Der Pädagogische Bezug bei Herman Nohl

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Der Pädagogische Bezug bei Herman Nohl
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PROF. DR. THOMAS LOCKENVITZ
FACHHOCHSCHULE KIEL
FACHBEREICH SOZIALE ARBEIT UND GESUNDHEIT
Thema
Der Pädagogische Bezug
bei Herman Nohl
Veranstaltung
Inhalte und Formen von Erziehung:
Die pädagogische Beziehung
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Inhalt
1.
Stichworte zur Person Herman Nohls ..............................................................................2
2.
Entstehung und Begriff des pädagogischen Bezuges bei Herman Nohl ............................2
3.
Momente des pädagogischen Bezuges ............................................................................3
4.
3.1
Einstellung auf das subjektive Leben des Zöglings ....................................................4
3.2
Historischer Wandel des pädagogischen Bezuges .....................................................4
3.3
Der pädagogische Bezug als ein Verhältnis der Wechselwirkung ..............................5
3.4
Das mögliche Mißlingen des pädagogischen Bezuges ...............................................5
3.5
Die Auflösung des pädagogischen Bezuges ...............................................................6
3.6
Gegenwarts- und Zukunftsorientierung des pädagogischen Bezuges ........................6
Kritik an Nohls Theorie des pädagogischen Bezuges ........................................................7
4.1
Theodor Litt: Isolierung des pädagogischen Vorgangs ..............................................7
4.2
Wolfgang Klafki: Mangelnder Ernstcharakter............................................................7
4.3
Anton Semjonowitsch Makarenko: Subjektive Beliebigkeit.......................................8
4.4
Hermann Giesecke: Mangelnde Professionalität ......................................................8
4.5
Hans-Jochen Gamm: Herrschaftsorientiertes Sozialverhältnis ..................................8
4.6
Klaus Bartels: Lähmung der Selbsttätigkeit des Zöglings ...........................................9
5.
Fazit ................................................................................................................................9
6.
Quellenverzeichnis ........................................................................................................10
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1. Stichworte zur Person Herman Nohls
Herman Nohl
* 07. Oktober 1879 in Berlin
† 27. September 1960 in Göttingen
1898 – 1904 Studium Geschichte, Literatur, Philosophie
Promotion bei Wilhelm Dilthey
Vertreter der „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“
1920 Lehrstuhl für „Praktische Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der Pädagogik“ in Göttingen
o 1937 Entlassung aus dem Hochschuldienst durch das Nazi-Regime
o 1945 Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit in Göttingen
o Kritik an Nohls Verhalten während des Nationalsozialismus
(hierzu die Veröffentlichung: Klafki, Wolfgang; Brockmann, Johanna-Luise: Geisteswissenschaftliche Pädagogik und Nationalsozialismus. Weinheim: Beltz 2002.
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2. Entstehung und Begriff des pädagogischen Bezuges bei Herman Nohl
Insbesondere mit Blick auf die Begriffsbildung zum Phänomen zwischenmenschlicher Vorgänge im Erziehungs- und Bildungsprozess ist der Beitrag Herman Nohls von richtungsweisender Bedeutung. Der von ihm gewählte Titel „Pädagogischer Bezug“ gilt bis heute als
Terminus technicus (vgl. Lee 1989, S. 21).
Erste Gedanken zu einem spezifischen erzieherischen Verhältnis entwickelt Nohl schon
1914 in dem Aufsatz „Das Verhältnis der Generationen in der Pädagogik“, der gleichsam als
Antwort zu verstehen ist auf eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandene „… Jugendbewegung (Wandervogel und Freideutsche Jugend), die den Anspruch erhoben hatte, daß (!)
die Jugend sich selbst organisieren und erziehen könne“ ({Giesecke 1997 #564: 220}). Für
Nohl bleibt, trotz des Eigenrechtes des Kindes und des Jugendlichen, ein erzieherisch relevantes Verhältnis zwischen den Generationen erforderlich. Viele Kenntnisse und Erfahrungen der heranwachsenden Generation gründen auf der unmittelbaren und persönlichen Begegnung mit der älteren Generation. „… In dem Verhältnis der beiden Generationen zueinander (ist) die eigentliche Grundlage der pädagogischen Arbeit gelegen, weil nicht was sie
lehrt, sondern eben diese reale Verhältnis selber ihr tiefster Gehalt und ihre letzte Bedin2
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gung ist … “ (Nohl 1929, S. 112). Den konkreten Begriff des Pädagogischen Bezuges benutzt
Nohl hier zunächst noch nicht. Diese Bezeichnung taucht erstmals in den „Sozialpädagogischen Vorträgen“ (vgl. Nohl 1927) aus den Jahren 1924 und 1925 auf, dabei jedoch noch
ohne inhaltliche Präzisierung. In dem 1924 gehaltenen Vortrag „Die Pädagogik der Verwahrlosten“ nennt Nohl (vgl. 1927, S. 102) – neben Anlage und Milieu - den Pädagogischen Bezug
als mögliche Ursache für Verwahrlosung. 1925 (vgl. Nohl 1927, S. 52) fordert er zu einer unbedingten Seelenverbundenheit mit dem Jugendlichen in der Reifezeit - heute sprechen wir
von Adoleszenz - auf: „Diese Seelenverbundenheit bleibt einem aber nur, wenn man den
pädagogischen Bezug zur rechten Zeit immer wieder gemäß der Entwicklung des Kindes umgestaltet, dem Geltungswillen des Jugendlichen und seinem Verlangen nach Selbständigkeit
Rechnung trägt und seine neue Geistigkeit mit der Kost nährt, die sie verlangt.“ Nohl nennt
hier bereits Bedingungen des Pädagogischen Bezuges, ohne das Phänomen des Bezuges
selbst inhaltlich zu klären.
In dem 1926 erschienen Aufsatz „Gedanken für die Erziehungstätigkeit des Einzelnen mit
besonderer Berücksichtung der Erfahrungen von Freud und Adler“ verdichten sich Nohls
Vorstellungen vom Pädagogischen Bezug. Hier erkennt er, „… daß das letzte Geheimnis der
pädagogischen Arbeit der richtige pädagogische Bezug ist, das heißt das eigene schöpferische Verhältnis, das Erzieher und Zögling verbindet“ (Nohl 1927, S. 153). Dieses auf Merkmalen wie Liebe, Vertrauen und Achtung aufbauende Verhältnis ist für Nohl (ebd.) „… die Voraussetzung jeder fruchtbaren pädagogischen Arbeit“.
In seinem erstmals 1935 erschienen Hauptwerk „Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie“ widmet Nohl dem pädagogischen Bezug ein eigenes Kapitel. Hier findet sich die im Zusammenhang mit dem Thema des erzieherischen Verhältnisses wohl am
häufigsten zitierte Aussage: „Die Grundlage der Erziehung ist also das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen, und zwar um seiner selbst
willen, daß er zu seinem Leben und seiner Form komme“ (Nohl 1970, S. 134). Diese Beschreibung des pädagogischen Bezuges läßt drei Rückschlüsse zu:
• Das Verhältnis des Erziehers zum Zögling ist von Leidenschaft geprägt, hat also eine
emotionale Komponente.
• Es geht um das Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen;
der pädagogische Bezug geht also grundsätzlich von einem unterschiedlichen Entwicklungsniveau aus und fordert darüber hinaus auf Seiten des Erziehers einen Zustand der Reife.
• Der pädagogische Bezug ist auf das „selbst“ des Zöglings hin ausgerichtet. Erzieherisches Handeln leitet sich also weniger aus externen Zielen und Zwecken ab, sondern
orientiert sich primär am Zögling.
3. Momente des pädagogischen Bezuges
Wolfgang Klafki (1980) hat Nohls Theorie des pädagogischen Bezuges auf sechs tragende
Momente reduziert:
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3.1 Einstellung auf das subjektive Leben des Zöglings
Eines der wichtigsten Kriterien pädagogischen Handelns besteht in der Einstellung auf das
subjektive Leben des Zöglings. Die Aktivität des Pädagogen ist nach Nohl (1949, S. 152) „…
entscheidend dadurch charakterisiert, daß sie ihren Augenpunkt unbedingt im Zögling hat,
das heißt, daß sie sich nicht als Vollzugsbeamten irgendwelcher objektiven Mächte dem Zögling gegenüber fühlt … “. Pädagogik darf sich also keinesfalls als Erfüllungsgehilfe objektiver
Gegebenheiten - wie gesellschaftlichen Normen und Werten, weltanschaulichen Orientierungen, wirtschaftlichen oder religiösen Überzeugungen – verstehen, denen sie bei der
Durchsetzung ihrer Ziele zur Seite steht. Solchen Einflüssen gegenüber muss die Pädagogik
vielmehr unabhängig sein und ihr Handeln einzig in den Dienst des Kindes stellen.
Die Forderungen und Ansprüche der Kultur sind von Nohl jedoch nicht vollständig in Frage
gestellt oder gar verworfen worden. Im Gegenteil, Nohl (1970, S. 128) sagt ausdrücklich:
„Das Kind ist nicht bloß Selbstzweck, sondern ist auch den objektiven Gehalten und Zielen
verpflichtet … “. Allerdings hat Nohl diese Anliegen stets …
Nohl hat die Forderungen und Ansprüche der Kultur keineswegs vollständig in Frage gestellt oder gar verworfen, er hat sie jedoch stets im Hinblick auf den Zögling gedacht und
erzieherisch umgesetzt. „Was immer an Ansprüchen aus der objektiven Kultur und den sozialen Bezügen an das Kind herantreten mag, es muß sich eine Umformung gefallen lassen,
die aus der Frage hervorgeht: welchen Sinn hat diese Forderung im Zusammenhang des Lebens dieses Kindes für seinen Aufbau und die Steigerung seiner Kräfte und welche Mittel hat
dieses Kind, um sie zu bewältigen“ (Nohl 1970, S. 127). Erziehung realisiert sich also nicht in
der Passung des Zöglings an gesellschaftliche Rahmenbedingungen sondern vielmehr in der
Passung solcher Anliegen an den Zögling. Im Ergebnis kommen also beide Seiten – gesellschaftliche wie individuelle Perspektive – zum Tragen, jedoch immer mit Blick auf das Subjekt des Erziehungsprozesses. Der pädagogische Bezug versteht sich an dieser Stelle als Anwalt des Kindes. Die Anwendung des Erziehungsmittels „Strafe“ darf sich also nicht in der
Durchsetzung von Anliegen erschöpfen, sie muss immer am pädagogischen Grundsatz der
Förderung messen lassen.
3.2 Historischer Wandel des pädagogischen Bezuges
In der Tradition eines geisteswissenschaftlichen Verständnisses von Pädagogik stehend, ist
der pädagogische Bezug nicht als zeitlos gültiges sondern als historisches – und damit sich
veränderndes – Phänomen zu verstehen. Klafki (1980, S. 61) spricht an dieser Stelle vom „…
Sachverhalt des historischen Wandels pädagogischer Verhältnisse oder Meinungen“.
Den pädagogischen Bezug mit „Leben“ füllende Elemente wie Autorität, Gehorsam, Vertrauen, sind also keine festen Größen sondern immer wieder neu zwischen den Generationen auszuhandeln und inhaltlich zu bestimmen. Von einer zunächst einmal durch die eigenen Erfahrungen geprägten und auf diese Erfahrungen zurück greifende Generation an Pä4
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dagogen muss folglich eine angemessene Offenheit für Diskussion und Veränderung erwartet werden. Auch hier gilt der Grundsatz der Orientierung am Zögling.
3.3 Der pädagogische Bezug als ein Verhältnis der Wechselwirkung
Der pädagogische Bezug ist kein einseitiges und vom Erzieher auf den Zögling hin ausgerichtetes Beeinflussungsverhältnis, sondern vielmehr ein Verhältnis der Wechselwirkung (vgl.
Giesecke 1997, S. 226). In den „Gedanken für die Erziehungstätigkeit“ von 1926 spricht Nohl
(1949, S. 157) von einer „modernen“ und, wie er in Anlehnung an Gregor feststellt, „aktiven
Pädagogik“, die ihr Gegenüber nicht mehr als bloß passiv aufnehmendes Objekt erzieherischer Handlungen und Maßnahmen sieht: „Überall handelt es sich darum, die Selbsttätigkeit
wachzurufen und den Willen zu gewinnen, wo die alte Pädagogik … mit Dressur, Zwang und
Gewohnheit vorwärtszukommen dachte.“ Diese „neue“ Pädagogik hat Nohl schon 1914 (S.
114) beschrieben: „An die Stelle des Zieles unbedingten Gehorsams und Brechung des Eigenwillens wird Selbständigkeit und Aktivität verlangt, die in der sittlichen Autonomie gipfelt.“ Eine solche Perspektive ebnet den Weg hin zu einer Pädagogik der Interaktion zwischen den Generationen.
In dieses wechselseitige Verhältnis bringen beide Seiten, wie Giesecke (1997, S. 226) feststellt,
… allerdings nicht Gleiches ein. Der Erzieher hat als Erwachsener und als jemand, der
sich in der Auseinandersetzung mit der Welt zu einer reifen Persönlichkeit gebildet hat,
einen entsprechenden Vorsprung vor dem Zögling, auf dem u.a. seine Autorität beruht.
Der Zögling andererseits bringt als unverwechselbare Persönlichkeit seine Spontaneität
in diese Beziehung ein sowie seine gegenwärtige Bedürftigkeit und seine noch unentdeckten künftigen Möglichkeiten, die er nur im Rahmen des pädagogischen Bezugs
gemeinsam mit seinem Erzieher entdecken kann.
3.4 Das mögliche Mißlingen des pädagogischen Bezuges
So wichtig der Aufbau und die Gestaltung einer pädagogischen Beziehung auch ist, der Pädagoge wird nicht „… vergessen dürfen, daß sie nicht zu erwingen ist, daß hier irrationale Momente wirksam sind, wie Sympathie und Antipathie, die beide Teile nicht in der Hand haben,
und er darf darum nicht gekränkt sein oder es gar den Zögling entgelten lassen, wenn ihm
der Bezug nicht gelingt … “ Nohl 1949, S. 154). Ein auf Freiheit und Freiwilligkeit gründendes
Verhältnis beinhaltet stets die Möglichkeit des Misslingens. An dieser Stelle zeigt sich die
Anerkennung der Subjektivität und Souveränität des Zöglings. Nohl (1929, S. 113) selbst sieht
einen wesentlichen Fortschritt der Pädagogik in der „… Erkenntnis, daß der Zögling sein Eigenrecht hat und das pädagogische Wirken von der Berücksichtigung dieses Rechts bedingt
ist“.
Gerade auch der in weiten Teilen irrationale Charakter des pädagogischen Bezuges verbietet es dem Pädagogen, wie Klafki (1980, S. 63) mit Recht fordert, das Verhältnis zum Zög5
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ling über Täuschung oder bewusste sympathieerzeugende Maßnahmen manipulativ zu arrangieren.
Das Misslingen des pädagogischen Bezuges darf auf Seiten des Erziehers weder zu Kränkung und schon garnicht zu Vorwürfen dem Zögling gegenüber führen. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung eines gelingenden erzieherischen Verhältnisses ist der Pädagoge vielmehr verpflichtet, den Zögling „… an jemand anderen zu binden, wenn die Bindung nur
überhaupt erfolgt“ (Nohl 1949, S. 154).
3.5 Die Auflösung des pädagogischen Bezuges
„Die Erziehung endet da, wo der Mensch mündig wird“ (Nohl 1970, S. 132). Es liegt folglich in
der Natur erzieherischen Handelns, mit zunehmender Selbständigkeit des Heranwachsenden
schrittweise zurückgeführt und schließlich ganz aufgehoben zu werden. „Die Pädagogik hat
so das Ziel, sich selbst überflüssig zu machen … “ (ebd.). Auch das pädagogische Verhältnis
beinhaltet von Anfang an „… die Tendenz zu seiner Trennung“ (Nohl 1929, S. 120). Es ist
gleichsam das unwiederbringliche Schicksal aller pädagogischen Bemühungen, mit jedem
Entwicklungsfortschritt des Zöglings diese Trennung selbst herbeizuführen. Im Ergebnis streben beide Seiten – Erzieher wie Zögling – eine Auflösung des pädagogischen Bezuges an; der
Erzieher, indem er die Entwicklung fördert, aber „… auch der Zögling will bei aller Hingabe an
seinen Lehrer im Grunde doch sich, will selber sein und selber machen … “ (Nohl 1970, S.
137).
Wenn auch jede Erziehung auf Selbständigkeit hin ausgerichtet ist, so bleibt doch das
grundsätzliche Verhältnis zwischen den Generationen erhalten. Es ist Nohl (1929, S. 120)
zuzustimmen, wenn er sagt: Das pädagogische Verhältnis „… erschöpft sich nicht in seinen
Zwecken, auch nicht in dem Ziel der Entwicklung der Autonomie der Jugend, sondern als
Lebenszusammenhang und Träger der Kontinuität des Geistes ist es ein Unendliches“.
3.6 Gegenwarts- und Zukunftsorientierung des pädagogischen Bezuges
Die pädagogische Beziehung muss immer zugleich auf die Gegenwart wie auf die Zukunft des
Zöglings hin ausgerichtet sein. Nohl (1970, S. 135f.) sagt an dieser Stelle: „Das Verhältnis des
Erziehers ist immer doppelt bestimmt: von der Liebe zu ihm in seiner Wirklichkeit und von
der Liebe zu seinem Ziel, dem Ideal des Kindes, beides aber nicht als Getrenntes, sondern als
ein Einheitliches.“ Auf Seiten des Erziehers setzt das das Wahrnehmen und Erkennen aktueller Kenntnisse und Kompetenzen aber auch zukünftiger Möglichkeiten des Zöglings voraus.
Mehr noch: im Handeln des Erziehers sollten beide Perspektiven – Gegenwart wie Zukunft –
miteinander verbunden werden. Lee (1989, S. 88) sagt: „Der Erzieher muß realistisches Sehen und idealistisches Wollen in sich tragen.“ Zukünftige Möglichkeiten und daraus abgeleitete Ziele dürfen dabei jedoch keinesfalls die Erfüllung gegenwärtiger Anliegen und Bedürfnisse verhindern. Nohl (1949, S. 152) sieht vielmehr in jeder Lebensstufe, ja in jedem Augen-
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blick des Kindes einen Eigenwert, „… der nicht bloß der Zukunft geopfert werden darf, sondern nach seiner selbständigen Erfüllung verlangt“.
Der schwierige Balanceakt einer für Erzieher und Zöglinge angemessenen und dabei
gleichzeitig akzeptablen Verknüpfung gegenwärtiger und zukünftiger Anliegen macht pädagogisches Handeln in jedem Moment zu einer „… Doppelleistung … , die das zukünftige Ziel
mit dem Gegenwartsglück der Jugend in eins bringen muß“ (Nohl 1929, S. 116).
4. Kritik an Nohls Theorie des pädagogischen Bezuges
Obwohl der pädagogische Bezug zu den zentralen Themen und Anliegen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik zählte, ist er schnell auch in die Kritik geraten und auf Widerstand
gestoßen.
4.1 Theodor Litt: Isolierung des pädagogischen Vorgangs
Schon früh machte Litt (1960, S. 118) auf das „Grundgebrechen“ des pädagogischen Bezuges, „… den pädagogischen Vorgang unzulässig von der Gesamtlage (zu) isolieren … “, aufmerksam. Die Reduzierung des Erziehungsvorgangs auf das Verhältnis von Erzieher und Zögling birgt zweifellos das Risiko, zu einem abgesonderten Schonraum zu werden, der an der
Realität des Lebens vorbei wirkt. Die Theorie des pädagogischen Bezuges hat, so nochmals
Litt (1960, S. 117), „… die überpersönlichen Mächte aus den Augen verloren, die in jedem
erzieherischen Vorgang im Spiel sind. Erzieher und Zögling stehen einander niemals wie im
luftleeren Raum gegenüber. Jede, auch die geringfügigste erzieherische Handlung ist durchwirkt von Beziehungen, die über die Grenzen dieses interpersonalen Verhältnisses hinausführen“.
4.2 Wolfgang Klafki: Mangelnder Ernstcharakter
Klafki (1975, S. 61) führt die Kritik Litts weiter, indem er die einseitige Konzentration erzieherischen Geschehens auf die „Binnenstruktur“ des Verhältnisses zwischen Erzieher und Zögling mit „pädagogischen Provinzen“ vergleicht, „… in die die Real- und Ernsterfahrungen und
–ansprüche des Lebens nur gleichsam gefiltert Einlaß finden … “. Das Erfahren von Realität
durch den peramenten „Filter“ des Erziehers hindurch erschwert die Bildung adäquater, d.h.
auf eben diese Realität zugeschnittener Handlungskompetenzen. Insbesondere die Entwicklung sozialer Tugenden, wie etwa der Übernahme von Verantwortung, ist nach Klafki (a.a.O.,
S. 62) jedoch zwingend an einen realen Kontext, der erzieherisch in Form exemplarischer
Ernsterfahrungen umgesetzt werden kann, gebunden: „Die entscheidende Frage lautet: Erfährt der junge Mensch sein Handeln als Aufgabe, als ernsthaftes Tun, als Bewährungsprobe,
als Hingabe an Forderungen, denen er sich nicht entziehen kann?“
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4.3 Anton Semjonowitsch Makarenko: Subjektive Beliebigkeit
Der russische Pädagoge Makarenko übt scharfe Kritik an einem Bild von Erziehung, das sich
zwar an der Vermittlung gesellschaftlich relevanter Kompetenzen orientiert, den Faktor Gesellschaft – Makarenko spricht vom Kollektiv – in der Umsetzung jedoch stark vernachlässigt,
schlimmer noch, in das Belieben des Erziehers stellt. „Die Erreichung der Ziele des Kollektivs,
die gemeinsame Arbeit, Pflicht und Ehre des Kollektivs dürfen nicht zum Spielball zufälliger
Launen einzelner Menschen werden“ Makarenko 1961, S. 353).
Auftrag und Inhalt pädagogischen Tätigseins dürfen sich also keinesfalls aus der Hinwendung zum Einzelnen ableiten sondern müssen einzig auf die Planung und Schaffung gemeinschaftlicher Strukturen bzw. Organisationsformen beschränkt sein. „Kein Moralpauken unter
vier Augen, sondern eine taktvolle und weise Lenkung des richtigen Wachstums des Kollektivs: das ist des Lehrers Berufung“ (a.a.O., S. 353f.).
4.4 Hermann Giesecke: Mangelnde Professionalität
Gieseckes Kritik orientiert sich an einem modernen und professionellen Selbstverständnis
pädagogischen Handelns. Die Theorie des pädagogischen Bezuges ist seiner Meinung nach
Ausdruck eines familiären Leitbildes, das sich auf professionelle pädagogische Anliegen und
Tätigkeiten nicht ohne weiteres übertragen lässt (vgl. Giesecke 1975, S. 222). Obwohl schon
zu Nohls Zeiten pädagogisches Handeln – etwa das des Lehrers – in einem deutlich professionellen Kontext stand, fehlt seinem Konzept doch die „… Ablösung von seiner familiären
Herkunft“ (Giesecke 1997, S. 230). Der durch Begriffe wie Vertrauen und Liebe sehr persönliche und emotional zugeschnittene pädagogische Bezug Nohlscher Prägung ist für eine professionelle Deutung und Wahrnehmung pädagogischer Tätigkeiten als „Lernhelfer“ (Giesecke 1975, S. 226) ungeeignet: „Pädagoge sein ist ein moderner Dienstleistungsberuf wie viele
andere auch. Und genausowenig, wie man von anderen Berufen einen ständigen Einsatz der
gesamten personalen Existenz erwartet, darf man dies heute von einem professionellen Pädagogen erwarten.“
4.5 Hans-Jochen Gamm: Herrschaftsorientiertes Sozialverhältnis
Die ungeachtet der grundsätzlichen Orientierung pädagogischen Handelns am Zögling bestehende herausragende Bedeutung des Erziehers, die sich nicht zuletzt in den von Nohl
(1970, S. 138f.) benutzten Begriffen Autorität und Gehorsam widerspiegelt, lässt den pädagogischen Bezug für Gamm (1970, S. 29f.) zu einem „herrschaftsorientierten Sozialverhältnis“ und in der Konsequenz zu einem „fragwürdigen Nachfolgeverhältnis“ werden. Im pädagogischen Bezug drückt sich eine Über- bzw. Unterordnung der beteiligten Akteure aus, die
im Widerspruch zu stehen scheint zu demokratisch orientierten. Schäfer/Schaller (1976, S.
166f.) stellen daher fest: „… Eine Erziehung, die zur Emanzipation in Wort und Tat erziehen
möchte, wird den Erziehungsprozeß nicht in einem Herrschaftsverhältnis ansiedeln dürfen,
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sonst könnte allzuleicht das Gegenteil von dem erreicht werden, was erreicht werden soll,
nämlich Unmündigkeit und Untertanengeist.“
4.6 Klaus Bartels: Lähmung der Selbsttätigkeit des Zöglings
Eine überstarke Betonung der Erzieherrolle führt auf Seiten des Zöglings fast zwangsläufig zu
einer Reduzierung seiner Eigeninitiative. Aus schulischer Sicht stellt Bartels (1979, S. 279)
fest: „Die alleinige Repräsentation der Welt durch die Person des Lehrers kann, zur conditio
sine qua non gemacht, die geistige Selbsttätigkeit zumal des älteren Schülers geradezu lähmen.“ Die moderne Entwicklungspsychologie beschreibt die Aneignung von Welt schon lange als Prozess und Ergebnis einer aktiven Auseinandersetzung der sich entwickelnden Person
mit seiner Umwelt. Auf der Ebene der pädagogischen Umsetzung finden sich an dieser Stelle
Begriffe wie Selbststeuerung, entdeckendes Lernen, Partizipation – um nur einige Beispiele
zu nennen. Für den Erzieher leitet sich daraus – als eines der tragenden Elemente des pädagogischen Taktes, wie ihn Muth (1967) beschreibt – größtmögliche Zurückhaltung ab.
5. Fazit
Nohls Theorie des pädagogischen Bezuges ist mehr als eine vorübergehende Erscheinung
aus der Epoche einer sich entwickelnden geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Von den spezifischen Aussagen Nohls einmal absehend, zeigt sich im pädagogischen Bezug ein menschliches „Urverhältnis“ (Giesecke 1997, S. 227), das auch in der heutigen Pädagogik uneingeschränkte Gültigkeit verlangen darf und verlangen muss. „In ihrer primären Struktur ist …
Erziehung ein interpersonales Geschehen, dessen fundamentale Voraussetzungen die umfassende Sorge des Erziehenden für den Educandus sowie die Erwiderung dieser Haltung
durchdie vertrauende Einstellung des letzteren bilden“ (Xochellis 1974, S. 96). Auch die in
Teilen berechtigte Kritik darf das Faktum einer lebendigen Beziehung zwischen den am Erziehungsprozess beteiligten Personen nicht grundsätzlich in Frage stellen, sondern höchstens
zu einer inhaltlichen Neubestimmung tragender Elemente, wie Liebe, Autorität und Gehorsam, führen.
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6. Quellenverzeichnis
Zentrale Quellen:
KLAFKI, WOLFGANG: Das pädagogische Verhältnis. In: Klafki u.a. (Hrsg.): Funk-Kolleg Erziehungswissenschaft. Band 1. 15. Auflage. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1980, S. 5591.
NOHL, HERMAN: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie. 7. Auflage.
Frankfurt a.M.: Schulte-Bulmke 1970.
Alle benutzten Quellen:
BARTELS, KLAUS: Pädagogischer Bezug. In: Speck, Josef; Wehle, Gerhard (Hrsg.): Handbuch pädagogischer Grundbegriffe. Band 2. München: Kösel 1970, S. 268-287.
GAMM, HANS-JOCHEN: Kritische Schule. Eine Streitschrift für die Emanzipation von Lehrern und
Schülern. 4. Auflage. München: List 1970.
GIESECKE, HERMANN: Einführung in die Pädagogik. 7. Auflage. München: Juventa 1975.
GIESECKE, HERMANN: Die pädagogische Beziehung. Pädagogische Professionalität und die
Emanzipation des Kindes. Weinheim: Juventa 1997.
KLAFKI, WOLFGANG: Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. 8./9. Auflage. Weinheim: Beltz
1967.
KLAFKI, WOLFGANG: Das pädagogische Verhältnis. In: Klafki u.a. (Hrsg.): Funk-Kolleg Erziehungswissenschaft. Band 1. 15. Auflage. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1980, S. 5591.
LEE, JONG-SEO: Der Pädagogische Bezug. Eine systematische Rekonstruktion der Theorie des
Pädagogischen Bezuges bei H. Nohl unter Berücksichtigung der Kritiken und neueren Ansätze. Frankfurt a.M.: Haag und Herchen 1989.
MAKARENKO, ANTON SEMJONOWITSCH: Werke. Fünfter Band. Berlin: Volk und Wissen 1961.
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