Das Planungskonzept eines Zen
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Das Planungskonzept eines Zen
Das Planungskonzept eines Zen-Gartens Hajo Lauenstein • RWTH Aachen University Steingarten aus dem 15. Jahrhundert im Areal des Ryōan-Tempels bei Kyōto Das Planungskonzept des Ryōan-Steingartens Inhalt Seite 1. Einleitung 1 2. Vorbemerkungen 2 3. Thematisches Konzept 4 3.1 Das Inselreich 3.2 Die Lo-Shu-Zahlen 3.3 Der Meditationsort 4. Strukturelles Konzept 4.1 Die Maßbezüge und Proportionen 4.2 Die Ellipse der Steinsetzung 4.3 Das „Goldene Rechteck“ als Grundrissfigur 4.4 Die Bestimmung des Einheitsmaßes 5. Überlegungen zum Planungshergang 4 6 8 9 9 10 11 11 13 Das Planungskonzept des Ryōan-Steingartens 1. Einleitung Der Steingarten im Ryōan-ji-Areal in Kyōto, geschaffen von einem buddhistischen ZenMeister, soll genau so wie er sich heute darbietet schon vor mehr als 500 Jahren ausgesehen haben: Eine ca. 24 x 10 m große, völlig plan geharkte helle Kiesfläche mit fünf eingestreuten Steingruppen in einem Hofraum, der umgrenzt ist durch eine mit Satteldach bekrönte Mauer und durch das ehemalige Priester-Wohnhaus (Hōjō) mit einem weit überkragenden Dach. Einziges Grün im Hof ist das Moos, das die Steinsetzungen säumt, doch umgeben ist dieses karge Ensemble aus Stein und Holz von üppiger Vegetation. Schon allein dieser Kontrast ist eindrucksvoll und es ist nicht der einzige, der hier ganz bewusst inszeniert wurde. Ebenfalls zum Konzept gehören der Kontrast zwischen der im Sonnenlicht gleißenden Kiesfläche und dem Dunkel der – extra höher gelegten – Veranda im Schlagschatten des Hōjō-Daches und nicht zuletzt auch der Kontrast zwischen dem strengen rechteckigen Rahmen und der regellos erscheinenden Anordnung der Steingruppen unterschiedlichster Form und Größe. 1 Abb. 1: Gartenansicht vom östlichen Eingang her Aber diese Kontraste allein können es nicht sein, die alljährlich tausende Besucher aus aller Welt in ihren Bann ziehen und in geradezu andächtige Stimmung versetzen. „Zazen“ – in Versunkenheit sitzend Natur schauen – ist eine Meditationsform des ZenBuddhismus. Die Ruhe in diesem kleinen Geviert und nicht zuletzt die asketische Beschränkung in der Wahl der Gestaltungsmittel ist dieser Verinnerlichung sicher dienlich, doch wenn ein Kunstwerk – über alle Länder- und Kulturgrenzen hinweg – als beeindruckend empfunden wird, sind immer auch ordnende Bezüge im Spiel, die „unter die Haut gehen“, selbst wenn man sie überhaupt nicht bewusst wahrnimmt. Dass es solche Ordnungskriterien hier gibt, hat noch niemand überzeugend beweisen können, und ob es überhaupt ein Entwurfskonzept gab, ist nicht belegt. Angeblich sind die Geheimnisse der Zen-Gartenkunst nur mündlich weiter gegeben worden. 1 Alle Fotos aus http://kyoto.asanoxn.com/places/kinkaku/ryoanji 1 2. Vorbemerkungen Obwohl eigentlich kein Kunstschaffender in Abrede stellt, dass der Schönheit und Harmonie von Gestaltetem immer ein Gefüge ordnender Bezüge zugrunde liegt, wird doch eher mehrheitlich bezweifelt, dass es verallgemeinerbare Regeln, Prinzipien geben könnte für die Komposition von Formen, Farben, Tönen, Gerüchen. Es sei das einträchtige Zusammenwirken, der Einklang von Ungleichartigem oder gar Entgegengesetztem – so die Definition von Harmonie – nicht per Maß oder Regel zu bewerkstelligen und das Urteil, wie schön etwas aussieht, klingt, riecht oder schmeckt, falle individuell verschieden aus. Weitgehende Übereinstimmung im Schönheitsempfinden sei allenfalls ein erziehungsbedingter Konsens und je nach Kulturkreis womöglich sogar völlig gegensätzlich. Das ist durchaus nicht gänzlich von der Hand zu weisen, ändert aber andererseits nichts an der Tatsache, dass Gestalten immer das Zusammenfügen von Einzelelementen zu einem Ganzen auf höherer Ordnungsstufe ist. Und wo eine vom Menschen geschaffene Ordnung besteht, gibt es auch Bezüge, die – ob bewusst oder unbewusst – nach Regeln hergestellt wurden. Irgendwie sind immer Zahlen-, Maß- und Proportionsverhältnisse im Spiel, die Zusammenhänge herstellen oder Gegensätze verdeutlichen. In der Gesellschaft wie in der Kunst bildet der politisch-kulturelle Hintergrund selbstverständlich immer die Basis für einen – zumindest regionalen – Konsens. In der Bau- und Bildkunst erwächst daraus ein Kanon der Formen, Farben, Materialien. Allerdings ist es für nachfolgende Generationen (zumal anderer Kulturkreise) nicht immer einfach, die Bedeutung eines Kunstwerkes zu erfassen, wenn sich in diesem ein ideologischer oder mythologischer Sinngehalt verbirgt. Nennen wir den ideellen Hintergrund – egal, ob z.B. funktionelle Bestimmung oder proklamatische Bekundung irgendeiner Auffassung – das „thematische Konzept“. Es liegt aber jedem Produkt künstlerischen Schaffens, ob Bauwerk oder Klangwerk, ob plastischer oder ornamentaler Schmuck, Gemälde oder Zeichnung, Park oder Garten, immer auch Maß, Zahl und Proportion zugrunde, – ein „strukturelles Konzept“. Dass es Kunstwerke gibt, denen über die Jahrhunderte und alle kulturellen Grenzen hinweg einhellig Schönheit und harmonische Ausstrahlung bescheinigt wird, bedarf keines Beweises, aber bei der Beantwortung der Frage, worauf der offensichtlich doch existierende Grundkonsens, der kleinste gemeinsame Nenner, für ein gewissermaßen weltumspannendes Harmonie-Empfinden beruht, geraten wir in Erklärungsnot, obgleich wir sehr wohl wissen, dass der ganze menschliche Körper ein komplexes Regelwerk ist, dessen Rezeptoren für die Wahrnehmung von Umweltreizen bei allen Menschen weitestgehend nach denselben physikalischen und biochemischen Gesetzmäßigkeiten funktionieren. Warum also wird noch immer bezweifelt, dass eine klare geometrische Ordnung, klar erkennbare Maßbezüge von Gestaltetem in der Bau- und Bildkunst für uns besonders eingängig sind und dass deshalb all dem, was weltweit einvernehmlich als besonders „schön“ gilt, immer auch eine nachweisbare arithmetische und geometrische innere Ordnungsstruktur zugrunde liegt? Glaubhafter Überlieferung zufolge hatte Pythagoras im 6. Jh. v. Chr. herausgefunden, dass ein harmonischer Zusammenklang zweier Töne nur gegeben ist, wenn sie in bestimmten ganzzahligen Verhältnissen zueinander stehen. Er soll sinngemäß gesagt haben, dass die Zahlenverhältnisse, durch welche die Harmonie der Klänge erreicht wird, die unseren Ohren so angenehm ist, auch in unseren Augen Wohlgefallen finden. Fortan wurde diesem Postulat durch Übertragung musikalischer Zahlenverhältnisse auf die Proportionen ungezählter Bauten, Plastiken und Gemälde Rechnung getragen. 2 Am „Athenatempel“ von Paestum (um 510 v. Chr.), der noch zu Pythagoras’ Lebzeit gebaut wurde und heute als der schönste des gesamten Tempelbezirkes gilt, sind die musikalischen Harmonien konsequent bis ins Detail im Grundriss und Aufriss – seitlich wie frontal – als Maßverhältnisse visualisiert. Der „Doryphoros“ des Bildhauers Polyklet (um 450 v. Chr.), proportioniert nach dem pythagoreϊschen harmonikalen System, das auch mathematisch durch die so genannte „Kanonteilung“ untermauert ist, gilt – unter dem Namen „Kanon“ – als Inbegriff des schön gebauten Menschen. In einem der berühmtesten Bildwerke Raffaels, der „Schule von Athen“ (1510), ist die pythagoreϊsche Harmonielehre nicht nur bildlich thematisiert, sondern auch Rahmenvorgabe für die harmonikale Bildkomposition. Den Nachweis des Konzeptes harmonikaler Proportionierung an diesen drei Kunstwerken habe ich erstmalig umfassend erbringen können und in Buchform publiziert.2 Die Erfahrung im Aufspüren arithmetischer und geometrischer Konzeptionen sollte nun dafür herhalten, den geheimnisumwitterten Ryōan-Steingarten auf das Vorhandensein struktureller Zusammenhänge zu untersuchen und vielleicht doch konzeptionelle Hintergründe und Prinzipien nachzuweisen, die maßgeblich an dessen beeindruckender Gesamtwirkung beteiligt sein könnten. Das Vorhaben erschien zugegebenermaßen zunächst fast aussichtslos, denn außer der rechteckigen Umgrenzung ist von einer inneren strukturellen Ordnung – zumindest auf den ersten Blick – nichts zu sehen. Und mit den Proportionsprinzipien der musikalischen Harmonielehre des Pythagoras war hier sicherlich auch nichts anzufangen, denn als die Anlage gegen Ende des 15. Jahrhunderts entstand, war in Italien die Rückbesinnung auf klassische Ideale und damit auch auf die – damals 2000 Jahre alte – pythagoreϊsche Harmonielehre gerade erst im Aufkeimen begriffen. Als erste Europäer sind 1543 Portugiesen auf einer japanischen Insel gelandet, besser gesagt: gestrandet. Und diese vom Pazifik her aufgelaufenen, deshalb „Südbarbaren“ genannten Seeleute haben sicherlich nicht europäisches Kunstverständnis importiert. Nitschke3 schreibt, „Dieser Trockenlandschaftsgarten ist berühmt für das ästhetische Kalkül, mit dem die 15 Steine auf seiner leeren Sandfläche verteilt sind“, stellt aber fest, das Ergebnis verschiedener gelehrter Interpretationsversuche sei – „ob Erklärungsversuch mittels einer geheimen Geometrie oder mittels der Regeln für den Balanceakt mit ungeraden Zahlen“ – immer unbefriedigend. Wenn er damit beispielsweise auf Doczi4 anspielt, der ohne jegliche Beweisführung der Anlage den „Goldenen Schnitt“ übergestülpt hat, muss man ihm Recht geben, aber grundsätzlich gibt es kein in einer Gestaltung manifestiertes „Kalkül“, keine „Regel für einen Balanceakt“ und vor allem kein arithmetisches oder geometrisches Spiel, das nicht heraus zu finden wäre. „Keine Harmonie ohne ordnende Zusammenhänge“ war die Ausgangsthese meines Vorhabens. Es galt in erster Linie, nach einem „strukturellen Konzept“ zu suchen, nach vielleicht doch zugrunde liegenden Entwurfsprinzipien. Und die gibt es tatsächlich! Zunächst allerdings habe ich (als „unbedarfter“ Europäer – mit allergrößtem Respekt) gewagt, die Frage nach einem „thematischen Konzept“, nach einem Programm zu stellen, und auch hier glaube ich – wenigstens in Teilen – fündig geworden zu sein. 2 Lauenstein, Hajo: Arithmetik und Geometrie in Raffaels Schule von Athen. Peter Lang, Frankfurt a. M. 1998 Nitschke, Günther: Japanische Gärten. Köln, 1999 4 Doczi, György: Die Kraft der Grenzen. Dianus-Trikont, München 1984 3 3 3. Thematisches Konzept 3.1 Das Inselreich ‚Inseln in einem Meer’ denken vermutlich so ziemlich alle, wenn sie der Steingruppen in der völlig ebenen, hellen Fläche ansichtig werden. Bestärkt wird diese Assoziation durch die in den Kies geharkten Wellenbänder, welche die ‚grünen Ufer der Inseln’ umspülen. Dieser Eindruck ist berechtigt und beabsichtigt, aber nur die „halbe Wahrheit“, denn hier hat jede der Gruppen und sogar jeder einzelne Stein eine ganz konkrete Bestimmung! Abb. 2: Die Zentralgruppe Z mit dem höchsten Stein In ellipsoider Krümmung, spannungsvoll nach rechts gegen die Verandamitte (= Mitte Hōjō-Ausgang) versetzt, reihen sich die vier Steingruppen A bis D um die Zentralgruppe mit dem höchsten aller Steine (Abb. 2). Sicherlich stehen die 5 Steingruppen für die „Fünf Berge“ der „gozan“-Klöster, aber ich glaube, überzeugend nachweisen zu können, dass die 15 Steine zugleich Bergmassive und Einzelberge der vier Hauptinseln Japans symbolisieren: A – Hokkaidō, B – Honshū, C – Shikoku und D – Kiushu. Abb. 3: Grundriss der Anlage mit den Steingruppen A – D und der Zentralgruppe Z 5 Möglicherweise nicht gänzlich zufällig liegen die Honshū-Steine (Gruppe B) vom HōjōAusgang her gesehen genau im Süden und die O-W-Achse wird – vielleicht auch nicht unbeabsichtigt – von den Hauptsteinen der Gruppen A und D gefasst (Abb. 3). 5 Zeichnung basiert auf einer Abbildung in Itoh, Teiji: Die Gärten Japans. Du Mont, Köln 1985, S. 172 4 Die Anordnung und Form der Steine ist verblüffend realistisch, denn so etwa sähe der Betrachter die höchsten Gipfel der Berglandschaft von einem Schiff weit draußen auf dem Japanischen Meer. Lediglich das „Highlight“ auf Honshū, der Fuji-san mit seinen 3776 Metern Höhe, wäre durch das riesige Bergmassiv der Gruppe B verdeckt und so nahm man sich die Freiheit, den Fuji und zwei seiner Begleiter (Abb. 4, blau) in den Vordergrund zu holen. Ebenfalls unter „künstlerische Freiheit“ fällt der unterschiedliche Maßstab sowie die Tatsache, dass D – Kiushu deutlich näher heran gezogen wurde, aber – wie im Folgenden noch gezeigt wird – aus gutem Grund. Abb. 4: Die Verortung der Steingruppen auf den vier Hauptinseln (Garten ca. 45° östlich verschwenkt) Die Abbildung der – entsprechend vergrößerten – Steingruppen auf den vier Hauptinseln zeigt, dass der längste aller Steine der Gruppe B (für das Gebirgsmassiv auf Honshū) aus gestalterischen Gründen in vergleichsweise kleinem Maßstab gehalten ist und dass die Lage der Steingruppen im Garten nicht der realen geografischen entspricht, sondern durch die O-W-Längserstreckung der Kiesfläche bestimmt ist. A-Gruppe (5 Steine) – auf Hokkaidō: Zentralgruppe = Ashai-dake (2291 m) mit zwei kleineren Nachbarn linker Nebenstein = Hako-dake (1155 m) rechter Nebenstein = Peroshi (2052 m) B-Gruppe (2 Steine) – auf Honshū: Die beiden Steine stehen hier offensichtlich nicht für einzelne Berge, sondern für die gesamte Bergkette der Hauptinsel. Die höchsten Berge des Zentralmassivs sind der Shirane-san (3291 m) und Yariga-dake (3180 m). 5 C-Gruppe (2 Steine) – auf Shikoku: Hier ist ausnahmsweise der kleinere Stein höher als der Hauptstein; er steht für den Ishitsushi (1982 m), welcher höher ist als das Bergmassiv zwischen den Städten Kōchi im Süden und Tokushima an der Ostseite von Shikoku. D-Gruppe (3 Steine) – auf Kiushu: Zentralstein = Aso-Bergmassiv linker Nebenstein = Karakuni-dake (1700 m) rechter Nebenstein = Kuju-San (1791 m) Das Konzept zeugt von erstaunlicher Kenntnis der Geografie und Topografie Japans. Der Schöpfer der Anlage ist entweder selbst mit dem Schiff auf dem gesamten japanischen Meer unterwegs gewesen und müsste sich sogar vom Pazifik her dem Fuji-san genähert haben oder er hatte Zeichnungen von Seefahrern zur Vorlage. Anders ist die frappierende Stimmigkeit der Steinsetzung nicht zu erklären. Auf die nahe liegende Frage, ob mit dieser miniaturisierten Darstellung des gesamten japanischen Inselreiches der Wunsch nach landesweiter Verbreitung bzw. Geltung des Zen-Buddhismus (bereits im 12. Jh. aus China nach Japan gelangt) zum Ausdruck gebracht werden sollte, wage ich nicht einzugehen, obgleich das ein durchaus wichtiger Aspekt des programmatischen Konzeptes wäre. 3.2 Die Lo-Shu-Zahlen Fünfzehn Steine sind in der Kiesfläche verortet, und das legt den Gedanken an das damals schon mehr als 3000 Jahre alte (ebenfalls aus China nach Japan gelangte) magische Lo-Shu-Quadrat nahe. 4 9 2 3 5 7 8 1 6 Es sind in diesem Quadrat die Zahlen 1 bis 9 so geordnet, dass jede Zeile, Spalte und Diagonale die Summe 15 ergibt. Die Ecken nehmen die geraden Zahlen ein, welche für das weibliche Yin stehen und kreuzförmig angeordnet sind die ungeraden Zahlen, die das Yang, das männliche Prinzip, symbolisieren. Man fragt sich allerdings, warum hier dem Fuji die unbedeutenden zwei flankierenden Höhenzüge als Nebensteine (s. Abb. 2) hinzugefügt worden sind. Allein in einer kreisrunden Moosfläche wäre er sogar noch deutlicher als Besonderheit hervorgetreten. Zwei Steine mehr hätte auch die B-Gruppe im Hintergrund, die für die größte Insel steht, gut vertragen und so hätte man die Zahlen 1 bis 5 als Gruppengrößen gehabt. Der einzige Sinn der zunächst unsinnig erscheinenden Entscheidung für zwei Zweierund zwei Dreiergruppen wäre darin zu sehen, dass sich dadurch in der Steinsetzung jeweils drei dieser Lo-Shu-Zahlen im Zusammenhang „ablesen“ lassen – senkrecht zur Veranda und eventuell in Schrägsicht beim Abschreiten der Fläche vom östlichen Eingang bzw. vom Zugang westlich des Hōjō her. Und das ist, wie Abbildung 5 zeigt, tatsächlich der Fall: Senkrecht zur Veranda ist die Steinsetzung gegliedert in die Zahl 5 der östlichen Gruppe A, die Zahl 2 der Honshū-Gruppe B (s. Abb. 6) und die 8 Steine der enger benachbarten westlichen 3 Gruppen (s. Abb. 7). Beim Abschreiten von Osten und Schrägsicht in Westrichtung sieht man deutlich die Reihe 7 - 5 - 3 und von Westen her kann man – mit gutem Willen – die Reihe 2 - 6 - 7 ausmachen. Im Lo-Shu-Quadrat überwiegt das Männliche, hier jedoch sind weibliche und männliche Zahlen „gleichberechtigt“ zum Einsatz gekommen: Yin – 2, 6 und 8 / Yang – 3, 5 und 7. 6 Abb. 5: Die Lo-Shu-Zahlen in der Steinsetzung B A Z C D Abb. 6: 5er-Gruppe A u. 2-er Gruppe B Abb. 7: 3er-Gruppen Z u. D u. 2er-Gruppe C Auffällig sind folgende Zahlenverhältnisse: 1:2 – zentral in der Ost-Gruppe A sowie in den Gruppen Z und D 2:3 – A zentral + Nebensteine, Gruppen B : Z, C : Z, C : D 3:5 – West-Gruppe D : Ost- Gruppe A und D : Z+C 5:8 – mit Gruppe A zur West-Gruppierung Z+C+D. Es stellt sich die Frage, ob 1 : 2 : 3 : 5 : 8 etwa ein Hinweis auf die Zahlenreihe des „Goldenen Schnittes“ (Fibonacci-Reihe) ist und ob hierbei vielleicht zugleich an die musikalischen Harmonien Oktave, Quinte, Große Sexte und Kleine Sexte gedacht wurde. Zweifel daran müssen allerdings aufkommen, weil die Ostgruppen B und A mit 2 : 5 kein harmonikales Klangverhältnis repräsentieren und weil 2 und 5 in der Zahlenreihe des „Goldenen Schnittes“ nicht nebeneinander stehen. Letzterer fand sich aber dann überraschenderweise dennoch geometrisch im Grundriss, doch das ist Teil des strukturellen Konzeptes und wird später abgehandelt. 7 3.3 Der Meditationsort Bereits erwähnt wurde, dass die B-Gruppe, welche für die Hauptinsel Honshū steht, vom Hōjō-Ausgang her genau im Süden liegt. Wenn also von dort her gesehen die Sonne über der B-Gruppe steht, ist es 12 Uhr wahrer Ortszeit (WOZ). Diese „Mittagsachse“ weckte den Verdacht, dass eventuell andere Steine in gleicher Weise eine ungefähre „Zeitansage“ liefern könnten, doch von vornherein zweifelhaft war das insofern, als die Hōjō-Überdachung bis über den Plattenweg reicht (s. Umschlagblatt u. Abb. 1) und man bis an den Rand des Steges vor der Veranda treten müsste, um die Sonne zu sehen. Gewissheit sollte die Überprüfung anhand der Sonnenstände in Kyōto (35° N / 135° O) vom Frühlings- und Herbstanfang (Tag- u. Nachtgleiche) sowie vom Sommeranfang (längster Tag des Jahres) bringen.6 Wie der Vergleich der Sonnenstände des Jahres 1500 mit den heutigen Elevatios- und Azimutwerten zeigte, stand – bedingt durch die Präzession der Erdachse – die Sonne damals am Frühlingsanfang zur Mittagszeit etwa 3,5° höher als heute, jedoch nur wenig mehr als 1° westlicher und am Sommeranfang war die Abweichung noch geringer. Das ist für unsere Betrachtung vernachlässigbar und jedenfalls nicht die Ursache dafür, dass die Anlage – etwa wegen Ausrichtung nach dem Sonnenhöchststand – um ca. 5° gegen den Uhrzeigersinn von der exakten N-S- bzw. O-W-Lage abweicht (s. Abb. 3). Da der vertikale Winkel von der Vorderkante der Veranda zur Dachtraufe ca. 50° beträgt, liegt die Verandafläche – wie die Angaben für die Sonnenhöhen (Elevation) zeigten – zum Frühlings- und Herbstbeginn von 11 - 13 Uhr WOZ und am Sommeranfang von 9 – 15 Uhr WOZ im Vollschatten. Mit den horizontalen Einstrahlungswinkeln (Azimut) zu den vollen Stunden für die beiden Stichtage wurde von verschiedenen Punkten auf der Veranda, auf dem davor liegenden Steg und auf dem Plattenweg am Rande der Kiesfläche überprüft, ob die Sichtwinkel zu den Steinen mit Azimutwerten des Sonnenstandes übereinstimmen, doch fand sich dafür kein überzeugender Standort. Eine Zeitbestimmung auf diese Weise wäre wohl auch zu ungenau gewesen für das Anzünden der kalibrierten Kerzen und Räucherstäbchen, die gewöhnlich in den Innenräumen als „Uhren“ dienten. Die erste mechanische Uhr aus Europa soll im Jahr 1551 nach Japan gelangt sein7, aber noch lange Zeit danach blieb man auf Sonnenuhren angewiesen, deren kürzester Stabschatten die örtliche Tagesmitte (12 Uhr WOZ) anzeigte, und so haben die Stundenschläge der Tempelglocken für ihre „Wanderung“ von Hokkaidō bis Kiushu (15° Längengrade) eine Stunde gebraucht. Unsere „Wanderung“ mit den Azimut-Winkeln über den Gartengrundriss hat nicht weniger lange gedauert, war aber dennoch nicht gänzlich vergebens: Genau vor der Mitte der Kiesfläche am Rande des Steges sitzend sieht man die Steingruppen in ziemlich genau gleichen horizontalen Winkelabständen von der Sichtachse, – A und B wie Z und D und Letztere wiederum liegen im gleichen Winkel zum hohen Stein der Gruppe C. Abb. 8: Der Meditationsplatz? 6 7 http://www.sunearthtools.com/dp/tools/pos_sun.php?lang=de" oder http://ssd.jpl.nasa.gov/horizons.cgi Hitotsubasi Jornal of Social Studies 35 (2003), pp.47-62. Hitotsubashi University 8 Vor der Mitte der Kiesfläche sitzend empfängt man den ruhigsten Eindruck vom Gartenraum und das dürfte der „Verinnerlichung“ am ehesten zuträglich sein. Wenn der ZenPriester im Garten meditieren wollte, dann sicherlich bevorzugt auf diesem Platz. 4. Strukturelles Konzept 4.1 Die Maßbezüge und Proportionen Die Gartenmauer, welche die Süd- und Westseite begrenzt, definiert – gemeinsam mit der Verandavorderkante V – einen exakt im Verhältnis 2 : 1 (Oktave?!) proportionierten Raumgrundriss. Die drei Steine der Zentralgruppe Z umschließen einen Punkt, in welchem die Kiesfläche (Umrandung = Doppellinie) in der N-S-Breite wie auch in der O-W-Länge im Verhältnis 3 : 5 geteilt wird und der Vergleich mit Abbildung 2 lässt erkennen, dass beide orthogonale Achsen im jeweils höchsten Punkt der drei Zentralsteine liegen. Der randnahe Stein von Gruppe A und die ausgewinkelte Einfassung markieren eine weitere 3:5-Teilung der N-S-Breite und auch der Abstand der Spitzenpunkte von A und D wird durch die Lotrechte im Spitzenpunkt von B im Verhältnis 3:5 geteilt. Halbiert wird die N-S-Breite in A und eine 2:3:2-Teilung findet sich rechts bei C und D. Abb. 9: Die proportionale Flächenteilung durch die Steingruppen Identisch sind folgende Abstände von Steinspitzen und Raumkanten: Hōjōwand H → Mauer M = Abstand Hauptstein A → Hauptstein D Hauptstein A → Hauptstein Z = Abstand der Hauptsteine von B und D Hauptstein A → Hauptstein Z = Abstand der Verandavorderkante V → B Mitte Hōjō-Ausgang → großer B-Stein = Abstand der Hauptsteine von A und C Mitte Hōjō-Ausgang → großer C-Stein = Abstand der Hauptsteine von A und D Wiederum treten die Zahlenverhältnisse 1:1, 1:2, 2:3, 3:5 in Erscheinung, doch ein Beweis dafür, dass hier an die Zahlenreihe des „Goldenen Schnittes“ oder an musikalische Harmonien gedacht wurde, ist auch das nicht, aber es ist – auch in Anbetracht der gleichen Sichtwinkel um die N-S-Mittelachse (Abb. 8) – ein weiteres Indiz dafür, dass der Steinsetzung ein sogar sehr komplexes Kalkül zugrunde liegt. Und das gab den Anstoß dazu, auch dem ellipsoiden Gestus der Steingruppen A bis D nachzugehen. 9 4.2 Die Ellipse der Steinsetzung Nachdem der beste Sitz für eine Regelellipse gefunden war, wurde auch klar, warum die Kiushu-Gruppe D so weit nordöstlich vorgezogen worden ist. Dass von den 15 Steinen 3 geschnitten und 5 tangiert werden und 7 innere unberührt bleiben (Zahlenreihe aus dem Lo-Shu-Quadrat), mag vielleicht Zufall sein, doch dann offenbarten sich ungeahnte Maßzusammenhänge (Abb. 10): Der Ellipsen-Mittelpunkt scheint sogar doppelt fixiert zu sein - durch den Schnittpunkt des Kreisbogens um die Mitte des Hōjō-Ausganges mit r = halbe Länge Hōjō-Front (grün) mit der Diagonalen von der S-W-Ecke Mauer zur N-OEcke Veranda (rot) und - durch drei Sehnen gleicher Länge (blau) von der östlichen Mauer- und Hōjō-Ecke sowie der äußeren Flächen-Umrandung an der Westseite. Am Südrand trifft die Ellipse die Umrandung genau auf deren Mitte und an der HōjōFront liegt der Berührungspunkt genau auf halber Länge der Strecke vom östlichen Veranda-Ende bis zur äußeren Einfassung der Entwässerungs-Rinne im Westen. Jetzt konnte von Zufall keine Rede mehr sein; hier ist eindeutig konstruiert worden! Abb. 10: Die Ellipse als Konstruktionsfigur Wenn hier so hintersinnig konstruiert worden ist, musste es eigentlich auch eine Erklärung für die merkwürdige Abmessung der Kiesfläche geben, doch für die ließ sich ein ganzzahliges Maßverhältnis nicht finden. Auch mit zwei nebeneinander liegenden ganzzahlig proportionierten Rechtecken, wie z.B. beim Athenatempel mehrfach anzutreffen, fand sich keine befriedigende Lösung. Nahe an eine passende Abmessung kamen – mit 12:5 – nur zwei 6:5-Rechtecke (Kleine Terz), doch lagen die nicht hinreichend deckungsgleich auf der Umrandung. 10 4.3 Das „Goldene Rechteck“ als Grundrissfigur Die Proportionierung der Grundrissfigur blieb schleierhaft, bis sich heraus stellte, dass die halbe Veranda-Länge das Maß einer der möglichen N-S-Breitenabmessungen der Kiesflächen-Umrandung ist. Wenn man ein Quadrat mit diesem Maß genau vor die westliche Verandahälfte setzt und – mit der Diagonalenlänge des halben Quadrates – nach beiden Seiten hin ein „Goldenes Rechteck“ konstruiert, passt dieses genau auf den Außenrand der mit dunklem Schotter gefüllten Entwässerungsrinne (Abb. 11). Da die Seitenlängen der Flächenumrandung offensichtlich auf dieser Konstruktion und nicht etwa auf ganzen Zahlen der „Fibonacci-Reihe“ (z.B. 8:13, 13:21 oder 21:34) basieren, war die vorherige Suche nach einer ganzzahligen Flächenproportion natürlich vergeblich. Das „Goldene Rechteck“ kam also hier – ob als Irrationalitäts-Phänomen bewusst eingesetzt oder nicht – zu einer Zeit zur Anwendung, da die Renaissance in Italien gerade begann, den „Goldenen Schnitt“ als Idealproportion für die Architektur zu propagieren. Abb. 11: Das beidseitig zum „Goldenen Rechteck“ erweiterte Quadrat 4.4 Die Bestimmung des Einheitsmaßes Der Versuch, dem verwendeten Einheitsmaß auf die Spur zu kommen, geriet zur sprichwörtlichen „Suche nach der Nadel im Heuhaufen“. Einziger Anhaltspunkt war das Quadrat in der Kiesfläche, für das man mit einiger Sicherheit davon ausgehen kann, dass dafür ein ganzzahliges Maß in Ansatz gebracht worden war. Doch in wie viele Einheiten teilt sich dessen Seitenlänge und ist hier ein japanisches oder ein chinesisches Längenmaß verwendet worden? Folgende Teilungen der Quadratseitenlänge von 10,66 m wurden in Betracht gezogen: 5 Einheiten – Zentrale Zahl im Lo-Shu-Quadrat → 2,133 m/E 7 Einheiten – Anzahl der östlichen Steine → 1,524 m/E 8 Einheiten – Anzahl der westlichen Steine → 1,333 m/E 15 Einheiten – Gesamtzahl der Steine → 0,711 m/E 11 Zu suchen war nach einem japanischen8 oder chinesischen9 Längenmaß, das möglichst ganzzahlig oder als ganzzahliger Bruchwert in den jeweiligen m/E-Zahlen steckt. 5 E = 2,133 m/E: 1 Shaku (jap. Fuß) = 0,303 m; 2,133 : 0,303 = 7,04 Shaku/E 5 x 7 → 35 Shaku x 0,303 m/Shaku = 10,605 m; Differenz = 6,1 cm 1 Chi (chines. Fuß) = 0,333 m; 2,133 : 0,333 = 6,405 Chi/E 5 x 6 → 30 Chi x 0,333 m/Chi = 9,99 m; 5 x 6½ Chi → 10,82 m; Differenzen zu groß 7 E = 1,524 m/E: 1,524 : 0,303 = 5,03 Shaku/E 7 x 5 → 35 Shaku x 0,303 m/Shaku = 10,605 m; Differenz wie bei 5 E 1,524 : 0,333 = 4,57 Chi/E 7 x 4½ → 31½ Chi x 0,333 m/Chi = 10,489 m; Differenz zu groß 8 E = 1,333 m/E: 1,333 : 0,303 = 4,399 Shaku/E 8 x 4½ → 36 Shaku x 0,303 m/Shaku = 10,901 m; Differenz zu groß 1,333 : 0,333 = 4 Chi/E 8 x 4 → 32 Chi x 0,333 m/Chi = 10,656 m; keine Differenz! 15 E = 0,711 m/E: 0,711 : 0,303 = 2,3465 (≈2⅓) Shaku/E 2⅓ x 15 Shaku → 34,99 x 0,303 = 10,6035 m; Differenz ähnlich wie bei 5 E u. 7 E 2,133 Chi/E – kein annähernd ganzzahliger Bruchwert Ein zentimetergenau passendes Einheitsmaß ist nur mit der in Abbildung 12 eingezeichneten 8er-Teilung und dem chinesischen Maß von 0,333 Meter gefunden worden. Auf die 10,66 Meter Seitenlänge des Quadrates kämen 32 Chi, d.h. 4 Chi pro Einheit. Das gehäufte Auftreten der in Abbildung 9 nachgewiesenen 3:5-Teilung in der Kiesfläche spricht durchaus für eine 8er-Teilung (3+5) des Quadrates, jedoch auch nicht weniger für eine 15er-Teilung (3x5) mit dem Shaku-Maß. Ob das Chi-Maß um 1500 bereits gebräuchlich war, ist den angegebenen Quellen nicht zu entnehmen; Zweifel lässt der Umstand aufkommen, dass dieses Maß genau ⅓ Meter beträgt, denn das sieht „verdächtig“ nach einer jüngeren Festlegung aus. Und im Übrigen kann man sich – trotz des vorgenommenen Abgleichs mit einem Google-Luftbild – der Zeichnungsmaße nicht 100%ig sicher sein, so dass das mit dem Chi-Maß stimmige Ergebnis durchaus ein „Zufallstreffer“ sein könnte. Sollte die Seitenlänge des Innenquadrates in Wahrheit 10,60 m betragen, also 6 cm kürzer sein als hier angenommen, wäre das 3 Zentimeter kürzere japanische Fußmaß das passende und es käme in diesem Falle die 8er-Teilung der Quadratseitenlänge nicht in Betracht. Ob dann für das Quadrat 15, 7 oder 5 Einheiten zu veranschlagen sind, hängt davon ab, welche der Teilungen bei den sonstigen Abmessungen (auch bei den Höhen, die hier nicht zur Verfügung standen) am besten zu ganzzahligen Einheitsmaßwerten bzw. zu solchen mit ganzzahligen Bruchwerten führt. Das zu verifizieren, ist jedoch nur auf der Basis eines exakten Aufmaßes möglich. 8 9 http://de.wikipedia.org/wiki/Shakkanh%C5%8D#L.C3.A4nge de.wikipedia.org/wiki/Alte_Maße_und_Gewichte_(China) 12 5. Überlegungen zum Planungshergang Die hier in der Abfolge ihrer Entdeckung dargestellten konstruktiven Teilaspekte des Gesamtentwurfes entsprechen keinesfalls der Abfolge der Planungsüberlegungen, denn erst nach der Festlegung des Rechtecks konnte die Ellipse eingepasst werden und wiederum erst danach konnten die Steine am Ellipsenbogen so platziert werden, dass der B-Stein vom Hōjō-Ausgang her in Südrichtung lag und dass von der Mitte der Flächenkante her die in Abbildung 8 gezeigte Winkelgleichheit zustande kam. Bisher nicht geklärt ist außerdem die Geometrie der Ellipse und es steht noch die Frage im Raum, warum die Innenlängen der West- und Südmauer in der Zeichnungsvorlage (s. Fußnote 5) zwar 1:2 proportioniert, aber nicht ganzzahlig sind und warum nicht wenigstens ganzzahlige Abstände zur Veranda- oder Podestvorderkante festgelegt wurden oder zumindest gleiche Abstände der Mauern zur Randeinfassung der Kiesfläche. Für die Lage und Dimension des Flächenrahmens war ein klarer Bezug zur Veranda bereits gefunden: Ein Quadrat mit dem Maß der halben Länge der Veranda liegt ein Viertel dieser Länge, d.h. 4 Einheiten von der Hōjō-Front entfernt genau vor der westlichen Verandahälfte und ist beidseitig zum „goldenen Rechteck“ erweitert. Die Übertragung der Figur ins Gelände war sehr exakt möglich, denn mit Hilfe einer Schnur konnte man mittels Bogenschlägen durch die Quadratecken die Außenecken des Rechtecks finden. Abb. 12: Das geometrische Gesamtkonstrukt – Vorgabe für die Grundrissgestaltung Diese Bögen (rot) in unserer Zeichnung scheinen allerdings darauf hin zu deuten, dass das Ausgangsquadrat ein wenig zu dicht ans Hōjō gelegt worden sein könnte, denn der Nordbogen überschneidet das Podest und um dasselbe Maß liegt der Südbogen innerhalb der Mauer. Andererseits ist natürlich ein Aufmaß- oder Zeichnungsfehler nicht auszuschließen. 13 Die von uns empirisch ermittelte Ellipse lieferte unerwartet einen weiteren Beweis für die voraus gegangene akribische Planung: Die Länge der Hauptachse zwischen den Scheitelpunkten HS1 und HS2 beträgt genau 15 Einheiten (für die Fassung der 15 Steine!) und 10 Einheiten beträgt der Abstand der Brennpunkte F1 und F2. Das dürfte die erste Festlegung zu dieser geometrischen Grundrissfigur gewesen sein. Dieses Konstrukt hat man dann vermutlich auf dem Papier so lange geschoben und geschwenkt, bis ein passender Sitz im Grundriss gefunden war. Die primäre Fixierung der Ellipse dürfte durch die Herstellung von vier Bezügen zur Rechteckgeometrie erfolgt sein: Es sollte 1. der südlichste Ellipsenpunkt offensichtlich in der Mittelachse des Quadrates liegen und durch diese Linie wurde der Ellipsenbogen gedreht, bis 2. die Achse zwischen den Nebenscheitelpunkten NS1 und NS2 in die südöstliche Quadratecke zielte, 3. der Brennpunkt F1 auf der nördlichen Rechteckseite und 4. der östlichste Ellipsenpunkt am Rechteckrand lag. An den südlichsten Ellipsenpunkt sollte die Randeinfassung der Kiesfläche gelegt werden (was in der Zeichnung nicht ganz stimmt) und dadurch war der – ebenfalls nicht ganzzahlig bemessene – innere Rahmen bestimmt. Weil jedoch die Ellipse an der Ostseite den inneren Rahmen überschnitt, wurde dieser dort ausgewinkelt und zwar auf einer Länge, die zu einer 3:5-Teilung der Rechteckbreite führt (s. Abb. 9). Eine Begründung für diese Störung der geradlinigen Flächenbegrenzung wurde sehr geschickt geliefert, denn die gewinkelte Mauer, die hinten das Ende der Südmauer verdeckt, soll wohl den Anschein erwecken, als sei sie irgendwann nachträglich – ein wenig unmotiviert – gesetzt worden. In diesem Zusammenhang stellte sich – durch den Vergleich der Zeichnung mit Abbildung 6 – zweierlei heraus: 1. In der Zeichnung liegt die Entwässerungsrinne falsch und musste korrigiert werden. 2. Es ist deutlich zu erkennen, dass die Südmauer länger ist als in der Zeichnung. Die Bestätigung für Letzteres lieferte die blaue Diagonale von der N-O-Ecke der Veranda durch den Ellipsenmittelpunkt M zur S-W-Ecke der Ummauerung. Deren Maß sollte offensichtlich genau 25 Einheiten (100 Chi) betragen und durch diese Festlegung ergab sich eine geringfügige Verschiebung dieser Mauerecke, die dazu führte, dass die Westmauer auf die exakte Länge von 10 E kam, und durch die entspreche Korrektur der Südmauer auf die Länge von 20 E kommt das östliche Mauerende genau in die Flucht der Eingangsfront. Dadurch schließt sich das Ganze zu einem Rechteckrahmen von exakt 10 x 20 E! Der Hauptscheitelpunkt HS1 der Ellipse scheint die Festlegung der Podestvorderkante bestimmt zu haben und ebenso wie auf der Ostseite ist auf der Westseite der Ellipsenrand bestimmend für die Lage der Einfassung der Entwässerungsrinne. Nun zum Nordbogen der Ellipse und zur Lage des Mittelpunktes M: Durch den Zusammenhang zwischen der Veranda und der darauf bezogenen Bemessung und Lage des Quadrates war für das Konstrukt aus Rechteck und Ellipse in OstWest-Richtung keine Verschiebung mehr möglich, doch in südlicher Richtung gab es Spielraum und somit wäre es möglich gewesen, den Nordbogen der Ellipse außen an die Hōjō-Front zu legen; er liegt jedoch in der Wand wie auch der Südbogen in der Steineinfassung der Kiesfläche liegt. Verschoben werden könnte die Konstruktionsfigur aber wegen der gemeinsamen Fixpunkte nur insgesamt. Mit einer geringfügigen Verschiebung nach Süden kämen die Bögen über der Rechteckfigur zwar passend an die Podestkante und in den äußeren Mauerrand, doch damit würde zwangsläufig die blaue Diagonale verschwenkt, was zur Folge hätte, dass sich die Westmauer verlängert und das 1:2 Verhältnis des rahmenden 10:20-Rechtecks zerstört wäre. 14 Die wahrscheinlichste Erklärung für die genannten Unstimmigkeiten dürften Fehler im Aufmaß oder in der Zeichnung sein. Die südliche Steineinfassung müsste eigentlich mit ihrer Innenkante außen am Ellipsenbogen liegen und dass die Hōjō-Wand wie auch die Verandavorderkante in der Zeichnung falsch sitzen, wird durch die vom Ellipsenmittelpunkt her gezeichneten Viertelkreise sowie den Halbkreis von der Mitte der Hōjō-Front zur Ellipsenmitte (alle grün) bewiesen: 1. Der Viertelkreis aus der N-W-Ecke des Quadrates zeigt – wie die Ellipse – ein zweites Mal, auf welcher Linie die Außenkante der Hōjō-Wand liegen müsste. 2. Der Viertelkreis durch den Schnittpunkt Rechteckhalbkreis-Ellipsenhauptachse und zugleich durch den Schnittpunkt der blauen Diagonalen mit der Rechtecknordkante zeigt, dass auch die Verandavorderkante um dasselbe Maß wie die Hōjō-Wand zu weit südlich liegt. 3. Der Halbkreis mit dem Radius der halben Hōjō-Frontbreite käme bei Rücknahme der Front exakt in den Ellipsenmittelpunkt M; jetzt liegt er noch etwas südlich darüber. Vor allem diese letztgenannten konstruktiven Zusammenhänge legen die Schlussfolgerung nahe, dass auf der Basis des geometrischen Gesamtkonstrukts aus Rechteck und Regelellipse Garten und Haus höchstwahrscheinlich gleichzeitig geplant worden sind. Alles in Allem – ein phänomenales „ästhetisches Kalkül ... mittels einer geheimen Geometrie“ (Nitschke; Fußnote 2), dem man nicht genug Bewunderung zollen kann. Meines Wissens ist bislang weltweit keine zu jener Zeit oder früher entstandene Gartenanlage bekannt, deren Planung auf einer nicht axialsymmetrischen Geometrie basiert. Ob sich aber dem ahnungslosen Besucher des Ryōan-Steingartens wenigstens ein Hauch dieser außergewöhnlichen Ordnungsstruktur tatsächlich mitteilt, muss leider dahin gestellt bleiben. 15