Altschüler-Erinnerungen aus 80 Jahren OSO
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Altschüler-Erinnerungen aus 80 Jahren OSO
Burgunde Niemann (Hrsg.) „Altschüler-Erinnerungen aus 80 Jahren OSO“ im Auftrag der Odenwaldschule zum 100-jährigen Jubiläum 2010 2 || BUGGI NIEMANN GEB. JIRSCHIK | VORWORT W er lange an der Odenwaldschule verweilt und Menschen zuhört, erfährt eine Fülle an Geschichten sowie Begebenheiten, die - insbesondere aus dem Kreis der Altschüler* vorgetragen - ganze Epochen atmosphärisch einfangen. Werden Erinnerungen nicht aufgeschrieben, gehen Schätze verloren. So ist die Idee zum vorliegenden Buch entstanden. Es ist einerseits eine Sammlung von Erinnerungen an die eigene Schulzeit, andererseits wird deutlich, welch prägende Einflüsse die Odenwaldschule auf einzelne Lebenswege hatte. Die Vorarbeiten begannen Anfang 2008. Um Schülerinnen und Schüler in den Prozess einzubinden, bot ich im ersten Tertial 2008/09 einen Politik-Oberstufen-Kurs zum Thema „Altschüler-Erinnerungen im Kontext der Zeitgeschichte“ an. Hier ein Auszug aus der Kursbeschreibung: „...Was Ihr nun tun sollt? Die Lokomotive eines Altschüler-Erinnerungsbuchs zum 100-Jährigen der OSO befeuern helfen! Dabei werdet Ihr: die OSO im historischen Kontext erkunden; interessante Lebens- und Berufsbilder von Altschülern kennen lernen; das OSO-Netzwerk nutzen; Qualität und Reichtum unseres Archivs erfahren; das Altschülertreffen 2008 mit dem Motto „Die OSO und ihre Altschüler“ als Informationsplattform ausbauen helfen. Mein Wunsch für die Kursteilnahme: Die Abwesenheit von Konsumhaltung, um die Chancen dieser Entdeckungsreise wahrnehmen zu können.“ Der Kurs erwies sich als gute Starthilfe. Manche Interview-Fragen wurden gemeinsam erarbeitet. Am Ende standen zwei Beiträge und vier Interviews, die zum Teil von den Kursteilnehmern geführt und freiwillig transkribiert wurden. Überdies war es geladenen Altschülern während der Gespräche merklich gelungen, Begeisterung für den Dialog zwischen der alten und der zeitgenössischen OSO zu wecken. Weitere Unterstützung erfuhr ich während der Projektwoche 2009, bei der mir drei Oberstufen-Schüler zu Seite standen, um bis dato unauffindbare Altschüleradressen ausfindig zu machen, Menschen anzuschreiben, Material zu sammeln etc. Bei der Planung des Buches war eine Zusammenschau von Altschüler-Erinnerungen aus möglichst vielen Jahrzehnten vorgesehen. Das Buch sollte bis || 3 zum 100. Jubiläum der Odenwaldschule (17. April 2010) fertig sein. Eine dezidierte Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs von Schülern während der 1970-1980er Jahre im Lichte der nachfolgenden Chronologie sämtlicher Versäumnisse nach 1998 (dem Jahr der erstmals bekannt gewordenen Fakten) in Richtung Opferschutz, Entschädigung der Betroffenen war nicht geplant, da dieses Kapitel OSO-Geschichte einer eigenen Publikation bedarf, die gesondert erscheint. Gleichwohl soll ein Teil des Erlöses dieses Buches einem Entschädigungsfond für Betroffene zufließen. Durch die Anfang März 2010 nicht nur medial, sondern faktisch erfolgte Neubewertung der „Ära Becker“ und der Folgen war es notwendig geworden, die Reaktionen einzelner Altschüler jener Zeit zumindest exemplarisch aufzugreifen. Der Beitrag von Amelie Fried etwa war bereits druckfertig gesetzt, als sie sich im Zuge neuer Erkenntnisse für eine überarbeitete Fassung entschloss, die zunächst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist. Johannes von Dohnanyi etwa hat seinen ursprünglichen Beitrag ebenfalls überarbeitet und ergänzt. Das Erscheinungsdatum hat sich daher verschoben. Im Ganzen ist eine Melange aus Beiträgen und Interviews entstanden, „Oral History“-Miniaturen aus allen drei Epochen der Odenwaldschule, d.h. der „OSO I“ von Paul und Edith Geheeb 1910-1934, der „OSO II“ (Gemeinschaft der Odenwaldschule) unter Heinrich Sachs 1934-1945 und der „OSO III“ 1945-2010. Die Reise durch die Jahrzehnte beginnt 1928 und endet 2010. Ein Interview aus der Sachs-Zeit (OSO II) wurde nach der Fertigstellung zurückgezogen; die Erinnerungen, so die Altschülerin, seien allesamt zu wertvoll und persönlich, als dass sie einer breiten Leserschaft zugeführt werden sollten. Erwähnung findet dieser Umstand, weil die dort vorgestellten Zusammenhänge - gelänge es, weitere Erinnerungen aus dieser Zeit einzuholen - ggf. eine positive Neubewertung der „Gemeinschaft der Odenwaldschule“ während der Nazi-Zeit, insbesondere der Rolle von Heinrich Sachs als Interimsschulleiter nahe legen. Erst beim Kürzen der zum Teil 25 Seiten umfassenden Interviews merkte ich, dass die ursprünglich knapper und einheitlich bemessenen Seitenzahlen für Erinnerungen aus drei Epochen „OSO I“ 1910-1934 unter Edith und Paul Geheeb „OSO II“ 1934-1945 unter Heinrich Sachs „OSO III“ 1945-2010 unter Minna Specht und den später nachfolgenden Schulleitungen || 5 4 || jeden Beitrag kaum umzusetzen waren, wollte man herrliche Text-Passagen nicht dem Vergessen preisgeben. Gleichwohl werden die Original-Interviews im OSO-Archiv hinterlegt. Mein Dank gilt zunächst den Schülerinnen und Schülern, die mich während des Einstiegskurses im Herbst 2008 und der Projektwoche 2009 mit guten Ideen, technischer Kenntnis (IT) und großem Interesse unterstützt haben: Clara Behnke, Jelena Grunwald (Transkript des kompletten Zurmeyer-Interviews), Maria Hallamah (Transkript), Abed Hoffmann, Dunja Khoury (Transkript), Chiara Kippenberg, Franziska Klöpfer, Sonja Kotowski (Transkript des kompletten Olshausen-Interviews), Marvin Müller, Anastasia Orschler (Transkript des kompletten Heinrichs / Sir- Interviews), Max Priebe, Laura Staudt (Transkript des kompletten Collignon-Interviews), Sarah Weber (Transkript), Felix Wohmann und Holle Zoz. Herzlich danken möchte ich allen Altschülerinnen und Altschülern, die Interviews gegeben, Beiträge geschrieben, unzählige Anfragen geduldig beantwortet, zur Not Keller und Speicher nach Bildmaterial abgesucht, die Text-Korrekturauszüge bis zur Druckfreigabe durchgesehen, Recherchen unterstützt, Infos über andere Altschüler geliefert und letztlich das OSO-Netzwerk mit Leben erfüllt haben. Eine Entschuldigung geht an Adrian (Addi) Koerfer, der unserem Oberstufen-Kurs 2008 ein beeindruckendes Interview gegeben hatte: Die filmische Dokumentation ging leider verloren. Dass Addi sich dennoch bereit erklärte, danach einen Beitrag zu schreiben, - dafür mein besonderer Dank. Darüber hinaus sei auch Renate Netzer für viele Informationen aus dem OSONetzwerk und Dr. Alexander Priebe für die Unterstützung meiner Recherchen im OSO-Archiv gedankt. Der kommentierten Fotosammlung von Dr. Jürgen Wickert verdankt mancher Beitrag aus den 1960er Jahren die heitere Bebilderung. Mein großer Dank geht an Eva Knop, - nicht nur für Materialsuche und die erste Korrektur. Sie hat in manch schwieriger Phase der letzten Monate durch geistreiche Einwände und Schmunzeln bei der Lektüre meine zeitweiligen Zweifel mit Nachdruck und leichter Hand vertrieben. Voraussetzung dieser Publikation war nicht nur die Sicherstellung der Produktionskosten durch den OSO-Geschäftsführer Meto Salijevic. Meinem Wunsch, u.a. wegen der örtlichen Nähe mit der „Manufaktur für Biographien“ in Heppenheim zusammenarbeiten zu dürfen, hat er stattgegeben. Hier nun möchte ich ganz besonderen Dank aussprechen: Petra Schaberger und Thomas Klinger haben mit Sachverstand, Phantasie, Einfühlungsvermögen, gutem Rat, detailgenauer Schnelligkeit und Liebe zum „Subjekt Odenwaldschule“ (insbesondere in den sehr belastenden letzten Monaten) ungeheuer viel beigetragen, dass dieses Buch in der Qualität erscheinen konnte. Danken möchte ich auch meinem Mann für manch guten Rat und seine zweijährige Nachsicht in sämtlichen Alltagsfragen. Eine persönliche Anmerkung zum Schluss: Nach meinem 1979 abgeschlossenen Studium der Politologie, Soziologie und Sportwissenschaft für das Höhere Lehramt an der TH Darmstadt (eigentlich war der Magisterabschluss angesteuert, - ein anzukreuzendes Formular indes ward selten ernst genommen), war mein Ziel eindeutig: abwandern in die Ethnologie nach Neu-Guinea und dort den anthropologischen Konstanten sowie der kulturellen Variabilität sozialer Rollenbilder nachspüren. Um wenigstens die Ausbildung zu komplettieren, geriet ich 1980 eher unwillig und nur zu kurzer Verweildauer bereit, an die OSO. Ich blieb und treibe seither Völkerkunde in Ober-Hambach. Wenn ich 2012 nach 32 Jahren Unterricht, diversen Projekten, Abiturprüfungen und Wanderungen durch die „Mark Metzendorf“ an der OSO aufhöre, verdanke ich gute Jahre jenen wundervollen jungen Menschen, die sich morgens friedlich in lieblicher Umgebung versammeln, um gemeinsam unerschrocken nachzudenken. Mein Dank für jene Erfahrung ist der eigentliche Anlass für dieses Buch. Buggi Niemann * Bei Altschülern ist zur besseren Lesbarkeit nur die männliche Form gewählt worden; gemeint sind aber zumeist beide Geschlechter. 10 || JETTA SACHS-COLLIGNON | 1928-1933 AN DER ODENWALDSCHULE L iebe Frau Collignon, Sie sind mit fünf Jahren an die Odenwaldschule gekommen. Aus welchem Grund? Aus dem Grund, der damals für alle galt. Wir haben alle kaputte Elternhäuser gehabt. Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich zwei war. So kam ich mit meinen drei Geschwistern später an die OSO. Welche Erinnerungen verbinden Sie mit der Odenwaldschule? Nun, Eichhörnchen. Viele von uns hatten welche, aber nur meines war richtig zahm geworden, da ich es in meiner Hosentasche trug und nachts im Bett unterm Kopfkissen schlafen ließ. Wir bekamen die Eichhörnchen von den Bauern. Die Bauernkinder nahmen sie aus den Nestern, viel zu klein natürlich, viel zu früh. Und wir zogen sie mit Flasche auf. Wenn meines mal die Welt sehen wollte, ging es den Rücken hoch, setzte sich auf die Schulter, und wenn es genug gesehen hatte – schwupps, war es wieder in der Hosentasche. Wenn ich krank war und in die OSO-Krankenstation kam – nur mit Eichhörnchen! Ich glaube, Paulus (Paul Geheeb) wollte die Eichhörnchen vielleicht retten, weil die Bauernjungs sie aus den Nestern nahmen und verkauften. Wir kriegten sechs ganz kleine im Kindergarten abgeliefert, gerade die Augen auf, und die waren ja voller Ungeziefer. Und unsere Kindergärtnerin Fräulein Semmelhack, die arme Person musste mit dem Namen leben, machte dann ein Lysolbad, natürlich eine grauenhafte Idee! Diese armen Tierchen mussten einmal eingetaucht werden und waren halb betäubt. Dann brachten wir sie in unsere Puppenbettchen, die Köpfchen nebeneinander auf das Kopfkissen, mit einer Steppdecke zugedeckt, ganz ordentlich. Ich vergesse diesen Anblick nie, wie diese halbbetäubten Eichhörnchen nebeneinanderlagen, Steppdecke zu, bis die Milben weg waren ... Ich habe jetzt auch immer Eichhörnchen hier, und die kommen immer ins Schlafzimmer rein. (Frau Collignon deutet auf einen stabilen, von ihr selbst gespannten Draht, der von einem Tannenbaumzweig direkt zu ihrem Schlafzimmerfenster führt: eine „Eichhörnchen-Trasse“.) Neulich wache ich morgens auf, da sitzt eines bei mir auf dem Sessel. In den Sommerferien mussten wir nach Berlin fahren. Das hieß um 4.00 Uhr || 11 morgens aufstehen und zwölf Stunden in einem Ratterzug sitzen. Eine unvorstellbare Reise! Da durfte ich das Eichhörnchen nicht mitnehmen. Paulus nun hielt Eichhörnchen in einer Voliere, zu denen man meines dazusperrte. Zurück aus den Ferien, bekam ich es nicht wieder. Ein Gärtner erzählte später, es hätte keine zwei Sekunden mehr gelebt: Die anderen Eichhörnchen hatten es in der Voliere zerrissen. Das hätten die Erwachsenen doch wissen müssen!! Wir hatten übrigens auch die Kinder von Käthe Kruse da. KätheKruse-Puppen, von denen ich zwei hatte, sind seit den 1930er Jahren etwas ganz Besonderes, heute sind das Museumsstücke. Käthe Kruse hatte die Gesichter wirklich nach ihrem Sohn Friedebald gearbeitet, die männliche Puppe wurde auch nach ihm benannt. Friedebald war freundschaftlich mit uns verbunden und hat uns später in Berlin oft besucht. Den ersten Kuss meines Lebens habe ich von ihm bekommen. Sie lebten damals im Pestalozzi-Haus? Ja, im sogenannten „Kindergarten“. Nur die letzten Monate nach dem zehnten Geburtstag musste ich raus aus dem Kindergarten. Der ging nur bis zehn. So kam ich ins Humboldt-Haus zu der Schwester von Albert van Rood. Dort teilte ich mir mit einer Achtzehnjährigen ein Zimmer. Ob sie gerne Hier das Foto meines Eichhörnchens, aufgenommen von meinem Bruder, der an der OSO das Fotografieren erlernte. Er hatte eine damals noch sehr seltene Leica. Sonst gäbe es diese Fotos gar nicht. Das war damals ungeheuer modern, an einer Schule Fotografie zu erlernen. Später ist er Fotograf geworden. ZUR PERSON 1923 IN BERLIN GEBOREN 1929 MIT DREI GESCHWISTERN IN DER OSO EINGESCHULT 1933 NACH DEM STURM DER SA AUS DER SCHULE GENOMMEN 1935 LANDSCHULHEIM M ARIENAU UNTER MAX BONDY 1938 ÖFFENTLICHE SCHULE IN MÜNCHEN 1939 NACH SCHLESIEN VERHEIRATET MIT HANS FRIEDRICH VON KESSEL 1940-1941 GEBURT DER ZWILLINGE 1941-1945 HIN UND HER ZWISCHEN SCHLESIEN UND MÜNCHEN 1946 GEBURT EINER WEITEREN TOCHTER 1947-1950 DIVERSE JOBS IN PARIS UND SPANIEN 1951-1957 DIVERSE JOBS IN FRANKFURT A. M. 1957 NACH DER SCHEIDUNG VERHEIRATET MIT GÜNTHER SACHS 1958 GEMEINSAMER AUFBAU DER FA. „LOCHSTREIFENTECHNIK“ – VORGÄNGER DES COMPUTERS 1964 NACH DER TRENNUNG ALLEIN IN FRANKFURT A. M. LEBEND, BEGINN ALS SCHRIFTSTELLERIN 2006 NACH 34 ROMANEN ENDE DER ARBEIT – SEITHER ALLEIN LEBEND, JEDOCH IM HINTERGRUND INNIG UMGEBEN VON DREI KINDERN, SECHS ENKELN UND ELF URENKELN 12 || JETTA SACHS-COLLIGNON | 1928 -1933 AN DER ODENWALDSCHULE eine Zehnjährige bei sich hatte, weiß ich nicht,– aber das war halt so. Da muss ich nur ganz kurz gewesen sein, denn 1933 stürmte die SA die Schule, und da war ich noch im Pestalozzi-Haus. Wir wurden versteckt gehalten und bekamen davon wenig mit, aber ich habe auch ein paar SA-Männer gesehen, als sie angerannt kamen. Viele Eltern haben reagiert und fast achtzig Prozent der Pestalozzi-Haus-Kinder sofort abgeholt. Als Heinrich Sachs die Leitung übernahm, war ich schon weg. Sachs galt damals bei uns übrigens als „Retter der Situation“. Wo politische Neuerungen griffen, hatte er Kompromisse zu machen. Nach Aussage von Henry Cassirer hat man die besonders bedrohten – vor allem die jüdischen Schüler – in der obersten Häuserreihe positioniert, damit sie bei Gefahr am ehesten in den Wald flüchten konnten. Wussten Sie davon? Nein, das habe ich nicht mitbekommen. Als Kinder wurden wir eher abgeschottet. Aber jemand hatte uns beigebracht, „Nieder mit Hitler!“ zu rufen. Ich wusste damals weder, wer Hitler war, noch, was wir da sprachen. Wie haben Sie den Unterricht während der „Kindergartenzeit“ erlebt? Wunderbar, wir haben die Fenster aufgemacht und uns auf das Fensterbrett gesetzt. Wir hatten große Strohhüte auf und kurze Hosen an und ließen die Beine nach draußen baumeln. Das war im Goethe-Haus. Das ging ganz locker. Ich hatte die meiste Zeit den Lehrer Paul Thomae, er wurde später mein Schwager. Kannten Sie das Warte-System (es gab z.B. Reinigungswarte)? Nein, das kenne ich von späteren Schulen. Das hat sich mir hier nicht eingeprägt. – Es gibt übrigens Erinnerungen, die ich erst Jahre später verstanden habe. Zum Beispiel das Bild von Tagore und Paulus ist ja bekannt. Ich stand damals in Tuchfühlung neben Tagore und musste erst zur Seite geschubst werden, damit dieses Abschiedsfoto gemacht werden konnte. Erst später hörte ich, wer Rabindranath Tagore war: ein großer indischer Dichter und Philo- || 13 soph. Dann habe ich stets gedacht: Ja, den kennst du. Das sind kleine positive Lichterchen, die man ins Leben mitnimmt. Es gibt noch eine Erinnerung: Die Erwachsenen haben sich etwas pädagogisch Großartiges ausgedacht, – einen Test, wie weit sich die Kinder für Natur und Garten interessieren. Dass das ein Test war, wussten wir nicht. Jeder bekam ca. 2 qm Land. „Nun macht mal, was ihr gerne machen wollt“, lautete der Hinweis für uns zwölf Kinder. Wir erhielten Samen und Pflänzchen und gruben da herum. Was ich gemacht habe? Ein tiefes Loch gegraben, einen Eimer Wasser geholt, das Wasser in das Loch geschüttet und dann alle meine weißen Steiff-Tiere gebadet. Die waren anschließend nicht mehr weiß. Die Erwachsenen haben uns den ganzen Tag buddeln lassen und anschließend ihre Beurteilung geschrieben. Bis zum heutigen Tag hasse ich Gartenarbeit und fasse keinen Blumentopf an. Hätten Sie gerne jemanden gehabt, der sagt: „Ach, du könntest vielleicht …“? Nein, überhaupt nicht. Ich war froh, dass keiner eingriff und ich meine – damals schon recht teuren – Steiff-Tiere baden konnte. Wie sah damals ein Tag für eine Fünfjährige aus? Spielerisch, natürlich mussten wir ins Goethe-Haus zum Unterricht gehen. Das Frühstück fand im Pestalozzi-Haus statt, Mittags- und Abendmahlzeiten wurden im Goethe-Haus an einem speziellen „Kindergartentisch“ eingenommen. Wie sah die künstlerisch-musische Ausbildung aus? Es wurde viel Theater gespielt, vor allem Shakespeare. Das heißt nicht, dass ich heute die ganzen schaurigen Königsdramen durchlese. Ich habe selbstverständlich noch nicht mitgespielt, aber meine Schwestern. Die Proben haben immer mehr Eindruck gemacht als die Aufführung. Beim „Kaufmann von Venedig“ spielte Helmut Maass die Hauptrolle, und ich war mit acht Jahren wahnsinnig verliebt in ihn, und da habe ich natürlich jedes Wort mitverfolgt. Ich wusste damals nicht, dass es Shakespeare ist, aber dieses Ohr dafür habe ich bis heute behalten. In meinen Büchern habe ich bisweilen Shakespeare „mit eingepackt“. Und in einem Band Liebesgeschichten habe ich „Wie es 14 || JETTA SACHS-COLLIGNON | 1928 -1933 AN DER ODENWALDSCHULE || 15 euch gefällt“ vorne angesetzt. Für die Aufführungen hatten wir die Aula und die Freilichtbühne (z.B. für den „Sommernachtstraum“). Nun, im musischen Bereich hat die OSO zweifellos auch Fehler gemacht, speziell auf mich gemünzt: Wir hatten jeden Tag ein sehr gut gemachtes zehnminütiges Musikvorspiel, sonntags war es einstündig. Ich ging stets brav in die Aula. Wir Kleinen saßen meistens vorne. Ich hatte kurz geschnittene, mit einer Spange versehene Haare. Jedem Musikvorspiel hörte ich begeistert zu, habe dabei aber immer die Spange raus und rein gemacht und die anderen damit gestört. Keine Frage! Jedes Mal nach dem Musikvorspiel kamen Vorwürfe von der Kindergärtnerin: „Wie kannst du das machen? Lass die Spange da sitzen!“ Und dann kamen Vorwürfe, die voreilig waren: „Du bist ja so unmusikalisch ...!“ Ob das auf die Haarspange zurückgeht, weiß ich nicht. Ich hatte jedenfalls danach immer ein negatives Gefühl bei klassischer Musik und so habe ich mich die nächsten 80 Jahre davon ferngehalten. Das war das Gegenstück zu meinen OSO-Erfahrungen mit Shakespeare. Haben Sie Erinnerungen an die aktive politische Mitgestaltung der Schüler? Schülerselbstverwaltung, hundertprozentig. Also, die Schüler hatten bestimmt mehr zu sagen als die Erwachsenen. Aber nicht wir. Wir wurden nur „die Kleinen“ genannt. Es ist ja schon erstaunlich, dass sich so früh so vieles festsetzt. Ja, das würde ich absolut sagen. Deswegen war diese Tendenz, „Kinder macht mal, was ihr für richtig haltet“, gut. Wir erlebten sehr wenig Drill, und das, was wir machen mussten, kam ja auch von uns. Das waren eben Selbstverständlichkeiten. Ich habe übrigens noch eine Erinnerung, wo die Erwachsenen falsch gehandelt haben: Mein Bruder, damals etwa 18, lebte im Herder-Haus im Parterre. Er war immer nett. Jeden Tag kam ich bei ihm vorbei, hüpfte an sein Fenster und schwatzte mit ihm. Eines Tages haben ihn Gleichaltrige in einen Sack gesteckt, weggeschleppt, den Sack zugelassen und einfach für mehrere Stunden im Wald liegen lassen. Das sollte eine Strafe für seine Hochnäsigkeit sein. Selbstjustiz wurde unter den Großen nämlich viel geübt. Empört und heulend lief ich durch die ganze Schule, um ihn zu suchen. Das war zu viel Freiheit, die Erwachsenen hätten eingreifen müssen. Inwiefern war die OSO anders als das, was draußen vorgegangen ist zu dieser Zeit? Nun, wir waren ganz frei. Täglich viele Stunden konnten wir machen, was wir wollten. Der Lindenstein war unser Hauptspielplatz. Heute ist die Straße dorthin ganz zugewachsen. Marina von Jakimow, Liesel Bicker, ich und andere, wir hatten eine zimmerhohe Höhle gefunden. Sie lag oben am Fels und war nur zu erreichen, indem man über einen Baum und Ast stieg. Da nun gingen wir täglich hin und saßen dort. Wir fanden das wunderbar. Eines Tages kam oben einer von den großen Schülern und merkte unter seinen Füßen, wie die Felsendecke (so groß wie dieses Sofa) nachgab. Er pfiff uns da heraus. Wir waren böse und haben ob der Einmischung geschimpft. Nachdem wir herunter geklettert waren, ist er auf die Höhle gestiegen, um ordentlich zu trampeln. Wir konnten von unten sehen, wie da ein Stück Fels nachgegeben hat. Da haben wir sofort kapiert: Er hatte uns das Leben gerettet. Sehr viel später hat die OSO mir übrigens einen großen Gefallen getan. Als meine Ehe kaputtging und der Vater meiner Kinder wortlos verschwand, da hatte ich kein Geld und keinen Beruf. Wir kamen Anfang der 1950er Jahre von Spanien nach Hause und hatten hier gar nichts. Meine Mutter war bei uns und sagte: „Wir fragen mal in der OSO nach Hilfe.“ Meine Mutter zog mit den damals 4- und 9-jährigen Kindern in den damaligen „Gasthof Hübner“ (gelbes Haus). Sie gingen zu Fuß hinauf und durften den Unterricht mitmachen und mitessen. Ich suchte mir derweil hier in Frankfurt einen Job. Dass die OSO sofort einer Altschülerin geholfen hat, das war prima. Nach einem halben Jahr dann konnte ich die Kinder nach Frankfurt holen. 16 || JETTA SACHS-COLLIGNON | 1928 -1933 AN DER ODENWALDSCHULE Wie haben Sie Paul und Edith Geheeb erlebt? Tante Edith war nie böse, aber sie konnte ziemlich streng sein. Dieser Strenge waren wir nicht ausgeliefert. Wir konnten ihr aus dem Weg gehen. Paulus und Edith haben uns zum Kaffee eingeladen in ihre Wohnung. Dann merkte ich natürlich von ihrer Strenge nichts. Aber wenn wir zu laut waren, hat sie geschimpft. Und Paulus war eine Selbstverständlichkeit für uns. Wir haben nie gesagt, das ist jetzt der „Leiter der Schule“. Ich wusste, die Schule gehört Cassirers und Paulus ist der Leiter. Wir haben darüber nicht nachgedacht. Und meine Mutter, die mit Paulus befreundet war, kam oft zu Besuch. Dann brauchte ich bei den Mahlzeiten nicht am Kindergartentisch zu sitzen, sondern konnte mit an Paulus‘ Tisch sitzen. Das empfand ich nicht unbedingt als Auszeichnung. Ich fand es viel gemütlicher am anderen Tisch, wo ich „flegeln“ konnte. Was haben Sie in ihrem späteren Leben gemacht? Ich habe viele Berufe gehabt, darauf basierend, dass ich keinen hatte. 1939 habe ich geheiratet, Kinder bekommen, nach der Scheidung 1951 Telefondienst bei Pepsi Cola gemacht und in einer Werbeagentur gearbeitet. Meinen zweiten Mann lernte ich in einer Zeit kennen, wo das Wort Computer in Europa noch unbekannt war. Die Lochstreifentechnik (Lochkarten gab es davor) ist das Band, das Schreibmaschinen dirigierte usw., und das haben wir in Deutschland eingeführt: „Günther Sachs-Lochstreifentechnik“. Wir waren jahrelang die einzigen, die überhaupt wussten, wie solch ein Ding funktioniert, und fingen an, das zu verkaufen. Dann kam der randausgeglichene Schreibautomat von Amerika, den man für den Satz usw. verwenden konnte. Den kannte niemand, weil hier kaum jemand Englisch konnte. Die Techniker klagten: „Wir können die Gebrauchsanweisung nicht lesen“. Dann probierte ich das alleine aus, konnte sie lesen und damit waren wir die einzigen Fachleute, die diese Maschinen an Zeitungen, große Firmen und große Banken verkauften, wobei ich auch die Vorführung und Einarbeitung übernommen habe. Sie kostete 70.000 DM. Die Kosten haben wir über eine Bank finanziert. Lukrativ war es, wenn wir || 17 viele in kurzer Zeit verkaufen konnten. Mit der Computer-Revolution waren wir plötzlich ein Auslaufmodell. Aber ein paar Jahre hat uns die Lochstreifentechnik finanziell herausgerissen. Dieser Ehemann kam aber auch abhanden. Das ist in unserer Generation irgendwie Mode gewesen. Danach habe ich nur noch geschrieben. Angefangen habe ich mit Fortsetzungsromanen in Illustrierten wie Bunte, Quick oder Hör Zu. Später war ich „vornehm“ genug, auf Bücher überzugehen, aber das war nicht mehr das gute Geschäft. Und da oben, seht ihr die Regale? Eure Bibliothek hat auch ein paar Exemplare. Es ist sehr edel, Bücher zu schreiben, aber finanziell gar kein Vergleich zu den Zeitungen. Ich sage immer, wenn ich tot bin und hier wird ausgeräumt: Werft mir ja die ganz billigen, schäbig aussehenden „Heftchen“ nicht weg. Die waren wertvoller als alles, was hier steht. Die haben meine Kinder großgezogen. Wenn man in den großen Illustrierten einen Roman hatte für viel Geld, dann kamen später die Heftchen und nahmen von den Illustrierten noch einmal die Rechte. Dann hat man noch einmal gut verdient. Mit 84 Jahren habe ich mich selbst in Rente geschickt. Es ist ja sehr viel Arbeit. Die Verlage machen Termine und wenn du nicht brav um 8.30 Uhr morgens an der Maschine sitzt und fünf, sechs Stunden machst und in der Zeit keinen Besuch empfängst etc. und das Jahr durch arbeitest, dann wird das nichts. Es war sehr, sehr viel Arbeit die letzten Jahre und jetzt will ich nicht mehr. Jetzt bin ich faul. Wie war die Trennung von der OSO für Sie? Wie war es, in die Außenwelt zu kommen? Das war insofern schwierig, als ich ja gar nicht wusste, wohin. Denn weder meine Mutter hatte große Lust, plötzlich wieder vier Kinder zu Hause zu haben; und mein Vater schon gar nicht. Aber ich kam dann trotzdem zu meiner Mutter; und sie suchte und suchte: Wie werde ich dieses Kind wieder los? Meine Mutter war eine sehr liebe Frau, aber zum Kinderaufziehen nicht geeignet. Und da lernten wir Max Bondy kennen. Er ist genauso berühmt wie Paulus. Meine Schwester und ich, die beiden großen Geschwister waren 18 || JETTA SACHS-COLLIGNON | 1928 -1933 AN DER ODENWALDSCHULE ja schon aus der Schule, kamen nach Marienau zu Bondy und blieben wiederum; bis auch Bondy Deutschland verlassen musste. Wie haben Sie Marienau erlebt im Gegensatz zur OSO? In Marienau war ich genau so glücklich wie in der Odenwaldschule, die waren sich sehr verwandt. Von diesen 10, 12 Landschulheimen, die mir ein Begriff sind, waren diese beiden sehr verschwistert. So, nun habt Ihr mein ganzes Leben platt vor euch. Erinnerung, das ist etwas Wunderbares, als würde ich ins Kino gehen: zack – Erinnerungsblitze. An welchen Stellen Ihres Lebens hat sich die Freiheit, die Sie damals an der OSO erlebt haben, zu Ihren Gunsten ausgewirkt? Die Frage ist gut. Heute kann ich wieder davon Gebrauch machen, – für die Zufriedenheit des Alters. Es ist kein Zwang mehr da, niemand will mehr was von mir, außer den elf Urenkeln. Und alleine zu leben, speziell seit dem vorigen Jahr, da ich mit dem Schreiben aufgehört habe, da kommen mir diese alten Freiheitsbegriffe wieder sehr zugute. Und das wisst Ihr nicht, das wisst ihr erst in 50 Jahren, dass jedes Leben diesen Bogen zum Anfang macht. Das ist naturgegeben, und da mache ich persönlich einen Bogen zu menschlich sehr guten Verhältnissen. Meine Geschwister haben auch so gedacht. || INTERVIEW | Burgunde Niemann || 19 Jetta beim Rechnen 20 || VICTOR DAHM | 1928-1934 AN DER ODENWALDSCHULE L ieber Victor, Du kamst 1928 aus der Schweiz an die Odenwaldschule und warst sechs Jahre hier. Gibt es für Dich ein Ereignis, was Dir ganz besonders in Erinnerung ist? Der Kriegsausbruch. Erlebt hat den natürlich in der Hauptsache meine Mutter. Sie war, während ihre beiden Söhne an der Odenwaldschule waren, von der Schweiz hierhergekommen, hatte gegenüber am Hang dieses Haus bauen lassen (das heutige Haus Dahm), in dem sie mit uns beiden wohnte. Sie blieb bis zum Tag der Kriegserklärung in Ober-Hambach. Und dann hat sie alles für die Umsiedlung vorbereitet, hat den Rest in ihr Auto gepackt und ist in die Schweiz abgefahren. Und das Haus oben wurde vermietet. Der Kriegsausbruch hat sich natürlich vorbereitet. Ich selbst hatte 1934 an der OSO die Matura (Abitur) abgelegt, war dann zum Studium in Darmstadt an der Technischen Hochschule immatrikuliert und lebte dort im Sportclub. Am Anfang wurden die Ausländerbeziehungen an der Hochschule eher gefördert. Aber hinterher hat die Politik so stark Einfluss genommen, dass ich 1937 nach Zürich umgezogen bin und an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) weiterstudiert habe. Während meines Studiums in Darmstadt allerdings bin ich jedes Wochenende hierher nach Hause gekommen und habe natürlich lebhaft am Leben der Schule teilgenommen. Ich habe hier die ganze Zeit erlebt. Und wie hast Du den Kriegsausbruch hier an der OSO erlebt? Also, vor dem Kriegsausbruch war natürlich das Hauptereignis für uns, dass Edith und Paul Geheeb in die Schweiz geflüchtet sind. Und dort haben sie dann viel später ihre Schule, die Ecole d’Humanité, begründet. Und in dieser Phase war ich natürlich in der Schweiz sehr eifrig mit ihnen zusammen. Wir haben alle Stationen erlebt. Und Familie Gunning (vom Institut Monnier des Schweizer Pädagogen Willem Gunning) war befreundet mit Paulus und Edith. Frau Gunning war Holländerin. Sie hat im Winter jeweils einen Aufenthalt für vorwiegend holländische Teenager in der Schweiz organisiert. Und dank dieser Beziehung konnten wir, mein Bruder und ich, dort als Hilfsskilehrer aktiv werden. Wir haben den jungen Mädchen also das Skifahren beigebracht. || 21 Das war doch sehr charmant? Sehr charmant! Mein Bruder hat eine dieser Schülerinnen geheiratet. Eine Holländerin. Die Ehe existiert jetzt noch, und meine Schwägerin kann davon erzählen. Welche Ereignisse waren während Deiner Schulzeit ganz besonders prägend? Also, da gab es eine ganze Menge prägender Ereignisse. Zuerst etwas Lustiges: Eines Tages hat die ganze Schule ein Schauspiel über den Bauernkrieg gedichtet. Die Gegenpartei des Bauernführers, der Fürst nämlich, hat einem Bauern das Pferd weggenommen. Und mitten in der Vorstellung ist der Fürst mit dem Pferd (unter dem ein Schüler verborgen war) unvorhergesehenerweise von der Bühne verschwunden. Dann ist ein geistesgegenwärtiger Mitspieler aufgetreten und hat dem Publikum gesagt: „Entschuldigung, der Fürst muss mal wohin!“ Hast Du aus dem schulischen Bereich eine besondere Erinnerung parat? Wir hatten jedes Jahr zweimal acht Tage Wanderungen. Und die Wanderungen wurden von älteren Schülern oder von Lehrern geführt. Dann wurde im Durchgang (zwischen Schiller- und Fichte-Haus) angeschrieben, wer welche Wanderung anbietet. So konnte man die Wanderung wählen und sich dort eintragen. Es gab hier einen sehr bekannten Lehrer, das war „der Brenning“, und mit ihm und der OSO-Leitung wurde vereinbart, dass wir ausnahmsweise einmal vier Wochen auf Wanderung gehen können, wenn wir schulisch entsprechend vorarbeiten. Man musste also eine größere Arbeit in einem bestimmten Be- Bild oben: Das Haus Dahm, heute zur Odenwaldschule gehörend ZUR PERSON 1916 GEBOREN 1928-1934 AN DER ODENWALDSCHULE BIS ZUM ABITUR 1934-1937 STUDIUM DER INGENIEURSWISSENSCHAFTEN AN DER TECHNISCHEN HOCHSCHULE IN DARMSTADT AB 1937 FORTSETZUNG DES STUDIUMS AN DER EIDGENÖSSISCHEN TECHNISCHEN HOCHSCHULE IN ZÜRICH DANACH MILITÄRDIENST IN DER SCHWEIZ SPÄTER ALS MASCHINENINGENIEUR AUF INTERNATIONALER EBENE TÄTIG, Z.B. IN UNGARN, AFRIKA UND SÜDAMERIKA 22 || VICTOR DAHM | 1928-1934 AN DER ODENWALDSCHULE reich abliefern. Und das haben wir getan. Ich habe da z.B. für die Wanderung durch Mecklenburg und Schleswig-Holstein über den dortigen Häuserbau geschrieben. Und dann sind wir vier Wochen dort herumgezogen, und zwar von Bauer zu Bauer, haben im Heu geschlafen, bei allen möglichen Gelegenheiten geholfen und Land und Leute kennengelernt. Wir hatten eine Mitschülerin, die Tochter eines Flottenmitglieds, der Vater war Offizier oder Admiral, und er hat es uns ermöglicht, dass wir durch den Kaiser-Wilhelm-Kanal (heute NordOstsee-Kanal) mit einem Torpedoboot fahren konnten. Das war außerordentlich spannend, und für mich als Schweizer war natürlich Schifffahrt und Flotte etwas ganz Besonderes. Ein Torpedoboot ist ein sehr schnelles, mit Torpedos ausgerüstetes Schiff, wovor die U-Boote Angst haben. Wir hatten auch einen späteren U-Boot-Kapitän in unserer Gruppe, den Hermann Lanbi. Der hat mit mir zusammen Matura (Abitur) gemacht. Also, das war eine schöne Geschichte, dass man sich von der Schule vier Wochen befreit und an einer Arbeit über den Häuserbau in Schleswig-Holstein schreiben kann. Damit gibt man auch den bauingenieurstechnischen Interessen einen Raum. Später bin ich übrigens Maschineningenieur geworden. Ich empfehle diese Erfahrungen jedem jungen Menschen. Maschineningenieur ist der schönste Beruf. Warum? Nun, ich bin dann in den Kraftwerkbau gegangen und habe mich später selbstständig gemacht. Energie ist immer der Bereich, der zum Beispiel in einem Entwicklungsland zuallererst notwendig ist, wenn man eine Industrie aufbauen muss. Durch meinen Beruf bin ich in zahlreiche Länder gekommen. Ich erinnere mich, dass ich zum Beispiel bei 41°C im Büro gearbeitet habe, während hinter mir der Wald mit Elefanten gerodet wurde. Interessant, oder? Wie gesagt: Ingenieur ist der schönste Beruf. Meine Nachbarn (in Winterthur) sind allerdings wegen meiner häuslichen Ingenieurstätigkeiten natürlich nicht ganz einverstanden mit mir. Lieber Victor, ich danke für das Gespräch. Du wirst sicher bei Sascha (Alexander von Jakimow), der hier in unserer Runde sitzt, noch manches beitragen können. || INTERVIEW | Burgunde Niemann || 23 Links: Victor Dahm mit seinem Bruder und Frau Brenning – der Junge daneben ist unbekannt 24 || ALEXANDER VON JAKIMOW | 1944-1949 AN DER ODENWALDSCHULE L ieber Sascha, wie hast Du die OSO als Fünfjähriger erlebt? Was für mich so frappant war, ich bin ja im Februar 1944 hier in die OSO gekommen war, dass überhaupt keine Barriere oder Hemmnis zwischen uns Schülern war. Wir waren alle wie Brüder und Schwestern. Wir haben uns alle geduzt und uns auch geholfen, wie wir konnten. Wir haben Bucheckern, Knöterich, Pilze usw. gelesen und als Nahrung verwendet. Wir haben viele Sachen gesucht, gespart und diese zusammengebracht. Diese einmalige Bruderschaft zwischen den Einzelnen, die habe ich in meinem Leben nie mehr wieder mitbekommen. Damals war Heinrich Sachs der Direktor. Der hat eine Tochter gehabt, Renate, die hat Cello gespielt. Ich später übrigens auch. Und jeden Morgen haben die eine wunderschöne Kammermusik zusammen in der Aula gespielt. Die Tochter und auch sonstige Musiker. Also, man kann wirklich nur sagen, es lebe die Musik. Und der Anatol von Roessel, – ihn kann ich nicht vergessen. Das war ein großer Pianist. Der hatte hier ein kleines Studio. Und sonst hat er Klavierunterricht gegeben. Ein ganz großes Genie! War das jener jüdische Pianist, der bis 1945 dank der Intervention von H einrich Sachs (Schulleiter von 1934-1945) sicher an der Odenwaldschule überlebt hat? Hat er nicht jeden Morgen vor dem Unterricht ein Konzert gegeben? Ja, absolut. Der war weit und breit hoch respektiert. Und dann hat er hier immer Beethoven-Sonaten gespielt, einfach auch mal zwischen drin. Und sogar die Appassionata und sonstige Stücke. Wie habt Ihr die Zeit des Nationalsozialismus hier erlebt? Wir haben uns mit der Hitlerjugend, der Vereinigung mit dem großen Hakenkreuz, auseinandersetzen müssen. Hier war bis 1945 strenge Besatzung. Und das war ganz traurig. Hier sind OSO-Leute abgeführt worden. Die sind einfach gegangen, ohne dass man gefragt hat, wie und warum und wohin. Die wurden einfach – ich weiß nicht mehr, ob sie gefesselt wurden – aber sie mussten marschieren. Unter strenger Bewachung und Bewaffnung wurden sie abgeführt. || 25 Kannst Du Dich an die Menschen erinnern und weißt Du, wohin sie kamen? Nein. Aber ich kann es mir ungefähr vorstellen. Es waren Leute, von denen ich nie mehr etwas gehört habe. Die Ereignisse haben doch Angst ausgelöst. Habt Ihr hier darüber gesprochen? Ich wurde damals überhaupt noch gar nicht irgendwie wahrgenommen. Über mich wurde disponiert, ohne dass ich gefragt wurde. Das waren einfach Eindrücke, die ich jetzt wiedergebe. Aber darüber habe ich nie gesprochen. Und später? Damals nicht und nachher auch nicht. Jetzt nur, weil Du mich danach fragst. Aber sonst habe ich über meine Eindrücke nie gesprochen. Nach dem Krieg, erinnere ich mich, dass wir uns vor den russischen Besatzungen im Keller versteckt hatten. Und da kamen dann plötzlich die russischen Truppen und haben uns hier in der OSO im Keller vom Fichte-Haus und vom Schiller-Haus und nachher im Humboldt-Haus inspiziert. Wir hatten (obwohl es Befreier waren) vor allen Fremden Angst. Da war der Krieg zwar aus. Hurra, aber wir haben gar nicht realisiert, dass dann erst der entsetzliche Hunger begann. Und alle Notreserven, die wir hatten mit unseren trockenen Brotersparnissen, Knöterich, Bucheckern, alles haben wir gegessen vor Freude, weil wir solchen Hunger hatten. Und danach gab es nichts zu essen. Ganz schlechte Zeiten! Bist Du sicher, dass das russische Besatzer waren? Ja.* Und kurz danach kamen die Amerikaner. Haben die Erwachsenen Euch geraten, dass Ihr in den Keller gehen solltet? Ja, das ging von den Lehrern aus. Und dann von Elisabeth Popp, die könnt Ihr ja immer noch fragen. Das war unsere frühere Überwachung. Die war damals beim OSO-Treffen hier, und die habe ich nachher gesprochen. Die war so nett und die hat die Kinder so geliebt, als wenn es ihre eigenen wären. Ich war später einmal mit einem Freund hierhergekommen und habe sie getroffen. Ich hatte ein köstliches Gespräch mit ihr. ZUR PERSON „SASCHA“ 1939 IN HEIDELBERG GEBOREN 1944-1949 AN DER OSO 1958 ABITUR IN LAUBACH (OBERHESSEN) SEIT 1958 IN DER SCHWEIZ LEBEND UND DORT DIE LIZENZ IN NATURWISSENSCHAFTEN AN DER UNIVERSITÄT FREIBURG ABGESCHLOSSEN SEIT 1970 BERUFLICH ALS KUNSTMALER TÄTIG SEIT 1974 MIT SOHN WLADIMIR SCHWEIZER STAATSBÜRGER GEWORDEN IM FRÜHJAHR 2010 VERSTORBEN * Diese Aussage lässt sich nur schwer verifizieren. Ggf. ist etwas darüber im Archiv der Odenwaldschule zu finden. Es könnte sich auch um Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter handeln. 26 || ALEXANDER VON JAKIMOW | 1944-1949 AN DER ODENWALDSCHULE Wladimir (Saschas Sohn): ... die Soldaten haben Dich am Kopf gestreichelt, habe ich gehört. Ja, ich war ja so ein Wuschelkopf. Ich saß dann unten auf dem Boden, und dann kamen die (russischen?) Truppen da rein; und da hat mich einer gestreichelt. Und der hat mich angeschaut. Er hat mir nichts gemacht, war nur nett, aber alle anderen Kinder hatten große Angst und versteckten sich. Weil der so lieb zu mir war, hatte ich aber keine Angst mehr. Das war das Jahr 1945 ... Wladimir (Saschas Sohn): Nur zum besseren Verständnis: Gleichzeitig sind seine beiden Brüder im letzten Moment des Krieges, im April 1945, einer an der Ostfront und der andere im Elsass gefallen. Zur gleichen Zeit, als die Russen an die OSO gekommen sind. Ja, das ist wichtig. Sein Vater, Igor von Jakimow (gebürtiger Russe), hat seine zwei älteren Söhne verloren, die gefallen sind. Igor war gerade aus dem Feld von der Ostfront gekommen, wo er als Dolmetscher für die deutschen Kriegsgefangenen gewirkt hatte. Und als er vom Tod der Söhne erfahren hat, hat er sich auf das Bett hingelegt und kein Wort mehr gesprochen. Nach seiner Aussage war der Hauptgrund seiner Flucht aus Russland die Rettung dieser beiden Söhne und der ganzen Familie. Deshalb war es der größte Schock für ihn, dass beide gefallen sind. Unheimlich ist das gewesen. Er war 1918 (damals südöstlich von Moskau lebend) vor der Russischen Revolution nach Berlin geflüchtet, mit Frau und zwei Söhnen, die dann im 2. Weltkrieg gefallen sind – wegen den Russen der eine und der zweite wegen der Franzosen (mein Großvater war ja in Paris Bildhauer und Maler gewesen!): Das muss man sich vorstellen. Für das Gefühl meine ich. Das ganze Leben war während vieler Jahre danach gebrochen. Gott sei Dank blieben Sascha, Marina und Tatjana noch übrig. Sie sind übrigens alle OSO-Schüler gewesen. Erzähl ein wenig von Deinem Vater, Sascha. Er war vor allem Bildhauer und Maler. Er hatte an der Kunstakademie in Paris studiert. Mein Vater hat an der OSO viele Jahre Unterricht in Malerei, Keramik, Theater und sonstigen Unterricht gegeben. Er war auch der Lehrer || 27 Igor von Jakimow, Vater von Alexander, war Bildhauer und Maler, später Lehrer an der Odenwaldschule und Begründer der Werkstattkultur 28 || ALEXANDER VON JAKIMOW | 1944-1949 AN DER ODENWALDSCHULE v. l. n. r.: die Geschwister Marina, Jorsik und Tatjana von Jakimow || 29 Du bist hier zur Schule gegangen, weil Dein Vater hier Lehrer war? Mittelbar schon, sonst hätten wir die Schule ja nicht gekannt. Ich bin auf die Schule gegangen, weil meine Mutter als Violonistin mit ihrem Orchester ins Feld ging, mitten im Krieg. Meine Mutter hatte uns immer platziert, von Fluchtplatz zu Fluchtplatz, erst in Pommern und anschließend in der OSO. Kindheit und Jugend in bedrückend bewegter Zeit. Was hast Du von der OSO für Dich „mitgenommen“? Trotz der schweren Zeit blieb mir die OSO in schöner Erinnerung, voll Kameradschaft. Die entsprechende Einstellung brachte ich in die Schweiz herüber, – meine heutige Heimat. Ich freue mich, Euch alle beim Jubiläum wiederzusehen.|| INTERVIEW | Burgunde Niemann. von Victor Dahm. Er war bekannt dafür, dass man bei ihm Handwerklichkeiten lernen konnte. Und wenn einer kam und nicht wusste, was er machen sollte, dann hieß es „Mach Töpfchen!“. Er hat einen Klumpen Lehm hingelegt, und dann hat man mit den Beinen eine Drehscheibe gedreht und konnte daraus irgendeine schöne Form machen. Er war der Vorläufer der ganzen Werkstattausbildung. Igor von Jakimow hat unsere Werkstattkultur begründet. Wer war er als Mensch und Künstler? Victor Dahm (OSO-Schüler von 1928-1934): Er war eine außerordentlich sympathische Persönlichkeit. Die Kinder haben ihn geliebt. Und dann hatte er auch eine lustige russisch-deutsche Sprache, nicht wahr? Er hat sich gut verstanden mit der Jugend. Anwesend waren auch der Sohn von Alexander von Jakimow, Wladimir von Jakimow, und Victor Dahm, Schüler der Odenwaldschule von 1928-1934; beide haben während des Gesprächs manche Passage inhaltlich ergänzt). Alexander von Jakimow ist im Frühling 2010 verstorben. 30 || GÜNTER ENGELEN | 1952-1955 AN DER ODENWALDSCHULE W as bewirkten zwei Jahre OSO im Leben eines Menschen – Episode oder Zäsur? Als ich nach dem Tod meines Vaters mit 14 Jahren nachmittagelang aus dem Fenster stierte, anstatt Schulaufgaben zu machen, da fühlte ich, dass ich dringend etwas ändern müsste. Aber was? Mutter musste sich um das Geschäft kümmern, das Vater hinterlassen hatte, um den Lebensunterhalt zu sichern. Aber ihr Pflichtbewusstsein ließ sie ihre zwei Söhne nicht vergessen. Und so lernte sie mit 48 Jahren neben dem Autofahren und dem Führen eines Geschäftes auch die Landschaft deutscher Landerziehungsheime kennen. Salem, Birklehof, OSO, und ich weiß nicht, wo sie noch überall herumkurvte, um ihre zwei mehr oder weniger widerspenstigen Zähmungen unterzubringen. Ihr Wunsch, beide in einem Internat unterzubringen, ließ sich in der Kürze der Zeit nicht realisieren. Mich traf die OSO. Wieder aufs Land, oh Graus! Dem war ich drei Jahre vorher nach Mannheim entkommen und begann gerade, die Stadt zu genießen. Auch die zerstörte. Dem vier Jahre dauernden Land-, genauer Bauland-Aufenthalt entronnen zu sein, machte mich froh und ließ mich freier atmen. Es gab Theater, Konzerte, Industrie, und es gab – ganz wichtig – Autos in allen damals verfügbaren Schattierungen. Es gab Amerikaner, es gab schwarze Amerikaner, das war alles so selbstverständlich, dass es mich faszinierte. Es wusste keiner, wer ich war, es war jedem egal. Nun gut, also wieder aufs Land, ab in die Kasernen der heimeligen Postkartenidylle putziger Landhäuser und guter Luft. Platsch, wie der Frosch im Tümpel landete der Neue also dort: Küchendienst im Goethe-Haus, Küchendienst im Pesta-Haus (ja ich weiß, dass das Pestalozzi-Haus heißt, aber die Vorleser der Küchendienste sprachen immer vom Pesta-Haus). Mädchen, Jungens, kleine, große, schüchterne, selbstbewußte. Lehrer wurden zu Mitarbeitern und ließen sich zum Teil duzen. An einem Tisch im Goethe-Haus speiste ein feines altes Ehepaar – es waren die Cassirers. Eine neue Welt wollte erobert werden. Die räumliche Enge ermöglichte schnelle Kontakte und schaffte neue Möglichkeiten zwischenmenschlicher Erfahrungen. Anstelle eines Nebeneinanders Verantwortung für sich selbst zu || 31 übernehmen und von dem Wissen des Nachbarn zu profitieren, das ist mehr als stupides Abschreiben – aber manchmal half auch das –, sein eigenes weitergeben, dieser schnelle Lernprozess von Verantwortung für sich und andere, ich weiß nicht, wo anders ich das so schnell hätte lernen können als in diesem Mikrokosmos der OSO. Fantasie und Initiative in der Erarbeitung von Lerninhalten durch das Nutzen der Bibliothek und Diskussionen mit den Mitschülern entsprachen vor sechzig Jahren eher dem Universitätsniveau als dem von Gymnasien. Die OSO war von diesen so weit entfernt wie ein Goggomobil von einem 300 SL. Bologna gab es zum Glück noch nicht. Aber es zeigte eben auch eine gewisse Isolierung vom damaligen Mainstream, und vielleicht auch wieder heute, legt man den Namen der oberitalienischen Stadt zu Grunde. Es gab auch profane Erfahrungen wie das tägliche Duschen. Zuhause hatten wir eine Badewanne. Seit dieser Zeit sind für mich Badewannen mittelalterliche Relikte. ZUR PERSON Mitarbeiter, so sie Persönlichkeiten waren, hatten die einmalige Chance Menschen zu beeinflussen und zu prägen. Eine für mich herausragende Persönlichkeit war Ernest Jouhy, wie sich der vor dem Naziterror nach Frankreich geflohene Berliner Jude Ernst Jablonski seit seinem Kampf in der Résistance nannte. Aber das mit dem Namen erfuhr ich erst später. Jouhy ist für mich als Humanist mit seinem brillianten Verstand und seiner tiefen Menschlichkeit zeitlebens ein Vorbild geblieben, der mit viel Geduld und Überzeugungskraft mit seinen ihm Anvertrauten umging und sie zur Selbst- und Eigenständigkeit befähigte. Achtung und Respekt vor dem Anderen und vor dem Anderssein lebte er wie kein Zweiter, der mir im Leben begegnete. Er überredete niemanden, er überzeugte! Was ihn unter vielen hervorhebt, ist, dass er, obwohl als Jude verfolgt, in der Résistance gegen die Nazis gekämpft, sich mit solcher Hingabe für Versöhnung und Toleranz eingesetzt hat, zwischen Franzosen und Deutschen und zwischen den Menschen überhaupt. Und man nehme nur nicht an, dass er irgend etwas vergessen hätte. Sein Gedächtnis war phänomenal. Dreißig Jahre später war ich einmal in der Evangelischen Akademie von 1958-1959 PRAKTIKUM IN BERN 1959-HEUTE ARBEIT IM ELTERLICHEN EISENWAREN-GESCHÄFT IN MANNHEIM 1960-1964 TÄTIGKEITEN IN KÖLN 1964-2009 GESCHÄFTSFÜHRER UND MITINHABER EINES HANDELSUNTERNEHMENS 1938 IN ESCHWEILER (RHLD.) GEBOREN 1944 GRUNDSCHULE IN VIERNHEIM 1945-1948 GRUNDSCHULE IN HARDHEIM (ODENWALD) 1948-1949 GYMNASIUM BUCHEN (ODENWALD REAL) 1949-1952 KARL-FRIEDRICHGYMNASIUM MANNHEIM (HUM.) 1952-1955 ODENWALDSCHULE 1955-1958 KAUFMÄNNISCHE LEHRE IN ULM SEIT 1989 AUTOMOBILHISTORIKER UND BUCHAUTOR 32 || GÜNTER ENGELEN | 1952-1955 AN DER ODENWALDSCHULE Arnoldshain, als mich von hinten jemand mit meinem Vornamen ansprach. Es war Jouhy, der mich erkannt hatte und mich beim Namen nannte. Ich konnte es nicht fassen. Für mich ist Jouhy so etwas wie der personifizierte Wesensinhalt der OSO. Jemand, der mir immer fremd blieb, war Walter Schäfer. Seine Tochter Uschi, eine Klassenkameradin von mir, war ein unheimlich lieber Kamerad, mit dem man Pferde stehlen konnte, und seine Frau strahlte zwar keine betuliche Mütterlichkeit, wohl aber kameradschaftliche Wärme aus. Walter Schäfer mag für die OSO bestimmt ein hervorragender Leiter gewesen sein. Ich empfand sein Auftreten als kommisshaft, fast ein wenig unheimlich. In einer Uniform hätte ich ihn mir gut vorstellen können. Vielleicht wäre er aber auch ein Henning von Tresckow gewesen. Ich gestehe, dass das subjektiv ist und von anderen anders gesehen werden kann. Die Erfahrung der Vielfalt menschlicher Begabungen und Persönlichkeiten gepaart mit der räumlichen Dichte; und das Ganze ohne Mord und Totschlag, Hass oder Vergeltung, das bleibt prägend. Und das, so empfinde ich es bis heute, hat diese zweieinhalb Jahre zu den wichtigsten meines Lebens gemacht. Die Episode verblasste durch die prägende Zäsur. Warum verlässt man dann eigentlich diesen wichtigen Hort menschlicher Persönlichkeitsprägung vor dem Abitur? Nach der Mittleren Reife meinte meine Mutter, es sei besser für das Geschäft, eine Lehre zu machen. Da ich noch keine Vorstellung von meinem Leben nach dem Abitur hatte, stimmte ich dem zu. Drei Jahre Lehre in Ulm als Großhandelskaufmann folgten. Das war dann der erste richtige Kulturschock meines Lebens. Er ließ mich rapide erkennen, was ich mit der OSO gewonnen und dann verloren hatte. Aber der Gewinn war so nachhaltig, dass er bis heute Früchte trägt. || || 33 Blick aus dem Goethe-Haus in Richtung Ober-Hambach (Oberdorf ). Unten sieht man den Abzweig der Stichstraße zum Parkplatz vor dem Goethehaus, so wie er früher war 34 || Vor und Zuname | 19 -19 AN DER ODENWALDSCHULE BIS ZUM ABITUR Günter Engelen linke Buchseite letzte Reihe in der Mitte – direkt davor Klassenlehrer Ernest Jouhy || 35 36 || JOCHEM VON USLAR | 1948-1957 AN DER ODENWALDSCHULE M inna Specht war Schulleiterin, als ich ihr 1948 als neuer Schüler vorgestellt wurde. Sie musterte mich, hatte dann aber nur Augen für meine Mutter, die damals am Theater in Darmstadt die Mutter Courage spielte. Mir schien, Minna wäre fast die bessere Besetzung gewesen. Minna Courage entschied, als meine Mutter abgereist war, dass ich gleich für den Stopfkursus (Strümpfe stopfen!) bei ihr bleiben könnte und sie anschließend in den Garten zu begleiten habe, um Unkraut zu hacken. Jacques, mein Zimmergenosse, erklärte mir, so viel Nähe sei ein Privileg. Jacques war fortan überhaupt mein Tutor. Er warnte mich ominös, in der ersten Nacht möglichst nicht einzuschlafen. Als sie kamen, die lieben Kameraden, um mich zu „kippen“, war ich auf der Hut. Kippen war ein Ritual, ein Überfall, nachdem der Überfallene sich an der Wand unter dem Bett wieder findet, mit Wasser übergossen wurde und schlimmstenfalls ertragen musste, dass ihm der Hintern mit Schuhcreme eingerieben wurde. Ich wehrte und prügelte mich, das verschaffte Respekt (alle hatten schließlich Erfahrungen als Pimpfe). Jacques vermittelte auch die ersten Eindrücke von der Koedukation. Er teilte mir eine „Kameradin“ aus der Familie zu, mit der ich Händchen haltend spazieren gehen musste. So trottete ich mit der Glücklichen zum Sportplatz hinauf und wieder hinunter. Kurzum, ich lernte in den ersten 24 Stunden die Eckpunkte der OSO-Erziehung kennen: Bewähre dich in einer Arbeitsgruppe, wehre dich, und Koedukation ist – zumindest anfangs – langweilig. || 37 setzten die eher wertkonservative Position mit Kategorien wie Pflicht, Ordnung und Geschichtsbewusstsein. Ernest Jouhy lehrte uns Revolution und Anarchie auf der Basis von Résistance und Marx. Herr Zier vermittelte mit den Mitteln der Kunst. Und Wolfgang Edelstein hat als fünfundzwanzigjähriger Jungtürke, eine amphibische Autorität zwischen den Generationen, alles überbrückt. Als Schüler kam es darauf an, mit Phantasie und dem richtigen Maß an Unabhängigkeit die Balance zu halten. Die OSO gab damals den wirksamsten Unterricht in neuester Geschichte: Weimarer Republik und „Drittes Reich“. Ernst, ernster als die anderen, wurde genommen, wer es schaffte, im Schulparlament eine Rolle zu spielen. Ich wurde „Parlamentspräsident“, lernte (politisch) zu reden, Angriffe zu starten und in Kompromissen zu enden. Gegen den heutigen Grad der Mitbestimmung, die den uns nachfolgenden Parlamentariern gewährt wurde, waren wir Untergrundkämpfer. Walter Schäfer setzte auf die Autorität des Erwachsenen, aber er honorierte – gestaffelt oder gemindert, je nach Vorliebe für den einen oder anderen – Widerstand. Jedenfalls bestrafte er Langweiligkeit und Lauheit. Die Odenwaldschule war für mich ein Zuhause, ein Übungsplatz und eine Heimstatt, die ich allerdings nach achteinhalb Jahren vergnügt hinter mir gelassen habe. || Ich habe acht und ein halbes Jahr in der OSO gelebt. In der siebten Klasse, manche sprachen noch von der Untertertia, gab mir Frau Schäfer die Hauptrolle im „Diener zweier Herrn“. Ich brillierte und schaffte erstmals den Durchbruch zu einer umfassenden Bekanntheit in der Schule. Fortan wusste ich, dass Theaterspielen in der OSO Ansehen schafft. ZUR PERSON 1946 IN KOBLENZ GEBOREN 1948-1957 OSO BIS ZUM ABITUR 1957-1962 STUDIUM GESCHICHTE U. JURA IN FRANKFURT/M, FES/RABAT (MAROCCO), BERLIN U. MÜNCHEN 1962-1968 NACH 1. JUR. STAATSEXAMEN REFERENDARZEIT IN MÜNCHEN U. NEW YORK IN DIESER ZEIT „NEBENTÄTIGKEIT“ ALS REISELEITER IN EUROPA, AFRIKA, ASIEN UND SÜDAMERIKA 1968 2. STAATSEXAMEN IN MÜNCHEN 1968-1972 ANGESTELLTER U. A. BEI DER US-FIRMA „NATIONAL LAID“ 1972 EINTRITT IN DIE F.D.P. 1972-1979 REFERENT FÜR KULTURFRAGEN BEIM DEUTSCHEN STÄDTETAG 1979-1983 ABTEILUNGSLEITER BEIM KULTURSENATOR IN BERLIN (WEST) 1983-2001 KULTUR-,SCHUL- UND SPORTDEZENENT DER STADT BONN VERHEIRATET, DREI KINDER, DREI ENKEL, SEIT 2001 PENSIONÄR IM VORSTAND DER ALTSCHÜLERVEREINIGUNG UND DES FÖRDERKREISES DER ODENWALDSCHULE E.V. Die Oberstufe war ein Vergnügen. Aber man musste sich zurechtfinden. Die Lehrer stritten aus zwei Lagern heraus. Walter Schäfer und seine Frau be- Links: Jochem von Uslar 1948 an der OSO Rechts: Das Planton-Haus tief verschneit im Winter 1956 38 || DANIEL COHN-BENDIT | 1958-1965 AN DER ODENWALDSCHULE A ls junger Mensch Vollwaise zu werden und wenige Jahre nach dem Abitur bereits das Pariser Establishment, die gesamte gaullistische Front 1968 in höchste Alarmbereitschaft zu versetzen, da kann man sich fragen: Was hat Dich stark gemacht? Ich hatte so ein Gemüt, wo ich mich von den Ereignissen habe treiben lassen. Ich bin oft gefragt worden: Haben Sie das geplant? Das ist völliger Unsinn. Vielmehr gab es bestimmte Auseinandersetzungen; und das Ganze ist eskaliert. Wieso ich das ausgehalten habe? Da spielt schon meine Persönlichkeitsentwicklung an der OSO eine Rolle. Sich zu artikulieren und darzustellen, das kam vom Theater in der OSO und dass ich sehr früh angefangen habe, in der Schülermitverwaltung aktiv zu sein. Ich behaupte ja immer, ich hätte den Wahlkampf erfunden. Als ich nämlich zum ersten Mal zum OSO-Parlamentspräsidenten kandidiert habe, hielt ich vom ersten Stock des Speisesaals aus eine Rede – damals noch im Goethe-Haus. Eine donnernde. Ja, ans Volk. Da war ich 16, zehnte Klasse, in der neunten war ich Parlamentssekretär. Die OSO hat da sicherlich viel beigetragen. In diesem Alter schon Vollwaise zu sein, hat natürlich auch eine Rolle gespielt. Du wirst in bestimmten Dingen schneller erwachsen, nicht in der ganzen Lebensfähigkeit; so zum Beispiel habe ich gewartet, bis ich 45 Jahre war, um ein eigenes Kind zu haben. – Eine große Hilfe war und ist für mich bis heute mein neun Jahre älterer Bruder. Durch einen Schicksalsschlag früher reif zu werden, bedeutet nicht zwingend zu einem kämpferisch-unerschrockenen Volkstribun zu werden. Meine Frage zielt auf eine bestimmte Variante Deiner Persönlichkeitsentwicklung. Du bist sicher von einem extremen Temperament geprägt, „ungeheuer lebhaft und redegewandt“, wie Walter Schäfer einmal schrieb. Aber mich interessiert, wie Du damals die Feindseligkeit vieler gesellschaftlicher Gruppen bis hin zur Ausweisung aus Frankreich ertragen hast. Ich habe ein sehr positives Verhältnis zum Leben. Ich habe tolle Eltern g ehabt. || 39 Obwohl sie getrennt waren, wurde ich sehr behütet. Kürzlich habe ich den Cicero-Preis „Bester Redner 2009“ erhalten, und da hat Franziska Augstein in ihrer Laudatio ein Foto interpretiert, wo ich, sechs Monate alt, auf dem Arm meiner Mutter bin und sie lächelt. Innere Ruhe und Selbstsicherheit habe ich, so ihre Interpretation, durch das Bewusstsein, immer geliebt worden zu sein, obwohl mein Leben im Ganzen sehr unruhig war. Die Person, die mir wichtig war, hat mich geliebt. Und das war in der OSO auch so. Ich wollte ja nicht nach Deutschland. Zur Vorgeschichte: Mein Vater war Anwalt der „Roten Hilfe“ und ist 1933, noch bevor die Verfolgung richtig begann, aus politischen Gründen nach Frankreich emigriert, zusammen mit meiner Mutter, die damals in Berlin studiert hatte. Beide waren Deutsche und jüdisch. Meine erste Sprache war also Französisch, weil ich in Frankreich aufwuchs und dort zur Schule ging. Meine Muttersprache ist Deutsch, was ich aber erst in der OSO richtig gelernt habe. Als nun meine Mutter beschlossen hatte, nach Deutschland zu kommen, um meinen in Frankfurt lebenden krebskranken Vater zu pflegen, war ich 13. Ich habe mich mit Händen und Füßen gewehrt. Und der Kompromiss war die OSO, weil dort Ernest und Lydia Jouhy waren, die meine Mutter kannte, weil sie ja auch wie Jouhy ein Kinderheim für jene Kinder hatte, deren Eltern während des Krieges im Lager waren. Das also war die Brücke: Ich kam nicht nach Deutschland, sondern an einen Ort, der ‒ abstrakt formuliert – für mich außerhalb Deutschlands lag, personifiziert durch die Jouhys. Und an der OSO hat man mich von vorneherein ‒ das habe ich so erfahren – geliebt. Nicht nur die Jouhys, bei denen ich zuerst in der Familie war, das war ja ein familiäres Verhältnis, sondern auch die gesamte Schule. Also, ich war dann „eine geliebte Person des öffentlichen Lebens der OSO“. Die haben mich gemocht, alle auf ihre Weise. Ob es der Boss oder Zier waren oder Frau Schäfer. Sie war ja meine Lehrerin, und manchmal war ich wohl auch ein bisschen merkwürdig für sie. Ich kann mich an eine Diskussion erinnern, wo ich sie zur Weißglut brachte. Wir haben „Wilhelm Tell“ durchgenommen. Es ging um die Szene mit dem Apfel. Ich meldete mich und sagte: „Ich finde das Verhalten des Vaters absolut unmöglich, denn er riskiert das Leben seines Sohnes. Von vorneherein anzunehmen, dass er auf ZUR PERSON 1945 IN MONTAUBAN, FRANKREICH GEBOREN 1958-1965 ODENWALDSCHULE BIS ZUM ABITUR 1968 SPRECHER DER PARISER MAI-REVOLUTION NACH SEINER AUSWEISUNG AUS FRANKREICH IN DEUTSCHLAND IM SDS UND DER APO AKTIV 1970 MITGLIED DER FRANKFURTER SPONTI-SZENE UND HERAUSGEBER DES FRANKFURTER STADTMAGAZINS „PFLASTERSTRAND“ 1984 MITGLIED DER GRÜNEN UND DANACH DEZERNENT FÜR MULTIKULTURELLE ANGELEGENHEITEN DER STADT FRANKFURT SEIT 1994 MITGLIED DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS FÜR DIE GRÜNEN, Z.T. ALS FRAKTIONSVORSITZENDER DANEBEN ALS BUCHAUTOR UND MODERATOR TÄTIG IN FRANKFURT/M. LEBEND, VERHEIRATET, EIN SOHN 40 || DANIEL COHN-BENDIT | 1958-1965 AN DER ODENWALDSCHULE || 41 alle Fälle den Apfel und nicht seinen Sohn treffen wird, ist keine verantwortliche Haltung eines Vaters. Denn man muss immer sein mögliches Scheitern voraussehen.“ Frau Schäfer versuchte, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Ich blieb aber dabei: „Tell ist eine negative Person.“ Der Unterricht konnte nicht fortgesetzt werden, weil ich penetrant immer wieder auf dieses Thema zurückkommen wollte. Wer hat schließlich Recht behalten? Das weiß ich nicht mehr. Sagen wir, die klassische Interpretation ist sicherlich nicht auf meiner Seite. Welche Rolle hat Ernest und welche hat Rolle Lydia Jouhy für Dich gespielt? Er war vor allem Lehrer und einer, der gerne diskutierte. Lydia war eine unheimlich liebe Frau, die sehr gut verstehen konnte, welche Probleme ich am Anfang hatte. So lebte ich zusammen mit der elfjährigen Tochter in ihrer OSO-Familie, quasi als Adoptivsohn. Und als meine Eltern innerhalb von vier Jahren starben, hatte ich immer einen Halt bei ihnen. Und Lydia war ja für mich faszinierend: dieses Emigrantenschicksal, das das Leben neu gestaltet hat. Es gibt übrigens eine witzige Geschichte. Ich kam 1958 zur OSO, und 1999 wurde ich ins Europaparlament wiedergewählt. Da kam eine Frau der russischen Minderheit aus Riga auf unsere Fraktion zu. Irgendwann sprach sie mich an und sagte: „Du kennst doch die Lydia Jouhy?“ Sag ich: „Klar.“ Ja, und diese Frau war mit dem Neffen von Lydia zusammen gewesen in der gleichen Gruppe der russischen Minderheit in Riga. Das war schon berührend. Ernest und Lydia waren für mich der emotionale und intellektuelle Rückhalt in der OSO. Also nicht er intellektuell und sie emotional. Das wäre falsch. Beide haben diese Rolle gespielt. Klar, dass er als Lehrer (Lydia hat ja nicht unterrichtet) einer der ersten politischen Mentoren war, mit denen ich mich auseinandergesetzt habe – außer meinem Bruder, den darf man dabei nie vergessen. ... Lydia Jouhy mit ihrer Tochter Eva 42 || DANIEL COHN-BENDIT | 1958-1965 AN DER ODENWALDSCHULE Der frühere Schulleiter der Odenwaldschule Walter Schäfer – von den Schülern oft nur „der Boss“ genannt Welche Impulse hat Jouhy in der politischen Auseinandersetzung gegeben? Das ist schwierig ... Wie war der Unterricht bei ihm? Ich hatte bei ihm nur Französisch-Leistung, den meisten Unterricht hatte ich bei Walter Schäfer. Kannst Du einen Einblick in die inhaltliche Ausrichtung seines Geschichts- und Politikunterrichtes geben? Er hat sehr auf die geschichtliche Argumentation abgehoben und versucht, Lehren aus dem Nationalsozialismus zu ziehen ‒ seine Kriegserlebnisse in Russland sind immer mit eingeflossen ‒ und gleichsam die Neudefinition der Bundesrepublik als demokratischer Staat voranzutreiben. Das war im Grunde sein Ansatz. Anfang der 1960er kam der damalige Außenminister von Brentano zu uns. Er hat mit der Oberstufe diskutiert. Und da waren einige, darunter ich und noch ein anderer Jude, die ihn in eine Debatte verwickelt haben. Irgendwann sagte er, dass er jetzt gehen müsse, aber es wäre interessant, uns nach Bonn einzuladen. Und da sind wir ins Bonner Außenministerium marschiert und haben nachmittags mit ihm weiter diskutiert. Es war unheimlich nett. Ich weiß nicht, ob Schäfer das arrangiert hatte, aber solche Veranstaltungen waren ihm wichtig. Er war streng, ja rigoros, aber of- || 43 fen. Man hat gespürt, dass er das Ganze zusammenhielt, aber er war weniger zugänglich als die Jouhys. Es war ein recht distanzierter Umgang nach außen hin, auch zu seinen Töchtern. Und bei Jouhy war das emotional ganz anders. Das konnte man sehen. Aber trotzdem hat Schäfer beeindruckt. Basierte das Verhältnis von Jouhys und Schäfers auf gegenseitiger Sympathie? Ich glaube, die haben sich gegenseitig respektiert. Schäfer war sicherlich beeindruckt von der Lebensleistung der Jouhys. Und Jouhy erkannte die intellektuellen Fähigkeiten von Schäfer. Zurück zum Unterricht. In Mathe und Physik hatte ich unheimliche Schwierigkeiten. Ich weiß aber nicht mehr, bei wem das war. Und beim damaligen Lehrer für Biologie haben wir einen richtigen Aufstand gemacht. Den mochten wir nicht, und dann haben wir gestreikt und gedroht, dass wir nicht mehr kommen würden. Ein sehr gutes Verhältnis hatte ich zu dem Sportlehrer Brandwein. Er kam ja aus der DDR und war sehr streng. Aber weil ich Sport sehr gemocht und auch viel Sport gemacht habe (z.B. Handball), hatte ich ein gutes Verhältnis zu ihm, obwohl er autoritär und im Grunde genommen von den DDR-Erziehungsidealen stark geprägt war. Hast Du Dich nicht immer gegen jede Form von Autoritarismus gewehrt? Ja, aber er hat die notwendige Intelligenz gehabt, unsere positive Einstellung zum Sport gespürt und uns im Grunde genommen mehr laufen lassen, als es ihm lieb war. Irgendwie wurde er überzeugt von uns, dass wir Sport machen, ohne dass er seine autoritäre Masche durchsetzen konnte. Manch ein Klassenkamerad hat bedauert, dass Du selten zu Altschülerbegegnungen kommst. Ein Zeitproblem? Das wäre zu banal. Aber es geht mir oft so, dass ich in den Milieus, in denen ich gerade bin, total aufgehe. Und zu den vorigen Milieus Verbindung zu halten, wird immer anstrengender. Ich überlasse es dem Zufall und freue mich, wenn ich jemanden treffe, zum Beispiel den Jürgen Wickert. Dann umarme ich ihn und sage: „Wir müssen uns öfter sehen!“ Das ist kein Desinteresse. 44 || DANIEL COHN-BENDIT | 1958-1965 AN DER ODENWALDSCHULE || 45 Aber wenn ich zwischen Frankreich und Deutschland immer hin und her springe, ergibt sich vieles nicht. Oben: Wolfgang Porsche, unten Daniel Cohn Bendit beim Fasching Welches Verhältnis hattest Du zu Wolfgang Porsche? Wie das Leben so ist: Wir waren beide in einer OSO-Familie und in einer Klasse, − wenn man die geschichtlich höchst unterschiedliche Entwicklung unserer beider Familien sieht ...! Ich habe ein herzliches Verhältnis zu ihm gehabt. Er war nett, gesellig, aber er wollte sich nicht so einbringen. Bestimmte Dinge wollte er nicht einsehen. Das war das Problem der OSO damals, dass manche Leute ihre Eigenständigkeit, Individualität behalten wollten, ohne in der Gemeinschaft aufgehen zu müssen. Das duldete „the common sense“ der OSO weniger. Die OSO war herrlich für mich und ich für die OSO. Individualisten hatten es schwerer. ... Hast Du beim deutsch-französischen Jugendwerk oder im Sprachlabor mitgearbeitet? Nein. Im Übrigen: Mich haben Schreinerei, obwohl ich Herrn Oberle sehr nett fand, oder Schlosserei gelangweilt. Was habe ich gemacht? Gelesen, diskutiert, Theater gespielt, z.B. „Der eingebildete Kranke“ auf Französisch, Stücke geschrieben und z.B. als Elftklässler mit Siebtklässlern Stegreifstücke inszeniert, als Parlamentspräsident das Blockhaus erkämpft ‒ ich wollte ein Haus für die Schüler, heute ist das die Disco ‒, legale und illegale Nachtwanderungen zur Kneipe in Schannenbach, Tanzkurse, am Ende gab es einen OSO-Ball mit Wettbewerb; mit Karin Höpfner habe ich den 1. Preis in den lateinamerikanischen Tänzen gemacht. Zu den sozialen Strukturen der OSO – was ist Dir da besonders in Erinnerung? Als ich kam, war ich ein „Vollzahler“. Als mein Vater starb, habe ich ein OSOStipendium gehabt. Und was mich damals beeindruckt hat, das war die Freudenbergstiftung aus Weinheim, die auch die soziale Struktur der OSO etwas verändert hat. In meiner Klasse war Otto Herz, das Paradebeispiel für diese Entwicklung: Es wurde Schülern ermöglicht, an der OSO zu sein und Abitur zu machen. Das wäre von der sozialen Herkunft her ansonsten nicht drin gewesen. Die OSO war vielleicht keine geschlossene Gesellschaft und hatte zwar damals schon einen eigenen Stipendientopf, aber die Freudenbergstiftung kam dann hinzu, und so war der Internatsbesuch nicht mehr ausschließlich vom elterlichen Geldbeutel abhängig. Das hat sich später noch mehr geändert, als die Jugendamtfinanzierung noch dazu kam. Viel später habe ich der OSO ja ein Riesenproblem geschaffen. Indem Du als Dezernent für Multikulturelles in Frankfurt eine völlig unbeirrbare, meist wütende junge Türkin zu uns brachtest. Ich hab sie unterrichtet. Das muss man der OSO hoch anrechnen: Sie hat bei ihr wirklich etwas bewirkt. Inzwischen macht sie ihr zweites Staatsexamen als Lehrerin und ist eine unheimlich tapfere Frau geworden. Sie war bei Barbara und Günther Schweigkofler in der Familie. Vor allem Barbara hat immer wieder für sie gekämpft. 46 || Vor und Zuname | 19 -19 AN DER ODENWALDSCHULE BIS ZUM ABITUR || 47 Physikunterricht bei Herrn Weiser: mittlere Reihe v.l.n.r.: Klaus Windaus, Klaus Dick, Manfred Rathgeber, hintere Reihe besonders eifrig: Dany Cohn-Bendit, lässig winkend Eli Noam und Klaus Hosang (G65) ca. 1963 oder 64 48 || DANIEL COHN-BENDIT | 1958-1965 AN DER ODENWALDSCHULE Ich erinnere mich an zahllose Konferenzen, Gespräche, Rückmeldungen ... Ja, das kann ich mir denken. Meine Frau und ich, wir reden oft darüber: „Nur so eine Schule hat das geschafft“, sagen wir immer. In Frankfurt wäre dieses Mädchen untergegangen. Heute macht sie ihr Leben, im Endeffekt ist das eine absolute Erfolgsstory. Also, durch die Freudenbergstiftung und öffentliche Kostenträger hat sich die einseitige soziale Schichtung ein wenig auflockert. Aber ich denke, es ist heute immer noch überwiegend eine wohlhabendere Schicht an der OSO. Nur ein Drittel unserer jungen Leute wird vom Jugendamt finanziert. Aber zwei Drittel Privatzahler sind immer noch zwei Drittel. Also ich will nicht sagen, dass ein Drittel nichts ist. Ich erkenne das total an. Dany, Du hast seit Deinem Abitur 1965 mit der OSO immer Kontakt gehalten. In dieser Zeit habe ich Dich stets als jemanden wahrgenommen, der die OSO liebevoll-engagiert bis fordernd kommentiert, aber auch kritisch gesehen hat. Nach Walter Schäfer kam Gerold Becker als Schulleiter (19721985). Wie war Dein Verhältnis zu ihm, und wie hat er die Schule geprägt? Wir hatten ein freundschaftliches Verhältnis und manche Diskussion. Er hatte einen ganz anderen Führungsstil. Walter Schäfer war von der Kriegs- und Nachkriegszeit geprägt, Gerold Becker eher von der neuen Pädagogik, der Reformpädagik, die im Grunde mit den Revolten Ende der 1960er Jahre wieder salonfähig, ja gesellschaftlich anerkannt worden war. Becker hat versucht, an den ursprünglichen Ansätzen weiterzuarbeiten. Das war zwar kein Bruch zur Schäfer-Ära, aber den Gedanken der offenen Schule hat er stringenter verfolgt. Schäfer und auch Jouhy lebten ja auf ihre Art die Autorität des Lehrers. Und Gerold Becker hat das vermischt. Das ist ja auch das Problem der Widersprüche zwischen Kumpel und Autorität. Die Schule war eine Infragestellung der Autorität als Autorität. ... entlang der Trennlinie: formale und natürliche Autorität? Also, Jouhy und Schäfer waren natürliche Autoritäten. Aber sie haben auf || 49 ihre formale Position gepocht und blieben eher auf Distanz. Gerold Becker kannte diese Distanz nicht so. Das hat die OSO letztlich von dieser früheren Idylle weggeholt. Die OSO hatte immer die Tendenz, das Gute im Menschen zu suchen und dieses zu glorifizieren. Ich weiß noch, wir haben mit Schäfer ein Theaterstück gemach: „Das Rumpelstilzchen“. Und da war immer diese Suche nach dem Guten im Menschen: zwischen Rousseau und Aufklärung. Das war die OSO. Ging es um die Frage nach den anthropologischen Konstanten, der Frage also nach dem Kern menschlicher „Grundausstattung“? Ja, und wer letztlich recht hat: Rousseau, die Aufklärer oder Marx? Wir haben damals unendlich lange philosophiert. Ist der Mensch eigentlich gut und macht die Gesellschaft ihn erst schlecht? Ich denke, dass der Mensch im Grunde weder gut noch schlecht ist, sondern dass sich in bestimmten Situationen Dinge entwickeln, die alle Menschen in sich als Potential haben. Und plötzlich kam 1998/99 mit dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs gegen Gerold Becker etwas, was man sich nicht erklären konnte. Ich meine, die OSO hätte als Schule schon früher anders mit diesem Problem umgehen sollen, nicht denunziatorisch, aber offener. Ich fand die Lehrer und den Vorstand des Trägervereins damals feige. Sie haben es doch vielleicht schon früher gewusst. Das seit dem Frühjahr 2010 durch die mediale Berichterstattung deutlich gewordene ungeheure Ausmaß des Missbrauchs macht mich in der Tat fassungslos. Die Odenwaldschule muss nun für eine radikale Aufklärung aller Vorwürfe sorgen und ihre Struktur überdenken. Die Betroffenen dieser Übergriffe leiden nicht selten bis heute. Die Odenwaldschule hat zwar nach dem Bekanntwerden der erstmals öffentlich erhobenen Missbrauchsvorwürfe gegen Gerold Becker versucht, auf verschiedenen Ebenen Prävention und Intervention zu betreiben; so ist u.a.seit 2000 ein „Ausschuss zum Schutz vor sexualisierter Gewalt“ (Mitglieder sind vier Erwachsene und der gesamte Vertrauensausschuss der Schüler) an der OSO eingerichtet worden. Das sind zwar notwendige und durchaus 50 || DANIEL COHN-BENDIT | 1958-1965 AN DER ODENWALDSCHULE wirksame Maßnahmen, aber bislang eben nur Bordmittel. Wir bedürfen dringend der externen Beratung und Kontrolle sowie weiterer Strukturveränderungen, um wirksam vorbeugen zu können. Die OSO ist dabei, einschlägige Konzepte zu entwickeln. Aber vor allem muss es der OSO auch darum gehen, diese Epoche rückhaltlos aufzuklären. Ein ganz anderes Feld: Auf welches Menschenbild hin erziehst Du Deinen Sohn? Dem Anspruch nach ist es für mich die Erziehung zur Autonomiefähigkeit. Gleichzeitig bin im Grunde die perfekte „jüdische Mama“ bis hin zum Overprotecting. Noch heute fällt es mir schwer loszulassen. Zum Glück ist meine Frau da, die das alles korrigiert. Aber das ist der Widerspruch zwischen diesen Autonomievorstellungen von der Fähigkeit zur Selbstständigkeit und diesem persönlichen Verhalten. Hast Du Dein Jüdischsein an der OSO besonders gelebt? Nein, aber das war in der OSO überhaupt kein Thema. Es ist etwas, was ich bis heute nicht geregelt habe. Meine Frau sagt immer: „Irgendwann musst Du Dich dem stellen.“ Ich habe irgendwie, irgendwann beschlossen: „ich bin Jude“, das hat etwas mit meiner Geschichte und der meiner Eltern zu tun. Aber ich habe mit dem Judentum nichts zu tun. Ich bin in keiner Synagoge. Mein Sohn ist nicht im Religionsunterricht. Meine Frau ist nicht Jüdin. Wahrscheinlich muss ich aber in den nächsten Jahren mal manches zusammenbringen. Wenn Du eine Schule bauen könntest, welche Impulse wären Dir wichtig? Eine gute Frage. Als Frankfurter Dezernent für multikulturelle Angelegenheiten habe ich damals gesagt: „Warum machen wir in unserer Stadt nicht eine Gesamtschule mit Internat? Es gibt Kinder, die auch abends nicht nach Hause können. Einen Ort, wo man gleichzeitig die Mittlere Reife bzw. Abitur und eine berufliche Qualifikation erlangen kann.“ „Das funktioniert nicht“, hieß es. „Ich komme aber von einer Schule, wo das geht! Stellt euch vor, es würden benachteiligte Jungs in der Stadt Automechaniker und Schulabschluss machen und so aus der Misere rauskommen.“ Das habe ich vorgeschlagen in Schulen, beim Ministerium etc. Es war damals nichts zu machen. || 51 Ich glaube aber, dass eine solches Schulkonzept notwendig wäre. Im Übrigen würde ich das finnische Modell in einigen Punkten übernehmen: in den ersten sieben Jahren eine Beurteilung, aber keine Noten geben und versuchen, dass regelmäßige Anforderungen gestellt würden und bis zum 15. oder 16. Lebensjahr kann man nicht sitzen bleiben. Was hat Dir die OSO mitgegeben? Ich glaube, die OSO hat mir diese bestimmte Offenheit mitgegeben, Herausforderungen anzunehmen, aber auch eine Dimension der Lebensbejahung vermittelt, dass das Leben trotz der Schwierigkeit, dass Vater und Mutter sehr früh gestorben sind, Spaß macht. Das kam auch durch die Art des Zusammenlebens, die wir hatten. Auch rückblickend, ein tolles Leben! Es klingt jetzt ein bisschen zu dick. Ich weiß nicht, wie man das sonst formuliert. In der OSO kann man „sein Leben machen!“ Man ist also im Grunde genommen nicht gezwungen, ein Leben zu übernehmen, sondern man kann seines auch machen. Das ist ein Gefühl, was in der OSO angefangen hat, sich bei mir festzusetzen. Dany, ich danke für das Gespräch. || Das Gespräch fand im Oktober 2009 in Frankfurt statt und wurde von Dany Cohn-Bendit im März 2010 aktualisiert. INTERVIEW | Burgunde Niemann 52 || WOLFGANG PORSCHE | 1959-1965 AN DER ODENWALDSCHULE H err Dr. Porsche, zunächst einmal schönen Dank, dass Sie trotz der Porsche-Volkswagen-Turbulenzen 2009 Zeit zum Gespräch finden. Welche Ereignisse gingen dem Besuch der Odenwaldschule voraus? In meinem Geburtsort Stuttgart habe ich zunächst eine Waldorfschule besucht. Bereits meine Mutter war eine Waldorfschülerin, die Rudolf Steiner noch kannte. Nachdem einer meiner Brüder die Waldorfschule verlassen hat, gab er mir den Rat, ebenfalls die Schule zu wechseln, weil er recht viel nachlernen musste. Also haben meine Eltern und ich nach einer guten Alternative gesucht und diese in der OSO gefunden. Zu diesem Zeitpunkt war ich 13 Jahre alt. Mit 13 – ein apartes Alter. Die OSO muss für Sie eine völlig andere Welt gewesen sein. Und dann in den 60ern ... Das war in der Tat eine völlig andere Welt für mich. Spontan fällt mir ein Vorfall mit meinem damaligen Sportlehrer ein. Wir bekamen damals 30 Mark Taschengeld. Als ich fünf Mark bei ihm abholen wollte, fragte er, für was ich das Geld wolle. Ich entgegnete: „Das Geld steht mir doch zu. Ich hätte gerne fünf Mark, um ein paar Sachen zu besorgen.“ Er weigerte sich, mir das Geld zu geben, weil ich ihm nicht den genauen Verwendungszweck nennen wollte. Vielleicht hatte er Angst, dass ich rauche. Doch ich fand diese Bevormundung brüskierend. Als er mir sagte, dass er hier meine Eltern ersetze, habe ich ihn angeschaut und erwidert: „Sie können meine Eltern nicht ersetzen.“ Das war mein Entree bei dem bärtigen Sportlehrer. Aber ansonsten habe ich die Obrigkeit anerkannt. Mein Klassenlehrer Dr. Schlegelmilch war äußerst nett, da gab es keine Probleme. Später war ich dann bei Trude Emmerich im Platon-Haus. Wenn man bei ihr etwas über das Essen gesagt hat, entgegnete sie: „Unten an der Autobrücke stehen einhundert andere, die gerne in die OSO wollen.“ Dann haben Sie geschwiegen und sind zum Bäcker gegangen? Ja, da trafen sich alle. Mein Zimmernachbar im Platon-Haus war übrigens Daniel Cohn-Bendit. || 53 Haben Sie den Eindruck, dass es in den frühen 60er Jahren an der OSO ein Autoritätsgefälle zwischen Erwachsenen und Jugendlichen gab, das es notwendig machte, sich – um erfolgreich zu sein – ein wenig anzupassen? Oder war es Ihre Familienerfahrung? Das ist schwer zu sagen. Ich für meinen Teil bin jedenfalls nicht negativ aufgefallen. Zusätzlich zu meinem Abitur habe ich eine Schlosserlehre samt Gesellenprüfung an der OSO gemacht. Mein Ziel war es, die Schule schnell zu beenden. Sie waren anfangs ein freundliches, eher zurückhaltendes Kind. Sind Sie im Laufe der Zeit selbstbewusster geworden? Auf jeden Fall. Je näher das Ende meiner Schullaufbahn rückte, desto selbstbewusster wurde ich. Hat gegebenenfalls auch Dany etwas abgefärbt? Daniel Cohn-Bendit und ich waren sehr unterschiedlich. Ich vertrat die Dinge viel ruhiger. Sie waren der Einzige aus der Familie, der an der OSO war. Wie haben Ihre Eltern Ihre Entwicklung wahrgenommen? Durchaus positiv. In der Waldorfschule hatte ich nicht gelernt, wie man lernt. Das hat sich an der OSO geändert. Wie haben Sie das Leben an der OSO wahrgenommen. Gab es für Sie einprägsame Grundstrukturen? Das Familiensystem etwa? Mir gefiel, dass die OSO eine gemischte Schule war. Buben und Mädchen wohnten Zimmer an Zimmer. Dadurch war alles viel selbstverständlicher. Im Übrigen hat mir gefallen, dass – mit Ausnahme des Pestalozzi-Hauses – nicht nur Gleichaltrige in den Häusern lebten. Dadurch gab es nicht so eine Cliquenbildung. Auch die Doppelqualifikation hat mir Spaß gemacht und ist sicherlich ein weiterer Grund, weshalb ich an die OSO gegangen bin. ... ZUR PERSON 1943 IN STUTTGART GEBOREN 1958-1965 ODENWALDSCHULE BIS ZUM ABITUR UND DER SCHLOSSER-GESELLENPRÜFUNG 1965-1971 STUDIUM AN DER HOCHSCHULE FÜR WELTHANDEL IN WIEN, ABSCHLUSS DIPLOM-KAUFMANN 1973 PROMOTION ZUM DOKTOR DER HANDELSWISSENSCHAFTEN 1976–1981 EINTRITT IN DIE DAIMLER-BENZ AG IN STUTTAGRT-UNTERTÜRKHEIM SEIT 1978 MITGLIED DES AUFSICHTSRATS BEI DER PORSCHE AKTIENGESELLSCHAFT SEIT 1985 GESCHÄFTSFÜHRER DER PORSCHE GMBH, STUTTGART SEIT 1988 GESCHÄFTSFÜHRENDER GESELLSCHAFTER DER PORSCHE HOLDING GMBH, SALZBURG SEIT 1995 SPRECHER DER FAMILIE PORSCHE SEIT 2007 VORSITZENDER DES AUFSICHTSRATES DER PORSCHE AG SEIT 2007 VORSITZENDER DES AUFSICHTSRATES DER PORSCHE AUTOMOBILHOLDING, GESCHIEDEN, VIER KINDER 54 || WOLFGANG PORSCHE | 1959-1965 AN DER ODENWALDSCHULE Der Baumeister der Odenwaldschule, Heinrich Metzendorf, hat 1910 ein Gesamtkunstwerk geschaffen. Die Häuser sind wie Perlen an einer Schnur um dem Berg herum gebaut mit absichtsvoll gestalteten Wegen und Perspektiven im Kontext einer Gesamtlandschaft, eine „Dichtung in Stein und Grün“. Ist Ihnen das damals aufgefallen? So ist mir das damals nicht aufgefallen, aber ich liebe alte Häuser und die Natur. Wie wurde seitens der Erwachsenen mit Konflikten umgegangen? Haben die Erwachsenen z. B. bei Streitigkeiten interveniert? Nur, wenn Streitigkeiten eskaliert sind. Ansonsten wurden Konflikte auf dem kleinen Dienstweg selbst geregelt. Ich finde, das war richtig so. Gibt es im künstlerischen Bereich, in der Literatur oder Musik Erfahrungen, die dann später eine Rolle spielten? Ich habe früher zu Hause Klavier gespielt, was ich dann aus Zeitgründen an der OSO leider nicht mehr machen konnte. Heute male ich sehr gerne – etwa Stillleben in Öl. Aber auch dafür benötigt man Zeit. Ist Ihnen ein spezielles Konzept in der Schule oder im Umgang mit Menschen deutlich geworden; oder war die OSO für Sie ein gewachsenes organisches Ganzes? Für mich war das eher ein organisches Ganzes. Sie sagten vorhin, die Erwachsenen seien (mit Ausnahme des ersten Familienoberhaupts) als Persönlichkeiten zu respektieren gewesen. Ja. Dr. Schäfer zum Beispiel habe ich sehr geschätzt, aber auch andere Erwachsene sind mir in guter Erinnerung geblieben. Ihre Kinder haben eine Staatsschule besucht? Ja. Meine beiden Ältesten haben in München Abitur gemacht, meine beiden Jüngsten besuchen noch eine Münchener Stadtschule. || 55 Wann ist der Kontakt zur OSO abgerissen? Wirklich abgerissen ist der Kontakt nie. Über einzelne Freunde habe ich immer noch Verbindungen zur OSO. Vor zwei Jahren etwa hatten wir ein Ehemaligen-Treffen bei Passau. Spiegeln sich die Erfahrungen von sieben Jahren OSO in Ihrem beruflichen Leben in irgendeiner Weise wider? Vielleicht in der Art, wie ich mit anderen Menschen umgehe und Konflikte löse. Man lernt das sicherlich schon zu Hause, aber vor allem auch in einer Gemeinschaft wie der OSO. Mir ist es wichtig, Konflikte nicht mit Lautstärke, sondern mit Argumenten zu lösen. Gegenseitiges Anschreien nützt am Ende niemandem. Ich entnehme Ihren Aussagen, dass es für Ihre Persönlichkeitsentwicklung und Ihre heutige Position ein Gewinn war, an der OSO gewesen zu sein. Durchaus. Ich habe mich während meiner Zeit an der OSO gut entwickelt. Herr Dr. Porsche, ich danke herzlich für das Gespräch. || Das Gespräch fand im Oktober 2009 in Stuttgart statt. INTERVIEW | Burgunde Niemann 56 || Vor und Zuname | 19 -19 AN DER ODENWALDSCHULE BIS ZUM ABITUR || 57 kdlkdkfdlkjfl Wolfgang Porsche und Jürgen W ickert bei ihrer Abitursfeier 1965 58 || JÜRGEN WICKERT | 1959-1965 AN DER ODENWALDSCHULE D ie Zeit auf der OSO von 1959-1965 (Abitur) gehört zu den schönsten Zeiten meines Lebens. Innerlich verstört, in der Folge stotternd und schulisch mangelhaft, haben meine besorgten Eltern über Freunde den Weg für mich in die OSO gefunden. 1. Station: Goethe-Haus / 3. Stock bei Schwester Hanna + Schwester Dorle / Krankenstation – in einem Zweierzimmer. Prägende Erlebnisse mit verbotenen Haustieren – Mauerfalke, Igel, Mäuse, im Wald aufgegriffene Schildkröte – alle endeten irgendwie tragisch! Dann Umzug in die Edelstein-Familie. Wolfgang schrieb an seiner Doktorarbeit über die Erziehungsreform im Karolinger-Reich auf Latein und hielt für mich, bis heute lebendig, den spannendsten Lateinunterricht: noch in Erinnerung z.B. die gesellschaftspolitische Bedeutung der „cloaca maxima“ im Alten Rom! Später selbst in Rom lebend (1978-1983), fiel mir das bei jeder Ansicht des „spqr“-gezeichneten Gullideckels wieder ein. Wechsel in die Jouhy-Familie im Herder-Haus. Ernest und Lydia Jouhy (Jablonski) vermittelten mir eindrücklich die Geschehnisse der deutschen Geschichte von 1933-45 und danach! Sie waren authentische Zeugen des Kampfes gegen das Nazi-Regime durch ihre Mitgliedschaft und den tätigen Widerstand in der Résistance in Frankreich. Unvergesslich der Besuch im Vercors, wo SS-Lastensegler schwarzgestrichen nachts auf dem Hochplateau nahe Montélimar gelandet waren und hunderte Menschen erschossen hatten. Ernest Jouhy kam lebend davon, da er sich abgemagert in einer Ackerfurche vor den MG-Salven verstecken konnte. Einzigartig die Aufenthalte in La Bégude, dem einstmals aus Wassermangel verlassenen und durch Ernests Initiative mit Hilfe von Künstlern und Handwerkern (Ari, der Töpfer!) und Familie Lindemann (Hartwig, Zimmerkamerad im Herder-Haus) wieder aufgebauten Dorf. Die Steine des verlassenen Dorfes haben wir mühsam sortiert und in den Ferien mitgeholfen, sie zu || 59 neuen Häusern zusammenzufügen. Wasser war trotz Strom und Pumpe immer noch ein Problem! Zu essen gab es für mich damals Fremdartiges: z.B. Artischocken und Auberginen, Feigen und Oliven – es war herrlich! Das ganze Fremdartige, von den anderen Dächern und ihren Ziegeln angefangen bis zur Kleidung der Menschen, zu ihrer anderen Sprache und Verhaltensweise, bis hin zur Feststellung, dort als junger Deutscher nur unter dem Schutz von Ernest und dem Projekt des Deutsch-Französischen Jugendwerks akzeptiert zu sein – das alles hat mich tief bewegt, das habe ich in vielen Fotos und Zeichnungen festgehalten. Diese Erinnerungen haben mich nie losgelassen. Die sechs Jahre auf der OSO, die Zeit in der Schreinerei, der Kochkurs, das Helfen in der Gärtnerei, der Geschichtsunterricht bei Frau Schäfer, der Deutschunterricht bei „Boss-Schäfer“, der Gesamtunterricht, das SchülerParlament, die bis heute gebliebene enge und herzlich verbundene Freundschaft unserer Klasse – die Denkanstöße zu Freiheit und Verantwortung, das Basiswissen einer gesamtheitlichen Bildung – das war und ist für mich die OSO! Als Altschüler spüre ich die Verantwortung, dass die zum Teil schlechten nachfolgenden Jahre der OSO besser analysiert und verstanden werden, damit sich diese gravierenden Fehler im pädagogischen Konzept und in der gelebten Praxis der Odenwaldschule so nicht wiederholen können. Wichtig ist mir auch, daran zu erinnern, dass die OSO das Schicksal der über 200 jüdischen Schülerinnen und Schüler vor 1933 nie offiziell aufgearbeitet und gewürdigt hat. Dies könnte z.B. durch die Einrichtung von zwei bis drei Stipendien für jüdische Schülerinnen und Schüler aus Europa geschehen. Dadurch kann zwar nichts wieder gutgemacht werden, es könnte aber ein Signal für die Zukunft gesetzt werden, dass die jüdisch-christliche Tradition im Fundament der OSO auch nach 100 Jahren fortbesteht. ZUR PERSON 1944 IN BAD SÄCKINGEN GEBOREN 1959-1965 ODENWALDSCHULE BIS ZUM ABITUR 1965-1972 STUDIUM DER RECHTSUND SOZIALWISSENSCHAFTEN, DER ETHNOLOGIE UND DER PÄDAGOGIK AN DEN UNIVERSITÄTEN IN FRANKFURT/ MAIN, BONN UND LONDON ABSCHLÜSSE DIPL.-PÄD. UND DR. PHIL., BEIDES J.W. GOETHE-UNIVERSITÄT FFM. SEIT 1973 IN LEITENDER TÄTIGKEIT BEI DER FRIEDRICH-NAUMANN-STIFTUNG FÜR DIE FREIHEIT IN JAKARTA, ROM, NEW YORK, WASHINGTON DC, BONN/ KÖNIGSWINTER, POTSDAM UND BRÜSSEL PUBLIKATIONEN „BOROBODUR“, JAKARTA 1974, „DER BERG IM KOFFER – LERNEN MIT DER FREMDEN KULTUR – INDONESIEN“, FRANKFURT 1981, ZAHLREICHE AUFSÄTZE, ARTIKEL, RUNDFUNK- UND TV-SENDUNGEN ZU THEMEN DES KULTUR- UND POLITIKDIALOGS IN INDONESIEN, ITALIEN, DEN USA, DEUTSCHLAND UND EUROPA DERZEIT LEITER DES INTERNATIONALEN POLITIKDIALOGS DER FRIEDRICHNAUMANN-STIFTUNG FÜR DIE FREIHEIT MIT DEN BÜROS IN BRÜSSEL UND WASHINGTON DC VERHEIRATET, VIER TÖCHTER 60 || JÜRGEN WICKERT | 1964-1965 AN DER ODENWALDSCHULE Die wechselvolle Geschichte der OSO und der etwa 4000 SchülerInnen und LehrerInnen – nicht alle können meine positiven Erinnerungen teilen – gibt Zeugnis vom Kerngedanken des pädagogischen Konzepts: Fördern durch Fordern, Freiheit durch Verantwortung. || 61 Großes Bild: Irene Hess und Jürgen Wickert (beide G65) in Jürgens Zimmer im Herder-Haus, oberstes Stockwerk / Jouhy-Familie Die 100-Jahr-Feier der OSO und der als Geschenk der Altschüler dazu veranstaltete „Bildungsgipfel“, auch das Schüler-, Altschüler-, Lehrer- und Elternfest werden nachhaltige Eckpunkte einer neuen Orientierung liefern, damit die OSO auch in den nächsten 100 Jahren wieder an der Spitze des unerlässlichen Auftrags von Erziehung und Bildung stehen kann. || Dany Cohn-Bendit mit Monika Griebel links – im Zimmer von Jürgen Wickert im Schiller-Haus / Wolfgang Edelstein-Familie Links: Richtfest des von und für die Schüler gebauten Blockhauses – 1963 – mit Walter Blickle als „Handwerksmeister“ Schreinerei Rechts: Jürgen Wickert (G65) 9. Klasse 1961 / Aula –Goldoni, „Diener zweier Herren“ in der Hauptrolle als Truffaldino mit Karin Böttcher als Magd und Geliebte 62 || Vor und Zuname | 19 -19 AN DER ODENWALDSCHULE BIS ZUM ABITUR || 63 kdlkdkfdlkjfl Abitursfeier des Jahrgangs 1965