amnestyjournal0515final.

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amnestyjournal0515final.
www.amnesty.De/journal
Das magaZin fÜr Die mensChenreChte
4,80 euro
amnesty journal
04/05
2015
april/
mai
religion unD
meinungsfreiheit
myanmar
unterdrückung der
muslimischen minderheit
Digitale spuren
massenüberwachung
und menschenrechte
amnesty filmpreis
auszeichnung für Doku
über afghanistan
inhalt
titel: religion unD
meinungsfreiheit
16 Schläge für die Freiheit
In Saudi-Arabien ist der Blogger
Raif Badawi zu 1.000 Stockhieben
verurteilt worden, weil er sich für
liberale Reformen aussprach.
21 Fragen verboten
Wer die Stimme gegen fundamentalistische und nationalistische Einstellungen
erhebt, muss in vielen Ländern mit
gravierenden Folgen rechnen.
22 Mord mit Ansage
Der Tod des Bloggers und Religionskritikers Avijit Roy in Bangladesch.
24 »Ich kann nur schreiben«
Der Blogger Asif Mohiuddin setzt sich
gegen religiösen Fundamentalismus und
für Frauenrechte und Meinungsfreiheit
in Bangladesch ein.
26 Schnell beleidigt
Türkei: Die »Verunglimpfung religiöser
Gefühle« ist einer von zahlreichen
Artikeln im Strafgesetzbuch, mit denen
die freie Meinungsäußerung beschränkt
werden kann.
28 Treibgut des Krieges
Der »Islamische Staat« mordet und
brandschatzt in Syrien. Eine Reportage
von Carsten Stormer
28
2
34
50
themen
kultur
34 »Für uns gibt es keine Gerechtigkeit«
In Myanmar werden die muslimischen
Rohingya seit Jahren systematisch unterdrückt. Das Meer ist ihr einziger Ausweg.
50 Extrem scharf geschossene Bilder
Der Film »Tell Spring Not to Come This
Year« hat bei der diesjährigen Berlinale
den Amnesty-Preis gewonnen.
40 Gefangen im Netz
Die digitale Massenüberwachung verletzt
die Privatsphäre und gefährdet die
Meinungsfreiheit.
53 »Der hat uns geflasht!«
Interview mit Marcus Vetter, Mitglied der
Jury des Amnesty-Filmpreises bei der
Berlinale.
43 Eine Chance für die Freiheit
Kuba: Hoffnungen auf eine Verbesserung
der Menschenrechtslage.
54 Foltern per Dienstanweisung
CIA-Folterreport des US-Senats: Ein
Dokument des Grauens und eines der
Demokratie zugleich.
44 Zweifelhafte Untersuchung
Mexiko: Untersuchungen zum Fall der
43 verschwundenen Studenten.
46 Falsches Raster
Kontrollieren Polizisten Personen etwa
wegen ihrer Hautfarbe, handelt es sich
um ein unzulässiges Vorgehen, das
»Racial Profiling« genannt wird.
48 Ein Opfer unter vielen
Der Fall des 18-jährigen Afroamerikaners
Michael Brown wirft ein Schlaglicht
darauf, wie die US-Polizei systematisch
Minderheiten diskriminiert.
46
56 Das Porträt eines Landes
Das Istanbuler Fotokollektiv »Nar Photos«.
58 Wortwechsel
»Asyl-Dialoge«: Ein Theaterstück zur
Situation von Flüchtlingen.
60 Lähmung, Aufbruch, Krieg
Die Journalistin Ute Schaeffer legt ein
Buch zur Situation in der Ukraine vor.
63 Alles nichts an diesem Ort
Das »Zomba Prison Project« über die Zustände im Zentralgefängnis von Malawi.
58
amnesty journal | 04-05/2015
raif BaDawi …
Titelbild: Kundgebung vor der saudischen
Botschaft in Den Haag, 15. Januar 2015.
Foto: Jorn van Eck / Amnesty
ruBriken
04 Weltkarte
05 Good News: Erste »der 17«
Frauen in El Salvador frei
06 Panorama
08 Interview:
Micha Brumlik
09 Nachrichten
11 Kolumne:
Sergej Nikitin
12 Einsatz mit Erfolg
13 Selmin Çalışkan über
Rechtsstaat und Rüstung
61 Rezensionen:
Bücher
62 Rezensionen:
Film & Musik
64 Briefe gegen das Vergessen
66 Aktiv für Amnesty
67 Impressum
… ist nicht der einzige gewaltlose politische Gefangene in
Saudi-Arabien, aber sicher der bekannteste. Nur weil er
seine Meinung äußerte, wurde er zu einer brutalen Strafe
verurteilt. Sein Schicksal hat weltweit Aufmerksamkeit
und Empörung erregt. Badawi ist kein Einzelfall. Immer
wieder werden Menschen drangsaliert, verfolgt oder gar
getötet, weil sie angeblich religiöse Werte verletzen. So
wurde kürzlich der Blogger und Religionskritiker Avijit
Roy in Bangladesch auf offener Straße ermordet.
Auch bei den mörderischen Angriffen auf die Redaktion
der Zeitschrift »Charlie Hebdo« in Paris und ein Kulturzentrum in Kopenhagen ging es um eine der elementarsten Ideen, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgehalten ist: das Recht auf freie Meinungsäußerung.
Zu den Menschen, die bei der Ausübung dieses Rechts
ihr Leben verloren haben, gehört auch der US-amerikanische Journalist Steven Sotloff. Er wurde in Syrien von
Kämpfern des »Islamischen Staats« entführt und später
hingerichtet. Sein Kollege Carsten Stormer beschreibt in
seiner Reportage (Seite 28) die Geschichte eines syrischen Medienaktivisten und Mitarbeiters von Sotloff, der
ebenfalls in die Fänge der Fanatiker geriet – und überlebte. Das Amnesty Journal hat schon mehrfach Beiträge
von Carsten Stormer veröffentlicht. Immer wieder berichtet er trotz hohen Risikos aus Syrien, damit die Opfer des
blutigen Konflikts nicht in Vergessenheit geraten. Umso
mehr freut es uns, dass Carsten Stormer unter anderem
mit einem Beitrag aus dem Amnesty Journal für den diesjährigen »Reemtsma Liberty Award« nominiert wurde,
einem der renommiertesten Preise für Meinungs- und
Pressefreiheit im deutschsprachigen Raum.
Auch das Amnesty Journal wurde wieder mit Auszeichnungen bedacht – unter anderem für die beste Titelgestaltung beim »International Creative Media Award«,
dem größten Branchenwettbewerb in Europa (Seite 67).
Die Ehrung haben wir auch zum Anlass genommen, um
das Amnesty Journal noch attraktiver zu gestalten. Wir
haben insbesondere die Einstiegsseiten
überarbeitet und mit neuen Rubriken und
Grafiken versehen. Wir wünschen Ihnen
eine interessante Lektüre.
Fotos: Martin Franke | Henning Schacht | Carsten Stormer | Maria Feck / laif | Ralf Rebmann | Foto Editorial: Amnesty
inhalt
|
eDitorial
Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals
3
weltkarte
usa Vier Polizisten rangeln mit einem Obdachlosen, am Ende des Handgemenges erschießen sie ihn mit fünf Schüssen. Bei dem
Vorfall in Los Angeles Anfang März starb erneut eine schwarze Person bei einer alltäglichen Polizeikontrolle. Ein Passant hatte den
Vorfall gefilmt und auf Youtube gestellt. Nach
Darstellung der Behörden soll der Mann bei
der Auseinandersetzung nach der Pistole eines der beteiligten Polizisten gegriffen haben.
Amnesty in den USA hatte bereits nach den
Todesschüssen auf den schwarzen Teenager
Michael Brown in Ferguson gefordert, dass
»die Debatte um Rassismus bei der Polizei
weitergehen muss«. �
ukraine Die exzessive Polizeigewalt während
der Maidan-Proteste in Kiew zwischen Ende
2013 und Anfang 2014 ist bis heute weder
umfassend untersucht worden, noch wurden
die Betroffenen entschädigt. Mehr als 100 Personen waren während der Proteste getötet
worden. Neben unangemessener Gewalt hat
Amnesty auch Folter und andere Misshandlungen dokumentiert und die Erkenntnisse
den Behörden zukommen lassen. Bislang
konnte jedoch in keinem der Fälle ein Fortschritt beobachtet werden. Die amtierende Regierung scheint die Verantwortung ausschließlich auf den ehemaligen Präsidenten Wiktor
Janukowitsch und die damalige politische
Führung abzuschieben. �
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Äquatorialguinea Wegen Flugblättern waren
die drei Männer Mitte Januar in Haft gekommen: Celestino Okenve, Antonio Nguema und
Miguel Mbomio hatten gegen die Austragung
der Fußball-Afrikameisterschaft in ihrem Land
protestiert. Willkürlich und ohne Anklage verbrachten sie mehr als zwei Wochen in Haft.
Ihre Anwälte durften während der Verhöre
nicht anwesend sein. Nach internationaler
Kritik an den Behörden folgte die Freilassung
der drei. Auch Amnesty hatte sich für sie eingesetzt. Celestino Okenve bekräftigte, dass er
auch nach dem Vorfall weiterhin politisch aktiv
sein will.
4
Ägypten Sie berichteten für das englischsprachige Programm des Fernsehsenders »Al-Jazeera« aus Ägypten und saßen plötzlich in
Haft: Mohamed Fahmy, Baher Mohamed und
Peter Greste waren wegen angeblicher Unterstützung der Muslimbruderschaft im Dezember 2013 inhaftiert worden. Während Peter
Greste bereits Anfang Februar nach Australien
abgeschoben wurde, kamen seine Kollegen
Mitte Februar vorerst frei und warten auf eine
neue Verhandlung ihres Falls vor Gericht. Die
Journalisten waren nach einem unfairen Verfahren zu sieben bis zehn Jahren Haft verurteilt worden. Das Urteil hatte zu internationalen
Protesten geführt.
�
syrien Der politische Aktivist Louay Hussein
wurde am 25. Februar gegen Kaution freige lassen. Das Verfahren gegen ihn läuft aber
weiter. Hussein war im November 2014 unter
dem Vorwurf der »Schwächung des Nationalgefühls« und der »Schwächung der nationalen
Moral« an der Grenze zum Libanon festgenommen worden. Anlass war ein Text, den er im Sommer 2014 veröffentlicht hatte.
Ähnliche Anschuldigungen gegen friedliche
Menschenrechtsaktivisten häuften sich zuletzt
in Syrien.
amnesty journal | 04-05/2015
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good news
Foto: José Cabezas Reuters
russisChe föDeration Mitten in Moskau wurde Boris Nemzow am 27. Februar gezielt erschossen: Die Attentäter konnten zunächst
entkommen. Nemzow gehörte zu den aktivsten und sichtbarsten Vertretern der russischen Opposition. Immer wieder war er den
Repressionen der Behörden ausgesetzt. Der
prominente Aktivist war unter anderem wegen
friedlicher Straßenproteste zwischenzeitlich inhaftiert. Amnesty fordert eine lückenlose und
unabhängige Aufklärung des Mordes, insbesondere in Anbetracht der vielen vorangegangenen Morde und Übergriffe auf Regierungskritiker, die vielfach ungeklärt und ungestraft
blieben. �
Überraschender Erfolg. Vásquez (rechts) nach ihrer Freilassung.
erste »Der 17« frauen frei
Ausgewählte Ereignisse vom 10. Februar bis 2. März 2015
weltkarte
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gooD news
el salvaDor Wegen einer Fehlgeburt verurteilte ein Gericht in
El Salvador Carmen Guadalupe Vásquez Aldana zu 30 Jahren
Haft – jetzt begnadigte das Parlament die Frau. Sie war
2007 als 18-Jährige wegen Mordes angeklagt worden – ein
üblicher Vorgang in El Salvador, wo Schwangerschaftsabbrüche unter allen Umständen strafbar sind.
Man unterstellte ihr eine vorsätzliche Fehlgeburt, als sie
in einem Krankenhaus in der Hauptstadt Hilfe suchte. Sieben Jahre verbrachte sie in Haft. Die Gefängnisse in dem
mittelamerikanischen Land sind stark überfüllt. Andere Frauen leben oft auch mit ihren Kindern in den engen Zellen.
Ob ihre Begnadigung eine Kehrtwende einleitet, ist unklar. 16 weitere Frauen hatten ebenfalls um eine Begnadigung gebeten – zusammen mit Vásquez wurden sie als »Die
17« international bekannt. Alle sind wegen Fehlgeburten zu
Haftstrafen von bis zu 40 Jahren verurteilt worden. Die Anwälte der »17« hatten alle sonstigen rechtlichen Möglichkeiten zuvor erfolglos ausgeschöpft. Mit nur einer Stimme Mehrheit votierte das Parlament für die Freilassung von Vásquez –
eine überraschende Entscheidung. Die junge Frau gilt jedoch
nach wie vor als vorbestraft. Nur eine Abschaffung der restriktiven Gesetze, die zu den strengsten weltweit gehören,
könnte sie endgültig entkriminalisieren.
Bis zu 50 Jahre Haft drohen Frauen, wenn medizinische
Komplikationen während der Schwangerschaft auftreten. Ein
Schwangerschaftsabbruch ist auch dann nicht erlaubt, wenn
das Leben der Mutter in Gefahr ist oder der Fötus außerhalb
des Mutterleibs nicht lebensfähig ist. Das gleiche gilt für
Schwangerschaften infolge einer Vergewaltigung. Vermögende Frauen suchen Privatkliniken auf oder lassen den Eingriff
im Ausland vornehmen. Einer der Anwälte von Vásquez
spricht deshalb auch von einer »Hexenjagd gegen arme Frauen«. Zwischen 2000 und 2011 kam es zu 129 Verfahren;
23 Frauen wurden wegen illegaler Abtreibung, 26 weitere
wegen Mordes verurteilt. Schwangere Mädchen begehen häufig Selbstmord. Unter Teenagern gilt Suizid als zweithäufigste Todesursache. Auch Vásquez war erst 18 Jahre alt, als sie
verurteilt wurde. Schwanger geworden war sie nach einer Vergewaltigung, wie viele andere junge Frauen auch. Jetzt ist sie
wieder frei, darauf hoffen auch die anderen 16.
5
Foto: Dave Tacon / Polaris / laif
China: fragwÜrDige gesetZesnovelle
Die Definitionen sind vage, die Spielräume weit: Die in China geplanten neuen Antiterrorgesetze werden –
nach dem derzeitigen Entwurf – die Religionsfreiheit und die Rechte ethnischer Minderheiten weiter beschneiden.
In der Provinz Xinjiang war bereits vergangenes Jahr das Tragen von Schleiern und langen Bärten sowie zum Teil
auch das Fasten während des Ramadans verboten worden. Unter dem Deckmantel der nationalen Sicherheit drohen
nun weitere und grundlegendere Einschränkungen, darunter Bewegungseinschränkungen und Haft für vermeintlich
Terrorverdächtige.
6
amnesty journal | 04-05/2015
panorama
grieChenlanD: ersChreCkenDes ausmass an rassismus
Trotz neuer Antirassismus-Gesetze nehmen Hassreden und Gewalt gegen Flüchtlinge weiter zu.
Insbesondere die rechtsextreme Partei »Goldene Morgenröte« habe zu lange unbehelligt agiert,
sagte die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz und forderte weitere Schritte,
um dem weitverbreiteten Rassismus in Griechenland entgegenzutreten. Dabei nahm sie insbesondere
die Behörden in die Pflicht: Richter und Polizisten müssten besser geschult werden, um gezielter
mögliche Hassmotive von Gewalttaten zu erkennen und zu ahnden.
Foto: Myrto Papadopoulos / Redux / laif
panorama
7
interview micha brumlik
Micha Brumlik, Erziehungswissenschaftler und Publizist,
ist gegenwärtig Senior Advisor am Zentrum Jüdische
Studien Berlin-Brandenburg. Der 67-Jährige ist emeritierter
Professor am Fachbereich Erziehungswissenschaften der
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M., einer
seiner Schwerpunkte ist Antisemitismusforschung.
Foto: Stefan Boness / Ipon
Es kommt darauf an, wo man wohnt. Sogar in Paris sind die
Stadtquartiere, in denen die Oberschicht oder die gehobene
Mittelschicht wohnt, wenig problematisch. Charakteristischerweise haben sich all diese Morde und Übergriffe in den Vororten
ereignet, in denen eine ärmere Bevölkerung lebt, die aus nordafrikanischen Immigranten muslimischer und nicht-muslimischer Herkunft zusammengesetzt ist.
»Das ist eine
neue qualitÄt Des
antisemitismus«
Fünf jüdische Bürger, die bei Attentaten in Paris und Kopenhagen getötet wurden, sowie alltägliche Übergriffe überall in
Europa zeugen von einem verstärkten Antisemitismus. In
Deutschland stieg die Zahl antisemitischer Straftaten von 788
im Jahr 2013 auf 1.076 im Jahr 2014, und der Zentralrat der
Juden warnte davor, in »Problemvierteln« eine Kippa zu tragen.
Im Januar debattierte die UNO-Vollversammlung erstmals in
ihrer Geschichte über Antisemitismus.
Paris und Kopenhagen zeigten es zuletzt: Immer häufiger kommt
es zu tödlichen Anschlägen auf jüdische Bürger in Europa. Erreicht der Antisemitismus damit eine neue Qualität?
Die mörderischen Anschläge vor allem in Frankreich, aber
auch in Dänemark zeigen ein Bild, das es seit dem Zweiten
Weltkrieg jedenfalls im westlichen Europa nicht gegeben hat.
Das ist eine neue Qualität des Antisemitismus. Zugleich hat
es antisemitische Einstellungen und Haltungen schon immer
gegeben, das ist nichts Neues.
Jenseits dieser extremen Gewalttaten – wie gefährlich ist es
gegenwärtig in Europa, seinen jüdischen Glauben alltäglich und
offen zu praktizieren?
8
In Deutschland wird der Vorwurf des Antisemitismus gerne auf
Muslime oder Islamisten abgewälzt. Halten Sie das für zulässig?
Nein, da genügt ein Blick in die polizeiliche Kriminalstatistik: Für antisemitische Vergehen sind nach wie vor vor allem
deutsche Rechtsextremisten verantwortlich, die keineswegs
eingewandert sind. Meinungsumfragen zufolge ist der Antisemitismus unter Muslimen keineswegs ausgeprägter als innerhalb
der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Allerdings gibt es hierbei
auch immer ein Dunkelfeld. Den Berliner Rabbiner Daniel Alter
schlugen vor knapp zwei Jahren vermutlich junge Immigranten
nieder.
Was hilft gegen den gegenwärtigen Antisemitismus?
Es ist wichtig, mit Jugendlichen zu arbeiten, ihnen aufzuzeigen, was das Judentum ist, und ihnen deutlich zu machen,
dass Judentum und die jeweilige Politik israelischer Regierungen nicht dasselbe sind. Denn wichtig ist: Der klassische Antisemitismus, der eine jüdische Weltverschwörung zusammenfantasiert, spielt kaum noch eine Rolle. Wer heute als Antisemit
»up to date« sein will, präsentiert sich als sogenannter Israelkritiker – was im Umkehrschluss nicht heißt, dass alle Leute,
die, aus welchen Motiven auch immer, die jeweilige Politik
israelischer Regierungen kritisieren, deswegen Antisemiten
sind. Was aber auffällt: Es gibt keine Englandkritik, keine
Frankreichkritik, aber eine Kapitalismuskritik, eine Islamkritik
und eine Israelkritik. Schon die Semantik zeigt, dass da etwas
nicht stimmt.
Ein Gerichtsurteil aus Wuppertal machte zuletzt Schlagzeilen:
Können Gewalttäter versuchen, eine Synagoge anzuzünden, ohne
dabei »per se antisemitisch« zu handeln, wie es der Richterspruch nahelegt?
Das ist ein Fehlurteil. Die Richter meinten vermutlich, die
Intentionen der Täter erkannt zu haben, und dachten wohl, sie
hätten es mit einem dummen Jungenstreich zu tun. Aber auch
dumme Jungenstreiche können antisemitisch motiviert sein.
Fragen: Andreas Koob
amnesty journal | 04-05/2015
Foto: Tanja Schnitzler / Amnesty
»Die eskalierenDen Bewaffneten konflikte haBen
Zur grössten flÜChtlingskatastrophe seit Dem
Zweiten weltkrieg gefÜhrt. aBer niCht Die reiChen
lÄnDer nehmen Die meisten flÜChtlinge auf,
sonDern Die naChBarlÄnDer.«
selmin Çalişkan, generalsekretärin der deutschen amnesty-sektion,
anlässlich der veröffentlichung des amnesty reports 2014/15
Foto: Akos Stiller / The New York Times / Redux / laif
ungarn
sChikanen
gegen ngos
Unerwünschte Kritik. Zivilgesellschaftlicher Massenprotest gegen Ungarns Regierung.
Seit Sommer 2014 geht die ungarische
Regierung unter Ministerpräsident Viktor
Orbán mit fragwürdigen Maßnahmen gegen zivilgesellschaftliche Organisationen
vor. Vier ungarischen NGOs droht ein Gerichtsprozess, eine der vier verlor auch
ihre Steuernummer, da sie – so der Vorwurf – nicht ausreichend mit der staatlichen Kontrollbehörde kooperiert habe.
Insgesamt 59 NGOs wurden ausgiebigen
Buchprüfungen unterzogen. Innerhalb
kürzester Fristen sollten sie weitreichende Auskünfte und Belege vorlegen.
Betroffen waren Organisationen, die
Geld aus Norwegen und anderen Ländern
erhalten oder weiterleiten. Die ungarische
Regierung warf ihnen Misswirtschaft und
unlautere Unterstützung einer Oppositionspartei vor. Auch die Polizei ermittelte: Bei groß angelegten Razzien in zwei
NGO-Büros und in der Privatwohnung
einer Mitarbeiterin wurden Computer,
Server und Dokumente beschlagnahmt.
Ein Gericht erklärte dieses Vorgehen im
Januar 2015 für unzulässig.
Über diese weitreichenden Schikanen
und Repressionen hinaus, äußerte sich
Orbán wiederholt diffamierend über die
betroffenen Organisationen: Es handele
sich um »gekaufte politische Aktivisten«,
die versuchten, »fremde und gegen Ungarn gerichtete Interessen zu stärken«.
Die einflussreichen, regierungsnahen
Medien übernahmen diese Darstellung.
Kritische Medien teilten hingegen die
Ansicht der NGOs, die von einer Hetzkampagne sprachen und vor einer
»Putinisierung Ungarns« warnten.
Auch außerhalb Ungarns stieß die
Maßnahme auf starke Kritik. Der Menschenrechtskommissar des Europarats,
Nils Muižnieks, verurteilte die »stigmatisierende Rhetorik« gegenüber renommierten Projekten, die sich gegen Korruption,
für die Rechte von Roma, Frauenrechte
oder gegen die Diskriminierung von
Schwulen und Lesben einsetzen. Orbán
regiert Ungarn seit 2010, von Beginn an
gab es heftige Kritik an seiner Politik,
unter anderem wegen eines umstrittenen
Mediengesetzes, einer neuen Verfassung
und eines veränderten Wahlrechts.
1 von 53
mensChen ertrinkt Bei Dem versuCh,
ÜBer Das mittelmeer naCh europa Zu
gelangen. Damit ist es Die töDliChste
seeroute Der welt. (Quelle: Amnesty International)
interview
|
naChriChten
9
62
62 regierungen halten gewaltlose
politisChe gefangene in haft,
mensChen, Die leDigliCh ihre
reChte unD grunDfreiheiten
wahrgenommen hatten.
(Quelle: Amnesty International)
glamour unD hieBe
aserBaiDsChan Einschüchterung, exzessive Polizeigewalt, Festnahmen von Regierungskritikern – in einem aktuellen Bericht
dokumentiert Amnesty International die zunehmende Verfolgung von Regierungskritikern in Aserbaidschan. Personen werden aufgrund falscher Anschuldigungen geschlagen, bedroht
und eingesperrt, ohne Zugang zu einem Rechtsanwalt oder zu
dringender medizinischer Hilfe. Gleichzeitig werden die erstmals ausgetragenen Europaspiele vom 12. bis zum 28. Juni in
der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku stattfinden, zu denen
mehr als 6.000 Athleten erwartet werden.
»Wie bereits mit dem Eurovision Song Contest 2012 versucht die aserbaidschanische Regierung erneut mit viel Glanz
und Glamour ihr Image aufzupolieren und so ausländische
Unternehmen anzulocken. Dabei gehören die Behörden Aserbaidschans zu den repressivsten in Europa. Gäbe es Medaillen
für inhaftierte Regierungskritiker, wäre der aserbaidschanischen
Regierung ein Platz auf dem Siegerpodest sicher«, erklärt Marie
Lucas, Aserbaidschan-Expertin von Amnesty in Deutschland.
Mindestens 22 gewaltlose politische Gefangene befinden
sich zurzeit im Gefängnis oder in Polizeigewahrsam und warten
auf ihr Gerichtsverfahren – die Vorwürfe lauten von Betrug über
Unterschlagung bis hin zu Drogendelikten und Landesverrat.
Präsident Ilham Alijew hat im Juni 2014 in einer Rede versichert, dass die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit garantiert seien. Bekannte Menschenrechtsverteidiger
sprechen hingegen von mehr als 90 Fällen, in denen Menschen
bedroht, eingeschüchtert, willkürlich inhaftiert oder mit politisch motivierten Anklagen überzogen wurden, weil sie die Regierung kritisiert hatten.
rÜCksChritt fÜr frauenreChte
Die Rechte iranischer Frauen drohen massiv beschnitten
extrem schwierig, selbst im Fall häuslicher Gewalt, die sehr
zu werden: Ein vom Parlament bereits im vergangenen August
verbreitet ist. Die beiden vorgeschlagenen Gesetze verschärfen
beschlossener und nun in der weiteren Abstimmung befinddie bereits bestehende rechtliche Diskriminierung von Frauen
licher Gesetzentwurf verbietet die freiwillige Sterilisierung – im
im alltäglichen Leben: Andere bereits bestehende Richtlinien
Iran ist dies dem Vernehmen nach die zweithäufigste Methode,
schränken etwa die Reisefreiheit massiv ein oder machen resum zu verhüten. Bereits 2012 war das öffentliche Familienplatriktive Kleidungsvorschriften, die Mädchen ab dem Alter von
nungsprogramm ausgelaufen, das Millionen Frauen bis dahin
neun Jahren dazu zwingen, sich zu verschleiern.
moderne Verhütungsmittel zugänglich
machte. Sollte das Gesetz in Kraft treten,
ist mit mehr ungewollten Schwangerschaften zu rechnen. Da Abtreibungen
illegal und unsicher sind, ist dies besonders heikel. Die Politik scheint mit
dem Vorstoß auf die sinkende Geburtenzahl zu reagieren und ein weiteres
Schrumpfen der Bevölkerungszahl verhindern zu wollen. Über eine weitere umstrittene Gegenmaßnahme debattiert das
Parlament gegenwärtig noch: Arbeitgeber
sollen bei der Vergabe von Stellen kinderlose Frauen gezielt benachteiligen. Stattdessen soll es eine Rangfolge geben, die
verheirate Väter, kinderlose Ehemänner
und schließlich verheiratete Mütter
privilegiert. Zudem soll es für Eheleute
schwieriger werden, sich scheiden zu
Schlechte Aussichten. Neue Gesetzentwürfe schränken iranische Frauen weiter ein.
lassen. Bereits jetzt ist dies für Frauen
10
amnesty journal | 04-05/2015
Foto: Ebrahim Noroozi / AP / pa
iran
kolumne
sergej
nikitin
In den Tagen nach dem Mord an Boris Nemzow wurde mir klar, dass in Russland
ein neues Zeitalter angebrochen ist. Ein Zeitalter, in dem ein dreister Mord an
einem Oppositionellen möglich ist; ein Zeitalter, in dem alles möglich ist. Und
obwohl es scheint, als seien wir über Nacht in dieses Zeitalter eingetreten, hat
sich das Klima der Intoleranz gegenüber jeder Art von Kritik über mehrere Jahre
hinweg entwickelt.
Zeichnung: Oliver Grajewski
Eine alles durchdringende Kultur der Straflosigkeit, das Fehlen jeglichen politischen Willens, diejenigen zu identifizieren und vor Gericht zu stellen, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, haben erheblich zur Schaffung dieser
Atmosphäre beigetragen. Wir erleben tagtäglich ein exponentielles Wachstum an
Schmierenpropaganda in den staatlichen Medien und eine Flut von Beleidigungen
gegen alle, deren Meinung von der Kreml-Linie abweicht.
russisCher
frÜhling
Vor seinem Tod hatte Boris Nemzow eine Protestdemonstration für den 1. März
geplant – ein »Frühlingsmarsch« zum Frühlingsbeginn. Die Organisatoren, darunter
bekannte Oppositionsführer, wollten die Kundgebung im Zentrum von Moskau abhalten, waren aber gezwungen worden, sie in die Außenbezirke zu verlegen. Die
Menschen waren unglücklich darüber, man ging von weniger Beteiligung aus.
Doch all das änderte sich über Nacht. Am Samstag, den 28. Februar, erhielt ich
um 4 Uhr morgens eine ungewöhnliche E-Mail von einer unbekannten Person, die
mich total erschüttert hat. Sie lautete: »Boris Nemzow wurde in Moskau getötet.«
Boris, ein ehemaliger Vizeministerpräsident in Jelzins Kabinett, wurde am Vorabend der von ihm organisierten Protestveranstaltung ermordet? Ich hatte keinen
Zweifel, es war wahr.
Trotz anfänglicher Weigerung der Moskauer Behörden, die Demonstration in der
Innenstadt zu genehmigen, setzte sich der gesunde Menschenverstand durch.
50.000 Menschen gingen langsam über die Brücke nahe dem Kreml, auf der Boris
von vier Kugeln niedergestreckt wurde, vorbei an der Stelle, wo er getötet wurde.
Die Demonstranten hielten Tausende von russischen Flaggen mit schwarzen Bändern in den Händen und legten Blumen entlang des Brückengeländers nieder.
Überall waren Plakate mit Fotos von Boris zu sehen.
Ich sehe eine tragische Symbolik in der Ermordung eines der aktivsten Verfechter
der Freiheit in Russland auf derselben Brücke, auf der sieben Direktoren europäischer Sektionen von Amnesty International vor einem Jahr friedlich für die Versammlungsfreiheit demonstriert hatten. Aber es ist ermutigend, dass es immer
noch Leute gibt, die keine Angst haben – Tausende von Menschen, die sich nicht
scheuten, vor dem Kreml in stillem Protest über die Brücke zu gehen; die sich
nicht scheuen, für die Menschenrechte einzutreten – trotz der hysterischen Anschuldigungen, sie seien »ausländische Agenten«, Spione und Verräter; die keine
Angst davor haben, in Blogs, Artikeln und Interviews in den wenigen überlebenden
unabhängigen Medien die Machthaber mit der Wahrheit zu konfrontieren.
Sie alle wissen, dass mit diesem Frühling eine Saison begonnen hat, in der es
leicht passieren kann, dass man für die Äußerung der eigenen Meinung angegriffen oder sogar getötet wird. Die mutigen Menschen in Russland mögen für ein so
großes Land immer noch eine kleine Minderheit sein. Aber allein ihre Existenz, ihr
Enthusiasmus, Charisma und Selbstvertrauen geben mir in diesen dunklen Tagen
Hoffnung. Russland wird frei sein; die Frage ist nur, wann und zu welchem Preis?
Die Alternative ist, dass der Frühling sich sofort in den Winter verwandelt.
Sergej Nikitin ist Direktor des Moskauer Büros von Amnesty International.
Übersetzung: Klaus Walter
naChriChten
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kolumne
11
Foto: Amnesty
»Das war eine schwierige Zeit.« Die Mexikanerin Claudia Medina nach dem lang ersehnten Freispruch. ein sieg gegen Die willkÜr
Claudia Medina Tamariz war unschuldig: Ihr Freispruch belegt,
wie wertlos »Geständnisse« sind, die mit Folter erzwungen
werden. Gegen diese Praxis will sie auch jetzt weiter vorgehen.
Ihre silbernen Ohrringe glitzern unter dem schulterlangen,
schwarzen Haar hervor. Überglücklich bedankt sich Claudia
Medina Tamariz bei Amnesty International für die Unterstützung in den vergangenen zweieinhalb Jahren. »Das war eine
schwierige Zeit«, sagt sie. Alles begann im August 2012, als
nachts Soldaten in ihr Haus eindrangen, sie fesselten, ihr die
Augen verbanden und sie auf einen Marinestützpunkt brachten.
Dann ging alles ganz schnell: Verhör, Geständnis, Anklage.
Schon am folgenden Tag ließ sich das Bild der scheinbar unmittelbar überführten Straftäterin überall in den Medien finden:
Zu sehen war die dreifache Mutter, vor ihr ein breitgefächertes
Waffenarsenal sowie beschlagnahmte Drogen. Die Hände hinter
dem Rücken gefesselt, stand sie mit anderen Verdächtigen in
einer Reihe gedrängt vor einer Wand: Die vermeintlich überführte Bande, die nach Ansicht der Polizei Teil eines mächtigen
Kartells war und zuletzt fünf Journalisten getötet hatte.
Diesen Vorwürfen hatte Claudia Medina stets widersprochen.
Doch die Marinesoldaten erpressten sie mit Folter: Sie versetzten ihr Elektroschocks, schlugen und traten sie. Sie berichtet
auch von sexuellen Übergriffen, Erniedrigungen und massiven
Drohungen. Schließlich unterschrieb Medina ein Dokument, das
sie selbst nicht lesen durfte – das vermeintliche Geständnis.
Eine Woche später bei der ersten gerichtlichen Anhörung
zog sie die erzwungene Aussage zurück und berichtete von den
Umständen ihrer Festnahme und der Folter. Das Gericht hielt
an der Anklage wegen illegalen Waffenbesitzes fest, alle anderen Anschuldigungen ließ es hingegen fallen. Claudia Medina
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kam gegen Kaution frei. Bei der eigentlichen Verhandlung
bekräftigte sie die Foltervorwürfe und nannte weitere Details.
Der Richter wies die Generalstaatsanwaltschaft an, die Vorwürfe
zu untersuchen. Doch nichts geschah, trotz mehrfacher Nachfragen, trotz Claudia Medinas Beschwerde bei der Nationalen
Menschenrechtskommission und obwohl im Rahmen einer Amnesty-Kampagne 300.000 Menschen weltweit ihre Forderung
unterstützten: Die Folterer blieben bis heute ungestraft.
Dabei ist spätestens jetzt mit ihrem endgültigen Freispruch
klar, dass die Behörden Claudia Medina völlig willkürlich ins
Visier nahmen. Auch der illegale Waffenbesitz – der einzig verbliebene Anklagepunkt – erwies sich als haltlose Anschuldigung. »Wenn sie mich nicht gefoltert hätten, hätte ich das Geständnis nie unterschrieben«, sagte sie Amnesty International.
Ihr Schicksal ist kein Einzelfall. Berichte belegen, dass Folter in
Mexiko sehr häufig eingesetzt wird, um Geständnisse zu erpressen, vor allem wenn es um vermeintlich schnelle Ermittlungserfolge geht. Die ihr unterstellte Tat – der Mord an fünf Journalisten – hatte über Mexiko hinaus großes Aufsehen erregt. Die Behörden standen unter Druck, das Bild der schnell überführten
Bande passte nur zu gut.
Spaziert Claudia Medina heute durch die Stadt, bekommt
sie »unfassbare Panik«, wenn zufällig Soldaten der Marine in
ihrer Nähe auftauchen. Mit solchen Gefühlen ist sie in Mexiko
nicht allein. Einer Amnesty-Umfrage zufolge haben nahezu zwei
Drittel der Bevölkerung Angst vor Folter, wenn sie in Kontakt
mit Behörden kommen. Auch deshalb kämpft Claudia Medina
weiter, um ihre Folterer vor Gericht zu stellen: »Es muss weitergehen, bis keine einzige Frau in Mexiko mehr gefoltert wird.«
Text: Andreas Koob
amnesty journal | 04-05/2015
Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen
das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty
International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen
diese Beispiele.
vorZeitig freigelassen
Tun Aung wollte schlichten, als es im Westen Myanmars zu Gewalt zwischen Buddhisten und Muslimen kam.
Dazu hatten die Behörden den Arzt sogar aufgefordert: Doch
dann wurde er dafür festgenommen und in einem unfairen
Verfahren zu 17 Jahren Haft verurteilt. Nach zweieinhalb
Jahren Haft kam er jetzt frei, allerdings nur auf Bewährung.
Damit könnte er weiteren Repressionen ausgesetzt sein,
wenn er sich auch künftig für die Menschenrechte in seinem
Land einsetzen will. Sein Fall war 2013 Teil des AmnestyBriefmarathons. Die Nationale Menschenrechtskommission
von Myanmar bestätigte nun, dass der Einsatz von Amnesty
ein Grund dafür war, den Fall erneut zu prüfen.
myanmar
aBgemilDerte revision
Bahrain Wegen »Beleidigung einer Religionsfigur« verurteilte
ein Gericht in Bahrain den Aktivisten Nader Abdulemam zu
sechs Monaten Haft: Ein Berufungsgericht verkürzte die
Haftstrafe auf vier Monate. Da er so lange bereits inhaftiert
war, kam Nader Abdulemam unmittelbar nach dem neuen
Urteil frei. Eine Twitternachricht war Anlass für die Verurteilung: Der 41-jährige hatte sich darin über einen Gefährten
des Propheten Mohammed geäußert. In einem anderen Verfahren gegen ihn wegen »illegaler Versammlung« steht die
Entscheidung noch aus. Amnesty wird Nader Abdulemam,
wenn nötig, weiter unterstützen.
hinriChtung ausgesetZt
Die neuen Beweise werden geprüft, bis dahin ist die
Hinrichtung von Rodney Reed ausgesetzt. Das texanische
Gericht folgte damit einem Antrag der Verteidigung. Reed
war 1998 wegen Mordes zum Tode verurteilt worden, hat die
Tat jedoch stets bestritten. Er hatte eine sexuelle Beziehung
zu dem Opfer, die er im Rahmen der Ermittlungen zunächst
verheimlicht hatte. Reed war zum Tode verurteilt worden,
weil die Gerichtsmedizin Spermaspuren gefunden hatte, die
ihm zugeordnet wurden. Der forensische Gutachter wirft dem
Gericht allerdings vor, sein Gutachten »missbraucht« zu haben, da die Spuren nicht unbedingt mit dem Mord in Verbindung stehen müssen. Zudem sagten mehrere Zeugen aus, sie
hielten Reed nicht für den Täter.
usa
gesetZ gegen folter
Zunächst hatten Folteropfer erfolgreich auf Entschädigung geklagt, jetzt soll in Togo auch ein Gesetz eingeführt
werden, das Folter ausdrücklich verbietet. Schon vor 26
Jahren hatte das westafrikanische Land die UNO-Antifolterkonvention ratifiziert. Trotzdem wandten Polizisten jüngst
wiederholt Folter an und misshandelten Beschuldigte, um
»Geständnisse« zu erpressen.
togo
einsatZ mit erfolg
selmin Çalişkan ÜBer
reChtsstaat
unD rÜstung
Foto: Amnesty
einsatZ mit erfolg
Der aktuelle Amnesty Report 2014/2015 dokumentiert einen erschreckenden Trend: In immer mehr
Ländern gehen bewaffnete Gruppen oder Terrororganisationen brutal gegen zivile Personen vor. Die
Gründe, warum etwa Boko Haram oder der »Islamische Staat« stark werden konnten, sind komplex.
Aber eines können wir feststellen: Die Verletzungen
der Menschenrechte sind ein Nährboden für Gewalt.
So wurden in Nigeria Tausende mutmaßliche BokoHaram-Unterstützer willkürlich inhaftiert, gefoltert
und zum Teil auf offener Straße hingerichtet. Eine
solche Politik schützt nicht die Bevölkerung, sondern schürt neue Gewalt.
Für uns gilt: Der Einsatz für die Menschenrechte
aller Menschen, ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu
verschiedenen Konfliktparteien, ist das A und O,
um neuer Gewalt vorzubeugen und die wichtigste
Investition in Frieden und Versöhnung im Land. Das
sollte künftig durch mehr Friedensfachkräfte, Menschenrechtsexperten und Polizeikräfte in UNO- und
EU-Missionen in die Praxis umgesetzt werden, wie
es auch das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze in Berlin fordert. Zurzeit sind nur 24 deutsche
Polizisten an UNO-Missionen beteiligt.
Deutschland ist sich nicht bewusst, welche Kompetenz es gewinnen könnte, wenn es den politischen
Willen gäbe, die Konfliktprävention zu stärken.
Stattdessen sind wir der drittgrößte Rüstungsexporteur weltweit. Dass Menschenrechte ebenso
wie die Sicherheit und die Wirtschaft im eigenen
nationalen Interesse sein sollten, ist den meisten
Politikern noch nicht klar. Die Staaten müssen die
Bevölkerung vor Terrorakten schützen, das machen
die Anschläge von Paris und Kopenhagen leider allzu deutlich. Aber reflexartig drakonische Maßnahmen zu verhängen und Freiheiten zu beschneiden,
ist der falsche Weg. Der »war on terror« nach den
Anschlägen von 2001 hat uns gezeigt, dass mit Folter und vermehrten Rüstungsexporten unsere Lage
nicht sicherer wird, sondern gefährlicher. Wer die
Menschenrechte anderer verletzt, der bereitet den
Boden für neue Gewalt. Daher sollten wir anfangen,
den Rechtsstaat statt Rüstung zu exportieren.
Selmin Çalışkan ist Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.
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amnesty journal | 04-05/2015
Religion und
Meinungsfreiheit
Die Anschläge auf die Redaktion der französischen
Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« in Paris und auf ein
Kulturzentrum in Kopenhagen haben weltweit Entsetzen
und Empörung hervorgerufen. Aber auch in vielen
anderen Regionen der Welt werden Menschen bedroht
und verfolgt, nur weil sie ihre Meinung äußern.
So wie der Blogger Raif Badawi in Saudi-Arabien.
Liberalismus als Grundübel.
Amnesty-Mitglied vor der saudi-arabischen Botschaft in Warschau.
Foto: Grzegorz Żukowski / Amnesty
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Tausend Stockhiebe in 20 Wochen. Protestaktion in Helsinki.
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amnesty journal | 04-05/2015
Foto: Tomi Asikainen / Amnesty
religion unD meinungsfreiheit
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Schläge für
die Freiheit
In Saudi-Arabien ist der Blogger Raif Badawi zu 1.000 Stockhieben verurteilt
worden, weil er sich für liberale Reformen aussprach. In dem Königreich gilt
eine ultra-konservative Auslegung des Islams als Staatsreligion – wer dagegen
aufbegehrt, muss mit drakonischen Strafen rechnen. Von Regina Spöttl
E
Foto: Amnesty
s ging auf die Mittagsstunde des 18. Rabi al-Awwal des
Jahres 1436 AH zu, als uniformierte Wächter einen jungen Mann in Fesseln auf den Platz vor der Al-DschafaliMoschee in der saudi-arabischen Stadt Dschidda brachten. Als die Gläubigen nach dem Freitagsgebet in Scharen herbeigelaufen waren, schlug einer der Wächter mit einer langen
Gerte 50 Mal auf Rücken und Beine des jungen Mannes, der die
Tortur wortlos und sichtlich unter Schmerzen erduldete. Nach
dem 50. Schlag skandierte die Menge »Allahu Akbar« und löste
sich auf, während der Delinquent wieder abgeführt wurde.
Was auf den ersten Blick wie eine mittelalterliche Folterszene anmutet, fand nicht etwa vor vielen hundert Jahren statt,
sondern im 21. Jahrhundert. Denn der 18. Rabi al-Awwal 1436 bezeichnet ein Datum des islamischen Mondkalenders und entspricht dem 9. Januar 2015. Der junge Mann, der vor der Mo-
Meinungsfreiheit? Protestaktion in Helsinki.
18
schee öffentlich verprügelt und gedemütigt wurde, heißt Raif
Badawi und ist 31 Jahre alt. Er hat eine Ehefrau und drei kleine
Kinder, die im kanadischen Exil leben und ihren Ehemann und
Vater seit drei Jahren nicht mehr gesehen haben. Raif Badawi
war am 7. Mai 2014 von einem Strafgericht zu zehn Jahren Haft,
1.000 Stockschlägen, einer Geldstrafe von umgerechnet etwa
195.000 Euro und einem anschließenden Reiseverbot von zehn
Jahren verurteilt worden. Über einen Zeitraum von 20 Wochen
sollten ihm immer nach dem Freitagsgebet jeweils 50 Stockhiebe verabreicht werden.
Sein Verbrechen: Er hatte das Online-Forum »Saudi-arabische
Liberale« gegründet, eine Internetseite mit einem Blog, auf der er
sich mit anderen mutigen Menschen über Ideen für ein moderneres, menschlicheres und toleranteres Saudi-Arabien ausgetauscht hatte. Dort wurde über Themen wie Politik, Menschenrechte, Meinungs- und Religionsfreiheit, Kultur und die Trennung
von Religion und Staat als Schlüssel zu mehr Freiheit diskutiert.
Er fand, die Zeit sei reif für dringend benötigte Reformen für ein
liberaleres Königreich. »Sobald ein Denker seine Ideen äußert«,
schrieb Raif Badawi in seinem inzwischen abgeschalteten Blog,
»werden sofort Hunderte Fatwas (islamische Rechtsgutachten)
erlassen, die ihn als Ungläubigen anprangern, nur weil er den
Mut besessen hat, heilige Themen zur Diskussion zu stellen. Ich
habe die Befürchtung, dass arabische Denker demnächst alle das
Land verlassen werden, um wieder frei atmen zu können und
dem Schwert der Religionsbehörden zu entkommen.«
Er ging sogar noch einen Schritt weiter, als er sagte: »Die
Trennung von Staat und Religion ist die beste Lösung, um Länder (wie auch das unsere) aus der Dritten Welt in die Erste, die
moderne Welt zu katapultieren.« Jeder Mensch sollte das Recht
haben, seine Religion frei zu wählen. Badawi sieht Religion als
das persönliche spirituelle Verhältnis zwischen dem Individuum und seinem Schöpfer und sagt, dass weltliches Recht, wie
zum Beispiel Verkehrsregeln oder das Arbeitsrecht, nicht von
der Religion abgeleitet werden könne. In Saudi-Arabien, so Raif
Badawi, beanspruche die Regierung allerdings das Monopol auf
amnesty journal | 04-05/2015
»Sobald ein Denker seine Ideen äußert, werden
sofort Hunderte Fatwas erlassen, die ihn als
Ungläubigen anprangern, nur weil er den Mut
besessen hat, heilige Themen zur Diskussion
zu stellen.« Raif Badawi in seinem Blog
die einzige und allgemein gültige Wahrheit. Liberalismus wird
als Grundübel hingestellt, alle Menschen, die anderen Religionen angehören, gelten als Ungläubige und Abtrünnige. »Aber
wie sollen wir mit dieser Einstellung normale Beziehungen zu
den sechs Milliarden Menschen auf der Welt pflegen, von denen
viereinhalb Milliarden keine Muslime sind?«
Damit hat Raif Badawi an den Grundfesten des autokratischen saudi-arabischen Staats gerüttelt, der seit der Eroberung
der arabischen Halbinsel und der ersten Staatsgründung durch
Mohammed Ibn al-Saud im 18. Jahrhundert auf zwei Säulen
ruht: dem Königshaus der al-Saud und dem »Rat der höchsten
Religionsgelehrten« (Ulama), der auf den Religionsgründer Mohammed Abd al-Wahab zurückgeht. Beide halten sich in diesem
Machtgefüge gegenseitig die Waage. Solange das Königshaus die
strenge, ultrakonservative Form des wahabitischen Islams aufrechterhält – was meist nur mit Unterdrückung zu bewerkstelligen ist – und solange der Koran die Verfassung des Landes und
die Scharia das unangefochtene Gesetz ist, so lange wird die
Geistlichkeit die Monarchie der al-Saud nicht in Frage stellen.
Umgekehrt unterstützt die Ulama das Königshaus, indem sie
beispielsweise unbeliebte Verbote mit oftmals absurden Begründungen legitimiert und Wissenschaft und Forschung diffamiert und behindert. So laufen Frauen, die ein Auto steuerten,
angeblich Gefahr, unfruchtbar zu werden und ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Im September 2011 behaupteten saudische Kleriker ernsthaft, es gebe Scharia-Astronomen, deren Ansichten
über das Universum die einzig wahren und richtigen seien.
Dementsprechend verkündete vor Kurzem ein Dozent während
einer Lehrveranstaltung, die Erde drehe sich nicht, sondern stehe still. Wer es wagt, den Klerus zu kritisieren, wird wegen »Diffamierung des Islam« vor Gericht gestellt und zu hohen Strafen
verurteilt. Raif Badawi hatte sich unter anderem über das »Komitee zur Förderung des Guten und Verhinderung des Bösen«,
die berüchtigte Religionspolizei, lustig gemacht und Reformen
gefordert. Die Folgen sind bekannt.
Saudi-Arabien ist das Land mit den wohl schärfsten Einschränkungen des Menschenrechts auf Religionsfreiheit. Der
wahabitische Islam ist Staatsreligion, schon die überwiegend im
Osten des Landes lebenden schiitischen Muslime werden gern
als »Ungläubige« bezeichnet und im täglichen Leben diskriminiert. Die Ausübung aller anderen Religionen ist bei Strafe verboten. Im Gegensatz zu den übrigen Golfstaaten sucht man in
Saudi-Arabien vergebens nach christlichen Kirchen, Synagogen
oder gar Hindutempeln. Schon der Besitz einer Bibel oder eines
Davidsterns ist strafbar. Kein Wunder also, dass Raif Badawis Ruf
nach einer Säkularisierung des Landes alle Alarmglocken zum
religion unD meinungsfreiheit
Mächtige Idee
Die Anschläge auf die Satirezeitschrift »Charlie Hebdo«
in Paris und das Kulturzentrum »Krudttønden« in Kopenhagen waren Angriffe auf eine mächtige Idee: Die
Idee, dass jeder Mensch die Freiheit hat, »Meinungen
ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art
und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und
Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten«. So steht es in Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.
Saudi-Arabien war eines der vielen Länder, welches
die Anschläge verurteilte. Doch nur zwei Tage nach
dem Attentat in Paris fand im saudi-arabischen Dschidda die öffentliche Auspeitschung des Bloggers Raif
Badawi statt. Er hatte auf dem von ihm gegründeten
Online-Forum »Saudische-arabische Liberale« religiöse
Autoritäten des Landes kritisiert. Seine Strafe: 1.000
Schläge und zehn Jahre Haft.
Im Februar ermordeten Unbekannte in Bangladesch
den religionskritischen Autor Avijit Roy nach seinem Auftritt auf einer Buchmesse. Er hatte zuvor Drohungen von
Islamisten erhalten (Seite 22). Der Blogger Asif Mohiuddin, der 2013 ein Attentat überlebte, berichtet im Gespräch
über die schwierige Situation in dem Land (Seite 24).
Auch die Entwicklung in der Türkei ist besorgniserregend. Die türkische Presse unterliegt erheblichen Einschränkungen und sieht sich vermehrt Einschüchterungsversuchen ausgesetzt. Ein Gericht verbot den
Nachdruck der Mohammed-Karikaturen aus »Charlie
Hebdo«. Eine Zeitung wagte es trotzdem und bekam
sogleich die Konsequenzen zu spüren (Seite 26).
Meinungsfreiheit ist Grundvoraussetzung für einen
Wettstreit der Ideen. Sie ermöglicht, Unrecht aufzudecken und Lebensbedingungen zu verbessern. Selbst
Kritik, Spott und Satire, die das Potenzial haben, »Gefühle zu verletzen«, sind durch die Meinungsfreiheit
geschützt. Der britische Schriftsteller George Orwell
brachte es auf den Punkt: »Wenn Freiheit überhaupt
etwas bedeutet, dann das Recht, anderen Leuten das zu
sagen, was sie nicht hören wollen«.
Benjamin Titze ist Mitglied der Themenkoordinationsgruppe
einungsfreiheit der deutschen Amnesty-Sektion.
M
19
Foto: APA Images / ZUMA / REA / laif
schenrechtsorganisation »Monitor of Human Rights in Saudi
Arabia« gegründet hatte, die Menschenrechtsverletzungen dokumentierte. Zudem hatte er viele Menschenrechtsaktivisten
vor Gericht verteidigt. Wie viele andere Gefangene war auch Waleed Abu al-Khair in der Haft gefoltert und misshandelt worden.
Raif Badawi ist somit nicht der einzige gewaltlose politische
Gefangene in Saudi-Arabien, wohl aber der derzeit bekannteste.
Sein Schicksal hat eine Welle der Entrüstung und Anteilnahme
in aller Welt ausgelöst. Hundertausende Unterschriften konnten
bisher bei Demonstrationen und Mahnwachen vor den Botschaften Saudi-Arabiens rund um den Globus übergeben werden. Das Interesse an seinem Fall ist noch immer überwältigend, und die sozialen Netzwerke sind voll mit Solidaritätsbekundungen für Raif Badawi und seine Familie und Appellen an
die saudi-arabische Regierung, die restlichen 950 Stockhiebe
auszusetzen und das Urteil aufzuheben. Politiker aus aller Welt
setzen sich für den Blogger ein. Die gute Nachricht: Raif Badawi
hat seit dem 9. Januar 2015 keine Stockhiebe mehr ertragen
müssen. Die Prügelstrafe wurde vorübergehend ausgesetzt, aus
»medizinischen Gründen«, wie es hieß. Sein Fall ist vom Obersten Gerichtshof an das Strafgericht in Dschidda zurückverwiesen worden. Das Verfahren könnte somit neu aufgerollt werden,
ein Anhörungstermin steht allerdings noch nicht fest. Solange
das Urteil jedoch nicht aufgehoben ist, befindet sich Raif Badawi
noch immer in höchster Gefahr. Die grausame Szene vor der AlJafali-Moschee in Dschidda könnte sich jederzeit an einem der
kommenden Freitage wiederholen. Und damit nicht genug. Bei
einer Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem Strafgericht in
Dschidda läuft Raif Badawi Gefahr, erneut wegen Apostasie angeklagt und womöglich zum Tode verurteilt zu werden.
Es sei denn, der neue saudi-arabische König Salman bin Abdul Aziz begnadigt Raif Badawi im Rahmen einer Amnestie zu
seinem Amtsantritt und ordnet seine sofortige und bedingungslose Freilassung an. Dann könnte der Traum von Raifs Ehefrau
Ensaf Haidar und der drei Kinder vielleicht doch noch Wirklichkeit werden: Dass sie am Flughafen von Montréal ihren Ehemann und Vater endlich wieder in die Arme schließen können.
Pilgerstätte in Mekka. Islam als Staatsreligion.
20
Die Autorin ist Sprecherin der Ländergruppe Saudi-Arabien und
Golfstaaten der deutschen Amnesty-Sektion. Foto: Saudi Press Agency / AP / pa
Schrillen brachte und sofort unterbunden werden musste. Dies
erklärt auch, warum der Betrieb einer Internetseite und das
Führen eines Blogs derart drakonisch bestraft wurden. An Raif
Badawi musste ein Exempel statuiert werden, auch um die vielen Nutzer sozialer Netzwerke wie Facebook, Twitter oder Instagram in die Schranken zu weisen. Denn am Cyberspace beißen
sich die Zensoren mittlerweile die Zähne aus. Nicht jede Internetseite kann kontrolliert werden, viele Facebook-Einträge oder
Twitter-Nachrichten rutschen durch das enge Netz der Überwachung. »Twitter ist unser Parlament«, sagte kürzlich ein junger
Saudi hoffnungsfroh. Der Wunsch nach Reformen, mehr Freiheiten und Weltoffenheit ist groß im Land. Die saudi-arabischen
Frauen, die immer noch die Zustimmung eines männlichen Vormunds benötigen, wenn sie wichtige Entscheidungen treffen,
sehnen sich nach Gleichberechtigung und Selbstbestimmung.
Und sie wollen endlich Autofahren.
Doch auch hier schlägt die Obrigkeit gnadenlos zu. Frauen,
die am Steuer eines Wagens erwischt werden, kommen in Haft
und können seit einem Jahr unter dem neuen Antiterrorismusgesetz angeklagt und verurteilt werden, auch zu Stockschlägen.
Autofahren wird somit als terroristischer Akt eingestuft, doch
lassen sich die Frauen nicht länger davon abhalten. Das 21. Jahrhundert ist auch in Saudi-Arabien angekommen und die sehr
junge Gesellschaft – zwei Drittel der Bevölkerung sind unter 25
Jahre alt – will ungehindert daran teilhaben und die vielen Restriktionen und Verbote endlich aus dem Weg räumen.
Regierungskritiker und friedliche Reformer leben allerdings
gefährlich und zahlen oft einen hohen Preis für ihr mutiges Einstehen für Freiheit und Menschenrechte. Seit Jahren erstickt die
saudi-arabische Regierung jegliche Kritik Andersdenkender.
Fast alle Gründungsmitglieder der inzwischen verbotenen Menschenrechtsorganisation ACPRA wurden zu Haftstrafen von bis
zu zehn Jahren verurteilt. Namhafte Reformer und Menschenrechtsverteidiger, darunter Rechtsanwälte, ehemalige Richter
und Universitätsprofessoren, verbüßen nach unfairen Gerichtsverfahren lange Freiheitsstrafen. Im Februar 2015 bestätigte ein
Berufungsgericht das Urteil gegen den Menschenrechtsanwalt
Waleed Abu al-Khair, Raif Badawis Rechtsbeistand und Schwager. Er muss für 15 Jahre ins Gefängnis, weil er 2008 die Men-
Salman bin Abdul Aziz. Neuer König und Premierminister.
amnesty journal | 04-05/2015
Fragen verboten
Wer die Stimme gegen fundamentalistische und nationalistische Einstellungen erhebt,
muss in vielen Ländern mit gravierenden Folgen rechnen. So wie in Russland, wo sich
Elena Klimova wegen ihrer »positiven Einstellung gegen nicht-traditionelle sexuelle
Beziehungen« verantworten muss. Oder wie in Myanmar, wo sich Htin Lin Oo gegen
die Diskriminierung muslimischer Minderheiten wendet. Von Andreas Koob
Elena Klimova
Htin Lin Oo
Mit der Webseite »Children 404« schuf Elena Klimova eine Plattform für lesbische, schwule, bi-, trans- und intersexuelle Jugendliche in Russland. Die Zukunft ihres Projekts ist mehr als ungewiss. Die Journalistin wurde im Januar verurteilt und muss eine
Geldstrafe zahlen. Unter Bezug auf das umstrittene russische
Gesetz, das »Propaganda von nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen gegenüber Minderjährigen« unter Strafe stellt, hatte
die russische Medienaufsicht eine Klage gegen sie eingereicht.
»Children 404« will schutzlose junge Menschen unterstützen, die Diskriminierung und anderen Problemen ausgesetzt
sind. Mit der Webseite sollen sie einen Raum bekommen, um
sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen und über Probleme
zu sprechen. Der Name »Children 404« bezieht sich auf die Fehlermeldung »404 page not found«, die im Browser erscheint,
wenn man eine nicht existierende Webseite aufruft.
Tatsächlich schließt Klimovas Plattform jene Lücke, auf die
der Name anspielt: Videoclips dokumentieren die alltägliche
Schikanierung ebenso wie einen selbstbewussten Umgang damit. Auch in sozialen Netzwerken ist »Children 404« aktiv. Klimova hat das Projekt in der im Ural gelegenen Stadt Nischni Tagil gegründet. Inzwischen ist es weit über Russland hinaus bekannt. Personen aus zahllosen Ländern haben sich mit der Webseite vernetzt und posten dort ihre persönlichen Geschichten.
Die Medienaufsicht hatte »Children 404« an den Pranger gestellt, da die Webseite beabsichtige, »bei Kindern den Eindruck
zu vermitteln, dass es ein Zeichen von Mut, Stärke, Selbstbewusstsein und Selbstrespekt sei, wenn man homosexuell ist«.
Somit propagiere Klimova nach Ansicht der Medienaufsicht
eine »positive Einstellung zu nicht-traditionellen sexuellen
Beziehungen unter Jugendlichen«.
Klimova bekam keinen fairen Prozess. Obwohl ihr Anwalt erkrankt war, wurde ihre Anhörung nicht verschoben. Und auch
eine von ihr eingeforderte zweite Expertenmeinung zu ihrer Webseite wurde nicht eingeholt. Die Richterin befand sie schuldig,
»nicht-traditonelle sexuelle Beziehungen propagiert zu haben«
und verhängte eine Geldstrafe von umgerechnet 640 Euro. Klimova legte gegen das Urteil Rechtsmittel ein. Nur wenn sie Erfolg hat,
kann das Projekt fortbestehen. Bereits im vergangenen Jahr stand
Klimova vor Gericht: Der Parlamentsabgeordnete Vitaliy Milonov
aus St. Petersburg hatte Klage gegen sie eingereicht und sich dabei
ebenfalls auf das sogenannte Propagandagesetz bezogen. Damals
war das Verfahren allerdings eingestellt worden.
Er kritisierte, dass sich Buddhismus und Nationalismus in
Myanmar immer stärker vermischen, was Ausschluss und
Diskriminierung zur Folge habe. Jetzt steht der Schriftsteller
Htin Lin Oo in Myanmar vor Gericht. In einer Rede hatte er
sich vor allem mit fundamentalistischen Strömungen im
Buddhismus beschäftigt: »Wenn Du extremer Nationalist
sein willst, glaube nicht an Buddha«, ist der am häufigsten
daraus zitierte Satz, mit dem er von seinen Gegnern gezielt
diffamiert wird. Lokale Beamte aus dem Ort, in dem er die Rede
hielt, hatten ihn angezeigt und damit das Verfahren ins Rollen
gebracht.
Seine Kritik an Vorurteilen und Diskriminierung im Namen
der Religion ruft massive Gegenkritik hervor. Auch die Behörden werfen ihm vor, er habe die Religion verunglimpft und religiöse Gefühle verletzt. Bis zu drei Jahre Haft kann das heißen.
Htin Lin Oo ist kein Unbekannter. Bis zuletzt war er Informationsbeauftragter der größten Oppositionspartei Myanmars, der
Nationalen Liga für Demokratie (NLD). Aber auch von seiner Partei bekommt er keine Rückendeckung und verlor inzwischen
sein Amt.
Sein Anwalt kritisiert den Umgang mit Htin Lin Oo. Die allgemeine Entrüstung fuße vor allem auf einem im Internet kursierenden Video. Die Sequenzen des zehnminütigen Clips würden jedoch einen verzerrten Eindruck von der fast zweistündigen Rede vermitteln. Nach einer Gerichtsanhörung im Januar
sagte Htin Lin Oo: Als Buddhist müsse er sich entschuldigen,
wenn er irgendjemanden verletzt habe – unabhängig davon, ob
er selbst richtig liege oder nicht.
Htin Lin Oos Kritik bezieht sich auf die schwierige Situation
religiöser Minderheiten in Myanmar: Angesichts antimuslimischer Gewalt hat sich insbesondere die Lage der Rohingya-Minderheit verschlechtert, wie der Amnesty Report 2014/15 dokumentiert. Übergriffe bleiben vielfach ohne strafrechtliche Konsequenz, während die staatliche Politik die Diskriminierung
und Ausgrenzung noch weiter verschärft (siehe auch unsere
Reportage ab Seite 34).
Htin Lin Oos Fall und die Entwicklung in Myanmar finden
kaum Beachtung, auch in der allgemeinen Debatte um Religion
und Meinungsfreiheit. Die Agenda nationalistischer buddhistischer Mönche und die Repression gegenüber Andersdenkenden
scheint nahezu ausgeblendet: Htin Lin Oo aber bräuchte diese
Aufmerksamkeit sehr dringend.
religion unD meinungsfreiheit
21
Mord
mit Ansage
Wer in Bangladesch den Islam kritisiert, wird eingeschüchtert
und im schlimmsten Fall ermordet, wie jüngst der Blogger und
Religionskritiker Avijit Roy. Doch anstatt die potenziellen Opfer
zu beschützen, gehen die Behörden regelmäßig gegen
jene vor, die ihre Meinung frei äußern wollen.
Von Bernhard Hertlein
Wer die Religion kritisiert, muss um sein Leben fürchten. Tatort in Dhaka.
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Foto: Mohammad Asad / Pacific Press / pa
amnesty journal | 04-05/2015
E
r kam, um Freunde zu treffen: Avijit Roy, ein in Bangladesch geborener Software-Spezialist, Blogger, Religionskritiker, Autor und mittlerweile US-Staatsbürger,
wollte in der Hauptstadt Dhaka sein neues Buch vorstellen. Was er nicht wusste: Dort warteten schon seine Mörder.
Sie töteten den 42-Jährigen am 26. Februar 2015 mit Messerstichen in Hals und Rücken. Auf die gleiche brutale Weise war ein
Jahr zuvor, am 15. Februar 2014, Rajib Haider umgebracht worden. In den Jahren zuvor waren Asif Mohiuddin und Humayun
Azad ebenfalls durch Messerstiche lebensgefährlich verletzt
worden. Azad starb später an den Folgen des Überfalls. Dieses
Mal waren es zwei Täter der Terroristengruppe »Ansarulla«. Sie
griffen außerdem Rafida Ahmed Bonya an, die Frau von Avijit
Roy, die schwer verletzt wurde.
Wie Humayun Azad, Asif Mohiuddin und Rajib Haider war
auch Avijit Roy Atheist. Er nahm für sich das Recht in Anspruch,
alle Religionen – also auch den Islam – zu kritisieren. Dafür erhielt er von Islamisten schon seit geraumer Zeit Morddrohungen, auch öffentlich, zum Beispiel auf Facebook. Einige drohten
ihm sogar unter ihrem wirklichen Namen, wie Farabi Shafiur
Rahman zum Beispiel, der sich auch nicht mit Morddrohungen
gegen den mittlerweile in Deutschland lebenden Blogger Asif
Mohiuddin zurückhält. Anfang 2013 hatte Farabi auf Facebook
die Bestrafung zweier minderjähriger Schüler in Chittagong verlangt. Ihr »Verbrechen«: Sie hatten in dem sozialen Medium einige kritische Nachfragen über den Propheten Mohammed gestellt. Dafür wurden sie erst von Gefolgsleuten Farabis verprügelt und dann von der Polizei inhaftiert. Der US-Konzern Facebook hat bislang nichts gegen die Morddrohungen unternommen. Auch der bangladeschische Staat ergreift keine Maßnahmen, um die Bedrohten zu schützen oder die Morde aufzuklären. Stattdessen gehen die Behörden regelmäßig gegen diejenigen vor, die durch die Inanspruchnahme ihres Rechts auf freie
Meinungsäußerung angeblich den öffentlichen Frieden gefährden.
religion unD meinungsfreiheit
Dabei hatte das unabhängige Bangladesch 1971 neben Demokratie, Sozialismus und Nationalismus auch Säkularismus zu
einer der vier grundlegenden Säulen des neuen Staates erklärt.
Und bis heute gibt es in dem Land, in dem 85 Prozent der 160
Millionen Einwohner dem muslimischen Glauben angehören,
kein Blasphemiegesetz. Dennoch nehmen die Einschränkungen
der Meinungsfreiheit spürbar zu.
Avijit Roy, der jetzt ermordete Religionskritiker, reiste nicht
zufällig im Februar nach Dhaka. In diesem Monat findet aus Anlass des Internationalen Tags der Muttersprache (21. Februar) traditionell die größte Buchmesse des Landes statt. Die »Ekushey
Book Fair« ist als Ort der freien Kommunikation über Literatur
und als Einnahmequelle für die Verlage von zentraler Bedeutung. In diesem Jahr war die Anspannung allerdings von Anfang
an groß. Seit Jahresbeginn wird das Land beinahe täglich von
Brand- und Bombenanschlägen erschüttert. Die Opposition, die
die Wahlen 2014 boykottierte und deshalb keinen Sitz im Parlament hat, versucht die Regierung durch Terror aus dem Amt zu
jagen. Ministerpräsidentin Sheikh Hasina Wajed hält ihrerseits
gewaltsam dagegen, indem sie Oppositionspolitiker, aber auch
unabhängige kritische Stimmen festnehmen lässt. Das Gesetz
zur Informations- und Kommunikationstechnologie (»Information and Communication Technology Act«) wurde so verschärft,
dass Blogger wegen angeblicher Beleidigung religiöser Gefühle
oder wegen Gefährdung des Staates zu langjährigen Haftstrafen
verurteilt werden können. Besonders stark leiden ethnische und
religiöse Minderheiten unter den Einschränkungen. Eine neue
Verordnung will vorschreiben, dass Ausländer und Mitarbeiter
nationaler Nichtregierungsorganisationen mit Bewohnern nur
noch im Beisein von Sicherheitskräften reden dürfen.
Vor diesem Hintergrund war es schon erstaunlich, dass die
Buchmesse zunächst einigermaßen friedlich ablief – sieht man
vom Angriff einiger Islamisten auf einen Verlag ab, der das neu
übersetzte Werk eines iranischen Autors über den Propheten
Mohammed im Programm führt. Als die Täter mit weiteren Angriffen drohten, reagierten die Behörden in einer für Bangladesch fast schon typischen Manier: Sie schlossen einfach den
Messestand des Verlages. Dann folgte die Ermordung Avijit Roys.
Seither erhält auch sein Verleger Ahmedur Rashid Tutul auf
Facebook Morddrohungen.
Der Autor ist Sprecher der Bangladesch-Ländergruppe der deutschen
Amnesty-Sektion.
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»Ich kann
nur schreiben«
Der Blogger Asif Mohiuddin setzt sich gegen religiösen Fundamentalismus und
für Frauenrechte und Meinungsfreiheit in Bangladesch ein. Deshalb wurde der
30-Jährige von Islamisten bedroht und mehrfach angegriffen. Im Januar 2013
verletzten ihn drei Attentäter lebensgefährlich. Fundamentalisten setzten ihn
auf eine Todesliste und die Behörden nahmen ihn wegen Verletzung religiöser
Gefühle fest. Mohiuddin kam zunächst gegen Kaution frei, sein Verfahren und
die Drohungen dauerten jedoch an. Auf Einladung von Amnesty International
konnte er Anfang 2014 nach Deutschland ausreisen, wo er heute lebt.
Fundamentalisten bezeichnen Sie als »Feind des Islam«.
Sind Sie das?
Ich bin ein Feind von Heuchelei und Intoleranz und damit
ein Gegner aller religiösen Gruppierungen, die Menschenrechte
verletzen – nicht aber der Religionen an sich. Ich bekämpfe nur
den politischen Fundamentalismus.
Sie sind als Muslim geboren. Woher kam Ihre Kritik an Religion?
In meiner Kindheit wurde im indischen Ayodhya die BabriMoschee zerstört. Als Vergeltung mussten in Bangladesch viele
Hindus leiden. Damals fühlte ich, dass ein einzelner Mensch
mehr zählen muss als eine große Moschee. Gebetshäuser sind
aus Steinen gemacht, Menschen aus Fleisch und Blut. Sie leiden,
Steine nicht. In Bangladesch stellen Muslime die Mehrheit. Die
Religionsführer rufen dazu auf, Andersgläubige zu töten oder zu
vergewaltigen. Sie berufen sich auf den Koran und die Hadithe.
Zunächst dachte ich, sie interpretieren die Schriften nur falsch.
Später stellte ich fest, dass sich manches tatsächlich in diesen
Schriften findet. Das macht auch andere Religionen unverträglich mit modernem Denken und moderner Moral und führt
nicht zuletzt zu Menschenrechtsverletzungen.
Was sind ihre Kernthemen als Blogger?
Ich richte mich gegen Fundamentalismus und Terrorismus,
gegen Bildungssysteme und Politik, die auf Religion aufbaut,
gegen die Unterdrückung von Frauen, insbesondere durch die
Scharia. Ich befürworte in meinem Blog dagegen säkulare Politik, Menschenrechte, Rechte von Homosexuellen, das Recht auf
freie Bildung und Meinungsfreiheit.
Wie greifen Sie die Themen auf?
Oft erzähle ich Einzelfälle, wie den von Hana. Sie wurde als
Zwölfjährige mit einem fast 40-jährigen Mann verheiratet. Mit
14 wurde sie vergewaltigt. Nicht der Vergewaltiger, sondern sie
24
wurde vor ein Dorfgericht gestellt – auf Antrag ihrer Eltern. Es
galt das Recht der Scharia. Weil sie keine Burka getragen hatte,
wurde sie für die Vergewaltigung verantwortlich gemacht und
wegen Ehebruchs zu 101 Stockschlägen verurteilt. Nach 70 Schlägen wurde sie bewusstlos in ein Krankenhaus gebracht, wo sie
eine Woche später starb. Polizisten und Ärzte attestierten Selbstmord – vermutlich aus Angst vor dem Scharia-Gericht. Hana ist
keine Ausnahme. Geschichten wie ihre greife ich auf.
Wie lässt sich die Bloggerszene in Bangladesch beschreiben?
Es gibt Blogger aller Ausrichtungen, auch Fundamentalisten.
Lange Zeit war das Internet eine Plattform für den freien Austausch von Meinungen. Im Zuge der »Shabhag-Bewegung«, die
gegen den zunehmenden Fundamentalismus in unserem Land
zu Feld zog, wurden Blogger im Frühjahr 2013 zeitweise zur
Stimme einer modernen Nation.
Bangladesch wurde als säkularer Staat gegründet. Später wurde die Verfassung in Richtung Islam verändert. Etwa 15 Prozent
der Bevölkerung gehören anderen Religionsgemeinschaften
an. Wie ist die Lage für Hindus, Buddhisten und Christen?
Es gab zuletzt viele Übergriffe auf religiöse Minderheiten.
Hindus und Buddhisten wurden attackiert, Tempel zerstört,
Häuser und Geschäfte niedergebrannt, Besitz geplündert, Frauen vergewaltigt, einige getötet. Niemand half, keine Partei, keine
Polizei. Kaum jemand wurde zur Rechenschaft gezogen, nicht
zuletzt wegen einflussreicher Unterstützer. Staat und Regierung
werben für den Islam. Unsere Premierministerin Hasina Wajed
spricht vom Islam als einzig wahrer Religion. Bangladesch sei
ein muslimisches Land.
Wie ist es Ihnen ergangen, nachdem Sie Kritik im Internet
geäußert hatten?
Es gab Gewalt und sogar Todesdrohungen. Fundamentalis-
amnesty journal | 04-05/2015
Foto: Christian Ditsch / Amnesty Acht tiefe Stiche. Asif Mohiuddin.
ten versuchten mich mehrmals zu entführen – allerdings erfolglos. Im Januar 2013 wurde ich von drei Mitgliedern des Netzwerks Al-Qaida in Bangladesch brutal überfallen. Sie stachen
mit Messern zu: Ich hatte acht tiefe und 53 kleinere Stiche. Nur
mit viel Glück habe ich überlebt.
Wurden die Täter inzwischen gefasst?
Die Attentäter wurden mittlerweile inhaftiert, ihr Verfahren
steht noch aus. Ich habe sie im Gefängnis getroffen, nachdem
ich später selbst inhaftiert worden war. Sie kündigten mir weitere Gewalt an. Dabei wissen sie nicht einmal, weshalb sie mich
angegriffen haben. Sie lesen keine Blogs. Sie folgen nur ihren
Führern. Das Hauptproblem sind nicht sie, sondern das Bildungssystem, das solche kriminellen Fundamentalisten hervorbringt. Jedes Jahr absolvieren Millionen Schüler die fundamentalistischen Koranschulen.
Warum wurden Sie inhaftiert?
Das war eine politische Entscheidung. Eine Fundamentalistengruppe hatte die Regierung unter Druck gesetzt. Sie überreichten der Regierung eine Liste mit 84 Personen, für die sie die
Todesstrafe forderten. Andernfalls würden sie das selbst übernehmen und die Hauptstadt verwüsten. Meine Festnahme sowie
die drei weiterer Blogger sollte die Islamisten ruhigstellen.
Auf welches Gesetz beriefen sich die Behörden?
Wir sollen die religiösen Gefühle verletzt haben. Mein Blog
wurde wegen Blasphemie geschlossen, konkret hatte ich den Gedanken aufgegriffen, dass Gott in jedem Menschen ist. Zweitens
bin ich angeklagt, Bangladesch in ein »Homosexuellenland«
verwandeln zu wollen – weil ich mich für die Menschenrechte
sexueller Minderheiten einsetze. Und die dritte Anklage wirft
mir vor, alle Moscheen in Dhaka zerstören und stattdessen öffentliche Frauentoiletten errichten zu wollen. Ich hatte mich da-
religion unD meinungsfreiheit
für eingesetzt, dass ein säkularer Staat keine Moscheen finanzieren, aber öffentliche Bibliotheken und Toiletten für alle bereitstellen soll. Denn in Bangladesch gibt es meist nur für Männer
öffentliche Toiletten.
Wie ist die Situation der drei anderen Blogger?
Derzeit sind sie gegen Kaution frei. Sie werden sich aber ihr
ganzes Leben lang nicht sicher fühlen. Demjenigen, der den
Bloggern die Hände abtrennt, versprachen Fundamentalisten
eine Geldprämie.
Gibt es überhaupt Meinungsfreiheit in Bangladesch?
Die Gesetze wurden 2013 dahingehend verändert, dass die
Polizei jeden willkürlich festnehmen kann. Schon die Behauptung, man habe den Staat, die Regierung oder den Islam kritisiert, reicht aus. Das Gesetz soll offiziell nicht angewendet werden, aber dann sollte es auch nicht existierten. Jeder muss das
Recht haben, jeden und alles zu kritisieren. Das steht in unserer
Verfassung und ist die Basis jeder Demokratie. Faktisch stoßen
alle, die frei denken, auf den Widerstand unseres etablierten
politischen und religiösen Systems.
Sie sind 2014 auf Einladung von Amnesty International nach
Deutschland gekommen. Welche Erfahrungen haben Sie bisher gemacht? Was bedeutet dieser Aufenthalt für Sie?
Ich spreche für mein Land, insbesondere für die Frauen, die
religiösen Minderheiten und die Inhaftierten in den Gefängnissen. Ich bin ihre Stimme. Ich will mehr über Europa lernen und
Erfahrungen mit nach Bangladesch nehmen. Das Leben hier
fühlt sich freier und sicherer an. Für die Bedrohten ist es wichtig, zu wissen, dass sie nicht allein sind. Ich bin ohne Macht,
ohne Geld, ohne eigene Organisation. Ich kann nur schreiben.
Fragen: Bernhard Hertlein
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Schnell beleidigt
Zahlreiche Gewaltdrohungen. Protestaktion gegen die Zeitung »Cumhuriyet« in Istanbul.
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amnesty journal | 04-05/2015
Die »Verunglimpfung religiöser Gefühle«
ist einer von zahlreichen Artikeln im
türkischen Strafgesetzbuch, mit denen
die freie Meinungsäußerung beschränkt
werden kann. Jetzt traf es die türkische
Tageszeitung »Cumhuriyet« – sie hatte
im Januar vier Seiten aus der Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« veröffentlicht.
Von Ralf Rebmann
Foto: Sedat Suna / EPA / pa
D
ie Razzia begann in der Nacht zum 14. Januar 2015. Polizeieinheiten blockierten die Zufahrtsstraßen zu einer Druckerei im Westen Istanbuls und durchsuchten
die Ladung mehrerer Lkws. Die Beamten waren auf
der Suche nach einer besonderen Zeichnung – ein weinender
Prophet Mohammed, ein Schild in seinen Händen, darauf die
Aufschrift »Ich bin Charlie«.
Der Grund für die nächtliche Razzia: Die türkische Tageszeitung »Cumhuriyet«, die ihre Ausgaben in dieser Druckerei
fertigstellen lässt, enthielt vier Seiten der französischen Satirezeitschrift »Charlie Hebdo«. Zwar verzichtete man darin auf die
Titelseite mit der Mohammed-Karikatur. Die Kolumnisten Ceyda
Karan und Hikmet Çetinkaya hatten sie jedoch im BriefmarkenFormat neben ihren Texten platziert.
Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten: Bewaffnete Polizisten mussten am nächsten Morgen Mitarbeiter der
Zeitung vor wütenden Demonstranten schützen, die Kolumnisten erhielten über Twitter zahlreiche Gewaltdrohungen. Gegen
beide wurde zudem eine Untersuchung wegen »Provokation«
und der »öffentlichen Verunglimpfung religiöser Werte« eingeleitet. Bei einer Verurteilung droht ihnen bis zu ein Jahr Haft.
»Recht auf Meinungsfreiheit heißt nicht Recht auf Beleidigung«, beschwerte sich der türkische Premierminister Ahmet
Davutoğlu am nächsten Tag. Gleichzeitig ordnete ein Gericht im
südöstlichen Diyarbakır an, sämtliche Webseiten zu sperren, die
die Titelseite veröffentlicht hatten. Die Seite von »Charlie Hebdo« ist mittlerweile ebenfalls nicht mehr erreichbar.
Das Beispiel von »Cumhuriyet« zeigt, wie restriktiv Artikel
216 Absatz 3, die »Erniedrigung religiöser Werte«, ausgelegt
wird. Als »drastische Einschränkung der Meinungsfreiheit und
staatliche Zensur« kritisierte Andrew Gardner, Türkei-Experte
von Amnesty, die Polizeirazzia. Man könne nicht die Meinungsfreiheit einschränken, nur weil die Möglichkeit einer Beleidigung bestehe.
Zuletzt wurde im Fall von Fazıl Say um den BlasphemieParagrafen gestritten. Der türkische Pianist erhielt 2013 wegen
mehrerer Twitter-Nachrichten eine Bewährungsstrafe von zehn
Monaten. Doch auch gegen den Karikaturisten Bahadır Baruter
oder den türkisch-armenischen Autor Sevan Nişanyan wurde
aus diesem Grund ermittelt. Nişanyan erhielt 2013 für einen islam-kritischen Blogeintrag eine Gefängnisstrafe von dreizehneinhalb Monaten. »Die Anschuldigung, religiöse Gefühle zu
verletzen, kann man sehr weit auslegen«, sagt Özgün Özçer. Der
29-Jährige ist Redakteur der sozialistischen und regierungskritischen Tageszeitung »BirGün«. »Oft ist es schwierig nachzuvollziehen, wieso genau dieser Tweet oder Bericht ein Problem ist.«
religion unD meinungsfreiheit
Gegen drei Redakteure von »BirGün« wurde im November
2014 ebenfalls eine Untersuchung wegen Blasphemie eingeleitet. Begründet wurde dies mit zwei Artikeln, die über den anonymen Twitter-Account »Tanrı (cc)« (auf Deutsch »Gott«) verbreitet wurden. »Religiöse Identität ist die Grundlage dieser Regierung. Äußerungen, die das kritisieren, sind deshalb ein Problem«, sagt Özçer. Die Diskussion um »Charlie Hebdo« sei weniger eine Frage der Religionsfreiheit, als vielmehr der Meinungsfreiheit. »Man kann seine Meinung frei äußern und trotzdem
religiöse Werte respektieren«, meint Sevgi Akarçeşme. Die Journalistin arbeitet für die auflagenstärkste türkische Tageszeitung
»Zaman«, die der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen nahesteht. »Persönlich lehne ich Karikaturen des Propheten Mohammed ab. Ich kann aber nicht verlangen, dass andere meine religiösen Werte teilen.« Dass ein Staat seine Version
von Religion den Menschen auferlege, halte sie für falsch.
Die »Beleidigung religiöser Gefühle« ist einer von vielen
Artikeln im türkischen Strafgesetzbuch, mit denen die freie
Meinungsäußerung bestraft werden kann. Dazu gehören die
»Beleidigung der türkischen Nation« sowie mehrere Artikel der
Antiterrorgesetzgebung. Der Straftatbestand »Propaganda für
eine Terrororganisation« kann mit bis zu fünf Jahren Haft geahndet werden. In der Vergangenheit traf dies vor allem Journalisten kurdischer Zeitungen und Nachrichtenagenturen.
2014 hat sich die Situation für Journalisten weiter verschärft.
Die türkischen Journalistenvereinigungen TGC und TGS teilten
im Dezember mit, zwar sei die Zahl der inhaftierten Journalisten zurückgegangen, der Druck sei jedoch gestiegen: Mehr als
500 Journalisten seien entlassen worden, mehr als 80 Journalisten gaben ihren Beruf auf. Dem unabhängigen NachrichtenNetzwerk BIA zufolge wurden allein von Oktober bis Dezember
2014 43 Journalisten festgenommen, 22 Journalisten waren Ende
des Jahres in Haft. Hinzu kommen zahlreiche Ermittlungen
wegen »Beleidigung«, die nicht selten vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan angestrengt werden. Vor allem Twitter steht im Fokus der türkischen Regierung. 2014 war der Dienst
vorübergehend zensiert. Zwischen Juli und Dezember 2014 forderten türkische Behörden das Unternehmen nach eigenen
Angaben auf, 477 Nutzerprofile zu entfernen. Die Türkei hatte
damit mehr Anfragen als die restlichen Länder zusammen.
»Repressionen gegen Journalisten sind keine Ausnahme,
sondern die Regel. Sobald man nicht die Position der Regierung
vertritt, geht man ein Risiko ein«, erklärt Sevgi Akarçeşme. Journalisten der »Zaman«-Gruppe stehen seit knapp zwei Jahren
besonders unter Druck. Seit im Dezember 2013 Korruptionsermittlungen gegen die türkische Regierung eingeleitet wurden,
herrscht zwischen der Gülen-Bewegung und Erdoğans AKPPartei ein offener Machtkampf. Repressionen richteten sich in
den vergangenen Monaten deshalb vor allem gegen Medien, die
über die Korruptionsvorwürfe berichteten. Einen vorläufigen
Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung am 14. Dezember
2014, als 27 Journalisten und Mitarbeiter der »Zaman«-Gruppe
verhaftet wurden, darunter der Chefredakteur der Zeitung,
Ekrem Dumanlı. Gegen Sevgi Akarçeşme und die Redaktionsleitung der englischen Ausgabe »Today’s Zaman« wird ebenfalls
ermittelt. Akarçeşme wird vorgeworfen, den Premierminister
auf Twitter beleidigt zu haben. Der Inhalt ihres Tweets: Ahmet
Davutoğlu würde als ein Premierminister in die Geschichte eingehen, der die Pressefreiheit in der Türkei abgeschafft habe.
Der Autor ist Journalist und lebt zurzeit in Istanbul.
27
Treibgut
des Krieges
Der »Islamische Staat« mordet und brandschatzt. Tausende Menschen
im Irak und in Syrien sind bereits Opfer der Dschihadisten geworden.
Auch der Syrer Hamid, der sich als Medienaktivist versteht, geriet in die
Fänge der Fanatiker – und entkam. Von Carsten Stormer (Text und Fotos)
D
ie Hoffnung, dass der ganze Scheiß irgendwann einmal ein Ende findet, hat Hamid fast aufgegeben. Er
steht in einer Seitenstraße von Aleppos Kurdenviertel
Sheikh Maqsood, legt den Kopf in den Nacken, blinzelt in die Sonne und lauscht dem Grollen, das allmählich lauter
wird. Wie ein Gewitter, das in der Ferne aufzieht. Kurz darauf
entdeckt er das Kampfflugzeug am Himmel. Seit den frühen
Morgenstunden bombardiert die syrische Luftwaffe Aleppo.
Hamid sucht Deckung, kniet sich hinter ein rostiges Auto und
zeigt auf einen silbernen Punkt am Himmel, der sich nähert,
anschließend wieder entfernt, eine scharfe Linkskurve fliegt,
wendet und im Sturzflug die Stadt ansteuert wie ein Raubvogel
seine Beute. Dann klinkt die Maschine ihre Raketen aus und der
Pilot zieht das Flugzeug wieder nach oben. Die Prozedur wiederholt sich zwei Mal, begleitet vom Knattern der Flugabwehrgeschütze der Rebellen.
Während Hamid den Angriff von Assads Truppen auf der
Straße verfolgt, tritt seine Frau Amira auf den Balkon ihrer gemeinsamen Wohnung im fünften Stock und blickt besorgt nach
unten. »Hamid, wo gehen die Bomben runter? Greifen sie unser
Viertel an?«, fragt sie und streicht über ihren Bauch. Amira ist
28
im achten Monat schwanger und ein Lächeln zieht über Hamids
Gesicht, als er seine Frau erblickt. »Nicht weit von hier, Habibi,
mach dir keine Sorgen. Aber geh zurück ins Haus. Ich bin zum
Abendessen zurück.« Dann steigt er in den Toyota, legt seine
Videokamera auf die Rückbank und fährt los.
Hamid ist 27 Jahre alt, ein kleiner, dünner Mann mit Vollbart
und müden Augen. An seinem Beispiel lassen sich viele Charakteristika des Krieges in Syrien zeigen, der nun schon vier Jahre
dauert. Es ist sicherer, seinen Nachnamen nicht zu nennen und
auch keine Fotos von ihm zu drucken. Hamid ist frei, aber der
US-Journalist Steven Sotloff, mit dem er vor einem Jahr entführt
worden war, ist tot. Anfang September 2014 wurde bekannt, dass
der 31 Jahre alte Reporter, der unter anderem für das Magazin
»Time« schrieb, ermordet wurde. Angehörige der Terrorgruppe
»Islamischer Staat« verbreiteten ein Video, auf dem Sotloffs Enthauptung zu sehen ist.
Vor dem Krieg hat Hamid Betriebswirtschaft studiert. Wie
viele seiner Landsleute hoffte er, die 40 Jahre währende Diktatur abzuschütteln. Er demonstrierte, kämpfte später aufseiten
der Rebellen in einer kurdischen Einheit gegen die syrische
Regierungsarmee.
amnesty journal | 04-05/2015
Wo gehen die Bomben runter? Helfer bergen Tote und Verletzte aus den Trümmern. Rauchpilz über Aleppo.
Aus Enttäuschung über die zerstrittene Opposition und aus
Liebe zu seiner Frau legte er nach einigen Monaten die Kalaschnikow beiseite. Heute nennt er sich Medienaktivist. Auf Facebook und Twitter postet Hamid Bilder und Berichte des Krieges;
dazwischen Selfies, Koransuren und Karikaturen, die Assad oder
die Anhänger des »Islamischen Staats« verspotten. Er hoffe
noch immer, sagt er, dass die Welt durch seine Arbeit in den
sozialen Netzwerken Syrien nicht vergisst.
Manchmal führt er ausländische Journalisten durch seine
Stadt und an die Front, verdient sich als Mädchen für alles ein
paar Dollar. Ein Verzweifelter, der versucht, aus seiner Situation
das Beste zu machen. Treibgut des Krieges.
»Wir wurden verraten«
Am Morgen des 4. August 2013 steigt Steven Sotloff an der syrisch-türkischen Grenze zu Hamid ins Auto. Er will aus Aleppo
berichten, Hamid soll ihn als Fahrer und Übersetzer unterstützen. Ein gefährlicher Job. Fast täglich entführen Islamisten ausländische Journalisten. Aber Hamid braucht das Geld. Die Lebensmittelpreise haben sich verfünffacht, bezahlte Arbeit gibt
es kaum noch in Aleppo.
Hamid hat sorgfältig geplant, tagelang die Zugangsstraßen
nach Aleppo beobachtet, geschaut, ob Banditen oder Islamisten
Checkpoints errichtet haben. Er dachte, er hätte alles im Griff.
Als er den US-Journalisten am vereinbarten Treffpunkt abholt,
warten im Wagen zum Schutz auch drei Bewaffnete. Aber gegen
die Islamisten haben sie keine Chance. An einer Straßensperre
im syrischen Marea, etwa 40 Kilometer nördlich von Aleppo, en-
religion unD meinungsfreiheit
det die Fahrt. Mehrere Bewaffnete stoppen den klapprigen Toyota, ziehen die Männer aus dem Wagen, stülpen ihnen Stoffmasken über den Kopf und treiben sie mit Gewehrkolben in ein wartendes Fahrzeug. »Wir wurden verraten, die Islamisten wussten,
wann und wo wir uns treffen, welchen Weg wir nehmen«, sagt
Hamid.
Seine Entführer sperren ihn in die Zelle eines Kellergewölbes. Er weiß nicht, wo er ist. Mehrmals täglich verhören ihn
maskierte Männer, keine Syrer, sondern Tunesier und Marokkaner. Sie wollen wissen, warum Hamid mit einem Ungläubigen
zusammenarbeitet. Der »Ungläubige«, das ist Steven Sotloff.
Hamid hat Glück. Nach 15 Tagen lassen ihn die Entführer
gehen. Einfach so. Was aus Steven Sotloff wird, erfährt er nicht.
Der junge Muslim hört Gerüchte, dass sein Auftraggeber am
Leben sei, irgendwo festgehalten in einem Gefängnis des »Islamischen Staats«, vielleicht in Aleppo, vielleicht in Rakka. Ein
Jahr später, Anfang September 2014, kommt die Nachricht von
Sotloffs Tod.
Fassbomben und Gotteskrieger
Im August 2014 weiß Hamid noch nichts vom Schicksal Sotloffs.
Er steuert den Toyota durch die Ruinenlandschaft. Aus der einstigen Wirtschaftsmetropole ist eine Geisterstadt geworden, in der
es seit Wochen weder Strom noch fließend Wasser gibt. Kaum ein
Tag vergeht, ohne dass die syrische Luftwaffe Fassbomben über
der Stadt abwirft: mit Sprengstoff und Eisenschrot gefüllte Ölfässer, die aus Hubschraubern abgeworfen werden. Sie treffen meist
Schulen, Krankenhäuser, Wohnhäuser oder Märkte.
29
»Das sind Mörder
und Geistesgestörte,
die ihre Welt einteilen
in ›halal‹ und ›haram‹.«
Schon im Februar 2014 forderte der UNO-Sicherheitsrat in
einer Resolution ein Ende der Luftanschläge auf zivile Gebiete
und verurteilte ausdrücklich die Verwendung von Fassbomben.
»Human Rights Watch« hat mit Satellitenaufnahmen belegt,
dass allein zwischen Dezember 2013 und Februar 2014 mindestens 340 Plätze in Aleppo von Fassbomben getroffen wurden.
Die in Großbritannien ansässige Organisation »Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte« zählte in sechs Monaten
1.963 Tote durch Fassbomben – darunter 283 Frauen und 567
Kinder.
Hamid steuert seinen Wagen durch die zerstörte Stadt, vorbei an der Ruine, die einmal ein Krankenhaus war. Der Chefarzt
musste fliehen, weil er es wagte, die schwarze Flagge des »Islamischen Staats« mit dem muslimischen Glaubensbekenntnis
vom Eingang des Hospitals abzuhängen. Seitdem bekam er
Morddrohungen.
Die Fanatiker des »Islamischen Staats« nutzen das Chaos
im Land, um all jene zu vernichten, die sich ihnen widersetzen.
30
Zwar konnte eine Allianz der syrischen Rebellen die Gotteskrieger aus Aleppo vertreiben, aber mittlerweile sind die Terroristen
wieder auf dem Vormarsch, erobern Kleinstädte und Dörfer im
Umland Aleppos. »Ich bin Muslim«, sagt Hamid im Auto. In den
Augen des IS aber sei er ein kufar, ein Ungläubiger, da er deren
Weltanschauung nicht teile. »Das sind Mörder und Geistesgestörte, die ihre Welt einteilen in halal und haram.« Gut und
Böse, erlaubt und verboten, ohne Zwischentöne. Wer gegen ihre
Regeln verstößt, der stirbt.
Hunderte Syrer sind der IS-Ideologie schon zum Opfer gefallen. »In Aleppo haben sie einen 15-Jährigen vor den Augen seiner Mutter erschossen, weil er den Propheten beleidigt haben
soll«, knurrt Hamid. »Blasphemie.« In Rakka, der Hauptstadt des
IS, kreuzigen und enthaupten sie regelmäßig Menschen, die ihnen im Weg stehen: Akademiker, Journalisten, moderate Rebellen, Schiiten, Kurden, Andersgläubige. Die Islamisten präsentieren die Bilder der Gekreuzigten und Geköpften in den sozialen
Netzwerken. Seine Heimat verlassen, in die Türkei fliehen, das
will Hamid dennoch nicht. »Wie könnte ich mein Land im Stich
lassen? Ich käme mir vor wie ein Verräter«, sagt er, zündet sich
eine Zigarette an und zieht den Rauch tief in seine Lunge.
Die Autofahrt führt an zerschossenen Autos vorbei und an
zertrümmerten Häusern, aus denen zerfetzter Stahl ragt. Auf
dem Armaturenbrett liegt eine ungeladene Pistole. »Zur Ab-
Chaos im Land. Zerstörte Häuser in Aleppo. Der Pathologe Abu Jaffer (rechts oben). Ein Junge nach einem Bombenangriff.
amnesty journal | 04-05/2015
schreckung«, sagt Hamid und schnippt die Kippe aus dem offenen Fenster. Immer wieder muss er den Wagen anhalten, aussteigen und Deckung in Ruinen suchen, weil Hubschrauber
Fassbomben abwerfen oder ein Kampfjet Raketen abfeuert. Die
wenigen Menschen, die sich noch auf die Straße wagen, verstecken sich in Hauseingängen und beobachten die Helikopter
über ihnen. »Bald fällt die erste Bombe«, sagt Hamid und wartet
angespannt.
Eine Frage der Zeit
Ein alter Lebensmittelhändler winkt Hamid und ein paar andere
Menschen in seinen Laden. Dort sei es sicherer, meint er, verschwindet in einem Hinterzimmer und kommt Minuten später
mit frisch gekochtem schwarzem Tee und einer Argileh zurück,
der syrischen Wasserpfeife. »Syrische Gastfreundschaft«, sagt
Hamid und lächelt. »Der können auch Assads Bomben nichts
anhaben.« Während die Männer auf die Einschläge warten, nippen sie am gesüßten Tee, nuckeln an der Pfeife und reißen Witze
über Präsident Baschar al-Assad. Als zwei Fassbomben einige
Straßenzüge weiter explodieren, verabschieden sich die Männer.
Auch Hamid will weiter. Nur wenige Hundert Meter von seinem
Wagen entfernt steigt ein Rauchpilz in den wolkenlosen Himmel.
Der Tod ist ein Teil von Hamids Leben geworden. Hamid geriet ins Visier von Scharfschützen, die auf ihn feuerten; in seiner
Nähe explodierten Bomben und Granaten. Er sah Freunde sterben. Aber Hamid sieht auch, wie die Menschen in Aleppo in der
Not zusammenrücken.
Nach 40 Minuten Fahrt parkt er seinen Wagen vor dem
Mietshaus eines Bekannten. Der betreibt im Keller eine Art
Untergrundküche, in der er und drei Helfer für Hunderte
mittellose Menschen an den Frontabschnitten Essen kochen
und kostenlos verteilen. Sie reden über die schwierige Versorgungslage. Dass der Freund fünf Tage lang kein Essen verteilen
konnte, weil sein Viertel täglich bombardiert wurde.
Hamid fährt weiter, trifft den Pathologen Abu Jaffer, der seit
zwei Jahren in einem ausgebombten Schulgebäude namenlose
Tote fotografiert, in dem verzweifelten Versuch, den Toten ihre
Würde zurückzugeben. Kein Tag vergeht, ohne dass namenlose
Tote in die Schule gebracht werden. Der Arzt protokolliert das
Geschlecht, wann und wo sie gestorben sind. Die Bilder der
Menschen pinnt er an die Wand eines Klassenzimmers – Hunderte Fotos von verstümmelten Leichen. An diesem Morgen
kommt ein weiteres namenloses Porträt dazu. Dann rollt er den
halb verwesten Körper eines Mannes in einen grauen Leichensack und zieht den Reißverschluss zu.
Im August vergangenen Jahres sieht Hamid im Internet, wie
der US-amerikanische Journalist James Foley vor laufender Kamera enthauptet wird. Am Ende der Inszenierung zieht ein Terrorist eine weitere Geisel vor die Kamera und
droht, diese ebenfalls zu ermorden. Es ist Steven Sotloff. Jener Mann, der zusammen mit Hamid entführt wurde. Zwei Wochen später wird
auch er umgebracht. »Das sind Verbrecher, das
ist nicht unsere Auffassung des Islam«, sagt
Hamid. Was bleibt, sind seine Schuldgefühle.
Auf Facebook bittet er Steven Sotloffs Mutter
um Verzeihung, dass er nicht besser auf ihren
Sohn aufpassen konnte.
Zwischen all dem Schrecken und der Angst
gibt es in Aleppo die kleinen Momente des
Glücks. Ebenfalls im August wird Hamids Sohn
geboren. Er nennt ihn Bakr, nach dem Schwiegervater des Propheten Mohammed. Zur gleichen Zeit zieht die syrische Armee ihren Belagerungsring um Aleppo immer enger, nimmt
das Industrieviertel Sheikh Najar ein, schneidet
Versorgungswege der Rebellen ab. »Es ist nur
noch eine Frage der Zeit, bis die Stadt eingekesselt ist. Uns droht das gleiche Schicksal wie den
Menschen in Homs«, schreibt ein verzweifelter
Hamid.
Währenddessen nimmt der IS im Umland
Aleppos ein Dorf nach dem anderen ein und
rückt immer näher auf die Stadt zu. Damit
zerschellt auch Hamids Starrsinn, in seiner
Heimatstadt auszuharren. »Ich trage jetzt für
meinen Sohn Verantwortung. Es geht nicht
mehr allein um mich«, schreibt er Ende vergangenen Jahres. »Ich haue ab.« Egal wohin.
Der Autor ist Auslandskorrespondent und lebt in
Manila.
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religion unD meinungsfreiheit
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Foto: Das Standbild aus dem Film »Waiting For The Guards« zeigt eine simulierte Folterszene. © Amnesty International
Cia-folterer mÜssen
angeklagt werDen!
Stundenlang verrenkt stehen, Isolation,
Waterboarding – brutal folterten die
USA bei der Terrorismusbekämpfung
Verdächtige in Geheimgefängnissen.
Bis heute ist keiner der Verantwortlichen
vor Gericht gestellt worden. Ein Skandal
und ein verheerendes Signal an die Welt.
Auch US-amerikanische Folterer
müssen angeklagt werden:
Jetzt Petition unterstützen auf
www.stopfolter.de
stop folter
themen
Die muslimische Minderheit der Rohingya in Myanmar. Fischer im Flüchtlingscamp Dar Paing.
34
amnesty journal | 04-05/2015
»Für uns gibt es
keine Gerechtigkeit«
myanmar
35
Alles verloren. Muslimische Flüchtlinge im Bundesstaat Rakhine.
Buddhisten haben ihre Häuser abgebrannt. Nun leben sie abgeschottet in Flüchtlingslagern unter
menschenunwürdigen Bedingungen. In Myanmar werden die muslimischen Rohingya seit Jahren
systematisch unterdrückt. Das Meer ist ihr einziger Ausweg. Von Martin Franke (Text und Fotos)
Das Boot steht schon bereit. Mehrere Wochen haben die drei
Männer daran gearbeitet, jetzt bringen sie mit Sorgfalt die letzten Bretter an. Wann sie genau aufs Meer fahren werden, wissen
sie noch nicht. Sie sind Fischer von Beruf, wie viele es hier einmal waren. Doch zum Fischen wollen sie dieses Mal nicht aufbrechen – sie suchen stattdessen einen Weg aus dem Flüchtlingscamp, in dem sie seit Juni 2012 leben müssen. Muslimische Rohingya in Myanmars nordwestlichem Bundesstaat Rakhine sind
zu Gefangenen im eigenen Land geworden, Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung und ein willkürliches Katzund Mausspiel von Polizei und Armee verbreitet Angst unter den
Menschen. Nach Angaben der UNO sind die Rohingya eine der
am schlimmsten verfolgten Minderheiten weltweit.
»Was machst Du hier, Bengale? Das hier ist nicht dein Land,
geh’ dahin zurück, wo du herkommst. Hier ist unser Land!«, riefen buddhistische Polizisten. Es war Freitagnacht, erinnert sich
der 30-jährige Mohammed Noorbe, als die ersten Häuser im Bumay Village nahe Sittwe brannten. In den Tagen des Juni 2012
kam es zu mehreren gewaltsamen Zusammenstößen zwischen
Buddhisten und Muslimen – Mohammed verließ wie viele der
etwa 10.000 Einwohner das Stadtviertel Narzi. Seinen jüngeren
Bruder verlor er aus den Augen, als er sich zu den Feldern außer-
36
halb von Sittwe aufmachte, um dort Schutz zu suchen, wo heute
die Flüchtlingslager stehen. Er fand den 25-Jährigen später tot.
Polizisten sollen seinem Bruder auf der Straße die Kehle durchgeschnitten haben, erzählt er. Sie hätten ihn wie ein Tier abgeschlachtet, Kinder und Frauen mussten zusehen, niemand
konnte etwas tun. Lokale Medien hatten berichtet, muslimische
Männer hätten eine buddhistische Frau vergewaltigt und getötet. Daraufhin rächte sich eine buddhistische Gruppe mit dem
Mord an zehn Muslimen. Mehr als 280 Menschen wurden bei
den Unruhen zwischen Juni und Oktober 2012 getötet, mehr als
140.000 wurden obdachlos.
Vergessene Minderheit
Mohammed versteht auch knapp drei Jahre später noch nicht,
wie es dazu kommen konnte: »Wir sind hier geboren, wir lebten
hier, wir gingen hier zur Schule. Es gab vorher nie Probleme.« Er
hatte früher auch buddhistische Freunde, doch der Kontakt ist
in jenen Tagen abgebrochen. Im Zentrum von Sittwe besaß er
bis Mitte 2012 ein Geschäft. Sein Haus in Narzi, gegenüber der
Universität, wurde bis auf die Grundmauern niedergebrannt.
Nachwachsendes Grün hat spätestens jetzt die letzten Spuren
des ehemaligen Stadtteils komplett verwischt. Mohammed ist
amnesty journal | 04-05/2015
Mangelernährung und Krankheiten. Sanitäre Anlage im Flüchtlingscamp Dar Paing.
nichts geblieben. Im Flüchtlingslager hat er nun einen kleinen
Teeladen, mit dem er seine Frau und seine beiden Kinder
irgendwie durchbringt. Würde er zurück in die Stadt fahren,
würde er umgebracht – dessen ist er sich sicher.
Die myanmarischen Behörden betrachten die Rohingya als
illegale Einwanderer aus Bangladesch, die mit den britischen
Kolonialherren im 19. Jahrhundert ins Land gekommen sein sollen. Daher akzeptiert die Regierung in der Hauptstadt Naypyidaw sie nicht als eine der insgesamt 135 offiziell anerkannten
ethnischen Gruppierungen – sie weigert sich sogar, sie Rohingya
zu nennen: »Wir sehen, dass es in unserem Land islamische
Bengalis gibt, und wir sehen, dass es Spannungen und Herausforderungen gibt, insbesondere Gewalt zwischen verschiedenen
Bevölkerungsgruppen«, erklärte Regierungssprecher Ye Htut in
einem Interview mit der »Washington Post«. »Aber ich möchte
klar und deutlich machen, dass die Regierung und die Menschen von Myanmar das Wort Rohingya nicht akzeptieren.«
Die Rohingya leben mindestens seit dem 15. Jahrhundert in
dem Gebiet des heutigen Myanmar, ihre Zahl ist jedoch während der britischen Kolonialzeit von 1824 und 1948 stark gestiegen – sie wurden als Feldarbeiter aus Bangladesch angeworben.
Schätzungen zufolge stellen Rohingya ein Drittel der 3,3 Millionen Einwohner der Provinz Rakhine. In Bangladesch leben weitere 200.000 staatenlose Rohingya.
Eine junge Mutter bricht in Tränen aus. Ihr Neugeborenes
liegt in einem zwei Quadratmeter großen Zelt und schreit. Vor
zwei Wochen hat sie ihren Ehemann verloren. Er hat Blut ge-
myanmar
spuckt, schildert sie. Es regnet durch die Zeltdecke, der Boden
und die Planen sind feucht. Wie sie jetzt ihre zwei Kinder ernähren soll, fragt sie die Frauen um sich herum. Sie bettelt im Camp
um Hilfe, doch die Solidarität stößt an Grenzen. Eine schwangere Frau erwidert: »Wir können Armut nicht mit Armut bekämpfen, wir sind selber arm.« In den Lagern für die Binnenvertriebenen fehlt es an grundlegenden Dingen. Die Menschen haben
nicht nur ihre Häuser verloren, sondern auch ihre Berufe. Ein
festes Einkommen haben nur wenige.
Mangelernährung und Krankheiten
Kinder laufen nackt herum, spielen und waschen sich im Abwasser. Manche tragen Bänder um ihre dünnen Fußgelenke –
sie leiden an Mangelernährung, ihre Bäuche sind aufgebläht,
ihre Haut spannt sich über den Knochen. Es gibt zwei Krankenhäuser, in denen muslimische Ärzte aus Rangun arbeiten, sowie
mehrere Apotheken, die ein notdürftiges Krankenzimmer ein-
»Wir können Armut nicht
mit Armut bekämpfen,
wir sind selber arm.«
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gerichtet haben. Die zwei Ärzte und der Assistenzarzt im Krankenhaus des Flüchtlingslagers Dar Paing sind überfordert, und
die Patienten klagen: »Diese Männer sind zu jung, haben kaum
Erfahrung und arbeiten ständig am Limit. Außerdem nehmen
sie viel zu viel Geld für Behandlungen und Arzneimittel.« Im
Krankenhausalltag müssen die Ärzte oftmals improvisieren.
Zwar gibt es Unterstützung durch die muslimische Gemeinde
von Rangun, doch gibt es nicht genug Medizin, nicht alles
kommt durch die Checkpoints. Der Assistenzarzt erklärt, dass
es an Tabletten für Tuberkulose- und Diabeteskranke mangelt.
Strom bekommen sie von einem Solarpanel, für Operationen
werfen sie einen kleinen Generator an. Nachts schlafen die drei
Ärzte in den Krankenbetten.
Mouna Derouich besucht seit November 2012 regelmäßig die
Flüchtlingscamps. Die französische Aktivistin sammelt Spenden
für Hilfsprojekte. Die Lage habe sich extrem verschlechtert, sagt
Derouich, nachdem es im Januar 2014 erneut zu einem Massaker
in Maungdaw kam – einer Stadt an der Grenze zu Bangladesch
mit mehrheitlich staatenlosen Rohingya. Dabei wurden nach offiziellen Angaben 40 Menschen getötet und Dutzende verletzt.
Die Organisation »Ärzte ohne Grenzen« behandelte damals 20
Rohingya, woraufhin die Regierung in Naypyidaw entschied, der
Organisation die Arbeitserlaubnis zu entziehen. »Man will, dass
Ausländer nicht hierher kommen«, stellt Derouich fest. »Zuerst
attackieren sie die Rohingya, stecken sie in ein Lager und gehen
dann auch noch gegen ausländische Hilfsorganisationen vor. Die
Menschen hier sterben, Tag für Tag.«
Spione im Flüchtlingslager
Die Unruhen brachen just aus, als sich das ehemalige Birma, das
1989 von den Generälen in Myanmar umbenannt wurde, nach
jahrzehntelanger Militärdiktatur wieder der Welt öffnete. Im
März 2011 trat eine zivile Regierung mit dem Vorhaben an, das
Land zu demokratisieren. Bei einem Deutschlandbesuch Anfang
September 2014 traf der myanmarische Präsident Thein Sein
auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, die ihn darauf hinwies,
dass für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes eine friedliche Entwicklung notwendig sei und diese erfordere auch »Toleranz gegenüber den Minderheiten«. Thein Sein sah das anders:
»Wenn wir wirtschaftlichen Erfolg haben, dann ist es mit der
Demokratisierung einfacher.«
Die Investitionen ausländischer Firmen und die Touristenzahlen in Myanmar steigen, doch die ethnischen und religiösen
Konflikte des Landes sind ungelöst und bedrohen den Reformkurs. Sie sind das Erbe der Herrschaft des Militärs, das den ethnischen Minderheiten nicht traute. Der frühere UNO-Sonderbeauftragte für Myanmar, Tomás Ojea Quintana, sagte in einem
Interview, der Bundesstaat Rakhine befinde sich in einer tiefen
Krise. »Was hier passiert, gleicht dem, was während der Militärregierung geschehen ist.« Gemeint sind damit schwere Menschenrechtsverletzungen und ein allgegenwärtiger Sicherheitsapparat.
Mohammed erzählt von einem muslimischen Mitbewohner,
der durch einen Kopfschuss getötet wurde, als er gegen 21 Uhr
aus einem Internetcafé kam, wo er mit seinem Vater in Malaysia
telefoniert hatte. Der Täter soll ein Polizist in Zivil gewesen sein.
Drei Rohingya wurden daraufhin festgenommen und wurden
seitdem nicht mehr gesehen, berichtet Mohammed. Es sind systematische Methoden, mit denen Sicherheitskräfte Angst in den
Camps verbreiten: Polizisten schießen nachts in die Luft, überprüfen Personen, kommen in ihre Hütten, nehmen sie fest.
Doch das »Schlimmste«, erzählt ein junger Mann, der sich James nennt, seien die Spione. Rohingya, die vom Militär als Spione angeworben und mit Pistolen bewaffnet werden, um ihre
eigenen Leute umzubringen. »Es sind vor allem muslimische
Führer, die für die Lagerverwaltung arbeiten. Wenn Du ein Spion
bist, kannst Du viel Geld verdienen.«
Die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi hat ihre
myanmar
Sittwe
Naypyidaw
Rangun
»Wir sind hier geboren, wir leben hier.« Mohammed Noorbe.
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»Wenn sie uns nicht
mehr dulden, werden
wir gehen müssen.
Zur Not mit dem Boot.«
Stimme bislang nicht für die muslimische Minderheit erhoben, obwohl die staatenlosen Rohingya während Aung San
Suu Kyis Hausarrests zu Zeiten der Militärjunta auf die Straße
gingen und für ihre Freilassung demonstrierten. Ende 2015
sollen Parlamentswahlen in Myanmar stattfinden. Die Rohingya erwarten jedoch nicht viel von der Oppositionspolitikerin. Sie respektieren die Lady, doch sind sie auch enttäuscht
von ihr. »Sie wird nicht gewählt werden«, sagt Mohammed.
Und damit liegt er vielleicht richtig, Artikel 59 der Verfassung
von Myanmar verbietet Suu Kyi Präsidentin zu werden, weil
sie zwei Söhne mit britischer Staatsbürgerschaft hat.
Vieles spricht dafür, dass staatliche Institutionen in die
Unruhen im Sommer 2012 involviert waren. Augenzeugen zufolge waren während jener Zeit merkwürdig viele »Fremde« an
Gewalttaten beteiligt. Die ultranationalistische »Rakhine Nationalities Development Party« soll Anti-Rohingya-Seminare abgehalten und die Ausschreitungen in den Monaten vorher organisiert haben. Andere erklären, man habe Aung San Suu Kyi, die
wenige Tage nach Beginn der Unruhen ihre erste Reise nach Europa antrat, um ihre Rede für den Friedensnobelpreis nachzuholen, eine Falle gestellt: Sollte die beliebte Oppositionspolitikerin
die Taten der Buddhisten in dem mehrheitlich buddhistischen
Land verurteilen?
In den Flüchtlingslagern sind diese Fragen von geringer Bedeutung. Auch ist nicht bekannt, dass Aung San Suu Kyis Partei
»Nationale Liga für Demokratie« (NLD) einen Gesetzentwurf zur
Staatsbürgerschaft in der Schublade hat, der den rechtlichen Status der Rohingya verbessern soll, wie es aus internen Kreisen der
NLD heißt. Dafür müsste die Partei jedoch die Wahlen gewinnen,
um ihn erfolgreich ins Parlament einbringen zu können.
Der Bundesstaat Rakhine ist die zweitärmste Region des Landes. In Sittwe wurde nun mit indischen Geldern ein Tiefhafen
gebaut, weiter südlich im Golf von Bengalen beginnen eine Ölund eine Gaspipeline, die Chinas abgelegene Südprovinz Yunnan mittlerweile mit Energie versorgen. Die wirtschaftlichen
Interessen sind riesig, es geht um viel Geld. In der Vergangenheit gab es heftigen Protest gegen die 1.240 Kilometer langen
Pipelines nach China. Doch die Auseinandersetzungen zwischen
Buddhisten und Muslimen drängten diese Probleme in den
Hintergrund. Die Stimmung in Sittwe ist angespannt, die Menschen sind misstrauisch gegenüber Ausländern. Ein Restaurantbesitzer sagt: »Ich hoffe, Du bist keiner dieser Schnüffler. Die
mögen wir hier nicht, denn die erzählen noch mehr Lügen als
die Bengalis.«
kann, wird ihm der Weg freigemacht. Die Marine überwacht die
Küste und kooperiert mit den Menschenhändlern. Eine Flucht
über Land ist unmöglich, da die kilometerweiten Camps durch
das Meer auf der einen Seite und durch Checkpoints auf der anderen Seite abgeriegelt sind. »Sie kontrollieren uns wie Tiere,
wie in einem Gefängnis. Und ob das Boot überhaupt in Malaysia
ankommt, ist ebenfalls ungewiss. Von zehn Booten schaffen es
drei bis vier.«
Diejenigen, die die Reise mit dem Boot wählen, kommen oftmals in Thailand an – auch wenn sie selbst glauben, in Malaysia
gelandet zu sein – und werden von den thailändischen Behörden aufs Meer zurückgeschickt oder an Menschenhändler
weiterverkauft, wie ein Bericht von »Human Rights Watch« dokumentiert. Und was wartet auf sie in Malaysia? Ein vom Staat
geduldetes Leben in der Illegalität, Baustellenjobs ohne Krankenversicherung, ohne sicheres Einkommen. Im muslimischen
Malaysia, das die UNO-Flüchtlingskonventionen nicht unterschrieben hat, lebten laut UNHCR im Dezember 2013 mehr als
95.000 Flüchtlinge aus Myanmar.
Im Stillen hofft Mohammed, es könne alles wieder so wie
früher werden. Dass die Rohingya zurückkehren und ihre Häuser wieder aufbauen können. Doch dann müssten sie auch zurück in die Gesellschaft. »Für uns gibt es keine Gerechtigkeit in
dieser Welt«, sagt Mohammed. Er hätte gern einen roten Ausweis, so wie die Buddhisten. Jedoch glaubt er, dass die Situation
sich in den nächsten Jahren eher noch weiter verschlechtern
wird: »Wir sind hoffnungslos, weil wir unsere Zukunft nicht
selbst verbessern können. Das Land verlassen will ich nicht.
Aber wenn sie uns irgendwann nicht mehr dulden, werde ich
mit meiner Familie gehen müssen. Zur Not mit dem Boot. Allah
wird entscheiden.«
Fluchtziel Malaysia
Der Autor ist freier Journalist.
Die einzige Möglichkeit, die Mohammed hat, um das Lagerleben
zu vermeiden, ist die Flucht nach Malaysia. Wenn er die rund
2.000 US-Dollar für einen sogenannten »Broker« aufbringen
Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen:
www.amnesty.de/app
myanmar
Eine der ärmsten Regionen des Landes. Fischer flicken ihre Netze.
39
Fotos: Jasn, Mark Seton, Judith Doyle, amateur photography by michel, TheGiantVermin, Janice Waltzer,
Susy Morris, dan-morris, SuperFantastic, YW Lim, Kevin Dooley, Amnesty, Shahrokh Dabiri, Gary Minniss,
Dimitris Kalogeropoylos, Neil Howard, Kayla Heineman, Steve Garfield (alle CC BY-NC-ND 2.0)
Digitale Spuren im Netz.
Die Nutzer zahlen mit ihren Daten.
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Gefangen im Netz
Die digitale Massenüberwachung verletzt die Privatsphäre
und gefährdet die Meinungsfreiheit. Im digitalen Zeitalter
wird Amnesty künftig verstärkt darauf achten, dass die
Menschenrechte online wie offline den gleichen Schutz
genießen. Von Steffen Härting, Marco Kühnel und
Sebastian Schweda
Saeed Al-Shehabi, Moosa Abd-Ali Ali und Jaafar Al Hasabi setzten sich in ihrem Heimatland Bahrain für mehr Demokratie ein.
Nachdem sie dort bedroht wurden und Repressionen ausgesetzt
waren, fanden die Aktivisten Asyl in Großbritannien. Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation »Bahrain Watch« kontrollierte der bahrainische Staat aber weiterhin mit Hilfe der
Spionagesoftware »FinFisher« ihre Computer – und damit auch
ihre Privatsphäre. Von ähnlichen Ausspähversuchen berichteten
auch äthiopische Flüchtlinge in Großbritannien und den USA.
In Pakistan, Jemen oder Somalia nutzen die USA Standortdaten von Mobilfunkgeräten aus Überwachungsdatenbanken
der US-amerikanischen und britischen Geheimdienste NSA und
GCHQ, um Drohnenangriffe gegen Zielpersonen mit vermeintlich terroristischen Absichten zu fliegen. Bereits 2013 kritisierte
Amnesty in einem Bericht über Drohnenangriffe in Pakistan,
dass diesen Angriffen wegen der Ungenauigkeit der Daten immer wieder auch völlig Unschuldige zum Opfer fallen.
Es ist unbestritten, dass digitale Technologien erhebliche
Chancen für den Schutz der Menschenrechte eröffnet haben.
Ereignisse wie der »Arabische Frühling« hätten ohne soziale
Netzwerke so nicht stattgefunden. Whistleblower wie Chelsea
Manning oder Edward Snowden hätten nicht diese gigantischen
Informationsmengen enthüllen können. Ihr Beispiel zeigt aber
zugleich, dass diese Technologien Regierungen auch dabei helfen, Menschenrechtsverletzungen zu begehen.
Die Digitalisierung wird oft als neue industrielle Revolution
bezeichnet. Denn sie betrifft nicht nur den heimischen Computer oder dient der Vereinfachung der Verwaltung, sondern bestimmt zunehmend wesentliche Teile unseres Lebens. Bis vor
einigen Jahrzehnten füllten Computer ganze Räume von Unternehmen oder Forschungsinstituten. Mit der technischen Entwicklung wurden sie jedoch kleiner und finden sich heutzutage
in immer mehr Alltagsgegenständen wie Uhren, Mobiltelefonen, Unterhaltungselektronik, Haushaltsgeräten, Fahrzeugen
und sogar Kleidung. Viele dieser Geräte sind mit dem Internet
verbunden, etwa um die heimische Zentralheizung fernzusteuern, aber immer mehr auch, um Nutzungsdaten zentral zu sammeln und zu verarbeiten. Die Geräte werden so zu Sensoren, die
unbemerkt Daten über das Verhalten ihrer Besitzer sammeln.
Auch soziale Netzwerke und E-Mail-Anbieter beobachten
ihre Kunden und erstellen Konsumentenprofile, um zielgerichtete Werbung anzuzeigen. Der Nutzer mag den Eindruck gewinnen, er erhalte im Internet angebotene Dienste kostenlos. In
Wirklichkeit zahlt er jedoch mit seinen Daten. Sie stellen für die
Dienstanbieter eine Art Zwischenwährung dar: Je mehr ein Werbetreibender über den Adressaten weiß, desto zielgerichteter
kann er den Nutzer ansprechen und desto mehr wird er bereit
sein, für das Schalten einer Werbefläche zu bezahlen. In einer
Digitale reChte
kürzlich veröffentlichen Studie wurde die Treffergenauigkeit eines Algorithmus untersucht, der anhand von Facebook-»Likes«,
d.h. von positiven Bewertungen von Produkten, die Persönlichkeit der Nutzer einschätzen sollte. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass bei den untersuchten Nutzern die Einschätzung, die
der Algorithmus traf, im Durchschnitt nach zehn »Likes« bereits
zutreffender war als die eines Kollegen, nach 300 »Likes« entsprach sie der Einschätzung des Lebenspartners.
Doch auch wer keinen Computer nutzt, hinterlässt »digitale
Spuren«: im Finanzamt, beim Telefonanbieter, bei der Post, bei
Banken, bei Supermärkten und in anderen Geschäften, in Videoüberwachungen oder auch im Facebook-Konto von Freunden.
Diese Informationsschnipsel werden ebenfalls zu Profilen verarbeitet: Politische Gesinnung, sexuelle Präferenzen, Lebensstil,
sozialer Umgang, Bildungsgrad, Vernetzung und potenzielle
Straffälligkeit des Individuums werden so vermeintlich berechenbar. Die statistische Natur der Algorithmen ist dabei nicht
die einzige Fehlerquelle. So wurde kürzlich ein Niederländer bei
der Einreise in die USA stundenlang befragt und bekam später
noch einmal Polizeibesuch, weil er sein Visum angeblich von einer jordanischen Internetadresse aus beantragt und gleichzeitig
angegeben hatte, niemals in arabischen Ländern gewesen zu
sein. Dann stellte sich heraus: Die Datenbank der US-Behörde
war veraltet und die vormals jordanische Adresse war inzwischen einem niederländischen Netz zugewiesen worden.
Die Enthüllungen von Edward Snowden belegen, was noch
vor einigen Jahren als Verschwörungstheorie abgetan worden
wäre: dass eine umfassende Speicherung und Auswertung von
Kommunikationsdaten auch durch den Staat bereits seit Jahren
praktiziert wird – unter Ausnutzung und oft auch mit Hilfe großer Internetfirmen. Werden persönliche Daten aber ohne konkreten Zweck »auf Vorrat« erfasst und verknüpft, stellt das einen
schweren Eingriff in das Recht auf Privatsphäre dar, das unter
anderem von Artikel 12 der Allgemeinen Erklärung der Men-
massenÜBerwaChung unD mensChenreChte
Anlasslose Massenüberwachung ist immer ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Privatsphäre. Ihre möglichen
Folgen sind Zensur und Selbstzensur, eine Gefährdung
der Meinungs- und Informationsfreiheit. Außerdem hält
sie Menschen von der Teilnahme an friedlichen Versammlungen ab und verletzt so das Recht auf Versammlungsfreiheit. Einschränkungen des Internetzugangs und Verschlüsselungsverbote stehen im Widerspruch zum Recht
auf Bildung und Teilhabe am wissenschaftlichen Fortschritt.
Daher wird Amnesty sich in den kommenden Jahren mit
den folgenden Themen beschäftigen: Kommunikationsüberwachung, insbesondere Massenüberwachung, die
Verdatung der Gesellschaft (»Big Data«, »Profiling«),
Verschlüsselung und Anonymität, »Internet Governance«
sowie Internetzugang und Netzneutralität.
41
Fotos: Sean MacEntee, Corey Seeman, emdot, Pimkie, Selbe, Amnesty,
julochka, João Paulo Corrêa de Carvalho (alle CC BY-NC-ND 2.0)
schenrechte garantiert wird. Eine Einschränkung des Rechts auf
Privatsphäre muss auf gesetzlicher Grundlage erfolgen und darf
auch nicht willkürlich sein. Schon allein wegen ihrer Anlasslosigkeit ist Massenüberwachung daher inakzeptabel. Darüber
hinaus wirkt sie einschüchternd auf eine Gesellschaft und
schränkt andere Rechte wie z.B. das auf freie Meinungsäußerung ein. Nach einer Umfrage des Schriftstellerverbands »PEN
America« vermeidet ein Drittel der befragten Schriftsteller seit
den Snowden-Enthüllungen bewusst bestimmte Themen in der
elektronischen Kommunikation oder erwägt dies ernsthaft. Einschüchternd wirkt dabei nicht nur die Überwachung selbst, sondern auch ihr rechtlich diffuser Charakter: Die Kriterien für die
Auswahl verdächtiger Kommunikation sind oft nicht bekannt
und eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit nicht vorgesehen.
Der ungerechtfertigte Eingriff in die Privatsphäre durch
staatliche Überwachung erfolgt nach drei Mustern: Das erste ist
die gezielte Überwachung von Personen mit digitalen Mitteln,
wie im Fall der bahrainischen Aktivisten. Umfassender ist die
Überwachung einer großen Anzahl von nicht persönlich identifizierten Menschen, wie zum Beispiel im Fall der Ukraine: Während der Maidan-Proteste im Jahr 2014 erhielten Handys, die in
der Nähe der Kundgebungen geortet wurden, eine SMS, in der es
hieß: »Sehr geehrter Empfänger, Sie wurden als Teilnehmer einer Massenunruhe registriert.« Deutlicher kann man den Ein-
»Sehr geehrter Empfänger,
Sie wurden als Teilnehmer
einer Massenunruhe
registriert.«
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300 »Likes« reichen für ein
Persönlichkeitsprofil.
Einträge bei Facebook.
schüchterungscharakter von Überwachung nicht machen. Die
Snowden-Enthüllungen haben eine noch weitergehende Dimension gezeigt: die massenhafte Überwachung eines erheblichen
Teils der weltweiten Kommunikation ohne konkreten Anlass.
Sich gegen einen so totalen Eingriff in ein Menschenrecht zu
wehren, ist für den Einzelnen nahezu unmöglich. Aber auch
Staaten kommen hier in einer global vernetzten Welt an ihre
Grenzen. Die Verteidigung der Menschenrechte – und insbesondere des Rechts auf Privatsphäre – im digitalen Zeitalter ist daher auch eine Aufgabe der Vereinten Nationen: Der UNO-Menschenrechtsrat stellte in einer Resolution vom 5. Juli 2012 fest,
dass »die gleichen Rechte, die Menschen offline haben, auch
online geschützt werden müssen« und äußerte damit nicht nur
eine banale Wahrheit, sondern wies auch auf eine weit klaffende
Lücke im weltweiten Menschenrechtsschutz hin, die sich im
Zuge der Digitalisierung ergeben hat. In zahlreichen Dokumenten haben sich seitdem unterschiedliche UNO-Menschenrechtsorgane wie der Menschenrechtsrat, der Hochkommissar für
Menschenrechte, der Sonderberichterstatter für Meinungsfreiheit und der Sonderberichterstatter für Menschenrechte im
Kampf gegen Terrorismus mit den menschenrechtlichen Folgen
der Massenüberwachung auseinandergesetzt.
Auch Amnesty hat die Arbeit zu diesem Thema zu einer
zentralen Aufgabe erklärt und fordert, alle bestehenden Programme zur anlasslosen Massenüberwachung unverzüglich zu
beenden. Die Regierungen müssen sicherstellen, dass Überwachungsmaßnahmen internationale Menschenrechtsstandards
einhalten. Das bedeutet auch, dass Überwachung nur zielgerichtet und auf der Grundlage ausreichender Anhaltspunkte für
Rechtsverstöße erfolgen darf. Amnesty wird sich künftig verstärkt dafür einsetzen, dass die Menschenrechte im digitalen
Zeitalter online wie offline den gleichen Schutz genießen.
Die Autoren sind Mitglieder der Themengruppe »Menschenrechte im digitalen Zeitalter« der deutschen Amnesty-Sektion.
amnesty journal | 04-05/2015
Eine Chance für die Freiheit
Die Annäherung zwischen den USA und Kuba weckt
Hoffnungen auf eine Verbesserung der Menschenrechtslage in dem Karibikstaat. Doch nach wie vor werden dort
Oppositionelle drangsaliert und überwacht. Von Gaby Stein
Dissidenten und Menschenrechtsaktivisten, wie z.B. die
Gruppe »Damas de Blanco« (Damen in Weiß) werden nach wie
vor telefonisch bedroht oder körperlich angegriffen. Außerdem
werden ihre Häuser bei sogenannten »Demonstrationen der
Ablehnung« umzingelt, die von der Regierung koordiniert und
von Staatsbediensteten unterstützt werden. Sie dienen dazu,
politische Gegner zu drangsalieren und sie davon abzuhalten,
an Aktivitäten teilzunehmen.
Auch unabhängige Journalisten werden und wurden eingeschüchtert. So erhielt der Leiter der unabhängigen Nachrichtenagentur »Hablemos Press«, Roberto de Jesús Guerra Pérez, im
vergangenen Jahr Telefondrohungen und wurde in Havanna auf
der Straße von einem Unbekannten tätlich angegriffen. Er trug
eine gebrochene Nase und zahlreiche Blutergüsse davon. Vier
Männer auf zwei Motorrädern des Typs, der häufig von Angehörigen der kubanischen Staatssicherheit verwendet wird, beobachteten den Vorfall. Er hörte, wie einer der Männer »ok, das
reicht« sagte, bevor sie wieder wegfuhren. Obwohl sein Angreifer ihn einige Tage später wieder bedrohte, griff die Polizei nicht
ein. Solange die kubanische Regierung nicht die erforderlichen
sozialen und politischen Reformen durchführt und alle Einschränkungen der Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und
Vereinigungsfreiheit aufhebt, wird sich die Menschenrechtssituation nicht entscheidend verbessern.
Unabhängigen Medien und Journalisten muss es möglich
sein, frei und ohne Furcht vor Repressalien und willkürlicher
Verfolgung zu arbeiten. Die Ratifizierung des Internationalen
Pakts über bürgerliche und politische Rechte und des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie die Abschaffung der Todesstrafe wären weitere notwendige Schritte, um den Weg in eine neue Ära der Menschenrechte
zu ebnen.
Digitale reChte
|
kuBa
Foto: Enrique De La Osa / Reuters
Den 17. Dezember 2014 werden die Einwohner von Havanna so
schnell nicht vergessen. Mit Jubel auf den Straßen und Tränen
in den Augen feierten sie nach mehr als 50 Jahren Eiszeit zwischen den beiden Ländern die Ankündigung von US-Präsident
Barack Obama und Präsident Raúl Castro, Gespräche aufzunehmen. Die EU und Kuba hatten sich bereits im Frühjahr 2014
nach mehreren Jahren Gesprächspause darauf geeinigt, wieder
Verhandlungen zu führen. Nun hoffen die Kubanerinnen und
Kubaner auf mehr Freiheit und ein Ende der US-Sanktionen.
Einiges deutet darauf hin, dass diese Hoffnungen nicht vergebens sind. Anfang Januar 2015 wurden Dutzende von politischen Gefangenen freigelassen, darunter auch die fünf von Amnesty International betreuten gewaltlosen politischen Gefangenen Iván Fernández Depestre, Emilio Planas Robert, die Zwillinge Vianco und Django Vargas Martín und ihr Bruder Alexeis
Vargas Martín. Die Freilassung der drei Brüder Vargas Martín
war allerdings an Bedingungen geknüpft: Sie müssen in regelmäßigen Abständen bei den Behörden erscheinen und dürfen
ihre Heimatprovinz nicht verlassen.
Damit besteht nach vielen Jahren wieder eine Chance für
Menschenrechte und Freiheit in dem Inselstaat, eine Entwicklung, die durch eine Aufhebung des US-Embargos noch weiter
unterstützt werden könnte. Doch zeigt sich nach wie vor auch
das andere Gesicht des Landes. Einigen der gerade Entlassenen
wurde angedroht, dass sie erneut inhaftiert werden könnten,
sollten sie sich künftig nicht konform verhalten. Nur zwei Wochen nach der historischen Wiederannäherung wurden mehrere kubanische Regierungsgegner in Kurzzeithaft genommen
oder unter Hausarrest gestellt. Sie wollten an einer Aktion auf
Die Autorin ist Sprecherin der Kuba-Ländergruppe der deutschen
Amnesty-Sektion.
dem zentralen Revolutionsplatz teilnehmen, zu der die Performancekünstlerin Tania Bruguera aufgerufen hatte. Dort sollten sie auf einer Tribüne
ihre Wünsche für die Zukunft des Landes
äußern. In kubanischen Staatsmedien war
die von Bruguera geplante Aktion als »politische Provokation« bezeichnet worden.
Außerdem wurde Pressemeldungen zufolge die Bloggerin Yoani Sánchez von Zivilpolizisten daran gehindert, ihre Wohnung
zu verlassen. Sie hatte im vergangenen Jahr
die Internet-Zeitung »14 y medio« gegründet, die zwei- bis dreimal wöchentlich erscheint und unter anderem über politische
Themen berichtet. Die erste Ausgabe wurde
jedoch schon nach wenigen Minuten gehackt: Wer von Kuba aus die Internetseite
von »14 y medio« aufrief, wurde automatisch auf eine Seite umgeleitet, auf der sich
Anhänger der Regierung in Schimpftiraden
auf Sánchez ergingen. »Was verboten ist,
macht bekanntlich erst recht scharf«, twitterte Yoani Sánchez umgehend.
Kunstaktion als »politische Provokation«. Performancekünstlerin Tania Bruguera.
43
Zweifelhafte
Untersuchung
Während die mexikanischen Behörden den Fall der 43
verschwundenen Studenten abschließen wollen, fragen
sich deren Angehörige, ob das Militär in das Verbrechen
verwickelt ist. Nun soll ein internationales Expertenteam
für Aufklärung sorgen. Von Wolf-Dieter Vogel
Sie sind immer dabei: Bernardo Flores, Abel García, Mauricio
Ortega und all die anderen, die vor wenigen Monaten noch hier
an der pädagogischen Fachschule Ayotzinapa studiert haben.
Denn für jeden der insgesamt 43 jungen Männer, die seit einem
halben Jahr verschwunden sind, haben die Eltern und Geschwister auf dem Internatsgelände einen Stuhl aufgestellt. Fotos und
Namensschilder machen deutlich, dass die aneinandergereihten Stühle für ihre Angehörigen reserviert sind. »Wir wissen,
dass sie noch leben«, sagt Metoria Carrillo, die Mutter des 18jährigen Luis Ángel Abarca Carillo.
Längst ist das Internat im südmexikanischen Bundesstaat
Guerrero zum sozialen Zentrum geworden. Hier treffen sich
alle, die endlich Klarheit wollen: Menschenrechtsaktivisten,
Linke, Angehörige. Sie wollen wissen, was mit den Studenten
passiert ist, die am 26. September 2014 in der Stadt Iguala verschwunden sind. Deshalb organisieren sie Demonstrationen,
Pressekonferenzen und Diskussionen. An der Wand hängt ein
Transparent, das ihre wichtigste Forderung zum Ausdruck
bringt: »Lebend habt ihr sie uns genommen, lebend wollen wir
»Nach offiziellen Angaben
gelten 23.000 Menschen
als vermisst, kaum einer
der Fälle wird aufgeklärt.«
44
sie zurück!« Aber woher nehmen sie die Hoffnung, die Männer
lebend wiederzusehen?
Für die Strafverfolger steht außer Zweifel, was in jener
Herbstnacht passiert ist: Etwa hundert der als rebellisch bekannten Studenten waren damals in Iguala von bewaffneten lokalen Polizisten angegriffen worden. Die Anweisung hatte Bürgermeister José Luis Abarca gegeben. Sechs Menschen starben,
43 wurden festgenommen und Killern der Mafiaorganisation
»Guerreros Unidos« (Vereinigte Krieger) übergeben. Die Kriminellen sollen die Studenten in der Nacht auf einer Müllkippe der
nahe gelegenen Stadt Cocula erschossen und verbrannt haben.
Die Asche hätten die Täter in einen Fluss geworfen, erklärte Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam. So hatten es drei festgenommene Mitglieder der Mafiaorganisation ausgesagt, die allerdings nach ihren Vernehmungen Folterspuren aufwiesen. Auch
der Bandenchef Felipe Rodríguez Salgado bestätigte die Darstellung. »El Cepillo«, wie der Mann genannt wird, hatte im Januar
eingeräumt, mindestens 15 Studenten ermordet zu haben.
Oracio Lagunas kann diese Darstellung der Tatnacht nicht
nachvollziehen. Der Journalist ist in einem Dorf oberhalb von
Cocula aufgewachsen. Wie kann es sein, dass niemand Flammen
und Rauch gesehen hat, fragt er sich und zeigt auf das ausladende Tal, in dem die Müllhalde liegt. »Hier von den Bergen aus
sieht man das kleinste Feuer«, sagt er. Skeptisch ist auch der
Rechtsanwalt Alejandro Ramos Gallegos, der einige der Angehörigen vertritt. Die Version der Staatsanwaltschaft basiere lediglich auf Aussagen von Tatverdächtigen. »Es gab keine vernünftige ballistische Untersuchung der Waffen und keine gute Spurensicherung«, kritisiert er.
Der Müllplatz war nach der ersten Untersuchung drei Wochen lang nicht abgesperrt, also für jeden zugänglich. Dadurch
sei der mutmaßliche Tatort von Politikern, Journalisten und anderen Personen kontaminiert worden, erklärte die Gruppe Argentinischer Anthropologischer Forensiker (EAAF). Die unabhängigen Wissenschaftler waren auf Bitten der Angehörigen
zugezogen worden, weil diese den staatlichen Ermittlern kein
amnesty journal | 04-05/2015
Fotos: Kristin Gebhardt
»Ich warte hier, bis er zurückkommt.« Protestaktion von Angehörigen der verschwundenen Studenten aus Iguala.
Vertrauen schenken. Bis jetzt habe die EAAF »noch keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass sich auf der Müllhalde von
Cocula menschliche Überreste befanden, die den Studenten zugeordnet werden konnten«, resümierten die Forensiker Anfang
Februar in einem ersten Zwischenbericht.
Das sei realitätsfremd, meinten Mexikos Strafverfolger. Bereits zwei Wochen vorher wollte Generalstaatsanwalt Karam den
Fall für abgeschlossen erklären. Doch für die Angehörigen und
andere Aktivisten ist bis heute noch nichts geklärt, stellte der
Student Omar García klar, der den Angriff überlebte. Zwar säßen nun knapp hundert mutmaßliche Täter im Gefängnis, unter ihnen Bürgermeister Abarca sowie dessen Frau Maria de los
Angeles Pineda, die als eine Chefin der »Guerreros Unidos« gilt.
»Aber viele Beteiligte sind noch immer auf freiem Fuß«, kritisiert García. Vor allem wisse man immer noch nicht, welche
Rolle das Militär in jener Nacht gespielt habe.
Schon im Dezember 2014 hatte das Nachrichtenmagazin
»Proceso« aufgedeckt, dass Bundespolizisten und die Armee
über ein gemeinsames Funksystem genau über das Vorgehen
der lokalen Beamten informiert waren. Fotos und Berichte bestätigen zudem, dass Soldaten des in Iguala stationierten Bataillons 27 nicht eingriffen, als die Schüsse fielen. Wollten sie die
Söldner der Mafia schützen? Ein General im Ruhestand hat ausgesagt, dass einige seiner ehemaligen Untergebenen Verbindungen zu den »Guerreros Unidos« hätten. Dennoch ermittelt die
Staatsanwaltschaft bis heute nicht gegen die Streitkräfte. Und
die Militärs verweigern den Angehörigen der Opfer den Zutritt
zur Kaserne. Das hat die Skepsis noch gesteigert. Im Januar ver-
mexiko
suchten Aktivisten, mit Gewalt auf das Militärgelände vorzudringen. Das Misstrauen ist nicht verwunderlich. In Guerrero
sind während des »Schmutzigen Kriegs« in den siebziger Jahren
viele Oppositionelle in den Händen des Militärs verschwunden.
Noch immer häufen sich Berichte, nach denen Soldaten für die
Taten verantwortlich sind.
Der Verdacht der Beteiligung von Armeeangehörigen mache
es umso wichtiger, in alle Richtungen gründlich zu ermitteln,
erklärte die Amnesty-Expertin für die Region Erika Guevara Rosas. »Diese Tragödie hat die verzerrte Wahrnehmung korrigiert,
dass sich die Menschenrechtslage in Mexiko seit der Amtsübernahme durch Präsident Peña Nieto verbessert habe«, sagte sie.
Die Zahlen geben ihr Recht: Durchschnittlich 13 Personen verschwinden jeden Tag, seit der Staatschef im Dezember 2012 sein
Amt übernommen hat. Unter seinem Vorgänger waren es halb
so viele. Nach offiziellen Angaben gelten etwa 23.000 Menschen
als vermisst, kaum einer der Fälle wird aufgeklärt.
Auch die Angehörigen der 43 Studenten rechnen nicht damit,
dass die mexikanischen Behörden die Wahrheit ans Licht bringen. Nun soll ein fünfköpfiges internationales Expertenteam, das
von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission ernannt wurde, für Aufklärung sorgen. Für Menschen wie Metoria
Carrillo ist das eine große Hoffnung. Obwohl ihr auch die Experten nicht versprechen werden, dass ihr Sohn Luis Ángel eines Tages auf dem Stuhl sitzt, den sie für ihn aufgestellt hat. Trotzdem
bleibt die Mutter dabei: »Ich warte hier, bis er zurückkommt.«
Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin.
45
Falsches Raster
Beklemmend. Eine Personenkontrolle in Hamburg.
Kontrollieren Polizisten Personen etwa wegen ihrer
Hautfarbe, handelt es sich um ein unzulässiges Vorgehen,
das »Racial Profiling« genannt wird. Von Anja Feth
Gehen deutsche Polizisten und Polizistinnen bei ihrer Arbeit
rassistisch vor? Ja, sagen antirassistische Initiativen wie die
»Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt« oder die »Initiative Schwarze Menschen in Deutschland«. Keinesfalls, heißt
es von Seiten der Polizei oder der Politik. Auch Amnesty International beteiligt sich an der Debatte über das sogenannte »Racial
Profiling«. Der Begriff bezeichnet rassistische Diskriminierung
im Rahmen der Polizeiarbeit. Wohl am häufigsten kommt es zu
»Racial Profiling«, wenn Personen im öffentlichen Raum wegen
ihrer Hautfarbe kontrolliert werden. Aber auch im Zusammenhang mit der terroristischen Mordserie des NSU tauchte das
Phänomen auf: Polizei und Staatsanwaltschaften hatten die
mutmaßlichen Täterinnen und Täter kategorisch im Familienund Bekanntenkreis der Opfer vermutet bzw. die Taten kriminellen Netzwerken aus Osteuropa und der Türkei zugeordnet.
Entsprechend einseitig fielen die jahrelangen Ermittlungen aus.
Wenn bei der Ausübung polizeilicher Kontroll-, Überwachungs- und Ermittlungsmaßnahmen an die vermeintliche
»Rasse«, »Hautfarbe«, »ethnische Herkunft«, Sprache, Religion
oder Nationalität von Personen angeknüpft wird, ohne dass es
dafür einen konkreten, objektiven Rechtfertigungsgrund gibt,
46
spricht die »Europäische Kommission gegen Rassismus und
Intoleranz« von »Racial Profiling«. Das Phänomen kann bei
Durchsuchungen, Razzien oder bei der Auswertung elektronischer Daten auftreten, besonders häufig ist es jedoch bei Fahrzeug- und Personenkontrollen.
Eine solche Personenkontrolle brachte ein Betroffener 2012
bis vor das Oberverwaltungsgericht Koblenz. In der Verhandlung versuchte ein Bundespolizist zu erklären, warum er in einem Regionalzug ausgerechnet einen dunkelhäutigen Fahrgast
angesprochen hatte. Dafür konnte er keinen konkreten Verdacht
angeben. Im Gegenteil: Der Polizist berief sich unter anderem
auf »ein nicht beschreibbares Gefühl«, das er manchmal habe.
Auch wenn der Polizist, anders als noch in der ersten Instanz,
nicht mehr mit der »Hautfarbe« des Mannes argumentierte:
Das Gericht zeigte sich überzeugt, dass eben jene den Ausschlag
für die Kontrolle gegeben hatte und stellte einen Verstoß gegen
Artikel 3 des Grundgesetzes (Diskriminierungsverbot) fest. Ähnliche Klagen sind derzeit auch in Köln, München und Stuttgart
anhängig.
Statistiken zu »Racial Profiling« in Deutschland gibt es nicht.
Unklar ist, wie häufig rassistische Diskriminierung bei der täglichen Polizeiarbeit vorkommt. Entsprechende Hinweise gibt es
viele. Jeder Vorfall ist ein ernst zu nehmender Verstoß gegen die
Menschenwürde. Die Antirassismuskonvention der Vereinten
Nationen und die Europäische Menschenrechtskonvention ver-
amnesty journal | 04-05/2015
Foto: Maria Feck / laif
»Das Rassismus-Problem muss auf institutioneller
Ebene anerkannt werden. Von ›Racial Profiling‹
Betroffene sollten – nach Befinden und Möglichkeiten –
rechtlichen Rat einholen und juristisch gegen
die Praxis vorgehen.« Tahir Della, Vorstand der
»Initiative Schwarze Menschen in Deutschland«
bieten rassistische Diskriminierung. Und auch das Grundgesetz
ist in dieser Frage eindeutig.
Strukturell begünstigt werden diskriminierende Kontrollen
allerdings durch besondere Befugnisse der Polizei, Personen
»verdachtsunabhängig« zu befragen. Entsprechende Normen
sind in den meisten Landespolizeigesetzen, aber auch im Bundespolizeigesetz verankert. Besonders intensiv diskutiert wurde zuletzt der erste Absatz aus Paragraf 22 im Bundespolizeigesetz.
Danach darf die Bundespolizei »jede Person« anhalten und befragen, die sich an Bahnhöfen, Flughäfen sowie in Zügen aufhält,
die erfahrungsgemäß zur unerlaubten Einreise genutzt werden.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte stellt dazu fest,
dass diese Norm nur auf den ersten Blick diskriminierungsfrei
sei. Da sie auf die Kontrolle von »Nicht-Deutschen« ziele, richte
sie sich faktisch gegen jene, die gängigen Stereotypen zufolge
»nicht-deutsch« aussehen.
Das Phänomen »Racial Profiling« ernst zu nehmen, heißt
nicht, der Polizei plumpen Rassismus zu unterstellen. Den mag
es hier und da auch geben. »Racial Profiling« basiert hingegen
meist auf unbewussten rassistischen Stereotypen und Vorurteilen. Die sind in der deutschen Gesellschaft nachweislich fest
verankert und folglich auch bei Polizistinnen und Polizisten
vorhanden.
Zudem gilt: Damit eine rassistische Diskriminierung vorliegt, ist es unerheblich, welche Handlungsabsicht besteht. Ausschlaggebend ist allein die Wirkung: die ungleiche Behandlung
von Menschen entsprechend rassistischer Kriterien.
Diejenigen, die diskriminiert werden, verzichten häufig darauf, sich bei den Behörden zu beschweren oder gar rechtliche
Schritte einzuleiten. Das geschieht nicht aus Gleichgültigkeit,
sondern weil sie den finanziellen und zeitlichen Aufwand ebenso scheuen wie eine weitere psychische Belastung. Zumal ihre
Erfolgsaussichten gering sind. Der Polizei eine rassistische Diskriminierung nachzuweisen, ist in der Regel schwer. Auch haben
es die Verwaltungsgerichte bislang vermieden, entsprechende
Vorwürfe explizit zu erörtern.
Die Autorin ist Mitglied der Themengruppe »Polizei & Menschenrechte«
der deutschen Amnesty-Sektion.
raCial profiling
spraChe unD rassismus
Wie ist es möglich, rassismussensibel über Rassismus zu
sprechen? Menschen, die rassistische Diskriminierung
erfahren, schlagen verschiedene Bezeichnungen vor, um
sichtbar zu machen, dass Kategorien wie »Rasse« oder
»Hautfarbe« nicht auf biologischen Gegebenheiten, sondern vielmehr auf sozialen Zuschreibungen beruhen. In
vielen Texten über Rassismus wird das Adjektiv schwarz
groß geschrieben – als Selbstbezeichnung für Schwarze
Menschen; das Adjektiv weiß wird kursiv gesetzt – um auf
die von weißen Menschen oft nicht wahrgenommenen
sozialen und politischen Vorteile hinzuweisen. Der Anglizismus »People« oder »Person of Color« drückt die gemeinsame rassistische Diskriminierungserfahrung aus und
kann wegen der negativen Konnotation von »farbig« nicht
ins Deutsche übersetzt werden.
Ziele fÜr Die politisChe agenDa
In einem Positionspapier fordert Amnesty International die
Bundes- und Landes regierungen auf: a öffentlich anzuerkennen, dass »Racial Profiling« in
Deutschland existiert und klarzustellen, dass Diskriminierungen dieser Art niemals gerechtfertigt sind. a quantitative und qualitative Daten zum Ausmaß von
»Racial Profiling« erheben und auswerten zu lassen. a Paragraf 22 Absatz 1a des Bundespolizeigesetzes zu
streichen und ähnliche Bestimmungen auf der Länderebene grund- und menschenrechtlich zu prüfen.
Sie sind gegebenenfalls aufzuheben. a unabhängige Beschwerdestellen für Fälle schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei
einzurichten. Diese müssen leicht zugänglich sein,
zum Beispiel über ein Internetformular. a die interkulturelle Aus- und Fortbildung von Polizisten
zu verbessern. Zusätzlich sind verpflichtende Antirassismus-Trainings einzuführen. 47
Ein Opfer unter vielen
Warum musste Michael Brown sterben?
Michael Brown, der begonnen hatte, Musik zu studieren, war
mit einem Freund unterwegs, als ein weißer Polizist sie anhielt.
Wenig später war Michael Brown tot, von dem Polizisten erschossen. Sein Körper blieb noch vier Stunden am Tatort liegen.
Nach der Autopsie, welche seine Familie veranlasste, war der
junge Mann von sechs Kugeln getroffen worden.
Hätte es jeden anderen jungen Schwarzen treffen können?
Der Tod von Michael Brown wirft ein Licht auf die rassistische Diskriminierung von Schwarzen Personen in den USA.
Dazu gehören auch ungerechtfertigte Verhaftungen und Durchsuchungen, schlechte Behandlung bis hin zu exzessivem und
manchmal tödlichem Gewalteinsatz. Nur wenige Tage nach Michael Browns Tod haben Polizisten in St. Louis den 25-jährigen
Afroamerikaner Kajieme Powell erschossen. Die Polizei behauptet, er sei mit einem Messer bewaffnet gewesen. Doch auf Videoaufnahmen ist dies nicht zu erkennen. Am 11. August erschossen
Polizisten in Los Angeles den 25-jährigen Afroamerikaner Ezell
Ford, obwohl dieser unbewaffnet war und an einer psychischen
Krankheit litt. Bereits am 17. Juli erstickte der asthmakranke
Afroamerikaner Eric Garner im Verlaufe seiner Festnahme. Die
Polizei hatte ihn angehalten, weil er illegal Zigaretten verkauft
hatte.
Wie viele Menschen werden in den USA durch Polizeieinsätze
verletzt oder getötet?
Das wissen wir leider nicht. Das Justizministerium scheint
unfähig zu sein, die nötigen Daten für die gesamten USA statistisch zu erheben. Doch ohne solche Zahlen ist es auch unmöglich, Strategien zu entwickeln, um dem Problem der Polizeigewalt beizukommen. Barack Obama hatte sich im Wahlkampf
den Kampf gegen Diskriminierung auf die Fahne geschrieben.
Hat sich die Situation seit seinem Amtsantritt verbessert?
Die Diskriminierung in den USA beschäftigt Amnesty sehr.
Die Obama-Regierung könnte und müsste viel mehr tun. Als
die UNO-Antirassismus-Ausschuss zur Beendigung von Rassendiskriminierung die USA unter die Lupe nahm, präsentierte
auch Amnesty Recherchen: Wir dokumentierten viele Fälle von
Diskriminierung – auch im Justizapparat. Ethnische Minderheiten werden in den USA überproportional häufig festgenommen
und ungerechtfertigt durchsucht, öfter als Weiße werden sie
Opfer physischer Gewalt. Es konnten in einigen Polizeistationen der USA systematische Übergriffe auf ethnische Minderheiten nachgewiesen werden. Zwar haben einige größere Polizeibehörden ihre Politik in den vergangenen Jahren verbessert
– einige erst auf Druck des Justizministeriums –, andere haben
aber noch immer nicht genügend Mittel, um rassistische Muster zu verfolgen oder Polizisten zu überprüfen, die wiederholt
angezeigt werden.
48
Was kann die Regierung dagegen tun?
Das Gesetz zur Beendigung von »Profiling« aufgrund der
Hautfarbe, der »End Racial Profiling Act«, müsste endlich vom
Kongress angenommen und von Präsident Obama unterschrieben werden. Dieses Gesetz wurde 2001 eingereicht, aber es wurde noch nicht angenommen. Alle gesetzgebenden Organe wären
danach verpflichtet, die Praxis des »Profilings« aufgrund von
ethnischen Kriterien oder aufgrund der Hautfarbe zu verbieten.
Nach dem Tod von Michael Brown diskutierte man in den USA,
wann es Polizisten erlaubt ist, jemanden zu erschießen.
Das Gesetz von Missouri über die Anwendung tödlicher Gewalt ist zum Teil verfassungswidrig und nicht mit den internationalen Normen vereinbar. Es geht über die Doktrin hinaus,
dass tödliche Gewalt nur angewendet werden darf, wenn dies
zum »Schutz von Leben notwendig« ist. Amnesty empfiehlt, in
allen Bundesstaaten die Gesetze zu überprüfen und sie mit
internationalen Vereinbarungen in Einklang zu bringen.
Amnesty war in Ferguson vor Ort, als es dort zu Demonstrationen kam. Was konnte Amnesty dort beobachten?
Wie die Polizei auf die Proteste reagierte, hat bei uns große
Besorgnis ausgelöst – vor allem mit Blick auf die Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Die Ordnungshüter verhängten
Ausgangssperren und setzten Tränengas und Gummigeschosse
gegen Demonstrierende ein. Die Protestierenden mussten ihre
Versammlungsplätze verlassen und die Demonstrationsorte
wurden eingeschränkt – mit Androhung von Gefängnis bei Zuwiderhandlung. Journalisten und Menschenrechtsbeobachter
wurden eingeschüchtert und daran gehindert, zu den Demonstrierenden zu gelangen.
Wird die Untersuchung der Todesumstände von Michael
Brown zu Änderungen führen?
Ja, das ist möglich. Doch die Menschenrechtsorganisationen
und Bürgerrechtsgruppen wie auch die Mehrheit der Bevölkerung müssen den Druck aufrechterhalten, damit die Regierung
etwas unternimmt. Nach dem Tod von Michael Brown hat die
US-Regierung angekündigt, die Polizeipraktiken zu untersuchen. Nun ist es wichtig, dass die Regierung Rechenschaft ablegt
und und dass es zu grundsätzlichen Reformen kommt.
Interview: Nadia Boehlen
interview
Zeke johnson
Foto: Amnesty
Der Tod des 18-jährigen Afroamerikaners Michael Brown
hat Proteste ausgelöst – nicht nur in Ferguson. Der Fall
wirft ein Schlaglicht darauf, wie die US-Polizei systematisch
Minderheiten diskriminiert. Ein Gespräch mit Zeke Johnson
von der US-amerikanischen Amnesty-Sektion.
Zeke Johnson leitet die Kampagne
»Sicherheit und Menschenrechte«
von Amnesty International in den
USA. Dabei beschäftigt er sich vor
allem mit willkürlichen Inhaftierungen, Verhörmethoden,
tödlicher Gewaltanwendung und Drohnenangriffen. Er
arbeitete unter anderem als Prozessbeobachter der USMilitärkommissionen in Guantánamo Bay auf Kuba.
amnesty journal | 04-05/2015
Illustration: André Gottschalk
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kultur
Ausgezeichnet. Die Amnesty-Filmpreis-Jury mit dem diesjährigen Gewinner: Markus Beeko von Amnesty, die Schauspielerin Sibel Kekilli, Preisträger Michael 50
amnesty journal | 04-05/2015
Extrem
scharf
geschossene
Bilder
Der Film »Tell Spring Not to Come This Year«
hat bei der diesjährigen Berlinale den
Amnesty-Preis gewonnen. Der Dokumentarfilm
über Afghanistans Armee setzte sich
gegen starke Konkurrenten durch.
Von Jürgen Kiontke
McEvoy und Regisseur Marcus Vetter.
Berlinale
Foto: Henning Schacht / Amnesty
51
Foto: Michael McEvoy, Saeed Taji Farouky
Allein. Afghanischer Soldat in dem Dokumentarfilm »Tell Spring Not to Come This Year«.
I
ch glaube an Gott – weil ich ihn fürchte!« Der junge afghanische Soldat macht sich über seine Arbeit keine Illusionen: Ein 24-Stunden-Einsatz werde das hier, haben seine
Vorgesetzten gesagt. Eine Texteinblendung korrigiert: Es
werden 45 Tage. Wie sich die afghanische Armee bei der Sicherung ihres Landes schlägt, ist Thema des Dokumentarfilms »Tell
Spring Not to Come This Year« (GB 2015). Und die Amnesty-Jury,
bestehend aus dem Regisseur Marcus Vetter, der Schauspielerin
Sibel Kekilli und dem Leiter der Abteilung Kommunikation und
Kampagnen von Amnesty International, Markus Beeko, hat diesen Film für preiswürdig befunden.
Die Regisseure Saeed Taji Farouky und Michael McEvoy begleiteten die Soldaten bei Übungen und Einsätzen in der Provinz
Helmand. Jetzt, wo die internationalen Truppen abgezogen sind,
kämpfen sie gegen die Taliban. Dazwischen schildern die Männer ihre Vorstellungen von Gegenwart und Zukunft, die Arbeitslosigkeit hat sie in die Armee getrieben.
Die Kamera ist dabei, wenn sich die Soldaten in den Unterkünften langweilen, aber auch in den Gefechten. Und zwar so
nah dran, dass man sich wundert, wie die Filmemacher ihre
Arbeit überlebt haben. Den Soldaten gelingt das nicht immer.
Der Film enthält sehr explizite Szenen – Menschen werden vor
laufender Kamera angeschossen.
Auch sonst gilt: Der Alltag ist irrwitzig. So durchforsten die
Einsatzkräfte riesige Opiumplantagen auf der Suche nach Aktivisten, die jede Nacht auf die Kaserne schießen – als wäre es ein
Jungenstreich. Was werden sie hier ausrichten? Das gefährliche
Leben bringt durchaus realistische Einschätzungen hervor. »Wir
haben keine Angst, sondern unseren Sold nicht bekommen«,
sagen sie. Und das seit neun Monaten. Der Frühling soll nicht
kommen, heißt es im Film. Denn sonst überdecken die Blumen,
allen voran die Mohnblumen für die Opiumproduktion, das
Leid. Spätestens dieser Kommentar macht das Werk wohl zu
einem dezidierten Antikriegsfilm.
52
So beeindruckend er ist – es bleibt ein Film über eine Armee.
Die 16 Filme, die für den Amnesty-Filmpreis auf der Berlinale
nominiert waren, boten da durchaus Alternativen. »Mina Walking« zum Beispiel ist ebenfalls ein Film über Afghanistan, aber
aus der Perspektive eines zwölfjährigen Mädchens erzählt. Mina
pflegt zunächst den dementen Großvater, kämpft mit dem ansässigen Drogendealer, der die Abhängigkeit ihres Vaters ausnutzt. Später dann will der sie an einen Bekannten verhökern.
Mina kauft sich eine Burka und heuert in einer Bettelkompanie
an. Ein bedrückendes und dennoch hoffnungsvolles Porträt.
Auch »Iraqi Odyssey« (CH/IRQ/ARE 2014) war ein starker
Beitrag: Regisseur Samir erzählt die vergangenen siebzig Jahre
irakischer Politik als Familienporträt. Und »Ode to My Father«
(KOR 2014) von JK Youn leistet mit demselben Ansatz, aber als
Spielfilm, Ähnliches, indem er die unbekannte Geschichte koreanischer Arbeiter und Krankenschwestern in deutschen Kohlegruben und Hospitälern schildert.
Im Wettbewerb dominierte der Film »Taxi« von Jafar Panahi,
der auch den Goldenen Bären gewann. Es ist bereits der dritte
Film des iranischen Regisseurs, der auf das Urteil des Berufungsgerichts wartet, nachdem er zu sechs Jahren Haft und 20
Jahren Berufsverbot verurteilt wurde. Das Land verlassen durfte
er nicht, seinem Film gelang dies. Er gibt Panahis augenblickliche Situation wieder: Weil er als Regisseur nicht arbeiten darf,
fährt er Taxi in Teheran – das Filmemachen erledigt er quasi
nebenbei. Die Kamera ist vorne im Wagen fixiert und filmt die
Fahrgäste. So entsteht ein wunderbares Werk über den iranischen Alltag und das Kino, spätestens wenn die zehnjährige
Nichte des Regisseurs ins Auto steigt: Denn sie dreht gerade im
Unterricht einen Film und kann nun kompetent über die Gesetze der iranischen Regie referieren …
Die Amnesty-Jury hat »Tell Spring Not to Come This Year«
vorgezogen. Sie war der Ansicht, dass der dokumentarische
Blick intensiver war – von Regisseuren, die im Gefecht stehen.
amnesty journal | 04-05/2015
»Der hat uns geflasht!«
Jury-Mitglied Marcus Vetter musste nicht lange
überlegen, welcher Berlinale-Film den Amnesty-Preis
bekommt. Für Dokumentarfilme wie »Tell Spring Not
to Come This Year« wünscht er sich millionenschwere
Förderungen.
Die Amnesty-Jury hat sich dieses Jahr entschieden, ihren Filmpreis einem Kriegsfilm zu geben …
»Tell Spring Not to Come This Year« zeigt, wie sinnlos dieser
Krieg ist – und was von dem jahrelangen militärischen Engagement des Westens in Afghanistan übrig geblieben ist. Die jungen Männer in der afghanischen Armee werden alleingelassen
und versuchen, irgendwie ihr Land zu verteidigen, es in eine
irgendwie geartete Demokratie zu führen. Und das haben wir
ihnen auch abgenommen. Dies ist für uns ein mutiger Dokumentarfilm, für den die Filmemacher sehr viel riskiert haben,
um einen Einblick in eine Welt zu bekommen, den man sonst
nicht hat. Und das auf einem unglaublich hohen Niveau. Uns
hat er einfach geflasht!
tarfilmer arbeiten ja oft jahrelang für ihre Sache. Leider finden
diese Filme oft ihr Publikum nicht.
Ist denn der Kinofilm noch das zeitgemäße Format für schwierige Themen?
Ja, absolut! Dieses 90- oder 100-Minuten-Format ist genau
richtig. Man muss nur dafür arbeiten. Ich würde mir wünschen,
dass es Hedgefonds gäbe für Dokumentarfilme, dass man denen
Millionenetats zur Verfügung stellen würde – sodass sie in die
Kinos kommen und dann auch wahrgenommen werden. Denn
sie haben es verdient. Der Kinodokumentarfilm ist heute auf
einem Niveau angekommen, das nichts mehr mit TV-Dokus zu
tun hat. Man müsste nur wegkommen vom Arthouse-Kino und
hinein in den Mainstream. Sonst schauen diese Filme immer
nur die Leute, die sowieso schon überzeugt sind, dass sich was
ändern muss.
Haben Sie eigentlich einen Lieblingsschauspieler oder -schauspielerin?
Ja. Sibel Kekilli. Ich fand sie in »Gegen die Wand« großartig
und mein Lieblingsfilm ist »Die Fremde«.
Foto: Henning Schacht / Amnesty
Fragen: Jürgen Kiontke
Tun die Afghanen nicht, was im Krieg immer getan wird?
Schießen und beschossen werden?
Ja, vordergründig schon. Aber das ist ein Dokumentarfilm,
der im wahrsten Sinne des Wortes ein Antikriegsfilm ist, weil er
zeigt, wie verrückt die Situation ist. Dieses Land ist schlicht zerstört. Und diese jungen Menschen versuchen nun, es wieder
aufzubauen, sodass es für ihre Familien und in der Zukunft lebenswert ist. Ich glaube, dass dies genauso ein Amnesty-Thema
ist wie die Meinungsfreiheit in Jafar Panahis »Taxi«, der mir
auch gut gefallen hat. Aber für mich als Dokumentarfilmer fiel
da die Entscheidung eben leicht. Diese Leute haben sehr viel
gewagt und es ist auch nicht einfach, sich in solch eine Armee
»embedden« zu lassen.
interview
marCus vetter
Marcus Vetter, 47, ist ein vielfach
ausgezeichneter Dokumentarfilm regisseur aus Tübingen. Bekannte
Werke sind »Cinema Jenin« (2012)
und »The Court« (2013). Sein aktueller Film »The Forecaster« startet im April 2015 in den deutschen Kinos.
Hat »Tell Spring …« eine Chance,
ins Kino zu kommen?
Das hoffe ich. Von den vielen
Filmen, die ich gesehen habe, hat
er es am meisten verdient. Für
mich ist das ein Kinofilm, den
auch »Normalmenschen« ohne
große Hintergründe zu sehen
bekommen müssen. Dokumen-
Berlinale
Foto: Michael McEvoy, Saeed Taji Farouky
Hat sich die Jury von politischen
oder ästhetischen Kriterien leiten lassen?
Weder noch, sondern einfach
davon, ob es ein guter Film ist.
Wir haben hingeschaut: Welche
Filme berühren uns? Das Berlinale-Programm bot ja oft auch
nüchternes, intellektuelles Kino.
Ein wenig Licht im Dunkel. Filmstill aus »Tell Spring Not to Come This Year«.
53
Foltern per Dienstanw
»Waterboarding«, Schlafentzug, Schläge und
Erniedrigung: Der CIA-Folterreport des US-Senats liegt
nun auf Deutsch vor. Es ist ein Dokument des Grauens
und eines der Demokratie zugleich. Von Maik Söhler
S
eine Worte klangen vernünftig: »Die Vereinigten Staaten
sind der weltweiten Beseitigung der Folter verpflichtet,
und wir gehen in diesem Kampf als Vorbild voran. Ich
rufe alle Regierungen auf, sich den Vereinigten Staaten
und der Gemeinschaft rechtsliebender Nationen anzuschließen
beim Verbot, der Untersuchung und der Verfolgung aller Akte
der Folter und bei dem Bestreben, andere grausame und außergewöhnliche Bestrafungen zu verhindern.« So sprach US-Präsident George W. Bush am 26. Juni 2006 in seiner Erklärung zum
Welttag der Folteropfer, der von den Vereinten Nationen ausgerufen worden war. Was vernünftig klang, war nichts anderes als
eine Lüge. Denn während der Präsident sprach, unterhielt der
US-Geheimdienst CIA in mehreren Staaten Geheimgefängnisse,
in denen Terrorverdächtige interniert und gefoltert wurden.
54
Von 2002 bis 2007 wurden die sogenannten »verschärften
Verhörmethoden« angewandt. Der politische Apparat wählte
diesen Begriff, um zu verhindern, dass er wegen möglicher Verstöße gegen die US-Verfassung, die internationale Antifolterkonvention und die Genfer Konvention zur Behandlung von Kriegsgefangenen belangt werden könnte. Bush war spätestens seit
April 2006 über die Details der »verschärften Verhörmethoden«
im Bilde.
Der nun auch auf Deutsch veröffentlichte, offizielle Bericht
des US-Senats zum Internierungs- und Verhörprogramm der
CIA nennt diese Fakten und viele mehr. In Buchform hat er 640
Seiten inklusive vieler Fußnoten und reichlich geschwärzter
Stellen. Es ist nur der öffentliche Teil des Berichts, ein wesentlich größerer Teil liegt Bushs Nachfolgeregierung unter Barack
Obama vor und wird wohl unter Verschluss bleiben. Viele Passagen des im Dezember 2014 vom US-Senat unter Leitung der
demokratischen Senatorin Dianne Feinstein veröffentlichten
Berichts waren schon zuvor bekannt, sie wurden »geleakt« oder
fanden ihren Weg in die US-Presse.
Umso wichtiger ist es, dass nun erstmals die bereits bekannten Passagen im Kontext gelesen werden können. So ergibt sich
amnesty journal | 04-05/2015
eisung
»Es ist nur der öffentliche Teil des
Berichts, ein wesentlich größerer
wird wohl unter Verschluss bleiben.«
Foto: Witold Krassowski / Panos Pictures
Mögliche Folterstätte.
Szymany Flughafen,
Polen. Der stillgelegte
Flughafen wurde von
der CIA für die außer ordentliche Überstellung von Häftlingen des »War on Terror«
benutzt. Er gilt als einer der so genannten
»Black Sites«, geheimen Gefängnissen, die von den USA außerhalb ihres Territoriums
betrieben wurden.
ein genauerer Blick auf ein System des Verschwindenlassens
und der Folter von Gefangenen sowie auf politische Institutionen, Behörden und staatliche Funktionäre in Führungspositionen, die dieses System errichteten, verteidigten und ihm politisch, rechtlich, ökonomisch, geheimdienstlich und militärisch
jede erdenkliche Unterstützung zukommen ließen.
Anders gesagt: Die Misshandlung und Folter von mindestens 119 Menschen zwischen 2002 und 2007 war Hunderten
Politikern, Beamten, Geheimdienstmitarbeitern, Psychologen
und Ärzten bekannt. Die vom US-Senat ausgewerteten Quellen –
Protokolle, Telexe, E-Mails, Berichte, Pläne, Briefings etc. – belegen das in bürokratischer Genauigkeit. So wurde noch zwischen
dem 21. und 25. Juli 2007 dem Gefangenen Muhammad Rahim
»104,5 Stunden lang der Schlaf entzogen«. Weil Rahim »visuelle
und akustische Halluzinationen schilderte«, durfte er acht Stunden schlafen. Es folgten im Anschluss 63 sowie noch einmal 13
Stunden Schlafentzug. Damit war dann eine behördlich festgesetzte »Obergrenze von 180 Stunden Schlafentzug während einer
30-Tage-Frist« erreicht.
Schlafentzug, Zwangsernährung – oral oder anal, fixierende
Gesichtsgriffe, Ohrfeigen, Schläge in den Unterleib und wach-
»Der Cia-folterreport«
rüttelnde Würgegriffe bildeten das Standardrepertoire der CIAVerhöre bis 2007. Hinzu kamen regelmäßig, wenn auch nicht
immer, das Einsperren in engen und dunklen Kisten (sogenannte Stresspositionen), das gegen die Wand schmettern von Gefangenen, das Tragen von Windeln, im Stehen anketten, Kaltwasserbzw. Eisbäder, erzwungene Nacktheit und »Waterboarding«. Mal
diskutieren die politisch Verantwortlichen wann, bei wem, in
welcher Situation und zur Erlangung welcher Informationen
welche Mittel angewandt werden sollen. Mal überlassen sie die
Details den ausführenden Verhörspezialisten, die in vielen Fällen gar keine Spezialisten waren, wie der Report zeigt.
Wieder und wieder legt man das Buch beiseite; zu erschütternd ist die Kombination aus menschlicher Brutalität und
bürokratischer Legitimation. Gestandene CIA-Mitarbeiter verweigern die Teilhabe an der Folter und erstatten Bericht nach
Washington. Andere Stellen der CIA behindern indes die parlamentarische Untersuchung und die mediale Berichterstattung
nach Kräften. Klar wird auch, dass der US-Senat allen Rechtfertigungen des Folterprogramms durch Regierung und CIA, wonach
die Maßnahmen zur Verhinderung von Terror und Anschlägen
auf US-Bürger beigetragen hätten, keinerlei Glauben schenkt.
Der Bericht hält im Gegenteil an zahlreichen Stellen fest, die
Gefolterten hätten nur erzählt, was die Verhörspezialisten erpressen wollten oder bereits wussten.
Der Herausgeber der deutschsprachigen Fassung, Wolfgang
Neskovic, einst Richter am Bundesgerichtshof und ehemaliger
Parlamentarier der Linken im Bundestag, gibt dem CIA-Folterreport einen Rahmen, der über die Folter der Jahre 2002 bis 2007
herausreicht. Die vom internationalen Recht nicht legitimierten
Drohnenangriffe unter Obama gehören ebenso dazu wie die Betonung der zivilrechtlichen Ansprüche der Folteropfer, die möglicherweise gegen US-Interessen durchgesetzt werden müssen.
Der CIA-Folterreport eignet sich zum Beweis der These, dass
die US-Regierung unter George W. Bush Doppelmoral zum
Machtprinzip erhob. Sie führte Worte wie Demokratisierung,
Menschenrechte und Wandel an, um in Afghanistan und im Irak
zu intervenieren und despotische Regime zu beseitigen. Gleichzeitig verletzte sie die Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte systematisch, indem sie Geheimgefängnisse errichtete, in denen Gefangene gefoltert wurden. Dass Demokratie
und Menschenrechte im politischen System der USA dennoch
Unterstützer und Förderer finden, beweist dieses Buch aber
auch. Ein derart umfangreiches Dokument der Aufklärung wäre
in vielen Ländern derzeit leider nicht möglich.
Wolfgang Neskovic (Hrsg.): Der CIA-Folterreport. Der offizielle Bericht des
US-Senats zum Internierungs- und Verhörprogramm der CIA. Westend
Verlag, Frankfurt/Main 2015. 640 Seiten, 18 Euro.
55
Das Porträt
eines Landes
Das Istanbuler Fotokollektiv »Nar Photos« sucht
Geschichten jenseits des Mainstreams, stellt Menschen
und deren Alltag in den Vordergrund. Um unabhängig
zu bleiben, arbeiten die Fotografen ehrenamtlich.
Von Ralf Rebmann
I
stanbul lädt zum Flanieren ein. Vor allem im Viertel Tophane, dessen verwinkelte Gassen mit ihren Antiquitätenhändlern sich bergab Richtung Bosporus schlängeln. Ein
Platz in einem der kleineren oder größeren Teegärten ist
immer frei. Krieg und Vertreibung scheinen hier weit entfernt.
Adnan Onur Acar rollt die erste Zigarette und bestellt dann
lieber Kaffee statt Tee. »Wir warten auf Fotos von der Grenze«,
sagt der 30-Jährige. Zwei Kollegen seien vor Ort. »Die Fotos müssen gesichtet werden, bevor wir sie zu den Agenturen schicken
können.« Adnan ist Fotograf und Teil des Istanbuler Kollektivs
»Nar Photos«, einem Zusammenschluss von Fotografinnen und
Fotografen aus der Türkei.
Die Grenze, von der er spricht, ist 1.200 Kilometer von Istanbul entfernt. Sie trennt die Türkei von Syrien, die türkische
Kleinstadt Suruç vom syrischen Ain al-Arab, auch Kobane genannt. Mitte September 2014 versuchten Einheiten des sogenannten Islamischen Staats, die Stadt einzunehmen. Zehntausende Menschen, mehrheitlich Kurden, fürchteten ein Massaker
und flüchteten in Panik über die Grenze in die Türkei.
Die Fotos, die Adnan und seine Kollegen später sichteten,
zeugen von der Fassungslosigkeit der Flüchtlinge, als sie
schließlich türkisches Staatsgebiet erreichen, von der Wut türkischer Kurden, die mit bloßen Händen einen Stacheldrahtzaun
niederreißen, weil das Militär sie nicht nach Kobane lässt, um
dort zu kämpfen. Und sie zeigen Panzer in der südostanatolischen Stadt Diyarbakır, in der seit mehr als zehn Jahren wieder
eine Ausgangssperre verhängt wurde. In jenen Tagen bestimmten die Kämpfe um Kobane die Arbeit des Kollektivs.
»Nar Photos« wurde 2003 gegründet. Heute sind achtzehn
Fotografinnen und Fotografen für das Kollektiv in der Türkei
unterwegs, teilweise in Kooperation mit weiteren Fotoagenturen
wie der deutsch-österreichischen Agentur »Laif« oder »Redux
Pictures« aus den USA. »Nicht jeder kann immer überall sein,
deshalb teilen wir Aufgaben und die Verantwortung«, erklärt
Adnan.
Tagesaktuelle Bilder, wie die aus Kobane, sind nur ein Teil
der Arbeit. »Wir wollen mit unseren Fotos dokumentieren, den
Alltag und das Gewöhnliche zeigen.« Dafür brauche man Zeit,
für die Menschen, ihre Probleme und Sorgen, sagt der Fotograf.
Das Archiv der Agentur umfasst mittlerweile mehr als hundert
56
Geschichten und Biografien – das Porträt eines Landes in Nahaufnahme.
Da sind die Froschfänger aus Diyarbakır, die nachts durch
die Nebenarme des Tigris waten, um ihren Fang später an die
Fischfabriken in der Region zu verkaufen. Oder die chinesischen
Minenarbeiter in Zonguldak an der türkischen Schwarzmeerküste, die schon seit mehr als zwanzig Jahren ihren Lebensunterhalt unter Tage verdienen. Da sind die ehemaligen Bahnbeschäftigten im armenischen Akhuryan, die seit 1993 darauf
hoffen, dass dort wieder Züge rollen dürfen, nachdem die Türkei
damals die Grenze zu Armenien schloss. Und da sind die letzten
Überlebenden des Massakers in Dersim, bei dem 1937 und 1938
Tausende kurdische Aleviten vom türkischen Militär getötet
wurden.
Beim Betrachten der Fotos streift man durch die traditionellen Basare Anatoliens, reist von Antakya über Erzurum nach Gaziantep, von Kahramanmaraş über Mardin nach Şanlıurfa. Man
beobachtet Familien in der Region um Rize, die in tiefgrünen
Teefeldern die erste Ernte einholen. Man nimmt an traditionellen Stierkämpfen im nordtürkischen Artvin teil oder an einer
Zeremonie der griechisch-orthodoxen Gemeinschaft in Istanbul. Man bewundert den Mut der »Friedensmütter«, die seit
1999 im Gedenken an ihre Kinder ein Ende des blutigen türkisch-kurdischen Konflikts fordern, und blickt betroffen in die
Augen syrischer Kinder, die in türkischen Großstädten um ihr
Überleben kämpfen.
»Wir sind Gedächtnisarbeiter«, sagt Adnan. Für ihn und seine Kollegen bedeute das Fotografieren mehr, als nur auf den
Auslöser zu drücken. Er spricht von der Verantwortung zu dokumentieren, von westlichen Perspektiven auf östliche Regionen
und einer eigenen fotografischen Sprache, die sich entwickeln
müsse.
Bevor Adnan im Jahr 2013 festes Mitglied bei »Nar Photos«
wurde, hatte er das Kollektiv jahrelang unterstützt. Dass sich das
Büro in Istanbul befindet, ist kein Zufall. »Istanbul hat sich in
den vergangenen zehn Jahren sehr verändert – allerdings nicht
zugunsten der Bevölkerung, sondern zugunsten des Profits.« Für
»Nar Photos« ist der urbane Raum eines der wichtigsten Themen.
»Wir dokumentieren diese Entwicklung und stellen sie in Frage.«
Adnan meint die zahlreichen Bauvorhaben, Shoppingcenter,
Luxusappartements und Hotelanlagen, die von der neoliberalen
Stadtpolitik Istanbuls vorangetrieben werden. Er meint die Gentrifizierung von Stadtteilen ohne politische Lobby, die unter
dem Deckmantel des »Denkmalschutzes« und der »Erdbebenprävention« luxussaniert oder dem Erdboden gleichgemacht
werden.
Und natürlich meint er den Gezi-Park. Bei den Protesten gegen die Bebauung des Parks im Sommer 2013 waren die Fotografen des Kollektivs mittendrin. Sie waren vor Ort, als das ikonen-
amnesty journal | 04-05/2015
Foto: Ralf Rebmann
Dokumentar eines Landes und seiner Menschen. Der »Nar«-Fotograf Adnan Onur Acar.
hafte Bild von Ceyda Sungur entstand (»die Frau in Rot«) oder
das des Künstlers Erdem Gündüz auf dem Taksim-Platz (»standing man«), der mit seinem stillen Protest Hunderte weitere
Personen inspirierte.
Amnesty International nutzte die Fotos, um die Gewalt türkischer Polizeikräfte zu dokumentieren. Das Museum Istanbul
Modern widmete »Nar Photos« 2014 eine fünfmonatige Retrospektive mit dem Titel »Yolda« (»Auf dem Weg«). Die 75 Fotos
der Ausstellung sind das Resultat elfjähriger Arbeit, eines Blickes für soziale Themen und nicht zuletzt freiwilligen Engagements.
»Wir verdienen mit den Fotos kaum Geld, damit lassen sich
höchstens die Kosten für das Büro decken«, sagt Adnan. Es ist
»nar photos«
der Preis, den die Mitglieder des Kollektivs dafür bezahlen, dass
sie unabhängig bleiben können und ihre Arbeiten ausschließlich Medien anbieten, denen sie vertrauen. »An türkische Zeitungen verkaufen wir sie nicht, weil wir nicht wissen, was sie
damit machen.«
Ihren Lebensunterhalt verdienen die Fotografinnen und
Fotografen deshalb anderswo, sie geben Workshops, arbeiten
bei Magazinen oder NGOs. An ihrem Ziel halten sie fest. »Wir
wollen ein eigenes Archiv über die Menschen in unserem Land
aufbauen«, sagt Adnan, »ein Archiv, das nicht unter staatlicher
Kontrolle steht«.
Der Autor ist freier Journalist und lebt in Berlin und Istanbul.
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Wortwechsel
Flucht auf der Bühne. Szene aus »Asyl-Dialoge«.
Das Theaterstück »Asyl-Dialoge« der »Bühne für
Menschenrechte« inszeniert die schwierige Situation
von Flüchtlingen und ihren Unterstützern vor dem
Hintergrund einer rigiden europäischen Asylpolitik.
Von Andreas Koob
A
nna will helfen und ist unter Zugzwang. Sie muss
Rajana, die mit ihrer Familie aus Tschetschenien nach
Deutschland geflohen ist, ins Krankenhaus bringen,
denn vielleicht rettet sie das. »Was muss ich sagen,
damit eine Person mindestens eine Nacht im Krankenhaus
bleibt?«, fragt Anna einen befreundeten Arzt. »Blut im Stuhl
und Bauchschmerzen«, sagt er. Sie will mit allen Mitteln die
Abschiebung verhindern, ob sie trickst oder nicht, daran verschwendet sie keinen Gedanken.
Anna und Rajana stehen im Mittelpunkt einer von insgesamt drei Geschichten, die das Stück »Asyl-Dialoge« erzählt. Die
durchgängig als Dialog inszenierten Szenen ermöglichen dem
Betrachter tiefe Einblicke in die Gefühlslage der verschiedenen
Charaktere. Und schnell wird klar: Nicht nur die Flüchtlinge haben es hier mit Grenzen zu tun, sondern auch ihre Unterstützer.
Der Dialog ist das Thema des Theaterstücks und zugleich die
Form, die Regisseur Michael Ruf gewählt hat: Die Schauspieler
sprechen teils frei, teils lesen sie vom Blatt, wie an diesem
Abend. Erst wirken sie wie ein Ensemble von Souffleuren – doch
würde das ihrer Leistung nicht gerecht. Denn sie machen die Sequenzen trotz eines völlig reduzierten Settings erfahrbar. Auch
58
ohne Bühnenbild, Requisiten, Kostüme oder Videoprojektion
hat der Zuschauer das Geschehen vor Augen: Das Leben in der
Heimat, auf der Flucht und im Hier und Jetzt, samt der drohenden Abschiebung in das EU-Land, in das sie als erstes eingereist
sind. Denn so sieht es die sogenannte Dublin-Richtlinie vor. Wie
all das die Beziehungskonstellationen zerrüttet, damit wird der
Zuschauer unweigerlich konfrontiert.
Die drei nacheinander erzählten Dialoge bilden einen starken
Kontrast zueinander: Neben der sehr persönlichen Geschichte
von Rajana und Anna gibt es eine weitere, die in Osnabrück
spielt, wo Aktivisten mit Blockaden bereits 28 Abschiebungen
verhindert haben. In einer dritten Geschichte fällt die Annäherung besonders schwer: Der Flüchtling kritisiert leere Menschenrechtsversprechen und muss nach erlittener Folter mit
sich ringen, bis er Freundschaft und Unterstützung annehmen
will. Eine Frau, die ihn unterstützen will, wird durch die Begegnung mit ihrer eigenen Biografie konfrontiert: Als Kind flüchtete sie selbst, später war sie Übersetzerin beim Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge. Dies macht die jetzige Anwältin zu
einer Art Whistleblowerin für behördlichen Rassismus: Ihre Rolle ist die vielschichtigste in diesem Stück.
»Asyl-Dialoge« besteht aus Wortfetzen, Gedankenspielen,
direkten Gesprächen. Der gesamte Wortlaut stammt aus Interviews, die die Theatermacher mit sechs realen Personen führten
und zu einer Collage arrangierten. Die pointierte, aber wortgetreue Wiedergabe irritiert, ermöglicht aber zugleich eine ungewöhnlich intensive Teilhabe am einzelnen Schicksal.
Es ist das zweite Stück der »Bühne für Menschenrechte«, die
mit ihrem ebenfalls dokumentarischen Theaterstück »Asyl-
amnesty journal | 04-05/2015
Foto: Schokofeh Kamiz
Monologe« bereits mehr als 260 Mal überall in Deutschland
auftrat. Ähnliches ist nun für die »Dialoge« geplant, die im Januar im Heimathafen Neukölln Premiere feierten. Dank der reduzierten Inszenierung kann an nahezu jedem Ort gespielt werden, ob in einem Theater oder in einer Turnhalle. Die Rollen
werden von verschiedenen, professionellen Schauspielern übernommen, die an verschiedenen Orten in ganz Deutschland leben. Dem Ensemble gehören viele nicht-weiße Schauspieler an,
was zur Glaubwürdigkeit und Wirkung des Stücks beiträgt.
»Ihr möget nie wissen, was ein Krieg ist«, sagt Rajana, deren
Erinnerung von Traumata überlagert scheint. Sie kann sich
kaum an den Alltag in Tschetschenien vor dem Krieg erinnern.
Ihr Mann erinnert sich hingegen an Wochenendausflüge und
Feiertage, die sie in der Natur verbrachten. Von Normalität berichten alle Protagonisten. Sie werden nicht auf ihr Leid reduziert. Die Misshandlung und Folter im bulgarischen Asylgefängnis, rechtsextreme Übergriffe in Griechenland oder die menschenverachtende Gleichgültigkeit deutscher Behörden – all das
bekommt Raum, aber ohne die Biografie der Flüchtlinge auf Gewalt und Leid zu verdichten. Voyeurismus wird nicht bedient.
Die Regie-Entscheidung, die Unterstützer ebenso wie die
Flüchtlinge zu Wort kommen zu lassen, ist gelungen. Es ist spannend zu betrachten, was die Begegnung bei ihnen auslöst: Sie
lernen die Flüchtlinge unvoreingenommen kennen, handeln
entschlossen und einfühlsam und sind doch immer wieder mit
der eigenen Unzulänglichkeit konfrontiert: »Einmal ist ein Flugzeug über uns geflogen. Rajanas Tochter fing an zu heulen und
sich zu ducken. Da habe ich gedacht, was weiß ich eigentlich alles nicht?«, sagt Anna, die Rajana und ihrer Familie doch eigent-
»asyl-Dialoge«
lich so nah sein will. Zugleich aber steht sie selbst neben sich:
»Ich hatte in meinem Kopf überhaupt nicht realisiert, dass
Flüchtlinge, für die wir eine Willkommenskultur aufbauen,
dass die abgeschoben werden!« Die sonst nicht naiv anmutende
Anna wirkt unbedarft, als sie zum ersten Mal persönlich mit der
deutschen Asylpolitik zu tun hat.
Im Anschluss an jede Aufführung gibt es Gespräche mit
Aktivisten. Es ist unübersehbar, wie dringlich das Thema ist.
Seit die »Bühne für Menschenrechte« ihre Arbeit begann, ist
viel passiert: Mit den wochenlangen, von der NPD unterstützten
Protesten gegen ein Asylbewerberheim in Berlin-Hellersdorf
und den »Pegida«-Demonstrationen offenbarte sich erneut das
Ausmaß an feindseliger, rassistischer Ablehnung, das die Mitte
der deutschen Gesellschaft hegt. Tabus fielen: An zahllosen Orten sind Asyl-Unterkünfte am massiven Protest gescheitert oder
gar vor ihrer Eröffnung abgebrannt. All das will Regisseur Ruf in
den »Asyl-Dialogen« bewusst nicht verhandeln: »Ich will die
wenige Zeit nutzen, um eine eigene Agenda, einen eigenen
Diskurs anzustoßen und dabei auch nicht auf die irrsinnigen
Pegida-Argumente antworten müssen.«
Das gelingt. Die ausgewählten Geschichten geben einen
vielschichtigen und inspirierenden Einblick, der einen anderen
Horizont aufzeigt. Höchst authentisch spiegelt das Stück die aktuellen Schicksale und Fallstricke deutscher und europäischer
Asylpolitik wider und verleiht etwa der Dublin-Verordnung ihr
wahnwitziges Antlitz, das sich auf dem Papier oder in Statistiken
nur erahnen lässt.
Der Autor ist Volontär des Amnesty Journals.
59
Lähmung, Aufbruch, Krieg
Im Osten wird gekämpft, im Westen hofft man auf
Europa: Die Journalistin Ute Schaeffer legt eine
Materialsammlung zur Situation in der Ukraine vor.
Von Maik Söhler
D
Ute Schaeffer: Ukraine. Reportagen aus einem Land im Aufbruch. Wagenbach, Berlin 2015. 160 Seiten, 10,90 Euro.
Foto: Sergey Ponomarev / laif
ie Hoffnung ruht auf der Zivilgesellschaft. Ute Schaeffer, die das ukrainische Programm des Auslandssenders Deutsche Welle aufgebaut hat, betont in ihrem
Buch »Ukraine. Reportagen aus einem Land im Aufbruch« die Bedeutung von engagierten Bürgern und nichtstaatlichen Organisationen für den Demokratisierungsprozess in der
Ukraine. Es seien der Vernetzungsgrad und die zahlreichen Akteure der ukrainischen Zivilgesellschaft, die den Unterschied zu
Weißrussland ausmachten und zu Russland sowieso.
Vom Maidan nach Donezk und Lugansk, von der Westukraine in den Süden, von der sowjetischen Vergangenheit zur möglichen Zukunft in der EU, von der Wirtschaft zum Krieg – Schaeffer lässt kaum einen Aspekt aus, um herzuleiten, wie die Ukraine des Jahres 2015 zu dem wurde, was sie ist. Die von ihr befragten Politologen, Historiker, Juristen und Ökonomen benennen
klar die Gefahren, vor denen das Land steht: politische Destabilisierung aus Russland, alte Eliten, die ihren Anteil an der Macht
sichern wollen, ökonomischer Kollaps, ein schwacher Staat und
grassierende Korruption.
Die Autorin räumt dem Regime des ehemaligen Präsidenten
Wiktor Janukowitsch viel Platz ein und macht ein pseudodemokratisches System sichtbar, das sich mit Patronage, Bestechung,
Korruption, wirtschaftlicher und juristischer Willkür am Leben
hielt und sich dabei viele Feinde schuf. Es entstand der sogenannte »Euromaidan« und mit ihm, wie Schaeffer betont, eine
klare Mehrheit im Land, die »einen demokratischen Rechtsstaat
und eine Ausrichtung nach Europa« will.
»Ein knappes Vierteljahrhundert ist die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine alt. Doch immer noch spaltet das Thema
Familien und Freunde«, schreibt Schaeffer und nennt neben
von außen erzeugten auch innere Gründe für die Spaltung: regionale Identitäten, starke Oligarchen, gegen die der Staat nicht
ankommt, und Reformpolitiker, denen Reformen nicht mehr
zugetraut werden. Ihr Buch ist dort stark, wo sie einzelne Menschen porträtiert, die im Staatsdienst oder als zivilgesellschaftliche Akteure trotz aller Probleme versuchen, das Beste aus der
Situation zu machen. Ihr Buch ist dort schwach, wo sie mehr will
als Stimmen zu sammeln, zu bündeln und wiederzugeben.
Vielleicht liegt es an der Zerrüttung des Gegenstandes, über
den sie schreibt. »Ukraine. Reportagen aus einem Land im Aufbruch« liefert keine Reportagen, sondern ein Sammelsurium
aus Interviews, Eindrücken, Hintergrundgesprächen und Empfehlungen an die deutsche und europäische Politik. Die Ukraine
wurde um einen Teil ihres Landes beraubt, in einem anderen
Teil blamiert sich der Begriff Waffenruhe ein ums andere Mal
und der Rest des Landes kommt aus seiner politischen, ökonomischen und rechtlichen Stagnation kaum heraus. Diesem Land
voller Widersprüche entspricht das Buch, das viel
Material zum Thema liefert, aber eine klare Gedankenführung leider vermissen lässt.
De facto Krieg. Der Flughafen Donezk im Februar 2015.
60
amnesty journal | 04-05/2015
Der Sklaverei entkommen
Kriminalisierte Flüchtlingshelfer
Von der Sklaverei in Guyana ins Europa der Aufklärung: Eine
halbe Weltreise unternimmt Jutta Blume mit ihrem historischen Roman »Ruf der Pflanzen« und erzählt dabei die Geschichte der ehemaligen Sklavin Ife. Weil sie sich mit
schmerzstillenden Kräutern auskennt, kauft ein schwedischer Wissenschaftler sie Mitte des 18. Jahrhunderts frei; so
entkommt sie der täglichen Schinderei und der Peitsche des
Aufsehers auf einer Zuckerrohrplantage in Südamerika. In
Santo Domingo lernt sie Lesen und Schreiben sowie einige
Grundlagen der modernen Botanik. Als der Wissenschaftler
stirbt, gelangt sie über London nach Irland, wo sie in Diensten einer Naturforscherin ein bescheidenes Auskommen
findet. Doch ebenso schnell erfährt Ife: Wo die Wissenschaft
voranschreitet, folgen ihr die Menschenrechte noch lange
nicht. Nicht nur Pflanzen lassen sich im Europa des 18. Jahrhunderts in Kategorien einordnen, sondern auch Menschen.
Der Sklaverei ist sie zwar entkommen, nicht aber Gesellschaften, in denen Männer mehr Rechte besitzen als Frauen, Weiße über Schwarze bestimmen, Landbesitzer ihre Leibeigenen
und Pächter knechten und alle zusammen ökonomisch von
der Fortsetzung des Sklavenhandels profitieren. Erst spät realisiert Ife, dass ihre Pflanzenheilkunde gegen die große
Krankheit namens Ungleichheit nur wenig ausrichten kann. »Ruf der Pflanzen« ist ein kurzweiliges, aber nicht in Gänze überzeugendes Buch.
Haben Menschen, die Kriegsflüchtlingen aus Syrien helfen,
in der Bundesrepublik Deutschland staatliche und juristische
Verfolgung zu befürchten? Ja, sagt Stefan Buchen, Fernsehautor beim ARD-Magazin »Panorama« und Autor des Buches
»Die neuen Staatsfeinde«. Er rollt den Fall einiger Helfer auf,
die von Deutschland, Griechenland und Frankreich aus jahrelang syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen halfen und für
ihre Arbeit bezahlt wurden. Polizei und Justiz sahen daher
eine »Schleuserbande« am Werk. Die Tat ging als »Fall Cash«
in die Akten ein und endete mit Freiheitsstrafen, die teilweise
auf Bewährung ausgesetzt wurden, sowie einer hohen Geldstrafe. Überzeugend arbeitet Buchen heraus, dass bei den
syrischen Flüchtlingen die Flucht selbst und die Hilfe von
außen kaum voneinander zu trennen sind. Im Gegensatz zu
anderen Schleusern habe bei den von ihm beobachteten die
Hilfe unter Landsleuten im Vordergrund gestanden, nicht
das kommerzielle Interesse, so der Autor. Der Buchtitel ist
allerdings irreführend: Der Begriff »Staatsfeinde« und die
Pauschalisierung »die Helfer« in der Unterzeile signalisieren
eine systematische staatliche und juristische Härte gegen
Unterstützer und Helfer syrischer Flüchtlinge. Doch außer im
Fall »Cash« kann Buchen dieses System nicht
nachweisen.
Stefan Buchen: Die neuen Staatsfeinde. Wie die Helfer
syrischer Flüchtlinge in Deutschland kriminalisiert
Jutta Blume: Ruf der Pflanzen. Vergangenheitsverlag,
werden. Dietz, Bonn 2014. 200 Seiten, 14,80 Euro.
Berlin 2014. 432 Seiten, 18,90 Euro
Der Intrige ausgeliefert
Während die öffentliche Aufmerksamkeit vor allem dem Terror des »Islamischen Staats« (IS) und dem Krieg gegen den IS
gilt, richtet der Lenos-Verlag den Blick auf das, was den syrischen Staat noch immer zusammenhält: die Symbiose aus
geheimdienstlichem Terror und der Propaganda der BaathPartei. In einer Sonderausgabe hat der Schweizer Verlag den
Roman »Ali Hassans Intrige« von Nihad Siris aus dem Jahr
2008 veröffentlicht.
Der syrische Schriftsteller, der seit 2013 im Exil lebt, schildert
darin den Alltag in einer Diktatur aus der Sicht eines Dichters, der bei der Macht in Ungnade gefallen ist. Auch ohne
örtliche und zeitliche Angaben wird schnell klar, dass es sich
um das Leben in Damaskus unter Hafiz al-Assad (1970 bis
2000) handelt, dem Vater des heutigen Präsidenten Baschar
al-Assad. Zwischen Personenkult, Indoktrination, Bestechung
sowie der Drohung mit Folter und Mord wird ein Regime
kenntlich, das Abweichung unter keinen Umständen dulden
will. Auch der Protagonist Fathi Schin soll sich fügen. Eine Intrige samt Einschüchterungsmaßnahmen und Lockangeboten soll ihn dazu bewegen, ein »Dummkopf unter Dummköpfen« zu werden. Doch sein Individualismus und Humor sind
nicht zu brechen.
Nihad Siris schreibt mit leichter Hand von schweren Zeiten, die Syrien bis heute prägen.
Frühe Integration
Menschen verlassen ihre Heimat aus unterschiedlichen
Gründen – die einen, weil sie das Abenteuer suchen oder die
große Liebe gefunden haben. Andere wiederum müssen fliehen, weil sie verfolgt, bedroht oder unterdrückt werden, weil
sie nicht genug zu essen haben oder Krieg herrscht. »Sie
flüchten so lange und so weit, bis sie irgendwo sicher sind.
Manchmal müssen sie so schnell los, dass sie nichts mitnehmen können. Manche kommen bis zu uns.« Verständlich und
anschaulich erklärt das Bilderbuch »Alle da!« schon Grundschulkindern, warum etwa Samira, Amad, Natalia oder Mehari mit ihren Familien nach Deutschland gekommen sind und
was es für diese Kinder bedeutet, in einem fremden Land zu
leben, eine neue Sprache zu lernen, neue Freunde zu finden.
Ebenso klug und humorvoll zeigt die außergewöhnliche Verbindung aus knappen erklärenden Texten und augenzwinkernden Illustrationen, wie schnell (abstruse) Vorurteile entstehen und welche Rolle die Angst vor fremden Menschen
oder Dingen dabei spielen kann. Das Bilderbuch lässt keinen
Zweifel daran, dass es ein großes Glück und eine echte Bereicherung ist, in einer bunten und multikulturellen Gesellschaft zu leben – auch wenn das nicht immer einfach ist und
man manchmal vielleicht sogar ein wenig Angst hat. Doch
»am besten verschwindet die Angst, wenn man sich kennenlernt und etwas voneinander weiß«, heißt es in
dem Buch.
Nihad Siris: Ali Hassans Intrige. Sonderausgabe. Aus dem
Anja Tuckermann, Tine Schulz (Illustration): Alle da!
Arabischen von Regina Karachouli. Lenos, Basel 2014.
Unser kunterbuntes Leben. Klett Kinderbuch, Leipzig 2014.
189 Seiten, 15,50 Euro.
40 Seiten, 13,95 Euro. Ab 5 Jahren.
Bücher: Maik Söhler, Marlene Zöhrer
BÜCher
61
Strahlende Zukunft
Arabische Emigration
Der Schacht Konrad hat seine Anwohner schon vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte getrieben. Kein
Wunder: Der alte Stollen bei Salzgitter soll als Endlager für
radioaktiven Müll dienen. Der Atombetrieb fordert seinen
Tribut. Hunderttausende Tonnen Material müssen sicher
gelagert werden – und sicher heißt: mindestens für die
nächsten 100.000 Jahre. Welche Folgen das hat, lotet der
Film »Die Reise zum sichersten Ort der Erde« aus. Regisseur
Edgar Hagen nimmt uns mit auf eine Reise um die Erde und
durch ihre Schichten. Er folgt dem Wissenschaftler Charles
McCombie, der auf der Suche nach einer passenden Endlagerstätte ist. Unterwegs lernt man Fachleute kennen und
Menschenrechtsaktivisten wie Russell Jim, der zu den Yakama im Nordwesten der USA gehört. Dort, wo die Indigenen
früher lebten, liegen heute die Reste der Atombombenherstellung aus dem Zweiten Weltkrieg. Man nahm damals keine
Rücksicht auf den aus Sicht der Yakama sakralen Charakter
des Gebiets. Man hätte mal besser hinschauen sollen, sagt
Jim: Der heilige Berg der Yakama ist aus Basalt und neigt zu
Rissen, seit neuestem sickert der Atommüll in den Columbia
River. Die Krebsrate in der Gegend ist erhöht. In Hagens Film
geben sich Gesundheitspolitiker, Umweltschützer und Menschenrechtsexperten zwischen Australien und Lüchow-Dannenberg ein Stelldichein. Der hochinteressante Film wirft
jede Menge Fragen auf zur Verantwortung gegenüber künftigen Generationen und zu Bürgerrechten heute und morgen.
Als der »Arabische Frühling« 2011 noch Hoffnungen weckte,
hatte Dina El Wedidi mit ihrem Stück »Khalina Nehlam«
(Deutsch: »Lass uns träumen«) einen Hit, der die Aufbruchstimmung jener Zeit traf. Die Blütenträume jener Tage sind
seitdem zerstoben, in Ägypten herrscht das Militär wieder
mit eiserner Hand. Doch für Dina El Wedidi entwickelten sich
die Dinge nicht so schlecht. Sie konnte ins Ausland reisen, gewann Preise und den brasilianischen Superstar Gilberto Gil
als prominenten Mentor. Elegisch und poetisch ist die Stimmung auf ihrem Albumdebüt. Alle Stücke auf »Turning Back«
stammen aus ihrer Feder und lassen eine bemerkenswerte eigene Handschrift erkennen. Trauer über die Restauration der
alten Verhältnisse in ihrem Land scheint nur zwischen den
Zeilen hervor (»Ya belad«). Explizit ist dagegen die Kritik an
islamistischer Bevormundung: »Singen ist keine Sünde, Liebe
ist keine Sünde«, singt sie im Song »El Haram«, und betont
auch: »Kunst ist keine Sünde«. Trancehaft und rhythmisch
sind die beiden Stücke, die sie mit der Gruppe Mazaher aufgenommen hat – diese hat sich der rituellen Zar-Musik verschrieben, die traditionell nur von Frauen ausgeführt wird.
Von eleganter Melancholie ist »Die Nacht«, ihr arabisch-portugiesisches Duett mit Gilberto Gil. Gil musste in den siebziger Jahren seine Heimat verlassen, um sich
dem Militärregime in Brasilien zu entziehen. Bei Dina El Wedidi klingt es eher nach
einer Emigration in die Innerlichkeit.
Dina El Wedidi: Turning Back (Kirkelig / Indigo)
»Die Reise zum sichersten Ort der Erde«. CH 2013.
Regie: Edgar Hagen. Gerade angelaufen.
Ukrainische Symbiose
Gefühliges Ikonen-Kino
Gleich bekommt Martin Luther King den Friedensnobelpreis:
Es ist das Jahr 1964, der US-Pastor hält seine legendäre Rede:
»We shall overcome«, in der er die Zustände in den USA anprangert, in deren südlichen Bundesstaaten Schwarze auf offener Straße getötet werden können. Ava DuVernay setzt den
legendären Vorkämpfer des gewaltlosen Widerstands in Szene. Sie folgt King in die Stadt Selma, wo Aktivisten den Widerstand gegen rassistische Diskriminierung vor Ort organisieren. Die Polizei dort ist besonders gewalttätig – wenn die Bürgerrechtsbewegung hier erfolgreich ist, so die Überlegung,
dann sind die Rassisten endgültig besiegt. Die Bürgerrechtler
kalkulieren die Brutalität der Polizei bewusst ein – sie soll
sich selbst entlarven. Zeitgleich verhandelt King mit dem Präsidenten Lyndon B. Johnson, wie die Rechte der afroamerikanischen Minderheit durchgesetzt werden können. Die Szenen
im Weißen Haus zählen – leider – zu den besten des Films:
Denn hier werden Widersprüche offenbar, während die Figuren im Rest dieses wichtigen Films trotz liebevoller Ausstattung recht eindimensional daherkommen. So bleibt nur der
Anfang furios, als Martin Luther King seine Rede hält. Es mag
logisch sein, dass man einen Meister der Worte
die meiste Zeit beim Reden zeigt. Dennoch ist das
Ergebnis recht bildarm.
Aus der Ukraine dringen keine guten Nachrichten mehr, seit
im Osten des Landes ein Krieg begann. Die von Gewalt geprägte Geschichte der Region findet darin eine traurige Fortsetzung. Michael Alpert und Julian Kytasty setzen ihr eine alternative Erzählung von kultureller Symbiose und friedlicher
Koexistenz entgegen. Michael Alpert, Jahrgang 1955, zählte
mit seiner Band Brave Old World zu den Pionieren des Klezmer-Revivals. Julian Kytasty, 1958 in Detroit geboren, ist ein
Meister auf der Bandura, dem ukrainischen Nationalinstrument, einer mehrere Dutzend Saiten zählenden Lautenzither.
In New York kreuzten sich ihre Wege und in ihren »Ballads of
the Ukrainian & Yiddish Heartland« verschmelzen die Traditionen der jüdischen und christlichen Gemeinden, die jahrhundertelang nebeneinander gelebt haben, zu einer imaginären Folklore. Ukrainische Volksweisen und Klezmer-Melodien, jiddische Poesie, Liturgien der Chassidim und orthodox-christlicher Chorgesang fließen hier nahtlos ineinander. Das komplexe Gewebe, das die Region einmal ausmachte, ist unwiderruflich zerrissen. Zerrieben zwischen zwei totalitären Regimes, verwandelte sich das Gebiet im 20. Jahrhundert in eine Kampfzone. Und mit der Wiederkehr der Nationalismen kommen auch überwunden geglaubte antijüdische
Ressentiments zurück. Die »Night Songs«
geben eine Ahnung davon, dass alles auch
ganz anders hätte kommen können. »Selma«. GB/USA 2014. Regie: Ava DuVernay,
Michael Alpert & Julian Kytasty: Night Songs from a
Darsteller: David Oyelowo, Carmen Ejogo. Im Kino.
Neighbouring Village (Oriente / Fenn)
Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax
62
amnesty journal | 04-05/2015
Foto: João Silva / The New York Times / Redux / laif
Grausamer Kosmos. Häftlinge des Gefängnisses Zomba.
Alles nichts an diesem Ort
Das »Zomba Prison Project« des US-amerikanischen
Produzenten Ian Brennan hat ein außergewöhnliches
Album hervorgebracht – mit musikalischen
Dokumenten über unsägliche Zustände im
Zentralgefängnis von Malawi. Von Daniel Bax
D
er südostafrikanische Kleinstaat Malawi macht international nur Schlagzeilen, wenn die Popsängerin Madonna mal wieder ein Kind von dort zu adoptieren
versucht. Viele seiner 14 Millionen Einwohner verdingen sich in den Bauxitminen oder auf den Tabakfeldern des
kleinen Landes. Wer weniger Glück im Leben hat, der landet im
»Zomba Prison«, dem Zentralgefängnis von Malawi. Das einzige »Maximum Security«-Gefängnis des Landes in
Zomba, einer Provinzstadt im Süden Malawis, ist ein kolonialer
Backsteinbau aus einer Zeit, als Malawi noch britisches Protektorat war. Ursprünglich für 340 Häftlinge gebaut, beherbergt es
heute mehr als 2.000 Menschen. Bewacht werden sie von Personal und Wärtern, die auf der anderen Seite der Gefängnismauer
leben. Den US-amerikanischen Produzenten Ian Brennan, bekannt
durch seine Studioarbeiten für die legendäre Tuareg-Formation
Tinariwen aus Mali oder die US-Countrysängerin Lucinda Williams, zog es im August 2013 hierher. Mit seiner Frau, der Fotografin und Dokumentarfilmerin Marilena Delli, handelte er im
Gegenzug für Anti-Gewalt-Seminare, die sie den Häftlingen anboten, die Genehmigung aus, hinter Gittern Musik aufzunehmen
und Fotos zu machen. Zehn Tage lang nahmen sie Lieder auf, die
die Gefangenen selbst komponiert hatten, oder hielten die spontanen Eingebungen fest, die sie ihnen ins Mikrofon sangen. film & musik
Zu seiner Überraschung fand Brennan bei den Männern bereits eine feste Band vor, die über Drums, Keyboards, Gitarren
und Bass verfügte und sogar einen Übungsraum besaß, wo sie
unter Aufsicht von Wärtern probte. Die Frauen hatten, bis auf
ein paar Töpfe, keine vergleichbaren Instrumente und auch
nicht den Anspruch, eigene Songs zu präsentieren. Gerade von
ihnen stammen aber einige der emotionalen Höhepunkte auf
diesem absolut hörenswerten Album.
Das Ergebnis ist von einer rauen Unmittelbarkeit und kargen Schönheit, die staunen lässt: moderne Field Recordings, die
den Alltag hinter Gittern spiegeln und Einblick in einen sorgsam abgesperrten Mikrokosmos geben. Die Lieder, Fragmente,
die manchmal nur wenige Verse lang sind, sollen aufmuntern
und Trost spenden. Meist genügt eine einfache Gitarrenbegleitung, manchmal singt ein bescheidener Chor den Refrain mit,
häufig bestehen sie aber auch nur aus reinem, ungefiltertem Gesang, der von ungebrochener Kraft und Lebenswillen zeugt.
Dass sie um schwere Themen wie Schuld und Sühne kreisen,
verraten schon Titel wie »Don’t hate me«, »Prison of Sinners«,
»Please don’t kill my child« oder »I see the whole world dying of
Aids« von Officer Ines Kaunde. Mit den Erlösen des »Zomba Prison Project« soll es einigen
Häftlingen ermöglicht werden, Rechtsmittel gegen ihre Haft
einzulegen. Denn manche verbringen Jahre ohne Urteil im Gefängnis, weil es zu keinem regulären Verfahren kommt – unter
anderem, weil es keinen Transport vom Gefängnis zum Gericht
gibt. Und während die Männer oft wegen Kapitaldelikten wie
Diebstahl oder Totschlag einsitzen, genügt bei
Frauen oft die vage Anschuldigung der »Hexerei«, um in Malawi hinter Gittern zu landen.
Zomba Prison Project: I Have No Everything Here
(Six Degrees / Exil)
63
Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet,
verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. amnesty international
veröffentlicht regelmäßig an dieser
Stelle drei Einzelschicksale, um an
das tägliche Unrecht zu erinnern.
Internationale Appelle helfen, solche
Menschenrechtsverletzungen
anzuprangern und zu beenden.
Sie können mit Ihrem persönlichen
Engagement dazu beitragen, dass
Folter gestoppt, ein Todesurteil
umgewandelt oder ein Mensch aus
politischer Haft entlassen wird.
Schreiben Sie bitte, im Interesse
der Betroffenen, höflich formulierte
Briefe an die jeweils angegebenen
Behörden des Landes.
Sollten Sie eine Antwort auf Ihr
Appellschreiben erhalten, schicken
Sie bitte eine digitale Kopie an:
[email protected]
amnesty international
Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin
Tel.: 030 - 42 02 48 - 0
Fax: 030 - 42 02 48 - 488
E-Mail: [email protected]
www.amnesty.de
Spendenkonto
Bank für Sozialwirtschaft
IBAN: DE 233 702050 0000 8090100
BIC: BFSWDE33XXX
(Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00)
64
Foto: Amnesty
Briefe gegen
Das vergessen
DominikanisChe repuBlik
juan alBerto antuan vill, liliana nuel
unD yolanDa alCino
Aufgrund ihrer haitianischen Abstammung werden Juan Alberto
Antuan Vill, Liliana Nuel und Yolanda Alcino (Foto) von den dominikanischen Behörden seit vielen Jahren ihre Ausweisdokumente vorenthalten. Die Situation spitzte sich im September 2013 für sie und andere Betroffene noch zu, als das dominikanische Verfassungsgericht anordnete, Menschen haitianischer Abstammung, die zwischen 1929 und 2007 geboren wurden, nachträglich die dominikanische Staatsbürgerschaft zu
entziehen, wodurch die Betroffenen staatenlos werden.
Aufgrund nationalen und internationalen Drucks verabschiedete die dominikanische Regierung im Mai 2014 das Gesetz
169/14. Die Kinder ausländischer Staatsangehöriger ohne Ausweispapiere, deren Geburt in der Dominikanischen Republik
nicht registriert wurde, müssen sich nun als Ausländer registrieren lassen und die dominikanische Staatsbürgerschaft neu beantragen. Die Frist hierzu lief am 1. Februar 2015 ab. Aufgrund
der mangelhaften Umsetzung des Gesetzes konnten sich bis dahin jedoch lediglich etwa fünf Prozent der Betroffenen registrieren. Bei Fristablauf waren Juan Alberto Antuan Vill, Liliana
Nuel und Yolanda Alcino von den dominikanischen Behörden
noch immer keine Ausweisdokumente ausgestellt worden.
Für Dominikaner haitianischer Abstammung hat die Vorenthaltung der Ausweispapiere katastrophale Folgen. Ihnen werden
ihre Menschenrechte vorenthalten, sie haben keinen Zugang zu
Bildungswesen, Arbeitsmarkt und Gesundheitssystem, dürfen
nicht wählen und können wegen fehlender Papiere nicht heiraten und eine Familie gründen. Ohne Ausweisdokumente sind
sie zudem der Gefahr ausgesetzt, willkürlich inhaftiert oder ausgewiesen zu werden, ohne die Möglichkeit zu haben, ihre Fälle
juristisch prüfen zu lassen. Weiterhin können sie ihre Kinder
nicht als dominikanische Staatsangehörige erfassen lassen, was
bedeutet, dass diese de facto staatenlos geboren werden.
Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den dominikanischen Präsidenten und bitten Sie ihn, dafür zu sorgen, dass
Juan Alberto Antuan Vill, Liliana Nuel, Yolanda Alcino und ihre
Kinder sowie alle weiteren Dominikaner haitianischer Herkunft
die dominikanische Staatsbürgerschaft zurückerhalten und dass
sie ohne Diskriminierung ihre Ausweise erhalten.
Schreiben Sie in gutem Spanisch, Englisch oder auf Deutsch an:
Danilo Medina, Palacio Nacional
Avenida México esquina Doctor Delgado
Gazcue, Santo Domingo, DOMINIKANISCHE REPUBLIK
(Anrede: Señor Presidente / Sehr geehrter Herr Präsident)
Fax: 00 18 09 - 682 08 27
E-Mail: [email protected]
(Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an:
Botschaft der Dominikanischen Republik
S. E. Herrn Gabriel Rafael Ant Jose Calventi Gavino
Dessauer Straße 28/29, 10963 Berlin
Fax: 030 - 25 75 77 61
E-Mail: [email protected]
amnesty journal | 04-05/2015
Der saudi-arabische Staatsbürger Shaker Aamer wurde 2002 als
einer der ersten in das US-Gefangenenlager Guantánamo Bay
auf Kuba gebracht. Er ist seit mehr als 13 Jahren inhaftiert und
hat angegeben, brutal gefoltert und den Großteil der Zeit in Einzelhaft gehalten worden zu sein. Shaker Aamer wurde nie einer
Straftat angeklagt oder vor Gericht gestellt.
Obwohl die US-Behörden seine Verlegung aus Guantánamo
Bay genehmigt haben und die britische Regierung mehrfach –
zuletzt im Januar 2015 – gefordert hat, ihn nach Großbritannien zu bringen, wo er eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung
hat, ist Shaker Aamer nach wie vor ohne Anklage in Haft.
Shaker Aamer, in Saudi-Arabien geboren, zog 1996 nach
Großbritannien, wo er eine Britin heiratete. Mit ihr hat er vier
Kinder. 2001 wurde Shaker Aamer in Afghanistan festgenommen, wo er mit seiner Familie lebte und nach eigenen Angaben
für eine saudi-arabische Wohltätigkeitsorganisation arbeitete.
Nach einem Besuch des britischen Premierministers David
Cameron im Weißen Haus am 16. Januar 2015 sicherte US-Präsident Obama zu, der Freilassung von Shaker Aamer Priorität
einzuräumen. Sein Gesundheitszustand ist besorgniserregend
und verschlechtert sich zusehends. Im April 2014 wurde bei
ihm eine Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert.
Außerdem leidet er unter Arthritis, einer Pilzerkrankung, Diabetes, dem Reizdarmsyndrom, starken Nierenschmerzen und weiteren Krankheiten.
Bereits 2009 versprach US-Präsident Obama, das Gefangenenlager Guantánamo Bay innerhalb eines Jahres schließen zu
lassen. Heute, sechs Jahre später, ist es immer noch in Betrieb.
Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den US-Präsidenten und bitten Sie ihn, dafür zu sorgen, dass Shaker Aamer
(Häftlingsnummer ISN 239) entweder unverzüglich freigelassen
oder angeklagt und in einem fairen Verfahren vor Gericht gestellt wird. Fordern Sie ihn zudem auf, Shaker Aamer umgehend regelmäßigen Zugang zu medizinischer Versorgung zu gewähren, seine Folter- und Misshandlungsvorwürfe zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an:
President Barack Obama
The White House
1600 Pennsylvania Avenue
Washington, DC 20500, USA
(Anrede: Dear Mr President / Sehr geehrter Herr Präsident)
Fax: 001 - 202 - 456 24 61
E-Mail: über www.whitehouse.gov/contact/submit-questionsand-comments
(Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an:
Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika
S. E. Herrn John Bonnell Emerson
Pariser Platz 2, 10117 Berlin
Fax: 030 – 83 05 10 50
E-Mail: über http://germany.usembassy.de/email/feedback.htm
Briefe gegen Das vergessen
Foto: Centre for Human Rights
Foto: Amnesty
Foto: US DoD
usa
shaker aamer
swasilanD
BhekithemBa makhuBu
unD thulani maseko
Der Herausgeber des monatlich erscheinenden Nachrichtenmagazins »The Nation«, Bhekithemba Makhubu (auch bekannt als
Bheki, Foto links), und der Menschenrechtsanwalt Thulani Maseko wurde am 18. März 2014 in Swasiland festgenommen. Anlass waren zwei von ihnen verfasste Artikel, in denen sie Zweifel
an der Unabhängigkeit und Integrität der Justiz in Swasiland
äußerten. Beiden Männern wurde nach ihrer Festnahme der Zugang zu ihren Rechtsbeiständen verwehrt und sie mussten in
Untersuchungshaft bleiben, nachdem ein Eilverfahren unter
Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden hatte. Der Richter
in diesem grob unfairen Verfahren weigerte sich, von dem Fall
zurückzutreten, obwohl er sich in einem eindeutigen Interessenkonflikt befand, da er namentlich in einem der Artikel erwähnt
wurde. Die Gerichtsverhandlungen wurden unter einer einschüchternden Polizeipräsenz abgehalten. Einige Unterstützer
von Bhekithemba Makhubu und Thulani Maseko wurden festgenommen. Beide Männer wurden am 17. Juli 2014 wegen Missachtung des Gerichts für schuldig befunden.
Für Mai 2015 ist ein Berufungstermin zur Anfechtung des
Schuldspruchs angesetzt. Bis dahin bleiben Bhekithemba Makhubu und Thulani Maseko in Haft. Bhekithemba Makhubu
wird derzeit im Sidvwashini-Gefängnis in Mbabane festgehalten.
Thulani Maseko befindet sich im Big-Bend-Gefängnis 150 Kilometer außerhalb von Mbabane, was seiner Familie den Besuch
erschwert, da sie in Mbabane lebt. Die fortdauernde Haft der
beiden Männer stellt für sie und ihre Familien eine große emotionale Belastung dar.
Bitte schreiben Sie Solidaritätsbekundungen an die Familien
von Bhekithemba Makhubu und Thulani Maseko.
Formulierungsvorschlag:
Für diese schwere Zeit wünsche ich Ihnen nur das Beste und
möchte Ihnen versichern, dass Sie nicht alleine sind. Ich bewundere den Mut, mit dem Bheki/Thulani [bitte anpassen] für
seine Überzeugungen einsteht, und wünsche ihm und Ihnen
viel Kraft.
Ihr/e [Unterschrift]
Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an:
Bheki Makhubu/The Makhubu Family
P.O. Box 4547
Mbabane, H100, SWASILAND
(Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €)
Thulani Maseko/The Maseko Family
P.O. Box 6018
Mbabane, SWASILAND
(Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €)
Diejenigen, die ihre Verbundenheit gerne über digitale Medien
zum Ausdruck bringen möchten, können digitale Solidaritätsbekundungen oder kurze Videobotschaften an das Swasiland-Team
von Amnesty International schicken (E-Mail: [email protected]). Sie werden dann an die Familien weitergeleitet.
65
Gelbe Bäuche. Aktion gegen El Salvadors absolutes Abtreibungsverbot auf einem Berliner Wochenmarkt in Friedrichshain.
mein körper gehört mir
Mit Schwangerschaftsbäuchen und Sandwich-Tafeln haben
zehn Amnesty-Aktivisten im Januar die Besucher eines Berliner
Wochenmarktes irritiert. Hintergrund der Aktion ist die globale
Kampagne »My Body, My Rights«, mit der sich Amnesty für die
sexuellen und reproduktiven Rechte einsetzt. Die Aktivisten
sammelten Unterschriften für die Petition »El Salvadors absolutes Abtreibungsverbot aufheben«, die weltweit schon knapp
300.000 Menschen unterschrieben haben.
Die Aktion auf dem Boxhagener Platz fand im Rahmen des
diesjährigen Treffens der Amnesty-Aktionsreferenten statt: Einmal im Jahr kommen Mitglieder aus ganz Deutschland zusam-
men, um sich auszutauschen und Aktionen für das kommende
Jahr zu planen.
In El Salvador gilt ein absolutes Abtreibungsverbot – selbst
dann, wenn die Schwangerschaft aus einer Vergewaltigung resultiert oder das Leben der Mutter gefährdet. Eine Folge dieses
Gesetzes: Frauen, die eine Fehlgeburt erleiden, können beschuldigt werden, insgeheim eine Abtreibung vorgenommen zu
haben. Ihnen drohen bis zu 50 Jahre Haft wegen Mordes. Diese
Frauen verlieren nicht nur ihr Kind, sondern auch ihre Freiheit.
Mehr zu den Hintergründen und zur Kampagne gibt es im Internet auf der Seite: www.amnesty.de/mbmr
Briefe gegen hassverBreChen
Foto: Eliza Goroya / Amnesty 82.000 Briefe von Amnesty-Unterstützern aus 111 Ländern
überreichte die Romni Paraskevi Kokoni dem griechischen Justizminister Nikos Paraskevopoulos Anfang März in Athen. Ihr
Fall war Teil des Amnesty-Briefmarathons im Dezember 2014.
Kokoni war im Oktober 2012 Opfer einer rassistischen Attacke
geworden. Sieben Täter traten und schlugen auf sie und ihren
Neffen ein, teils auch mit Holzlatten – alles im Beisein ihres
elfjährigen Sohnes. Die Polizei hielt sich zurück. Der Übergriff
reihte sich ein in eine Serie weiterer gezielter Angriffe auf Roma
in der westgriechischen Kleinstadt Etoliko. Im November 2014
verurteilte ein Gericht drei Tatverantwortliche zu je acht Monaten Haft, ausgesetzt auf drei Jahre zur Bewährung. Amnesty begrüßte den Schuldspruch, kritisierte aber, dass im Urteil nicht
auf das rassistische Tatmotiv Bezug genommen wurde. Mehr als
30.000 Zuschriften waren aus Deutschland gekommen.
66
amnesty journal | 04-05/2015
exZellent aufgemaCht
Im Rahmen des »International Creative Media Award« (icma) erhielt das Amnesty Journal in den übergreifenden Kategorien »Titelseite« und »Cover/Coverstory« jeweils einen
»Award of Excellence«. Die zehnköpfige Jury
lobte »das vorbildliche Konzept und Design«
der Ausgaben Januar und April 2014. Insgesamt konkurrieren beim icma 364 Publikationen aus 17 Ländern. Der seit 2010
existierende Wettbewerb zählt inzwischen in Europa zu den größten im Bereich
»corporate publishing«. Er zielt auf den Austausch der Branche ab und fokussiert innovative Trends. Das Magazin war auch zuvor mehrfach prämiert worden.
Unter dem Motto »Flüchtlinge
schützen, Rassismus stoppen«
waren auch Amnesty-Mitglieder bei
den Protesten gegen den Kölner
»Pegida«-Ableger »Kögida« im
Januar aktiv. Besonders sichtbar
waren die zahllosen gelben Luftballons mit der Aufschrift »Ich fliege
wohin ich will«. Insgesamt 6.000
Leute gingen auf die Straße, um
gegen den Aufmarsch der 150 »Kögida«-Anhänger zu demonstrieren.
Der Protest der Kölner Zivilgesellschaft war erfolgreich: Nach dem
21. Januar meldete »Kögida« keine
weiteren Veranstaltungen mehr an.
Bis zu 5.000 rechte Hooligans hatten vergangenen Oktober
in Köln randaliert, seitdem riefen
zahlreiche Gegeninitiativen mehrfach zu Aktionen auf. Auch in Dresden sind Amnesty-Mitglieder gegen
»Pegida« aktiv. Zuletzt waren sie
mit vor Ort, als Rechtsextreme – im
Anschluss an eine »Pegida«Demonstration – versuchten, eine
Flüchtlingskundgebung vor der
Oper anzugreifen.
Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder
den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese
Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty
International. Mehr Informationen
darüber finden Sie auf
http://blog.amnesty.de und
www.amnesty.de/kalender
»open to syria«
Mit Selbstporträts in sozialen Netzwerken
fordern Menschen aus der ganzen Welt
die Politik auf, mehr Verantwortung für
syrische Flüchtlinge zu übernehmen: Bisher verteilen sich 3,8 Millionen Flüchtlinge auf nur fünf Länder – Türkei, Libanon,
Ägypten, Jordanien und Irak – während
andernorts nahezu keine oder nur wenige
Flüchtlinge aufgenommen werden. Auch
die Flüchtlinge selbst halten Aufforderungen wie »Open your eyes« in die Kamera:
Unter dem Twitter-Hashtag #OpenToSyria
sind die Selfies zu finden.
Fotos: Amnesty Foto: Amnesty gegen pegiDa unD Co.
aktiv fÜr amnesty
impressum
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Bundesrepublik Deutschland e.V., Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, Tel.: 030 - 42 02 48 - 0
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Internet: www.amnesty.de
Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redak tion Amnesty Journal, Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, E-Mail: [email protected] (für Nachrichten an die Redaktion)
Adressänderungen bitte an:
[email protected]
Redaktion: Markus N. Beeko, Andreas
Koob, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Larissa Probst, Katrin Schwarz
aktiv fÜr amnesty
Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit
lbrecht, Daniel Bax, Nadia Boehlen,
A
Selmin Çalışkan, Anja Feth, Martin
Franke, Steffen Härting, Bernhard
Hertlein, Jürgen Kiontke, Marco Kühnel,
Sergej Nikitin, Ralf Rebmann, Wera
Reusch, Uta von Schrenk, Sebastian
Schweda, Maik Söhler, Regina Spöttl,
Gaby Stein, Carsten Stormer, Benjamin
Titze, Wolf-Dieter Vogel, Marlene Zöhrer
Layout und Bildredaktion:
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