbeiten musste. Ich will hier betonen, dass im Sonderpädagogischen Zentrum Holzhausergasse unter der Leitung von Sonderschuldirektorin Regine Gratzl, an dem ich viele Jahre gerne unterrichtet habe, Diversität innerhalb der Schulhauskultur
sichtbar verhandelt wird. Verschiedenheit, Abweichungen, Buntheit sind hier nicht nur eine Didaktik des
Anderen und Fremden, die sich mit „blätternden Buchseiten“ aufgrund neuer Themen wieder verliert. Innerhalb dieser Schulhauskultur konnte ich meiner Aufgabe als Lehrer nachkommen und schwul sein. Ich war
nicht Projektionsfläche und Signal, sondern Vermittler eines allgegenwärtigen Konzepts der „diskriminierungsfreien Zone“ Schule.
Individuelle Erfahrungen
Im Lauf dieser 14 Jahre ist mir allerdings sehr klar geworden, dass MEIN Erleben und MEINE Wahrnehmungen nicht repräsentativ für lesbische, schwule oder bisexuelle Lehrerinnen und Lehrer im Kontext
Schule sind. Themen wie transgender oder auch Intersexualität sind noch nicht einmal mitgedacht oder gar
ausgesprochen worden. Zusätzlich wurde ich auf fehlendes Wissen beziehungsweise große Mythen in diesen Belangen aufmerksam gemacht. Ich habe Kolleginnen und Kollegen kennengelernt, die ihre sexuelle
Orientierung nicht thematisierten und sich sogar heterosexuelle Parallelidentitäten zurechtgelegt haben,
welche sich normiert beruhigend erzählen ließen. Dahinter steht die oft recht bedrohlich erlebte Frage:
Würde ein Coming Out, eine authentische Darstellung der eigenen Persönlichkeit zu strukturellen Diskriminierungen im Arbeitsumfeld führen?
In zahlreichen Gesprächen habe ich erkannt, dass das Thema lesbisch, schwul, bisexuell, transgender,
intersexuell (kurz LGBTI – als Abkürzung für lesbian, gay, bisexual, transgender, intersexual) didaktisch
aufbereitet beinahe ausschließlich für Schülerinnen und Schüler zur Verfügung gestellt wird, weil diese
Identitätskonzepte wie zuvor beschrieben scheinbar nur außerhalb von Schule (!) vermutete Minderheiten
betreffen. Das Thema wird dementsprechend (wenn überhaupt) als Wissensvermittlung eingestuft, aber
kaum als lebendige Gegenwart zur Kenntnis genommen. LGBTI im Lehrerinnen- und Lehrerkontext findet
– drastischer noch – keine ausgesprochene Sichtbarkeit, sondern im Gegenteil bemühte Verschwiegenheit.
Sei es, aber sprich nicht darüber!
Erste Zwischenbilanz
Mein persönliches Erleben und die Erfahrungen von LGBTI Kolleginnen und Kollegen miteinbeziehend
konnten erste Thesen formuliert werden: Das persönliche Identitätskonzept ist im Setting Schule niemals
nur Privatsache. Eine hohe Anzahl von LGBTI Lehrenden formuliert demgegenüber jedoch die Befürchtung, dass ein Coming Out, also ein Ansprechen der sexuellen Orientierung oder auch der sexuellen Identität strukturelle Diskriminierung beziehungsweise Mobbing nach sich ziehen würde. Das bedeutet, dass sich
eine nicht unwesentliche Zahl von LGBTI Lehrenden nicht ausreichend im Sinne der Antidiskriminierungsrichtlinien am Arbeitsplatz geschützt beziehungsweise vertreten fühlt.
Die Konsequenz
Das Treffen im Mai 2014 im Büro der Antidiskriminierungsstelle der Stadt Wien für gleichgeschlechtliche und
transgender Lebensweisen hatte also folgende Begründung: Mit Unterstützung von Wolfgang Wilhelm als Leiter der Antidiskriminierungsstelle haben Melanie Tassev und ich, Markus Pusnik, den ersten Verein für LGBTI
Lehrerinnen und Lehrer in Österreich gegründet. Der Name dieses Vereins lautet: AUSGESPROCHEN!
93
I-JOURNAL Mai 2015
Einen Verein zu gründen, der sich im Spektrum LGBTI und Lehrerinnen und Lehrer bewegt, hat allerdings
weitreichende Konsequenzen. Als Repräsentantin und Repräsentant einer LGBTI Organisation stellt man
sich einer Öffentlichkeit, die wir selbst nicht mehr in einem bewussten Akt auswählen können. Natürlich haben wir uns auch die Frage danach gestellt, ob wir uns mit der ausgesprochenen Deutlichkeit des Vereins
auch Mobbing und Anfeindungen aussetzen könnten, die nicht nur in beruflicher, sondern auch in privater
Hinsicht nachhallen würden. Diesen Vorbehalten zum Trotz haben wir uns entschieden für unsere Rechte
einzutreten, gegen Verschwiegenheit bewusst und aktiv vorzugehen, sowie mit unserer Vereinsarbeit unterstützend zur „diskriminierungsfreien Zone“ Schule beizutragen.
Ich möchte im folgenden Abschnitt die drei Schwerpunkte der Arbeit des Vereins AUSGESPROCHEN!
prägnant formulieren und die dahinter liegenden Ziele darlegen.
Ausgesprochen: Diskussion
Den ersten und essenziellen Punkt der Vereinsarbeit stellt die Diskussion dar. In den monatlichen Vereinstreffen möchten wir mit LGBTI Lehrenden und auch mit daran interessierten Pädagoginnen und Pädagogen
über individuelle Erlebnisse und Erfahrungen sprechen. Wir möchten zuhören, uns in die Schwierigkeiten
aber auch Erfolge als lesbische, schwule, bisexuelle, transgender oder intersexuelle Lehrende einhören.
Dahinter steht natürlich einerseits die Idee des Aufbaus eines Netzwerks, das Stabilität, Sicherheit und
Stärkung vermittelt und betont: Du bist mit deinen Wahrnehmungen nicht alleine! Darüber hinaus sollen
über die monatlichen Reflexionen Schwerpunktthemen erkannt und formuliert werden, die imstande sind,
aus Einzelerlebnissen strukturelle Dynamiken und Schwerpunkte abzuleiten. Dadurch sollen Formulierungen und Diskussionen ermöglicht werden, die sich auch theoretisch benennen und erklären lassen. Ein
hilfreicher kulturtheoretisch fundierter Blick ermöglicht sachliche und fundierte Argumentationslinien zur
Einführung von Antidiskriminierungsmaßnahmen am Arbeitsplatz Schule.
Ausgesprochen: Aufklärung
Wir bieten innerhalb unserer Vereinstätigkeit auch die Möglichkeit an, Workshops an Schulen oder pädagogischen Institutionen abzuhalten, welche die noch immer besondere Situation von LGBTI Lehrerinnen
und Lehrern betont anspricht. In einem weiteren Schritt möchten wir in dieser Klarheit auch eine Einbettung
in die Antidiskriminierungsrichtlinien am Arbeitsplatz benannt wissen. Erste Erfahrungen bei Workshops,
die wir an der Pädagogischen Hochschule in Wien abhalten konnten, bestätigen das Interesse und auch
die Notwendigkeit der Aufklärung im Themenspektrum LGBTI. Damit möchten wir aber auch darauf hinweisen, dass der Kontext LGBTI und Schule natürlich immer einen didaktischen Moment, die Vermittlung
von Kompetenzen, beinhaltet, aber mehr noch fokussieren wir mit unserem Angebot auf arbeitsrelevante Bedingungen als Lehrerinnen und Lehrer. So möchten wir aber ebenso dem Mythos entgegenwirken,
wonach Betroffenheit konsequent zur didaktisch-methodischen Kompetenz führt. LGBTI mit Schülerinnen
und Schülern zu diskutieren und gleichberechtigt zu benennen ist Sache von allen und nicht nur von einer
„exklusiven“ Gruppe.
94
I-JOURNAL Mai 2015
Ausgesprochen: Projekte
Das Schulhaus ist konzentrierte heterosexuelle Wahrheit. Hinter dieser bewusst provokanten These steht
die Annahme, dass der schulische Alltag dominierend heteronormativ gestaltet ist. Leserlernfibeln, die noch
immer traditionelle Familienformen hochhalten, Textbeispiele in Mathematikbüchern, die heterosexuelle
Diskursgeschichten und genderrelevante Ungerechtigkeiten mit der vordergründigen Logik der Rechenaufgabe überdecken wollen: Es gibt sie in diesen Textbeispielen tatsächlich noch immer, die gut verdienenden,
namentlich genannten männlichen Spezialisten in der IT-Branche und dem gegenüber die namenlosen
Mütter, die zu anderen Familien putzen gehen und damit eine Einkommensschere beschreiben, die sogar
die Realität bei weitem übertrifft, von LGBTI Realitäten ganz zu schweigen! Verweise von Lehrerinnen und
Lehrern auf Mamas, die bei den Aufgaben helfen, weil die Papas in der Arbeit sind.
Dieser kleine und nicht ganz vollständige Auszug aus der Lebenswirklichkeit Schule ist Anlass für uns,
auf Diversität und Vielfalt hinzuweisen. Diese diverse Dynamik kann sich aber nur über eine solcherart
gestaltete Schulhauskultur entfalten. Mit Plakatsujets, Kampagnen und Projekten möchten wir den Dialog
aber auch die kontroverse Diskussion anregen, die letztendlich zu einer ausgesprochenen Sichtbarkeit von
LGBTI führen kann.
Das erste Jahr der Vereinsarbeit
Im Mai 2015 besteht der Verein AUSGESPROCHEN! nunmehr ein Jahr. Workshops und zahlreiche Vernetzungstreffen liegen bereits hinter uns. Wir freuen uns darüber, auch im produktiven Dialog mit dem Wiener
Stadtschulrat zu stehen. Termine bei der Pädagogischen Hochschule haben nachhaltiges Interesse an unserer Vereinstätigkeit gezeigt. In gewerkschaftlicher Hinsicht konnten wir zumindest Anfragen formulieren
und uns somit lesbar machen.
Das erste Jahr hat uns allerdings auch ganz klar gezeigt, dass das Thema LGBTI und Lehrerinnen und
Lehrer einen noch immer gewagten Inhalt darstellt, der äußerst sensibel gedacht und betont verhalten ausgesprochen werden sollte. Mythen, vermutetes Wissen und das komplizierte schulische Gefüge bewirken
oftmals Stillstand, da jeder klar bekennende Zugang im Widerspruch zu einer der Anforderungsgruppen im
Schulsystem stehen könnte. So wurde beispielsweise eine Kollegin dazu angehalten, sich nicht vor den
Schülerinnen und Schülern als lesbisch zu outen, da sie sonst vor möglichen interkulturell motivierten (verbalen und körperlichen!) Attacken nicht zu schützen sei.
Diese kleine narrative und unerhörte Vignette ist insofern bemerkenswert, als ihr die Komplexität der eigentümlichen Herausgehobenheit des Schulhauses zugrunde liegt. Wolfgang Müller-Funk bezeichnet Kultur
als Ensemble von Erzählungen1. Diese Narrative vermögen Sinnstiftung und kulturelle Identifikation zu
etablieren. Im Schulhaus begegnen sich, ergänzen sich und kollidieren mitunter allerdings Kulturen. Allein
diese Konzentration zeigt klar die Herausforderungen, die an Diversität und Antidiskriminierung gestellt
werden.
Grafik: Ausgesprochen!, Gestaltung Tassev/Pusnik © 2014
1 vgl. Müller-Funk, Wolfang, Die Kultur und ihre Narrative, Wien/New York: Springer 22008.
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I-JOURNAL Mai 2015
Das Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Zugänge möchten wir als Schulhaus-Kultur begreifen, wie
die Grafik veranschaulicht. Für diese Atmosphäre möchten wir Angebote zur Verfügung stellen und uns
somit noch mehr im Kanon Diversität und Inklusion verortet wissen. LGBTI hat sicher kein Alleinstellungsmerkmal, aber an ihrer Ausgesprochenheit überprüft sich ganz klar eine umfassendere Schulhauspolitik der
Toleranz und Akzeptanz.
Epilog
Mit dem Schuljahr 2014/15 habe ich einen neuen Aufgabenbereich im Rudolf Ekstein Zentrum unter der
Leitung von Sonderschuldirektorin Madeleine Castka als mobiler Mosaiklehrer übernommen. An meiner
neuen Stammschule war von Anfang an klar, dass ich mich mit meiner ganzen Persönlichkeit einbringen
kann und die Transparenz meiner umfassenderen Identität bei mir liegt. So gesehen wurde mir das Gefühl
vermittelt, mich entscheiden zu können. Am Rudolf Ekstein Zentrum selbst wurde die Agenda „Gender“
zudem um den Bereich „Queer“ erweitert.
Innerhalb meiner mobilen Tätigkeit erlebe ich viele Schulen in Wien und kann für mich sagen, dass ich
wohl wieder einmal Glück gehabt habe, an eben jenem Rudolf Ekstein Zentrum tätig sein zu können. Das
ist allerdings auch der Widerstand, der sich in mir bemerkbar macht. Die Entscheidung, ob ich mich nun
als lesbisch, schwul, bisexuell, transgender oder intersexuell oute, darf keinen Glücksfaktor in sich bergen,
sondern muss durch ein gelebtes, anerkanntes und gesichertes Fundament gestützt werden. Dafür stehen
wir als Verein AUSGESPROCHEN! und daran wird sich der Erfolg unserer Arbeit messen lassen.
Kontakt
Internet:
Mail:
Telefon:
Facebook: www.ausgesprochen.cc
[email protected]
+43/664 8850 7576
facebook.com/ausgesprochen.cc
P.S.: Die Teilnahme an Vereinssitzungen oder die Mitarbeit an Projekten ist natürlich nicht an sexuelle Orientierungen gebunden. Wir freuen uns über JEDE Unterstützung.
P.P.S.: Besonderer Dank für den begleitenden und kritischen Entstehungsprozess des Artikels gebührt der
Kassierin und Lektorin des Vereins Susanne Kollmann!
Dipl.-Päd. Markus Pusnik, BEd, BA
Obmann des Vereins
Ausgesprochen! LGBTI Lehrerinnen und Lehrer
geb. 1974, Lehramt für Sonderpädagogik, Ausbildung in Theater- und Psychodramapädagogik, Bachelorstudium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft,
derzeit als mobiler Mosaiklehrer für das Rudolf Ekstein Zentrum in Wien tätig,
mehrjährige Erfahrung mit Schulentwicklungsprozessen,
Leitung von Workshops mit Schwerpunkt LGBTI und Schule,
genießt Theater und Film - am liebsten mit seinem Mann.
Kontakt: [email protected]
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I-JOURNAL Mai 2015
Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung und
Perspektiven zum Umgang damit im Schulalltag
Er könnte so viel mehr, würde er nur das tun, was man ihm sagt.
Manchmal habe ich das Gefühl, sie sieht durch mich durch, wenn ich ihr etwas sage.
Solche und ähnliche Sätze gleiten oftmals beinahe unbemerkt über die Lippen jener, die sich mit Kinder
konfrontiert sehen, die zwar organisch einwandfrei hören, aber dennoch nicht zuhören zu scheinen.
Wie lässt sich die so genannte Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (im weiteren Verlauf
des Textes mit AVWS abgekürzt) beschreiben? Die deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie
e.V. (im weiteren Verlauf des Textes mit DGPP abgekürzt) versteht darunter in ihrer aktuellsten Leitlinie „die
Störung der Verarbeitung (Hirnstammniveau) und Wahrnehmung (höhere auditive Funktion unter Einbeziehung kognitiver Funktionen) der nervalen Impulse“1.
Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung – Wie sieht das aus?
Als Anzeichen eines Vorliegens einer solchen, nicht funktionalen Störung, nennt die DGPP2:
•
Probleme mit dem Verstehen auditiver Informationen
•
Missverständnisse bei verbalen Aufforderungen
•
verlangsamte Verarbeitung von verbalen Informationen
•
verzögerte Reaktion auf auditive oder verbale Stimuli
•
schwaches auditives Gedächtnis
•
gestörte Erkennung und Unterscheidung von Schallreizen
•
gestörte Schallquellenlokalisation
•
Einschränkungen des Sprachverstehens und des Fokussierens im Störgeräusch
•
Einschränkungen beim Verstehen von veränderten Sprachsignalen (z.B. unvollständige oder in der
Redundanz reduzierte Sprachsignale), sowie
•
die Beeinträchtigung der auditiven Aufmerksamkeit.
Besonderen Fokus sollte allerdings bei der Diagnose, eines diese Symptome aufweisenden Menschen,
darauf gelegt werden, ob eventuell ergänzende oder rundweg andere Störungen, wie Aufmerksamkeitsstörungen, allgemeine kognitive Defizite oder modalitätsübergreifende mnestische Störungen vorhanden sind.
Ein Vorliegen einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung ist dann anzudenken, wenn sich
durch normierte und standardisierte psychoakustische Tests Einschränkungen nicht-sprachgebundener
und sprachlicher Signale nachweisen lassen.
1
2
Vgl.: http://www.dgpp.de/cms/media/download_gallery/DGPP-Leitlinie-AVWS-2010.pdf S.3 25.01.2015 12:09
Vgl.: http://www.dgpp.de/cms/media/download_gallery/DGPP-Leitlinie-AVWS-2010.pdf S.4ff 25.01.2015 12:09
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I-JOURNAL Mai 2015
Die oben genannten Anzeichen einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung können im
Schulalltag unter anderem folgendermaßen auffallen3:
•
Andauernd übermäßiges leises Sprechen
•
Andauernd übermäßiges lautes Sprechen
•
Allgemein „lärmig“ im Umgang
•
Andauernd auffällig monotones Sprechen
•
Langes Andauern gewisser Sprachfehler (besonders f, s, sch)
•
Allgemeine Verhaltensunsicherheit
•
Schaut oft, was die anderen machen
•
Viele Rückfragen, Vergewisserungsfragen
•
Relativ häufiges unmotiviertes („unerklärliches“) Erschrecken, z.B. wenn jemand von hinten an das Kind
heran tritt
•
Reagiert schlechter in lauten oder halligen Räumen
•
Inhaltlich von der Frage abweichende Antworten
•
Inhaltlich von der Aufforderung abweichende Leistungen
•
Verwechseln ähnlich klingender Wörter: Fisch –Tisch, Kopf – Topf
•
Besseres Aufgabenverständnis in Einzel- oder Kleingruppensituationen
•
Auffälliges Interesse an Mundbewegungen und Mimik
•
Reklamation, wenn zu leise gesprochen wird
•
Orientierungslosigkeit bei Ansprache
•
Durch andere Reize (visuell oder auditiv) schnell abgelenkt
•
Kein oder nur kurzzeitiges Interesse an Geschichten
•
Deutlich eingeschränkte auditive Merkfähigkeit (Abzählreime, Liedtexte etc.)
Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung – Wer stellt sie fest?
Sollte nach eingehender Beobachtung durch den Lehrkörper, das Elternhaus, anderer Bezugspersonen der
Verdacht auf AVWS vorliegen, empfiehlt sich folgende Vorgehensweise4:
•
Zunächst sollten die vier wichtigsten auditiven Leistungen (vom HNO-Verständigen) getestet werden.
Dies sind die Merkfähigkeit (Silbenfolgen), das Verstehen im Hörschall, die Identifizierung und Differenzierung von Lauten. Zudem sollten bei Verdacht auf eine Teilleistungsstörung auditiver Art sowohl
das Sehen und die visuellen Wahrnehmung und Verarbeitung (vom Augenarzt/bei der Augenärztin), die
motorische und allgemeine Entwicklung (vom Kinderarzt/von der Kinderärztin) die Intelligenz, sowie
das eventuelle Vorhandensein einer Lese-Rechtschreibschwäche (vom Psychologen/von der Psychologin), sowie das Verhalten (vom Kinderpsychiater/von der Kinderpsychiaterin) analysiert werden. Liegt in den Bereichen, die nicht vom HNO überprüft wurden, eine Auffälligkeit vor, so wird das Hauptproblem nicht im Bereich des Hörens liegen.
3
Vgl.: Konken, H. (2000). Mehrdimensionale Förderung und Behandlung in teilstationärer Form am Beispiel des Zentrums für Hör- und Sprachtherapie. In: Flöther, M., Knuth, R., Backs, M., Konken, H. und Lindner, S. Zentral auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungs-
störungen im Vorschulalter. Tagungsbericht zur Tagung am 30.11.2000 in Meppen
4Vgl.: http://lzh.www4.vobs.at/fileadmin/_migrated/content_uploads/AbklaerungsschrittefuerEltern_02.pdf
98
I-JOURNAL Mai 2015
•
Wurden beim Hörtest, sowie beim AVWS-Screening, Auffälligkeiten entdeckt, so empfiehlt sich ein sprachfreier Intelligenztest, durchgeführt von einem Psychologen/einer Psychologin, um das Vorhandensein eines allgemeines Lernproblems dezidiert ausschließen zu können, sowie weitere auditive Tests, um eine individuelle Förderung des Kindes,
sowie eine adäquate Betreuung des Menschen mit einem Teilleistungsproblem strukturieren zu können.
Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung – Maßnahmen in der
Großgruppe
Die Diagnose einer AVWS wird ein Umdenken im Alltag mit sich führen. Das Wissen um ein Kind, das sich
ständig in einer akustischen verwirrenden Umwelt befindet, muss Konsequenzen mit sich bringen.
Als Erwachsener/Erwachsene ist es mit einfachen Mitteln möglich, die Lage für das Kind erträglicher zu
machen. Als kleines Beispiel möchte ich von einem Jungen erzählen, dem nach einer AVWS Diagnose
gut geholfen werden konnte. Zunächst war es wichtig, den Personen des Umfelds zu erklären, was es
heißt, wichtige von unwichtigen Signalen nicht unterscheiden zu können. Als plakatives Beispiel wurde im
Fall des Buben erklärt, dass die eigenen Überlegungen während der Beantwortung einer Frage durch die
Lehrperson, nicht nur von miteinander kommunizierende Kindern, sondern auch durch das Summen einer
Fliege, das über das Papier Schaben eines Bleistifts, das Rascheln eines herunterfallenden Papiers gestört
werden können. Nicht, weil diese Geräusche dem Buben interessanter erscheinen, sondern schlicht und
einfach deshalb, weil er nicht unterscheiden kann, welches dieser Geräusche das momentan wichtige sei.
Die Einsicht seiner Mitschüler und Mitschülerinnen führte zu folgenden Lösungsansätzen in der Gruppe:
•
Während einer Darbietung (Anm.: Präsentation durch einen Lehrenden/ eine/einen Lernenden) verhielt
sich die Klasse ruhiger.
•
Während Gruppenlernphasen wurde mittels Gesprächsball Ordnung in Diskussionen gebracht, um ein
Durcheinander von Aussagen zu vermeiden.
•
Für Einzellernphasen wurde eine, möglicherweise als (zu) kreativ anmutende, Lösung gefunden: Baukopfhörer. Diese blockten jegliche Umweltgeräusche ab und der betroffene Junge konnte in aller Ruhe
arbeiten.
Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung – Maßnahmen von Einzelpersonen
Unabhängig vom Verhalten der Großgruppe können lehrende Personen das von AVWS betroffene Kind
unterstützen, indem sie folgende Verhaltensweisen intensivieren:
•
Die gesprochene Sprache sollte weitgehend frei von weitschweifigen Erklärungen sein.
•
Das Sprachtempo sollte reduziert werden, Wiederholungen des Gesagten sind sinnvoll. Besonders
hilfreich kann das Aufnehmen den Unterrichtsinhalt auf einen Tonträger sein, um Lehrinhalte vermehrt
zugänglicher zu machen.
•
Das Visualisierung von Gesagtem, sei es mimisch, gestisch oder zeichnerisch, sowie das immer wiederkehrende Zurückgreifen auf das Wörterbuch als Hilfestellung, unterstützt den Ausbau des Wortschatzes ungemein.
•
Zudem ist es wichtig, Kompensationsansätze des Kindes nicht als störend zu erachten. Ein Kind, das
über seine Lage informiert ist, wird Rückfragen stellen, wenn es eine Anweisung erhalten hat. Wenn
demnach eine Lehrperson sagt: „Öffne das Buch auf Seite 7.“ und das Kind fragt: „Seite 7?“, dann benötigt es Bestätigung und keine Demotivation wie „Das habe ich doch gerade gesagt.“
99
I-JOURNAL Mai 2015
•
Das Schließen einer Tür oder eines Fensters durch das Kind ist keine Arbeits-Hinauszögerungstaktik
oder der Versuch, Unruhe in der Klasse zu initiieren, es dient schlicht und einfach der Reduzierung von
Hintergrundgeräuschen.
•
Eine fixe, verlässliche Sprechposition des Lehrenden im Raum, die sich in möglichst nahem Umfeld des
betroffenen Kindes befindet und Blickkontakt ermöglicht, sollte eingeführt werden5.
•
Die Einzelförderung des Kindes durch die Pädagogen und Pädagoginnen sollte vor allem eine ganzheitliche sein, die auditive Wahrnehmung betreffend kann sie folgendermaßen aussehen:
•
Training der auditiven Wahrnehmungskonstanz
•
Fokussierung auf die auditive Figur-Hintergrundwahrnehmung
•
Arbeit an der auditiven Merkfähigkeit
•
Training der auditiven Differenzierung bezüglich der Intensität eines Geräuschs
•
Übungen zur Lokalisation von Geräuschen
•
Aufgaben die auditive Differenzierung von ähnlich klingenden Wörtern betreffend
Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung – Praktische Tipps im Bezug auf die Unterrichts-Rahmenbedingungen
Der Unterricht und das Lehrverhalten können mit einfachen Maßnahmen zum Wohle des beeinträchtigten
Kindes angepasst werden6. Vor allem das Arbeiten in kleinen Gruppen und der bewusst eingehaltene Blickkontakt des Sprechenden mit dem betroffenen Kind sind hilfreich. Lange Vorträge durch die lehrende Person können durch vereinfachte, klar gegliederte, visuell unterstütze Kurzdarbietungen ersetzt werden. Der
Einsatz von Lautgebärden sowie klar erkennbarer, sich selbst erklärender Gesten runden den mündlichen
Part des Lehrenden ab. Auch die Einbindung rhythmisch-musikalischer Elemente birgt Potenzial in sich.
Sinnvoll ist es zudem, Kinder mit AVWS immer in der Nähe der/des Sprechenden zu platzieren und möglichst viele akustische Störquellen auszuschalten (z.B. Filzkleber an Stühlen und Tischen, Vermeidung von
Störgeräuschen, etc.). Bei besonders ungünstiger Raumakustik wird zudem der Einsatz von technischen
Hilfsmitteln, wie einer EduLink-Anlage, geraten, da eine ungünstige Raumakustik eine vorhandene AVWS
verstärken kann7.
Vor allem und abschließend sei gesagt, dass die Schulung der eigenen Geduld und der des betroffenen
Kindes und seiner Angehörigen und Umgebenden, die Basis jeglicher Hilfestellung ist. Ein von AVWS betroffenes Kind, das Aufgabenstellungen und Erklärungen nicht auf Anhieb versteht oder Anleitungen nicht
prompt richtig Folge leistet, verhält sich nicht „unfolgsam“, „provozierend“, es hat die besagten Worte einfach nicht aus der Geräuschkulisse filtern können. Sind die oben erwähnten fördernden Bedingungen, wie
ein klarer Rahmen, sowie eine akustisch kalmierte Umgebung gegeben, kann ein von AVWS betroffenes
Kind integrativ / inklusiv im Klassenverband beschult werden. Zudem fördert ein ruhiges, klar strukturiertes
Umfeld jedes Kind, nicht nur jenes mit einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung.
Zur Autorin:
Ich habe drei Jahre lang in einer NMS-Integrationsklasse in Wien gearbeitet,
in der ein Junge mit AVWS beschult wurde.
Nun bin ich an einer VS tätig und für die Deutschkurse und die Intensivleseförderung zuständig.
Julia Hofmann
5Vgl.: http://www.dgpp.de/cms/media/download_gallery/Praxishilfen-AVWS.pdf S. 4ff
6
bifie (2008), Integration in der Praxis Heft 28, S. 26f
7
Vgl.: Böhme (2006), S. 102
100
I-JOURNAL Mai 2015
Wir stellen vor: Regine Striok
Jahrgang 1966, verheiratet, 3 Kinder
Lehramtsprüfung 1988
für Allgemeine Sonderschule,
Sonderschule für schwerstbehinderte Kinder und
Sprachheilpädagogik
Unterrichtstätigkeit:
1988-1990 Heilstättenschule – Neurologisches Krankenhaus
Rosenhügel
1991-1998 SPZ Herchenhahngasse (Intensiv- und Klassenlehrerin)
1999-2008 Integrationslehrerin in der AHS Ödenburgerstraße
Ab dem Schuljahr 2011/12 lag der Schwerpunkt meiner Tätigkeit in der Leitervertretung, der Administration
und der sonderpädagogischen Beratung im Sonderpädagogischen Zentrum für schwerstbehinderte Kinder,
1210 Wien, Herchenhahngasse 6.
Seit Dezember 2014 leite ich das dieses Zentrum interimistisch.
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I-JOURNAL Mai 2015
Februar 2015
Lesenswert
Ärztliche Kommunikation
mit Kindern und Jugendlichen
Lilly Damm, Ulrike Leiss, Wolfgang Habeler, Ulrike Habeler (Hg.)
LIT-Verlag
http://www.lit-verlag.at/wien/
ISBN: 978-3-643-50636-8
€ 19,90
Ärztinnen und Ärzte haben im medizinischen Alltag viel mit Kindern, Jugendlichen und ihren
Familien zu tun. Sie wissen daher aus Erfahrung, wie schwierig es ist, mit Kindern und
Jugendlichen über ernste Erkrankungen zu sprechen, oder schwierige Situationen mit ihnen zu
meistern. Häufig werden dabei Gespräche zwischen Erwachsenen geführt. Wie kann es
gelingen, die Kinder am Gespräch zu beteiligen und ihre Sichtweise zu verstehen, ihnen
Zuversicht zu geben und Vertrauen entstehen zu lassen? In der Kommunikation liegt hohes
Potenzial für eine erfolgreiche Kooperation und Salutogenese. Dieses Buch will eine Brücke
schlagen zwischen der Fülle an Literatur zur ärztlichen Kommunikation mit Kindern und
Jugendlichen, und dem medizinischen Praxisalltag. Es soll einen Impuls für Praxis, Forschung
und Ausbildung geben.
Dieses kompakte Buch ist für alle Ärztegruppen geeignet, da nahezu alle Fachdisziplinen (auch)
mit Kindern zu tun haben. (Pädiater und Allgemeinmediziner ohnehin, aber auch HNO Röntgenärzte, Chirurgen, Zahnärzte, Labormediziner usw.)
Die Herausgeber haben sich mit über 2000 Publikationen beschäftigt und konnten so
verschiedene Perspektiven darzustellen, in einer ganz bestimmten Haltung: nämlich
Kommunikation auf Augenhöhe und mit Respekt vor dem Kind und seiner Familie.
Das Buch enthält kopierfähige Überblicks-Tabellen für eilige Leserinnen und Tipps für die
Anwendung in der Praxis, sehr ausführliche Literatur-Hinweise für diejenigen, die mehr wissen
wollen, und es gibt einige Grundlagen, wie die wichtige EACH-Charta komplett.
Das wirklich Neue an diesem Buch ist, das es tatsächlich um die Kommunikation unmittelbar
und direkt mit den Kindern und Jugendlichen geht.
Impressum
www.patientenanwalt.com
Herausgeber: NÖ Patienten- und Pflegeanwaltschaft
Rennbahnstrasse 29 (Glaswürfel) Tor zum Landhaus A- 3109 ST. PÖLTEN
Telefon: 02742/9005-15575 Fax: 02742/9005-15660 E-Mail: [email protected]
Seite 1 von 1
© 2015 · NÖ Patienten- und Pflegeanwaltschaft · Buchempfehlung
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I-JOURNAL Mai 2015
„Gut leben mit einem autistischen Kind“
Am 17.4. 2015 fand eine Veranstaltung an der PH
10 mit Frau Dr. Christine Preissmann zum Thema
„Leben mit Autismus und dem Asperger Syndrom“
statt. Frau Dr. Preissmann ist Ärztin für Allgemeinmedizin, Psychotherapie und Asperger Autistin.
Die Begrüßung erfolgte durch Fau Mag. Susanne
Tomecek.
Der Festsaal im Haus 4 war mehr als gefüllt und 75 Minuten folgten Student/innen, Pädagog/innen, Direktor/innen
und z. B. auch eine Schulärztin interessiert den Ausführungen der Referentin, die viele Beispiele aus dem Alltag
erzählte und ihren Vortrag dadurch lebendig und authentisch machte.
Bei der anschließenden ca. 45 Minuten dauernden
Diskussion waren noch viele interessierte Teilnehmer/
innen anwesend und es gab einen regen Austausch.
In der Folge stellen wir die Neuerscheinung des aktuellen Buches von Frau Dr. Christine Preissmann vor.
Christine Preissmann
Gut leben mit einem autistischen Kind
Das Resilienzbuch für Mütter
Fachratgeber Klett-Cotta
1.Auflage 2015
Broschiert, 174 Seiten
ISBN:978-3-608-86046-7
Quelle: www.amazon.de/
Christine Preissmann gliedert diesen Klett-Cotta-Fachratgeber in einen Informationsteil über Resilienz („das Immunsystem der Seele“), lässt dann ausführlich Mütter autistischer Kinder mittels ihrer Lebensgeschichten/Alltagsgeschichten zu Wort
kommen und nennt danach Faktoren, die bei betroffenen Müttern dazu beitragen
können, „gute psychische Widerstandskraft zu erlernen, um mit dem alltäglichen
Stress besser umgehen und die zahlreichen Aufgaben erledigen zu können.“
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I-JOURNAL Mai 2015
Neben der Thematik der Resilienzstärkung der Mütter widmet die Autorin auch betroffenen Kindern und der
Unterstützung ihrer Kompetenzen ein Kapitel.
Wie wichtig und hilfreich therapeutische Unterstützung für Mütter von Kindern mit Autismus sein kann, ist
dem Werk ebenso zu entnehmen, wie Hilfsangebote, die in Deutschland sowohl Menschen mit Autismus,
als auch deren Angehörige in Anspruch nehmen können.
Christine Preissmann versucht in diesem Ratgeber betroffenen Müttern Mut zu machen.
Mut, trotz - oder sogar gerade wegen - der besonderen Lebensbedingungen, die sie zu bewältigen haben,
nicht auf ihre eigenen Bedürfnisse zu vergessen oder deren Befriedigung zu verzichten.
Sie plädiert dafür, (realisierbare) Wünsche, Vorstellungen und Anliegen nicht nur wahrzunehmen, sondern
sie auch ernst und sich für deren Umsetzung (ohne schlechtes Gewissen!) Zeit zu nehmen. Das mag
mancher Mutter, die sich permanent überfordert, in Zeitnot und/oder missverstanden fühlt, angesichts ihrer
Alltagssituation absurd, unrealistisch und daher undurchführbar erscheinen, aber vielleicht ist es im Sinne
der - wie Preissmann erläutert - dadurch zu erlangenden Resilienz einen Versuch wert.
Auch Ansätze wie „Leben Sie Ihr Leben und genießen Sie es in jedem Augenblick“ und „Jeder“ ist selbst
dafür verantwortlich, die eigenen Träume zu realisieren“ mögen angesichts der belastenden Situationen,
in der sich viele betroffene Mütter befinden, befremdlich klingen, sind der Autorin aber wichtig im Hinblick
auf die „Erlernung guter psychischer Widerstandskraft“, da diese letztlich dazu führt, Überforderung vorzubeugen.
Dr. Preissmann schlägt verschiedene Maßnahmen vor, die betroffene Frauen (bzw. Familien - Preissmann
bezieht Väter, so vorhanden, mitein) stärken können. Der Austausch mit anderen betroffenen Eltern, egal
ob in Form von Selbsthilfegruppen oder speziellem Freundeskreis, wird als wichtiges Element der Stärkung
empfohlen.
Neben vielen weiteren - vielleicht nicht immer ganz leicht umsetzbaren - Tipps weist die Autorin auf die
enorme Unterstützungskraft hin, die therapeutische Begleitung bieten kann und versucht, die Leserin/den
Leser zu ermuntern, rechtzeitig (!) Betreuung durch Fachleute in Anspruch zu nehmen.
Professionelle Unterstützung regt Christine Preissmann bei Bedarf auch bei Problemen in der Partnerschaft
an, da eine gelungene Beziehung, deren Pflege lt. Preissmann (vor allem auch) im Hinblick auf Resilienz
nicht vergessen werden sollte, zum einen Resilienz stärkend wirkt und zum anderen das Wohlbefinden
des Kindes steigert (was sich wieder günstig auf die Befindlichkeit und Belastbarkeitsgrenze der Mutter
auswirkt).
Achtsamkeit, Selbstwert, Gewahr-werden von Ressourcen und Kompetenzen, Fokussieren auf Positives,
Zufriedenheit mit eigenen Leistungen, konkrete Zielsetzungen sind bei Christine Preissmann keine leeren
Worthülsen, sondern Begriffe, die sie mit konkretem Inhalt zu füllen vermag und deren Umsetzung sie Betroffenen ans Herz legt, um ihre „Seele zu stärken.“
Gabriela Hirsch
(Mentorin für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung)
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Jugendbücher, die Sie lesen sollten!
Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums
von Benjamin Alire Sáenz
Aristoteles, kurz Ari genannt, und Dante lernen einander im Schwimmbad kennen.
Beide sind eher Außenseiter unter den gleichaltrigen Jugendlichen und Mitschülern,
haben jedoch sonst recht wenige Gemeinsamkeiten. Trotzdem entwickelt sich zwischen den beiden recht rasch eine Verbundenheit, die ihr familiäres und soziales Leben ebenso wie ihre Weltanschauung ziemlich verändern wird.
Vertrauen, Freundschaft, Loyalität und Liebe sind die großen Themen dieses Romans,
auch die Liebe zwischen zwei Burschen sowie der Umgang anderer Jugendlicher mit
Homosexualität.
Sáenz schafft es, auf weiten Strecken in Dialogen, die Gefühlswelt pubertierender
Burschen einzufangen. Seine wunderbare Prosa lässt die Leserinnen und Leser fast
körperlich die Gefühlslage der beiden Protagonisten spüren. Daran hat auch die hervorragende deutsche Übersetzung von Brigitte Jakobeit einen großen Anteil.
Dieses Buch ist ein unbedingtes „MUSS“ für jede „Jugendbuch-Leseliste“, empfehlenswert für Jugendliche
ab 14 Jahren und für deren Eltern, aber auch für alle anderen Erwachsenen.
Eine wie Alaska
von John Green
Eine wie Alaska ist eine Internats- und Liebesgeschichte rund um die drei Jugendlichen Miles, Chip, genannt der „Colonel“ und Alaska.
Miles, der gerne Biografien berühmter Leute liest und deren „letzte Worte“ sammelt,
teilt sich ein Zimmer mit Chip, der ihn auch gleich in das Internatsleben einführt und
seinen Freunden Takumi und Alaska vorstellt. Sofort verliebt sich Miles in das hübsche
Mädchen, deren Stimmungslagen sich allerdings oft ohne erkennbaren Grund ändern.
Und ganz schnell ist der Einzelgänger Miles nun Teil einer Clique, zusammen versuchen sie, jede Regel des Internatslebens zu brechen und lernen dabei, füreinander
einzustehen.
Eine Besonderheit des Buches sind die Kapitelüberschriften, die von DEM HÖHEPUNKT in der Geschichte ausgehen. Es gibt die Zeit davor und jene danach. Dadurch
erhöht sich seitenweise die Spannung, man liest und liest, man will einfach wissen,
was denn da an diesem Tag genau passieren wird.
Interessant ist Miles Hobby, das Sammeln von „letzten Worten“ berühmter Personen. Alleine die Idee, solch
eine Sammlung anzulegen, finde ich schon sehr skurril, musste jedoch beim Lesen feststellen, dass das
Lesen letzter Worte einen eigenen Charme hat. Sie empfinden ebenso? Hier finden Sie eine umfassende
Sammlung letzter Worte: http://de.wikiquote.org/wiki/Letzte_Worte
Gerda Kargl
Referentin für Sonderpädagogik
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I-JOURNAL Mai 2015
„Normal“ von Allen Frances
Der Autor dieses Werkes, Allen Frances, ist Professor für Psychiatrie und Verhaltensforschung und lehrte an der Duke University. Er ist ein weltweit anerkannter
Psychiater und war maßgeblich an der Entwicklung der psychiatrischen Standardwerke DSM-III und DSM-IV (DSM – das diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen) beteiligt. Der Diagnoseschlüssel der WHO, der ICD-10 wird
maßgeblich vom amerikanischen DSM beeinflusst.
Der Untertitel „Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen“ trifft im Wesentlichen
die Kernaussagen dieses Buches. Immer leichter und immer öfter wird gewöhnlichem/normalem Verhalten eine psychiatrische Diagnose zugeordnet. Normales
Verhalten wird damit einem krankhaften Zustand gleichgesetzt. Die Diagnosen
nehmen zu, die Pharmaindustrie profitiert, der Einsatz von Medikamenten ist aber
auch kritisch zu hinterfragen. Allen Lesern bekannte Beispiele für die Zunahme an
Diagnosen wären z.B:
•
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
•
Bipolare Störung
•
Psychosen
•
…
Nach Aussage des Autors „ … seien die Kinder gar nicht gestörter als früher, … was sich verändert hat sind
die Etiketten …“
Wer nach ein paar Wochen noch trauert, gilt als krank, sollte sich in professionelle Behandlung begeben
und mithilfe von Psychopharmaka rasch wieder am „normalen“ Leben teilhaben. Vor einem halben Jahrhundert war bei einem Todesfall im nahen Umfeld das sogenannte „Trauerjahr“ eine gesellschaftlich akzeptierte Form, den Verlust zu verarbeiten und sich die dafür benötigte Zeit zu nehmen.
Trotz der Kritik an der Überdiagnostizierung und Überversorgung auf der einen Seite wird in dem Buch
aber auch deutlich darauf hingewiesen, dass psychische Symptome, die sich von alleine nicht verbessern
oder wieder abklingen natürlich ärztlich abgeklärt werden sollen. Es ist bedeutsam, die Patienten, die unter
echten psychischen Erkrankungen leiden, klar zu erkennen und abzugrenzen. Medikation ist dort unumgänglich, wo sie wirklich gebraucht wird!
„Wer nicht den Zustand vollkommenen Glücks erreicht, wer kein sorgenfreies Leben führt, gerät leicht in
den Verdacht einer psychischen Störung. Unsere Ziele sind zu hoch gesteckt und unsere Erwartungen unrealistisch – vor allem in Bezug auf unsere Kinder.“
Ein interessantes Buch mit vielen Beispielen aus der Praxis und in angenehmen Schreibstil verfasst!
Auch für Nicht-Experten zu empfehlen und lesenswert!
SDn., Dipl. Päd. Elisabeth Jencio-Stricker
Direktorin des SPZ 10, Hebbelplatz 1-2, 1100 Wien
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I-JOURNAL Mai 2015
Erratum: Lebendiges Lernen
Leider hat in der Ausgabe vom Dezemer 2014 bei diesem Beitrag das Fehlerteufelchen zugeschlagen.
Wir bringen daher hier den Beitrag in der richtigen Version.
In unserem Blog „Lebendiges Lernen“ erzählen wir aus 13 Jahren Mehrstufen-Integrationsklasse an einer
Offenen Volksschule und erfreuen uns inzwischen einer großen Leserschaft.
Direkt aus der Praxis berichten wir von unseren Erfahrungen, Überlegungen und Erkenntnissen die so ein
Schulalltag mit sich bringt. Einfach mal reinschauen … wir freuen uns über Interessierte!
Dipl. Päd. Birgit Seewald-Görig BEd
13 Jahre Aufbau und Leitung einer Mehrstufen-Integrationsklasse
Mentorin für SchülerInnen mit Autismus-Spektrum-Störung
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I-JOURNAL Mai 2015
Brigitte geht
Kann man Menschen als „eine Institution“ bezeichnen? Eigentlich nicht. Eine Institution ist ein „Ding“ etwas
unbelebtes, aber dennoch gibt es in unserem Sprachgebrauch die Wendung, dass „ein Mensch zur Institution geworden ist.“
Das Bild, das die meisten Menschen zu dieser Redewendung haben ist, dass da eine Person ist, die in
einer Einrichtung tätig ist und die einen Arbeitsbereich, zu einem bestimmten Thema, ganz entscheidend
mit geprägt hat.
Wenn das die Definition bzw. das gemeinsame Bild eines Menschen ist, der „zur Institution geworden ist“,
dann ist es Brigitte Mörwald, der man das attestieren kann. Brigitte Mörwald und die „Integrationsberatungsstelle des Stadtschulrats für Wien“, das gehört seit über 20 Jahren zusammen.
Jetzt könnte natürlich eine Laudatio verfasst werden, die in einer, bei Laudatios häufig gepflegten Gewohnheit, biografisch die Stationen der beruflichen Laufbahn Brigitte Mörwalds auflistet und ihre Verdienste darlegt. Es wäre in so Ferne nicht verkehrt, als die Verdienste großartig und sonder Zahl sind.
Doch ein bisschen lebhafter wird es und der Persönlichkeit von Brigitte Mörwald entspricht es viel mehr
(denn diese, nämlich die Persönlichkeit, ist sehr bunt und vielschichtig), wenn ein Potpourri an Gedanken,
Erinnerungen, Eindrücken zusammengewürfelt und niedergeschrieben wird, wobei am Ende ja doch hoffentlich eine große Laudatio herauskommt.
Die Überschrift: IMMER hat und hatte Brigitte das Wohlergehen von KINDERN ganz klar im Fokus ihrer
Bemühungen, gefolgt von der Unterstützung von Eltern, Lehrerinnen, Inspektorinnen, Assistentinnen, Kolleginnen, Vorgesetzten im Stadtschulrat und, und, und ...
IMMER ist sie mutig, darauf bedacht, Dinge direkt anzusprechen, auszuhandeln, scheut nie Konflikte und
Spannungen und arbeitet immer lösungsorientiert. Killerphrasen sind ihr fern, ihr Herz ist weich und groß,
aber das ändert nichts an glasklarer Strukturiertheit, Kompromisslosigkeit, Direktheit, aber IMMER gepaart
mit Empathie, ganz viel Gefühl, dem Glauben an Lösungen, Hartnäckigkeit, großem Sachwissen, unglaublichem Organisationstalent, Humor.
Brigitte Mörwald als Beratungslehrerin: Karl Marx Hof, Gemeindebau-Karli, schwierigster Schüler, am besten vor Ort (systemisch) die Lage checken und Unterstützung von Kind und Familie bieten-Hausbesuch!!
(Tun das Beratungslehrerinnen heute auch noch?) Und aus Karli wurde etwas…. Oder Fahruk-Lernen war
nicht Seines aber dafür Tischtennis, also der Deal: Eine Tischtennispartie und dann eine Lerneinheit-Brigitte Mörwald hätte es im Tischtennis (wenn sie denn angetreten wäre) sicher zur Staatsmeisterin gebracht…
Brigitte Mörwald als Mitarbeiterin in der Integrationsberatungsstelle: Direkte Nachfolgerin von Lilo Brandstetter, kleines Büro in der Gasgasse, Schreibmaschine, ein Telefon, ein Chef mit visionären Vorstellungen
von Integration und ein Wiener Schulsystem, das sich noch nichts darunter vorstellen kann (außer die wenigen, die bereits so „mutig“ waren, Integrationsklassen zu starten).
Aufgabe: Überzeugungsarbeit leisten, immer und immer wieder, bei Konferenzen, in (damals noch verrauchten) Cafes, bei Elternabenden, Vorträge bei Symposien, Diskussionen bei Veranstaltungen, Beratung
von Eltern, Lehrerinnen, Direktorinnen….Schulen abklappern, reden, reden, reden…, an der Schreibma108
I-JOURNAL Mai 2015
schine sitzen, am Telefon sitzen, Integrationsjournal am Leben erhalten und beim „Stinker“ (wie war eigentlich der richtige Name dieser Gaststätte?) Dienstgespräche im informellen Rahmen abhalten.
Brigitte Mörwald mit ihrem Lieblingsthema: Vernetzung !!! Geburtshelferin der Idee externe Leitertage (mit
allen Sonderschuldirektoren und –direktorinnen) abzuhalten, um gemeinsam Dinge zu entwickeln (SPZ
Mappe), Ideen zu diskutieren, einander zu unterstützen, eine gemeinsame Identität zu finden, Ziele zu entwickeln. Da wurde stundenlang geredet, formuliert, ausgehandelt, entschieden, Überzeugungsarbeit geleistet und dann am Abend-nicht fad- das Zusammenwachsen gefeiert, bis tief in die Nacht hinein, begleitet
häufig von Musik – es sei nur der Name des Gitarristen Otto Schneeberger erwähnt.
Und nochmals Brigitte Mörwald in der Integrationsberatungsstelle. Kongeniale Partnerin nach der personellen Aufstockung auf 2, immer kompetent, zuhörend, supervidierend manchmal, Teamwork als selbstverständlich, viele Stunden gemeinsam Fortbildungen (QIS – wer sich erinnern kann – „Qualität in Schulen“)
konzipiert und gehalten (oft auch am Wochenende). Den Chefs loyale Mitarbeiterin und Mitdenkerin, unkonventionell und kreativ beim Finden von Lösungen, kämpfend wie eine Löwin für die Interessen der Kinder.
Guter Geist am Telefon, zuhören, beraten, Hilfe anbieten. Beste Freundin, dann auch privat, immer – und
WIE da, wenn Hilfe gebraucht wurde (DANKE, Brigitte!!!). Nie be- und verurteilend, weder beruflich, noch
privat, dabei aber schon kritisch und ehrlich.
Da gibt und gab es da diesen „Lacher“, das ist etwas, was Brigitte Mörwald auch auszeichnet. Die Fähigkeit, Dinge mit viel Humor zu betrachten, über sich selbst zu lachen, ausgelassen zu sein, Treffen jenseits
offizieller Anlässe zu organisieren (ich sag nur „Haggis“) und dafür mit viel Engagement tolle Rahmenbedingungen zu schaffen.
Dieser Humor, die Fähigkeit sich total zu engagieren, aber auch die psychohygienisch so wichtige Fähigkeit
sich abzugrenzen sind und waren überlebenswichtige Eigenschaften, bei den unzähligen Problemen, Tragödien, Fragen, die an Brigitte Mörwald in hunderten von Kriseninterventionen, Helferkonferenzen, Fallbesprechungen und in den letzten Jahren bei der Unterstützung der Arbeit für Kinder mit Autismus Spektrum
Störung herangetragen wurden.
Aufgeregtheit liegt Brigitte Ferne – totales Engagement und ein großes Gerechtigkeitsgefühl, dieses in hohem Ausmaß (Ungerechtigkeiten können sie zur Weißglut bringen), aber sie ist immer gelassen und (fast)
immer zielgerichtet und sachorientiert.
Aber da gibt und gab es schon Punkte, Themen, die im Zusammenhang mit der Beschulung von Kindern
mit Behinderungen und Beeinträchtigungen, seit Jahren auf dem Tisch liegen, wofür es immer noch keine
zufriedenstellenden Lösungen gibt; aber auch hier wurde Brigitte Mörwald nie müde, sie wieder und wieder
ins Bewusstsein zu rücken und manchmal, da bewegt sich doch etwas. Auch weil sie sich nie gescheut hat,
Dinge offen an- und auszusprechen, Courage, eine in jeder Hinsicht bewundernswerte Eigenschaft von
Brigitte.
Sie mag einfach Menschen (das spürt man), kann sie nehmen und akzeptieren, wie sie sind, ist immer
offen, sich auf sie einzulassen. Brigitte ist flexibel und neugierig, wenn Neues auf sie zukommt, immer
gewillt, dieses Neue positiv zu sehen (egal, ob es ein neuer Chef ist, neue Kolleginnen, Personen anderer
Einrichtungen, Lehrerinnen, Themen …). Brigittes Ausgangspunkt ist immer ein positiver, zuversichtlicher,
wertschätzender.
Es sind und waren auch immer die „Kleinigkeiten“, die Brigitte Mörwald so liebenswert machen: Das Mitbringen eines selbst gebackenen Kuchens, das Schreiben einer liebevollen Karte, das sorgsame Auswäh-
109
I-JOURNAL Mai 2015
len eines Geschenks, das niemals auf einen Geburtstag Vergessen, die feste Umarmung in einer Situation,
in der man das gerade braucht.
Berufliche Verdienste Brigittes? In Wirklichkeit ist es unmöglich aufzuzählen, welche sie sich in ihrer 40-jährigen Dienstzeit erworben hat. Es mögen hier, ohne Anspruch auf Vollständigkeit Stichworte reichen, um
Arbeitsbereiche, Themen zu skizzieren, in welchen sie tätig war, bzw. mit welchen sie sich befasst hat:
Beratungslehrerin (eine der ersten in Wien), Konzeptentwicklung für Inklusion, Integration, SPZs, Organisation von Zivildienern, Implementierung der integrativen Beschulung von Kindern mit Autismus Spektrum
Störung, Betreuung der Mentorinnengruppe, „Mutter“ und Hauptorganisatorin des I-Journals, Verbindungsglied zu vielen Abteilungen des Magistrats Wien, Lehrerinnenfortbildung, Arbeit in der Qualitätsentwicklung
von Schulen, Organisation von Besuchen aus dem Ausland, Elternarbeit, Redaktionsarbeit „Integration in
der Praxis“, Arbeit in Gruppen des Unterrichtsministeriums, perfekte Teampartnerin im Büro….
Brigitte Mörwald wird fehlen. Ja, jeder Mensch kann ersetzt werden und ja, Personen, die ihre bisherigen
Aufgabenbereiche übernehmen werden, werden das auch gut machen.
Aber sie werden nicht Brigitte Mörwald sein. Aber so lange ihr Geist durch die Mauern des Stadtschulrats
weht, so lange ihre Art mit Menschen umzugehen und zu arbeiten Vorbild für die Arbeit ihrer Nachfolgerinnen sein wird, solange wird es gut werden.
Danke, Brigitte, und – ich und andere werden dich trotzdem vermissen.
Judith Stender
Integrationsberatungsstelle
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I-JOURNAL Mai 2015
„In der Idee leben heißt, das Unmögliche zu behandeln,
als wenn es möglich wäre.“
J. W. von Goethe
DANKE, Brigitte, für dieses und jenes, für alles und so vieles!
Dein Redaktionsteam
Gerda, Renate und Judith
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I-JOURNAL Mai 2015
Leserbriefe
Meine lieben Redakteurinnen!
Die neueste Nummer des I - Journals liegt vor mir und ist Anlass euch wieder einmal herzlich zu danken!
Schon das Titelblatt zeigt die Vielfalt, bei den Schneeflocken genau so wie auch bei den pädagogischen
Fragestellungen im Bereich der Inklusion.
Und das setzt sich im Heft fort.
Die zahlreichen qualitätvollen Fachartikel zeigen das große Spektrum der Arbeit mit Kindern die sehr unterschiedlich sind und daher auch unterschiedlichste pädagogische Ansätze hervorbringen.
Wieder einmal eine ganz tolle Nummer!
Gratulation!
In alter Verbundenheit
Euer Gerhard Tuschel
Liebe Brigitte, liebe Judith, liebe Gerda, liebe Renate!
Danke für Eure Mühe und Bereitschaft, das I-Journal mit adäquatem Inhalt zu füllen und regelmäßig erscheinen zu lassen!
Zur Zeit stellt das I-Journal die einzige Plattform im Wiener Integrationsbereich dar, welche die Möglichkeit
bietet, über die verschiedensten Projekte im 17./18. IB hinsichtlich der Sonderpädagogik Einblick zu erhalten! Gratulation!
Alles Gute für die Zukunft und weiterhin so interessante Berichte, mit lieben Grüßen,
Mag. Wilfinger Jutta
Beratungslehrerin
Erziehungswissenschafterin
Sonder- und Heilpädagogin
Zertifizierte Elterntrainerin - Beratung in Erziehungsfragen
Zertifizierte Mentorin für BerufseinsteigerInnen in den Lehrberuf
Mitglied des Dienststellenausschusses des 18. Inspektionsbezirkes in Wien
Mit großem Interesse habe ich das I-Journal vom Dezember 2014 gelesen, das ich zufällig im LehrerInnenZimmer unserer Schule vorfand.
Beeindruckt haben mich die sehr differenzierenden und zum Nachdenken anregenden Artikel zur UN-Konvention, zum Thema Inklusion, Autismus Störung und Asperger Syndrom, sowie die Themenbereiche des
Lebendigen Lehrens und Lernens.
Es wurde mir wieder einmal bewusst, wie wichtig und bereichernd es für mich als Lehrerin eines bestimmten Schultyps, in diesem Fall einer AHS, wäre, mehr Austausch mit LehrerInnen anderer Schulen, Schultypen zu haben.
Ich erlebe in meinem Schulalltag ähnliche, prinzipielle Probleme und Schwierigkeiten, wie sie von LehrerInnen in Integrationsklassen beschrieben werden, und habe die unterschiedlichen Zugänge, Sichtweisen
und Ideen wie z.B. das „Pause-Aus-Lied“ sehr spannend und ermutigend gefunden.
Ich hoffe, dass auch die kommenden Ausgaben des I-Journals wieder den Weg an meine Schule finden!
Waltraud Hamp
BG&BRG 21, Bertha von Suttner, Schulschiff
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I-JOURNAL Mai 2015
Liebe Leserin! Lieber Leser!
Wir freuen uns, Ihnen die neueste Ausgabe des I-Journals präsentieren zu dürfen.
Unser herzlicher Dank gilt auch diesmal wieder allen Autorinnen und Autoren, ohne deren Beiträge es uns
nicht möglich wäre, dieses Journal herauszugeben. Die Qualität und die Vielfalt der Artikel sind immer
wieder beeindruckend und bringen sehr deutlich auch die Vielfältigkeit der Arbeit mit den uns anvertrauten
Kindern zum Ausdruck.
Wir planen, die nächste Ausgabe im Dezember 2015 erscheinen zu lassen und freuen uns über Ihre Beiträge. Die Auswahl der Artikel, die publiziert werden, trifft das Redaktionsteam.
Vorgaben zum Verfassen von Beiträgen:
• Jeder Artikel enthält eine Überschrift und
• den Namen (eventuell ein Foto) der Autorin/des Autors mit kurzer biographischer Angabe
• Fotos, die im Beitrag verwendet werden, müssen auch EXTRA im jpg-Format mitgeschickt und
eindeutig benannt werden. Unbedingt das Einverständnis der Erziehungsberechtigten, sowie
der darauf abgebildeten Personen zur Veröffentlichung der Fotos einholen und auch den Namen des
Fotografen angeben. Achten Sie bei Verwendung von Fotos aus dem Internet auf das Copyright!
• Artikel als Word-Dokument (Standard, 11pt, Arial) schicken.
• Geschlechtergerechte Formulierungen verwenden, wie es in der Broschüre des bmbf (vormals
bm:ukk, vormals bm:bwk) erläutert wird: www.bmukk.gv.at/medienpool/15104/2002_22_beilage.pdf Jede Autorin/Jeder Autor ist dafür eigenverantwortlich.
Die Beiträge senden Sie bitte ausschließlich ab 1.9.2015 per Email an:
Verena Lieser: [email protected]
Abgabeschluss für Beiträge:
23.10.2015 ... gerne auch früher :-)
Online finden Sie unser Journal unter der Internetadresse:
http://lehrerweb.wien/stadtschulrat-fuer-wien/sonderpaedagogik/17-inspektionsbezirk/
Wir freuen uns auf Ihre Mitarbeit!
Das Redaktionsteam:
Brigitte Mörwald
(Redaktion, Lektorat)
Mag. Judith Stender
(Redaktion, Lektorat)
Gerda Kargl
(Redaktion, Layout)
113
Renate Dirnberger, MA
(Lektorat, Redaktion)
I-JOURNAL Mai 2015
Was übrig bleibt …
J Ja, zu den Jahren meiner beruflichen Tätigkeit ...
O Ordnung ...
U Unordnung ...
R Respekt vor ...
N Nennenswerte Persönlichkeiten, die im Gedächtnis bleiben ...
A Anliegen, die ich noch hätte ...
L Loslassen ...
Ja, meine Berufswahl war die Richtige
Meine beruflichen Schritte haben gepasst.
Als ich in der 4. Klasse Volksschule eine andere Lehrerin bekam, wurde mir erstmals der Unterschied zwischen Pädagog/in und Pädagog/in (leidvoll) bewusst.
Viele der Professor/innen im Gymnasium hatten die Devise: „Alle über einen Kamm scheren.“ Die Norm an
ihren Vorstellungen anzulegen, schien ihnen als richtig. Etliche entsprachen nicht dieser Norm, ich gehörte
dazu und habe dementsprechende Erfahrungen gesammelt, die damals meinem Selbstwertgefühl nicht
gerade förderlich waren.
Der Entschluss, Lehrerin zu werden und es anders zu machen, war immer wieder da – letztendlich entschied ich mich für das damalige Hauptschullehramt. Sozialarbeiterin wäre die Alternative gewesen.
Die Herausforderungen in der Hauptschule 1020, Blumauergasse im Jahr 1976 waren damals schon „spezielle“. Mit ein Grund, dass damals auch einer der ersten Beratungslehrer von Wien an dieser Schule tätig
wurde. Ich entdeckte sehr bald meine Möglichkeiten, mit Kindern (Jugendlichen), die „nicht die Norm“ waren, gut oder eben anders umzugehen. Von meiner ersten Chefin, Dir. Maria Handl, erhielt ich dabei viel Unterstützung, ebenso vom damaligen Schulwart Herrn Stöger. Ich erkannte bald, dass meine Schwerpunkte
im Sozialbereich lagen.
Mein Vater, aber auch meine Großeltern waren große Vorbilder für mich in Bezug auf den Umgang mit
unterschiedlichsten Menschen, den Gerechtigkeitssinn und die gesellschaftliche Haltung.
Es waren herausfordernde, spannende, aber für mich auch sehr zufriedenstellende Dienstjahre.
Dir. Walter Schindl holte mich von dieser Schule in das Team der Beratungslehrer/innen.
Die folgenden Jahre waren begleitet von der Ausbildung zur SES-Pädagogin und von vielen Fortbildungsveranstaltungen mit Schwerpunkt Integration (damals von sozial, emotional benachteiligten Kindern),
Selbsterfahrung, Gruppentraining, Kommunikation und Gesprächsführung. Da ich ausschließlich an Volksschulen (Beginn meiner Tätigkeit als Beratungslehrerin im 20. Bezirk) arbeitete, habe ich das Lehramt für
Volksschulen berufsbegleitend absolviert.
Als Supervisor/innen begleiteten mich die ersten 2-3 Jahre in meiner Tätigkeit als Beratungslehrerin Dr. Karl
Köppel und Dr. Regine Knoblich.
Elf Jahre lang lagen meine Schwerpunkte als Beratungslehrerin im 20. Bezirk und später dann im 19. Bezirk. Geprägt waren diese Jahre von für mich damals schon von sehr innovativen und „anders“ denkenden
Berufspartner/innen im 20. Bezirk. Um nur einige von ihnen zu nennen: Dr. Mathilde Zeman (Schulpsychologin), BSI Reg. Rat Heindl (Schulinspektor), Dr. Ernst Berger (zuständiger Psychiater in der damaligen
Schulverweigererkommission) und Dir. Hertha Raderer (Direktorin der VS Leystr. 36).
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I-JOURNAL Mai 2015
1991 hat mich LSI Gerhard Tuschel in die Integrationsberatungsstelle des SSR für Wien (damals 1150,
Gasgasse) geholt. Mag. Lilo Brandstätter war meine Vorgängerin und bei der „Büroübergabe“ hat sie zu
mir gesagt: „Eigentlich wollte ich eine Zeitung zur Integration herausgegeben, aber das ist sich noch nicht
ausgegangen, vielleicht schaffst du das?“
Ordnung / Unordnung
Im Grund genommen bin ich im herkömmlichen Sinn ein „ordentlicher Mensch“, sowohl im Privaten als
auch im Beruflichen. Es ist für mich wichtig, einen gewissen Ordnungsrahmen zu haben, sowohl im Kopf
als auch in praktischen Dingen. Ich würde einmal sagen, ich mag keine Unordnung.
Menschen, die meine Tätigkeiten weiterführen werden, sollen so gut wie möglich Informationen und Unterlagen vorfinden, die sie dann, ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen entsprechend, verwenden, anwenden,
(weiter)verarbeiten, (weiter)verwerten können, so sie das wollen, sie diese als sinnvoll und für ihre Vorhaben als brauchbar erachten.
Im schulischen Umfeld wird viel über „gut begleitete Übergänge“ gesprochen (vom KG in die Schule, von
der VS in die Mittelstufe, von der Schule in die Arbeitswelt). Diese erfordern Umsicht, Vorausdenken, Einfühlungsvermögen und auch gewisse Strukturen – anders sind Übergänge schwieriger zu bewältigen.
Ob es mir gelungen ist (sein wird), mein Aufgabengebiert im SSR gut zu übergeben, werden andere zu
beurteilen haben.
Respekt vor
Mein großer Respekt gilt:
•
Jenen Schulinspektorinnen und Schulinspektoren, die in ihren Bezirken klare, durchschaubare und
pädagogische Maßnahmen zum Wohle der Kinder setzen, auch wenn sie sich dadurch nicht immer
beliebt machen.
•
Jenen Leiterinnen und Leitern, die sich trauen, Schule etwas anders zu gestalten als die Norm und als
Ansprechpartner/innen für Kolleginnen und Kollegen vor Ort sind. Die sich aber auch zugestehen, klare
Entscheidungen zu treffen, wenn es notwendig ist.
•
Jenen Kolleginnen/Kollegen, die Lehrerinnen/Lehrer geworden sind, weil sie hinschauen wollen und
können, was die einzelnen Kinder brauchen. Die nicht die Defizite der Kinder in den Vordergrund stellen, sondern nach ihren Begabungen und Stärken suchen. Die in einem Team arbeiten und somit andere Lehrer/innen als gleichwertige Kolleg/innen sehen und nicht als „Zuarbeiter/innen“ oder „Zweitlehrer/
innen“. Die ihre Arbeit als Ganztagsjob sehen und leben, auch wenn sie nicht in einer der wenigen
Ganztagsschulen tätig sind.
•
Jenen Eltern und Erziehungsberechtigten, die mit benachteiligten Kindern den Schulalltag gemeinsam
mit den Vertreter/innen von Schule in guter Kooperation „auf Augenhöhe“ meistern, aber auch die Grenzen zwischen ihren Kompetenzen und denen der Lehrer/innen /der Schule erkennen und respektieren.
•
Jenen Kolleg/innen, die ambulant tätig sind. Vor allem auch der Gruppe der Mentor/innen, die ich seit
vielen Jahren führe und begleite. Ihr täglicher Spagat zwischen Pädagog/innen (die sie um Unterstützung ersuchen), den Kindern mit ASS (Autismus Spektrum Störung), den Assistent/innen der ÖAH, dem
restlichem pädagogischem Umfeld in den vielen wechselnden Schulen, in denen sie tätig sind und den
Erziehungsberechtigten bedeutet oft: Das Aushalten von nicht erfüllbaren Wünschen und Vorstellungen, das Aushalten von Ablehnung im pädagogischen Umfeld und das Aushalten der Aussichtslosigkeit
es „jedem recht zu machen“. Ihr großes fachliches Wissen, ihre Flexibilität, ihr Durchhaltevermögen,
ihre Wegstrecken, ihre notwendige Einstellung auf unterschiedlichste Lehrer/innen, Direktor/innen und
Erziehungsberechtigte, zeichnen diese Pädagog/innen aus.
•
Jenen Mitarbeiter/innen im 17. und 18. IB, die in den kommenden Jahren in diesem Bereich arbeiten
werden. Es gibt große Herausforderungen und notwendige Veränderungen. Es wird viel Kraft, Anstren115
I-JOURNAL Mai 2015
gungen und Durchhaltvermögen brauchen, um Wege zur Bewältigung der zukünftigen Herausforderungen zu suchen. Die Chancen für einen umfassenden Umbau des Schulsystems sind so groß wie noch
nie und am Weg dorthin, kann es auch gelingen, Stigmatisierungen und Benachteiligungen deutlich zu
reduzieren – mit dem Ziel einer inklusiven Schule, ob inklusiv dann heißen muss, dass alle am selben
Ort, zur selben Zeit und das Selbe tun, oder ob Schüler/innen das tun dürfen, was für sie passt und dort
sein dürfen, wo sie sich gerade wohl(er) fühlen, sei dahingestellt.
Nennenswerte Persönlichkeiten, die im Gedächtnis bleiben
Einige Persönlichkeiten, die mich in meinem beruflichen Umfeld begleitet haben, werde ich wohl für immer
in Erinnerung behalten (in alphabetischer Reihenfolge):
•Corazza, Rupert, LSI , Dr. Mag. – ein Chef, der einen sehr direkten und unkomplizierten Umgang mit
seinen Mitarbeiter/innen pflegt. Unaufgeregt und ohne lästige Empfindlichkeiten. Sein Multitasking, eine
Fähigkeit, die er spielend beherrscht und nicht als belastend erlebt, verlangt jedoch seinen Mitarbeiter/
innen manchmal einiges ab. Mit ihm offen darüber zu reden, ist aber auch kein Problem. Er hat meine grenzenlose Bewunderung in Hinblick auf seine Möglichkeiten der parallelen Datenerfassung und
Daten(ab)speicherung. Seine Situationskomik macht ihn sehr liebenswürdig, ebenso seine Kunst, ganz
schnell das richtige Comic zu einer bestimmten Situation im Internet zu finden.
•Damm, Dr. Lilly (u.a. med. Uni Wien, Public Health … Schulgesundheit!!) – ein großes Vorbild für mich
mit ihrer wertschätzenden Gesprächsführung bei Kindern und Erwachsenen. Sie war bis zuletzt eine
wertvolle, fachliche, solidarische Wegbegleiterin bei medizinischen Fragen und immer hilfreich beim
Überlegen von Lösungsstrategien.
•Dirnberger, Renate (Hobln) – die lustige, kreative, emotionale, langatmige, konsensuale und gescheite
Mitarbeiterin in unserem Büro. Erst vor einigen Jahren zum Team gestoßen, war es schnell so, als ob
sie schon immer dabei gewesen wäre. Ihre Möglichkeiten, sich einzufügen und passend einzubringen,
zeichnen sie besonders aus.
•Felsleitner, Richard (PSI i.R., Reg.Rat) – für mich immer ein großes Vorbild an Gelassenheit, Empathie
und Wertschätzung im Umgang mit „besonderen“ Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Ein wandelndes Lexikon in Sachen Geschichte, Musik und Theater.
•Handl, Maria, Dir. – meine erste Direktorin in meiner Lehrerinnentätigkeit: Rückblickend betrachtet hat
sie hat meinen Einstieg, trotz herausfordernder Begleitumstände, gut und für die damalige Zeit aus meiner heutigen Sicht sehr professionell begleitet.
•Kargl, Gerda (HObln) – offiziell tätig im 18.IB, war/ist sie trotzdem für uns im 17.IB eine ganz wichtige
Ansprechpartnerin. Ohne ihre Unterstützung bei Daten, Statistik oder Exeltabellen, hätte so mancher
Tag im Chaos geendet. Ihre ruhige, stabile und unaufgeregte Art war für mich immer Vorbild, wie man
auch an Dinge herangehen kann. Ihre Ideen für die Covergestaltung beim I-Journal, ihre systemische
Ordnung bei der Aufbereitung des Journals und ihre große Genauigkeit habe ich immer bewundert.
•Köppel Karl, Dr. (verstorben) – ein Querdenker und Analytiker des „Lebensraum Schule“. Mein erster
Supervisor und Trainer einer Selbsterfahrungsgruppe am PI.
•Krammer, Bettina – für mich das Musterbeispiel einer ausgezeichneten Büromitarbeiterin. In allen Bereichen, für die sie zuständig ist, eine gewissenhafte und absolut verlässliche Kollegin. Überdurchschnittlich hilfsbereit, solidarisch und kompetent, gar nicht launenhaft und der „ruhende Pol“ für alle administrativen Angelegenheiten. Mit ihr so viele Jahre zusammenzuarbeiten war rundherum stimmig und positiv.
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I-JOURNAL Mai 2015
•Mörwald, Gerhard (Dir., verstorben) – Mentor, Trainer und Coach bei gemeinsamen Kommunikationstrainingsseminaren für unterschiedliche pädagogische Gruppen.
•Raderer, Hertha (Dir., verstorben) – während meiner Tätigkeit als Beratungslehrerin (ab1980) habe ich
auch viel Jahre an der VS Leystraße 36 gearbeitet. Sie war der Inbegriff einer Direktorin wie ich mir eine
Leiterin vorstelle: Beinahe immer eine der ersten Personen an der Schule, das Schulhaus verließ sie
meistens als Letzte; offen für Neues, Detailwissen über die meisten Schüler/innen und viel persönlicher
Kontakt mit ihnen; ein besonderer Umgang mit Erziehungsberechtigten (klar, einfühlsam aber bestimmt),
erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Schülerheim Brigittenau (gelebte Vernetzung und Zusammenarbeit).
•Schindl, Walter (Dir. i. R., OSR) – mein zweiter Chef in meiner Dienstzeit (während meiner Tätigkeit als
Beratungslehrerin) war (und ist) ein „Sir vom Scheitel bis zur Sohle“. Für mich ein Vorbild an Diszipliniertheit, Führungsqualität aber auch Flexibilität. Von einer SES kommend, wo er in diesem System zuerst
Lehrer und dann Direktor war, wurde unter seiner Amtszeit als Direktor der SES Galileigasse das System
der Beratungslehrer/innen etabliert (in Zusammenarbeit mit Dr. Karl Köppel und Gerhard Mörwald). Ein
erster Schritt zur integrativen Beschulung von Schüler/innen mit sozial/emotionalen Benachteiligungen.
•Simpson, Stuart DA (EU Büro) – ein Wegbegleiter seit vielen Jahren, mit hohen menschlichen Qualitäten
und einer uneingeschränkten Offenheit, Ehrlichkeit und Solidarität, wie sie kaum zu finden sind. Es war
ein Glücksfall, ihn durch berufliche Gegebenheiten (z.B.: Gemeinsame Planung eines Englischkurses
für ZIS-Leiter/innen, Übersetzertätigkeit der ersten Broschüre zur Integration in Englischer Sprache … )
kennenlernen zu dürfen.
•Stender, Judith Mag. – seit 22 Jahren mit mir in einem Büro. Zuerst in der Gasgasse und dann im
SSR für Wien. Sie ist eine der diszipliniertesten, solidarischsten, umsichtigsten, verlässlichsten und ehrlichsten Menschen, die mir je untergekommen sind. Mit ihr im Team zu arbeiten, sei es
im Büro, bei Veranstaltungen, bei Referaten, bei Schulentwicklungsbegleitungen oder Vorträgen war immer ein Gewinn. Trotz unserer unterschiedlichen Herangehensweise bei vielen Dingen, haben wir uns (vielleicht gerade deshalb) gut ergänzt. Wertschätzung und Offenheit, Solidarität und dazwischen „blödeln können“ und auch lachen, zeichnet(e) unsere Beziehung aus.
Rechtzeitig mit Vorbereitungen zu beginnen, ist eine ihrer großen Stärken – ich war dadurch sehr in einer
„winwin“ Situation bei unseren vielen gemeinsamen Seminaren und Veranstaltungen – denn entweder
hat sich mich dadurch mitgerissen und ich habe auch rechtzeitig begonnen, oder sie hatte oft schon
vorgearbeitet.
•Tuschel, Gerhard (LSI i. R.) – er hat mich von der Beratungslehrerinnentätigkeit in den SSR (damals
Expo Gasgasse) geholt. Beim weiteren Auf – und Ausbau der Integrationsberatungsstelle hat er trotz klarer Führung immer sehr viel Spielraum für eigene Ideen, Vorstellungen, Planungen und Eigenverantwortung gegeben. Seine unendliche Umsicht und Großzügigkeit haben ihn ausgezeichnet, sein Gedächtnis
und sein Wissen waren beeindruckend und sehr oft sehr hilfreich. Durch seine lustigen und auflockernden „bon mots“, auch im Alltag, gab es oft zwischendurch etwas zu schmunzeln oder zu lachen; ebenso
durch sein Talent, gewisse Situationen an Hand einer Skizze oder Karikatur festzuhalten.
Besonderen Dank für die Zusammenarbeit: Personen im Bereich der MA56, des FSW, der MA10, der
MA11, der ÖAH (Österreichische Autistenhilfe), der Wiener Kinder und Jugendbetreuung, des AJF, von
Integration Wien. Allen ZIS - Leiter/innen des 17. und 18.IB`s, etlichen Direktor/innen von VS und Neuen
Mittelschulen, von Polytechnischen Schulen aber auch von ahS Standorten, all jenen Menschen im SSR,
die mich im Alltag immer sehr gut unterstützt haben: Hauspersonal, Telefonzentrale, Portiere, Einlaufstelle
(Verteilung des I-Journals), Druckerei, Schulservice, Schulpsychologie und Rechtsabteilung, Mitarbeiter/
innen der Pflichtschulabteilung, Vertreter/innen der ahS Abteilung, den Vertreter/innen des BMBF, den Vertreterinnen von „Integration Wien“ und den Kolleginnen und Kollegen in den Bundesländernim Redaktionsteam der Zeitung „Integration in der Praxis“.
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Anliegen, die ich noch hätte
•
Ich wünsche mir für die Schule Voraussetzungen, die jeder andere wirtschaftlich geführte Betrieb für
sich in Anspruch nimmt: Ausschließlich professionelle, sehr gut qualifizierte und gut bezahlte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Gerade hier – es geht um Kinder. In jedem Bereich (Gesundheit, Steuerberatung, Rechtsanwaltschaft oder Privatwirtschaft) erwarte ich als „Kunde“ selbstverständlich Spezialist/
innen. Kinder und Jugendliche haben das Recht, von hochqualifizierten Menschen begleitet zu werden.
Dazu gehören vor allem gut ausgebildete Pädagoginnen und Pädagogen, aber auch gut ausgebildete
Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, gut ausgebildete Schulärztinnen und Schulärzte, gut ausgebildete Therapeutinnen und Therapeuten, gut ausgebildetes medizinisches Personal (für z.B. chronisch
kranke Kinder…) und gut ausgebildete Schulassistentinnen und -assistenten. Das heißt: Ich wünsche
mir mehr Professionalität. Kinder haben das Recht auf Professionalität im Rahmen von Kindergarten
und Schule. Gesunde, benachteiligte und auch chronisch kranke Kinder. Alle Menschen, die sich dafür
stark machen, sind in meinen Augen am richtigen Weg.
•
Ich wünsche mir flächendeckend ganztägige Schulen schon seit Beginn meiner Dienstzeit 1976, wo ich
rasch erkannte, welche Nachteile Jugendlichen einer (damaligen) Hauptschule erwachsen, wenn sie
keine Begleitung (Berufstätigkeit der Eltern oder des Elternteils) oder keine Angebote (aus finanziellen
oder zeitlichen Gründen) am Nachmittag haben. Die minimale Basis für Chancengerechtigkeit beginnt
spätesten hier (auch schon im Kindergarten oder der Kinderkrippe).
•
Ich wünsche mir mehr Mut von Ausbildner/innen an den PH´s, ungeeigneten Studierenden rechtzeitig
zu vermitteln, dass ihre Zukunft nicht im pädagogischen Bereich liegen wird.
•
Ich wünsche mir bessere Möglichkeiten, Kolleg/innen, die ihren Dienst nicht mehr professionell im Sinne einer guten Begleitung von Kindern versehen können, den Dienstvertrag zu kündigen und sie in eine
Umschulung zu begleiten (wie es auch in anderen Berufssparten praktiziert wird). Eine andere Möglichkeit wäre, sie im Rahmen von Schulautonomie anderwärtig einzusetzen. (Lehrerdienstrecht)
•
Ich wünsche mir bei Nachbesetzungen von Inspektoren/innen und/oder Schulleiter/innen jene Form von
„Übergängen“, die wir in (vor)schulischen Bereichen haben oder auch fordern. In den seltensten Fällen
scheidet jemand überraschend aus. Ausschreibungen könnten rechtzeitig stattfinden und es wäre der
Anspruch zu stellen, dass es eine entsprechende Übergabe vor Ort geben muss. Für Kolleg/innen, Eltern, Kinder und das Netzwerk um Schule wäre das eindeutig ein Vorteil.
Loslassen
Dafür ist jetzt wohl die Zeit gekommen.
Entschieden habe ich mich eigentlich dazu vor vier Jahren. Ein sehr rationaler, persönlicher Entschluss,
den ich damals gefasst habe. Eine gute Zeitspanne, sich damit zu beschäftigen und auseinanderzusetzen.
Loslassen muss ja nicht heißen, kapitulieren oder versagen, es kann auch bedeuten, bewusst in einen
neuen Lebensabschnitt hinüberzugleiten. Ich sehe mich als Glückspilz, da ich nicht, wie viele andere Menschen, durch Kündigung oder gesundheitliche Umstände abrupt loslassen muss, sondern mich sehr selbstbestimmt und langfristig darauf einstellen kann/konnte.
Richtig loslassen werde ich wohl erst am allerletzten Tag meiner Arbeit.
Brigitte Mörwald
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I-JOURNAL Mai 2015
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Herausgegeben von der Integrationsberatungsstelle
im Stadtschulrat für Wien
Verantwortliche Herausgeberinnen:
Brigitte Mörwald, Mag. Judith Stender, Renate Dirnberger, MA, Gerda Kargl
Für den Inhalt verantwortlich:
Alle Autorinnen und Autoren sind eigenverantwortlich für den Inhalt der Artikel und die Genderformulierung.
Layout: Gerda Kargl
Druck: Eigendruck