Wissenschaft· und Menschenbild,

Transcription

Wissenschaft· und Menschenbild,
Wissenschaft·
und
Menschenbild,
Akademie Forum Masonicum
ahrbuch 1992
Röhrig Verlag
St./ngbert
Literatur
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Q
J
r
64
WISSENSCHAFT ALS RELIGION?
unktionen von Wissenschaft und
Religion in der modemen Gesellschaft
Hubert Seiwert
Gegenstand der folgenden Überlegungen ist die frage, ob und in
welchem Sinne Wissenschaft in der modernen GesellschaftF1.Inktionen
erfijl1t, die in vormodernen Gesellschaften von Religion walugenom­
men wurden. Die Frage steht, wie wir sehen werden, in enger Bezie­
hung zum Thema dieser Tagu..'1g "Wissenschaft und Menschenbild",
da es unter anderem um die Bedingungen rationalen menschlichen
HandeIns und sinnhafter menschlicher ExistefiL gehen wird.
_-\usgangspunkt isi dabei eine seit AUg'.lst Comte 1 sehr einfluJrei­
ehe Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung, die von den Sozial­
e\'oluhonisten des 19. Jahrhunderts rezipiert und nicht zuletzt durch
den histori&chen Materialismus Eingang in moderne sozialwissen­
schaitliche Theoriebildlmgen gefunden hat. Ich meine die Theorie, daß
(23 sich bei Religion gewissermaßen um eine vorwissenschaftliehe Form
der Welterkenntnis und Welterklärung handele, die im Verlauf der
Entwicklung des menschlichen Bewußtseins zunehmend durch ratio­
nalere Formen der Er;':;enntnis und damit letztlich durch Wissenschaft
ersetzt werde. In ihren extremen Varianten besagt diese Theorie, daß
mit fortschreitender wissenschaftlicher Erkenntnis der Welt Religion
immer mehr an Bedeutung verliere und schließlich allenfalls noch als
gesellschaftlich unbedeutendes Relikt überwundener Entwicklungs­
stufen fortbestehe, wenn sie nicht sogar völlig veschwinde. Diese Sicht
der Geschichte bildet den Hintergrund der sog. Säkularisierungs these,
die besagt, daß die sozialen, ökonomischen und kulturellen Verände­
rungen in modernen Gesellschaften eine allgemeine Säkularisierung,
d. h. einen Verlust an Religion, bewirken."
Es geht hier also um die Frage, ob und in welcher Hinsicht Wissen­
schaft und Religion äquivalent sind. Zur Beantwortung dieser Frage
wird es zunächst nötig sein, die Aspekte zu bestimmen, unter denen
0.:)
überhaupt ein Vergleich von Religion lIDd Wissenschait möglich ist.
Dabei wird sich zeigell, daß es sich in beiden Fällen um mehrdimensio_·
nale Gegenstände handelt, die eine ganze Reihe von Fur.ktionen erfül­
len können.
Im zweiten Abschnitt v/erde ich dann auf einige funktionale und
strukturelle Ahnlichkeiten von Religion und \Alissenschaft vor dem
Hintergrund der europäischen Religionsgeschichte hinweisen. Im drit­
ten Teil schließlich werden einige wesentliche Unterschiede zwischen
"lvissenschaftlichen und religiösen Aussagen behandelt.
Handlungen. Unter Umständen kann sogar eine normale-Beruls­
tätigkeit als religiöse Handlung interpretiert werden, wie Max.
Veber am Beispiel der protestantischen Berufsethik gezeigt hat"
3 Religiose Institutionen: In allen Religionen finden wir verschiede­
ne Formen von Gemeinschaftsbildungen, wie Kultgemeinschaf­
ten oder Mönchsorden. Religiöse Sozialformen können unter
Umständen hochkomplexe soziale Institutionen sein, wie das
Beispiel der katholischen Kirche zeigt.
4. Religiose Erfahrungen: Diese Dimension einer Religion ist empi­
risch am schWierigsten zugänglich. Gemeint sind damit indivi­
duelle religiöse Erfahrunen, ""ie z. B. Gotteserfahrungen dtllTh
Visionen, Auditionen oder in der Mystik. Es ist der Bereich, der
yon manchen Religionswissenschaftlern als "Begegnung mit dem
Heiligen bezeichnet wird.
Probleme des Vergleichs
von Religion und Wissenschaft
Wenn wir die Frage behandeln wollen, ob Wissenschaft in modernen
Gesellschaften an die Stelle von Religon tritt oder t.!."eten kann, I:1ÜSSen
wir zunächst klären, welche Aspekte beider wir überhaupt vergleichen
wollen. Welche empirischen Sachverhalte meinen wir, wenn wir von
"Wissenschaft" und "Religion" sprechen? Als empirische Gegenstän­
de weiserl sowohl Wissenschaft als auch Religion mehTere Dimensio­
nen auf, die wir analytisch tIennenmüssen, um die jeweilige Ebene des
Vergleichs zu bestimmen. Beginnen wir mit Religion:
Bei der Analyse von Religionen möchte ich vier Dimensionen un­
terscheiden: religiöse Aussagen, religiöse Handlungen, relgiöse Insti­
tutionen und religiöse Erfahrungen. Lassen Sie mich diese vier zu­
nächst nur formal bestimmten Dimensionen kurz erläutern:
1. Religiose Aussagen: Gemeint ist hiermit im wesentlichen das, WilS
wir umgangssprachlich als Lehre einer Religion bezeichnen wür­
den Die Lehre einer Religion ist empirisch nur zugänglich durch
Symbole, insbesondere durch sprachliche Symbole, d. h. dmcr.
schriftliche oder mündliche Aussagen.
2. Religiöse Handlungen: Die Lehre einer Religion ist jedoch nur ein
Aspekt. Daneben finden wir in allen Religionen auch verschie­
dene Formen VOll religiösen Handllli"1gen. Religiöse Handlun­
gen slnd vielfach ritualisiert, wie im Falle von Kultriten oder
rituellen Gebeten. Es gibt freilich auch nicht ritualisierte religiose
66
U
Eine Unterscheidung zwischen diesen verscbiedenen Dimensionen
einer Religion mag duf den ersten Blick überflÜSSig erscheinen. Es laßt
sich jedoch leicht zeigen, daß mu auf diese Weise eine Reihe von
\1ifsverständnissen vermieden werden kann. Denn in sehr vielen Fäl­
len, in denen von Religion die Rede ist, ist eigentlich nur die eine oder
andere der genannten Dimensionen gemeint. Die Feststellung, daß die
"gesellschaftliche Bedeutung der Religionen" heute geringer sei als in
"rüheren Jahrhtmderten meint in der Regel, daß die gesellschaftliche
Bedeutung der Kirchen, ci. h. religiöser Institutionen, heute geringer
sei Andererseits wird bei einer Gegenübersteliung von Religion und
Wissenschaft häufig nur an die Gegenüberstellung von religiösen und
wissenschaftlidlen AussageI. gedacht, nicht aber an Kirche als Sozial­
form von Religion.
bringt mich zurück zur Frage der Vergleichbarkeit von Religion
und Wissenschaften . .Älmlich wie im Falle von Religion verschiedene
Dimensionen unterschieden werden können, gilt dies auch bei Wissen­
schaft. Wenn wir von "Wissenschaft" reden, kann gemeint sein:
L Wissenschaftliche Aussagen. Sie sind das Endprodukt wissen­
schaftJi c11 er Tä tigkeit, die symbolische Darstellung wissenschaft­
licher Erkenntnis.s Wenn wir "I·on einem wissenschaftlichen
DIe':>
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c) Schließiich kann sogar gemeint sein: "Wissensch~ftliche Hand­
lungen treten an die Stelle \"on religiösen Handlungen", etwa in
dem Sinne, daß in modernen Gesellschaften rational auf der
Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse Handlungsziele veTfolgt
werden, während in vormodernen Gesellschaften das Handeln
durch religiöse und damit irrationale Motive geleitet werde.
Nach diesen theoretischen Vorüberlegungen sind wir jetzt in der
Lage, einen Vergleich von Religion und Wissenschaft vorzuneh­
men, wobei ich mich zunächst auf einige Ähnlichkeiten zvvischen
beiden konzentrieren will
Weltbild sprechen, meinen wir in der Regel ein Weltbild, das auf
wissenschaftlichen Aussagen basiert.
L. Wissenschafthche Handlllngen. Der Formulierwlg wissenschaftli­
cher Aussagen geht eine Tätigkeit voraus, die wir normalerwei­
se als Forschung bezeichnen. Von wissenschaftlichen Handlu.'l­
gen kann man aber auch dann sprechen, wenn wissenschaftliche
Erkenntn.isse zur Grundlage für praktisches Handeln gemacht
werden. Deshalb kann man auch die Entwicklung von Teclmj­
ken als ein wissenschaftliche Tätigkeit ansehen. Im weitesten
Sinne ließe sich schließlich jede Form des rationalen HandeIns,
das sich Erkenntnisse der Wissenschaft zunutze macht, als wis­
senschaftliche Handlung bezeichneli.
3 Wissenschaft ais soziale Institutioll. Als soziale Institution begeg­
net uns Wissenschaft in Form von Universitäten, Forschungsin­
stituten, wissenschaftlichen Sachverständigen und wissenschaft­
lichen Gesellschaften. Wissenschaftliche Institutionen dieser Art
können bekanntlich zuweilen über nicht unbeträchtlichen ge­
sellschaftlichen Einfluß verfügen. Mall denke etwa an die Rolle
wirtschaftswissenschaftlicher Gutachtergremien e,Fünf Weise")
oder an den Einfluß von wissenschaftlichen Vereinigungen wie
dem Club 01 Rome.
Wie im Falle von Religion erlaubt uns diese Differenzierung zwischen
\'erschiedenen Dimensionen von Wissenschaft, unsere Fragestellun­
gen präziser zu formulieren. Wir müssen eine These 'Nie: "ln modernen
Gesellschaften "'lird Religion durch Wissenschaft ersetzt" schon ge­
nauer fassen, wenn sie empirisch gehaltvoJ! sein soll. Offensichtlich
kann dieser Satz auf verschiedene Weise interpretiert werden. Ge­
meint kann sein:
a) "ln modernen Gesellschaften treten wissenschaftliche Aussagen
an die Stelle von religiösen Aussagen" oder umgangsprachlicb
formuliert: "Religiöse Weltbilder werden von wissenschaftli­
chen Weltbildern verdrängt."
b) "In modernen Gesellschaften treten wissenschaftliche Institutio­
nen an die Stelle von religiösen Institutionen" oder prägnanter:
"Wissenschaftler treten an die Stelle von Priestern."
2
Funktionale und strukturelle Ähnlichkeiten der
Institutionen Religion und Wissenschaft
ei der Betrachtlmg der Ähnlichkeiten von Religion und Wisse:lschaf
beziehe ich mich in erster Linie auf die europäische Religionsgeschich­
te, d. h. als Beispiel für eine vormodeme religiös gepräg~e Gesellschaft
dient vor allem das europäische 'l\[i t':elalter. Dies ist eine notwendige
Einschränkung, denn - anders als gemeinhin angenommen - ist die
SteJlWlg der christlichen Religion und Kirche im europäischen Mittel­
alter keineswegs repräsentativ frn alle vormodernen Gesellschaften. b
Betrachten wir zunächst I~eligion und Wissenschaft als soziale In­
stitutionen. Ob\\'ohl die mit':elalterliche Kirche auf den ersten Blick
eine völlig andere gesellschaftliche I~one spielt als moderne wissen­
schaftliche Ins ti tutionen, lassen sich gleichwohl eiruge überraschende
Ähnlichkeiten erkenn.en.
In beiden Fällen handelt es sich um diejenigen Institutionen, die das
zu ihrer Zeit verfügbare Wissen verwalten und wesentljch an der
Produktion neuen Wissens beteiligt sind. Konkret heißt dies: Im Mit­
telalter wurde praktisch das gesamte Wissen, soweit es über AUtags­
wi~sen hinausging, von kirchlichen Institutionen verwaltet. Klöster
Klosterschulen, kirchliche Universitäten und Bibliothe!<:en waren die
Zentren der Bildung, jeder, der Bildung erwerben wollte, mußte auf
diese Institutionen zurückgreifen. Dies galt notabene nicht nur für
theologische Bildung im engeren Sinne, sondern auch für das, was
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69
.----..:
heute als "weltliche Bildung" bezeichnen würden wie Philosophie,
Recht, Mathematik, Geographie, Botanik oder Physik. Die Königin
aller Wissenschaften war freilich die Theologie, so daß praktisch das
gesamte Wissen von Personen verwaltet wurde, die zumindest auch
7
heologen waren, und das heißt im Mittelalter: Kleriker oder Mönche.
Für die Institution Kirche und ihre Vertreter ergab sich daraus ein
gesellschaftlicher Einfluß, der \\'eitgehend unabhängig von ihren reli­
giösen Aufgaben war: Kleriker und }',1önche fungierten als Berater \'on
\\'eltlichen Herrschern, bei allen Fragen, in denen spezialisiertes Wis­
sen verlangt >\'Lude, wurde den Vertretern der Kirche höchste Kompe­
tenz w1d Autorität zugewiesen, Sie waren für die Erkenntnis lU1d
Erklärung der Wirklichkeit zuständig, die Wnhrheit war ein Monopol
der Kirche, Wer kein Kleriker war, war ein Laie, und Laien hatten nach
allgemeiner Auffassung keine eigene Kompetenz, den Weltdeutungen
und Wahrheitsansprüchen der Theologen zu widersprechen,
Ein A::>pekt der Entwicklung der Wissenschaften in der Neuzeit 15
bel-anntlich die Emanzipation von kirchlicher und theologischer Be­
vormundung, Die neuzeitlichen Wissenschaften entwickelten ihre ei­
genen Standards, nach denen die Wahrheit einer Erkenntnis zu beur­
teilen sei, Vernunft trat an die Stelle von Offenbarung als höchstem
Kriterium der Wahrheit. Insofern veränderte sich die Struktur der
ßegründungszusammenhänge für wahre Erkenntnis grundlegend, es
kam gev,!issermaßen zu einer Säkularisierung der Wissenschaften,
Gleichwohl bewahrten die gesellschaftlichen lnstitutionen, die die­
se säkularisierten Wissenschaften nunmehr \'erwalten, nicht wenige
der Funktionen und Strukturen, die auch die theologisch dominierten
Wissenschaften des Mittelalters J.ufwiesen. Heute sind es wissenschaft­
liche L'1stitutionen und ihre Repräsentanten, die das gesellschaftlich
verfügbare Spezia lwissen verwalten. Ihnen wird die Kompetenz und
Autorität für die Erkenntnis und Erklärung der Wirklichkeit zuge­
schrieben, Wie im Mittelalter die Kleriker, so fungieren heute Wissen­
schaftler als Berater von Politikern und Mächtigen, Es sind letztlich
Wissenschaftler, von denen es abhängt, was in den Schulen gelehrt
wird, sie haben damit entscheidenden Einfluß darauf, was in unserer
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Gesellschaft für wahr und falsd1 gehalten wird. Wissen.schaftlcr be­
stimmen das Weltbild der Moderne, so wie Theologen das Weltbild des
Mittelalters bestimmt haben.
ie Parallelen lassen sich noch weiter führen, Da sowohl die mo­
dernen ItVissenschaftler als auch die mittelalterlichen Theologen ein
hochspezialisiertes Wissen verwalten, das für Personen, die keine
wissenschaftliche bzw. theologische Ausbildung haben, nicht zugäng­
lich ist, sind ihre Erkenntnisse weitgehend immun gegen Kritik von
außen, Das bedeutet nicht, daß es keine Diskussionen oder unter­
schiedliche Auffassungen gäbe, aber es sind Dikussionen, die sich
innerhalb der betreffenden Institutionen abspielen. Laien haben in
beiden Fällen rlicht die Möglichkeit, sich an der Diskussion zu beteili­
gen, seien es theologische Laien oder wissenschaftliche Laien.
Man mag hier einwenden, daß heutzutage natürlicl1 auch wisser.­
scnaftlichc Laien sich außerhalb wissenschaf~licher Institutionen um
Erkennh1is bemühel1 könnten. Dies ist zweifelles richtig, genauso wie
natürlich im MittelaJte~' jeder Laie sich l~!:rl Erkenntnis temühen konn­
te. Worauf es mir hier ankcmmt, ist jedoch eie gesellschaftliche Aner­
kennung von Erkenntnis. Ein Laie hat keine Ausicht, seiner eigenen
Erkenntnis gesellschaftliche Geltung zu verschaffen, wenn und solan­
cre von der Wissenschaft eine andere Auffasslmg vertreten wird.
Ich will dies an einem Beispiel erläutern: Es gibt nicht wenige
Menschen, die davon überzeugt sind lli1d auch meinen, BeT.\'eise dafiir
zu haben, daß mit Hilfe einer Wünschelrute nicht nur Wasseradern,
sondern auch sogenannte Erdstrahlen entdeckt werden können und daß
diese den menschlichen Organismus beeinflussen können, etwa indem
sie zu funktionellen Störungen führen, Solange die Existenz und Wir­
kung solcher Erdstrahlen nicht wissenschaftlich nachweisbar sind,
und das heißt konkret: nicht durch anerkannte Wissenschaftler nach­
gewiesen wurden, solange werden sie gesellschaftlich auch nicht aner­
knnnt, sie werden als privater Glaube oder gar Aberglaube abgetan.
Beispielsweise würde kein Rechnungshof es akzeptieren, wenn Meh'­
kosten beim Bau eines öffentlichen Gebäudes damit begründet wür­
den, es sei notwendig gewesen, den schädlichen Einfluß bestimmter
durch Wünschelrutengänger entdeckter "Erdstrahlen" zu verhindern,
71
Ganz anders sähe dagegen die Sache aus, sob21d einige anerkannte
Wissenschaftler die Existenz von "Erdstrahlen" durch neue Meßver­
fahren nachweisen und ihre Wirkung beispielsweise durch Krank­
heitsstatistiken belegen könnten. Das, was vorher in den Bereich des
Aberglaubens gerückt wurde, wäre dann eine gesellschaftlich aner­
kannte ErkerLTltnis. Insofern kann man sagen, daß deI Institution Wis­
senschaft von der Cesellschaft die Kompetenz zugeschrieben wird!
Wirklichkeit zu definieren: Was wissenschaftlich nicht nachweisbar
ist, gilt als nicht existent.
Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang, 'Nenn wir statt der
Existenz von Erdstrahlen die Existenz von Geistern als Beispiel wählen
würden. Jemand! der heute öffentlich die Existenz von Geistern be­
hauptete, hätte kaum Aussicht! ernst genommen zu werden, selbst
wenn er felsenfest davon überzeugt wäre, häufig mit Geistern in Kon­
takt zu stehen. Er würde gÜ11stigstenfalls als armer Irrer, schlimmsten­
falls als Betrüger angesehen. Denn da Geister nicht wisse.nschaftlich
nachweisbar sind, gelten sie als nicht existent. Die Wissenschaft defi­
niert, was existiert und was nicht existiert. Und dies, obwohl die
Wissenschaft, genau genommen! nicht in der Lage ist, die Nichtexi­
stenz von Geistern zu beweisen, derm über etwas, was wissenschaftli­
chen Methoden nicht zugänglidl ist, läßt sich wissenschaftlich auch
nichts aussagen.
Wenn in lUlserer Gesellschaft somit der Institution Wissenschaft die
Kompetenz zugeschrieben wird! Wirklichkeit zu definieren, dann ent­
spIicht diese Stellung sehr genau der Theologie im Mittela.lter Neb­
men wir wieder unser Geisterbeispiel: Natürlich gab es auch im Mittel­
alteI Mellschen, die nicht an die Existenz von Geistern gla.ubten. Im
besten Fall wurden sie als harmlose Irre, im schlimmsten Fall als
gefährliche Gotteslästerer angesehen. Denn daß es Geister gebe, stand
für jeden gebildeten Menschen außer Frage, sind sie doch in der heili­
gen Schrift und durch die Lehre der Kirche eindeutig belegt. Was
existiert und was nicht existiert, wurde mit theologischen Methoden
bestimmt.
Der Vergleich der beiden Institutionen Religion und Wissenschaft
zeigt somit! daß sie unter bestimmten Umständen die gleiche soziale
funktion erfüllen körmen:Sie können beide diejenige ~stituttorl sein,
der von der Gesellschaft die Kompetenz zugeschrieben wird, Wirk­
lichkeit zu definieren. In dieser Hinsicht ist also in Europa Wissen­
schaft an die Stelle von Religion getreten. s
Es gibt jedoch nicht nur funktionale .Ähnlichkeiten zwischen beiden
Institutionen, sondern auch strukturelle. Die Vertreter beider Institu­
tionen, der mittelalterlichen Kirche wie der modernen Wissenschaften,
]eitell ihre gesellschaftliche Anerkennung in erster Linie aus formalen
Kriterien ab: aus dem Durchlaufen bestimmter Initiationsrituale. Im
Fall der mittelalterlichen Kleriker handelt es sich dabei um verschiede­
ne Weihen! durch die die Stellung innerhalb der kirchlichen Hierarchie
bestimmt 'wird. Je höher die Stellung innerhalb der Hierarchie, desto
höher auch die gesellschaftlich zugewiesene Kompetenz Das heißt:
Die Autorität eines Bischofs oder gar Papstes resultiert nicht in erster
Linie aus der theologischer Fachkompetenz - die mag im Einzelfall
keineswegs überdurch.schnittlich sein
sondern aus dem jeweils zu­
gewiesenen Amt.
-f
Eine derart extreme Hierarchisierung der formalen Kompetenz gibt
es in den modernen Wissenschaften nicht. Gleichwohl ist die gesell­
schaftliche Anerkennung von Kompetenz auch hier überwi.egend for­
IEal bestimmt. Der erfolgreiche Abschluß ei.nes iovissenschaftlichen
Studiums, Promotion, Habilitation und die Einweisung L.T1 ein 'Nisser,­
schaftliches Amt als Professor werden von der Öffentlichkeit als ent­
scheidende Kriterien wissenschaftJjcher Kompetenz angesehen. Nor­
malerweise kommt kein wissenschaftlicher Laie auf die Idee! die Kom­
petenz eines Professors anzuzweifeln, und wenn er es täte, würde die
Öffentlichkeit gleichwohl den Pwfessor für kompetenter halten.
Die Bedeutung formaler Kriterien Wissenschaftlicher Kompetenz
hat gute Gründe. Die Öffentlichkeit kann gar nicht anders, als SIch an
formalen Qualifikationen, wie etwa Promotion oder Status innerhalb
einer wissenschaftlichen Institution zu orientieren. Wonach sollte sonst
die Kompetenz von Wissenschaftlern durch Außenstehende beurteilt
werden? Die Öffentlichkeit muß darauf vertrauen, daß eine innerhalb
der Institution Wissenschaft zugewiesene Formalqualifikation auch
2
73
........
einer inhaltlichen Qualifikation entspricht. Dies ist bekanntlich nicht
immer, aber doch in den meisten Fällen tatsächlich der Fall.
Wie wir gesehen haben, ist die Institution Wissenschaft in der
modernen Gesellchaft dasjenige soziale Teilsystem, dem die Verwal­
tung und Produktion von Wissen zugewiesen ist. Es handelt sich um
einen hochspeziaJisierten Funktionsbereich, auf den die übrigen Funk­
tionsbereiche, ""ie Wirtschaft und Politik, angewiesen sind. Die Gesell­
schaft muß auf das Spezialwissen der Wissenschaftler zurückgreifen
können, sobald Probleme auftauchen, die mit dem verfügbaren Routi­
newissen allein nicht lösbar sind. Die gilt praktisch für alle lebensbe­
reiche, für die Außenpolitik ebenso wie für die Landwirtschaft, für den
Sport ebenso \vie für die Verbrechensbekämpfung. Mit Ausnahme der
Privatsphäre werden alle gesellschaftlich relevanten Handlungsberei­
elle entscheidend durch die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschwl o
mitgeprägt.
Der gesellschaftliche Einfluß der Institution Wissenschaft ist dabei
nicht in allen Fällen uIlIDittelbar erkennbar. Nicht immer wird er direkt
ausgeübt, etwa indem die Vertreter wissenschaftlicher Institutionen
als Sachverständige oder Gutachter an politischen oder wirtschaftli­
chen Entscheidungsprozessen beteiligt sind. Quantitativ sehr viel be­
deutender ist die Tatsache, daß das füluende Personal in allen größe­
ren Institutionen, ob es sich nun um Wirtschaftsunternehmen, staatli­
che Verwaltungen oder publizistische Medien handelt, eine akademi­
sche Ausbildung absolviert hat, d. h. eine Ausbildung an Universitä­
ten oder Hochschulen, mithin an wissenschaftlichen Institutionen. In­
dem wissenschaftliche Institutionen praktisch das Ausbildungsmono­
pol für Führwlgskräfte besitzen, wird das wissenschaftliche Weltbild
in unserer Gesellschaft zum herrschenden Weltbild,
Die Stellung der Institution Wissenschaft in der Moderne ist also
tatsächlich in vielem derjenigen vergleichbar, die die christliche Kir­
c11e im Mittelalter einnahm. Die Monopolisierung spezialisierten Wis­
sens resultiert in beiden Fällen in einer Monopolisierung der höheren
Bildung. So wie die theologische, also eine religiöse Weltsicht für
Eliten des Mittelalters selbstverständlich war, so ist eine wissenschaft­
'"'4
liche Weltsicht für die modernen Eliten selbstverständlich. D)es te­
eutet freilich auch, daß es in beiden Fällen nur sehr schwer möglich
ist, die jeweils herrschende WeItsicht grundsätzlich in Zweifel zu
iehen, jedenfaUs nicht mit Aussicht auf gesellschaftliche Anerken­
nung. Bekanntlich dauerte es IWld ein halbes Jahrtausend, bis das
europäische Denken sich von Beschränkungen, die sich aus der theolo­
,'ischen
Einseitigkeit ergaben, emanzipiert
hatte 9
o
.
Nun könnte man argumentieren, daß eine Emanzipation des Den­
kens \'on theologischen und religiösen Beschränkungen ein Prozeß
LTe\\;esen sei, der der Befreiung des menschlichen Geistes diente. Dage­
o
(Yen
bestehe jedoch keine Notwendigkeit, den menschlichen Geist vom
v
\\'issenschaftlichen Weltbild zu befreien, denn dieses sei ja gerade das
Ergebnis der Aufklärung und der rationalen Auseinandersetzung mit
der Welt Insofern seien l~eligion und Wissenschaft eben doch nicht
"ergleichbar, da Kirche und Theologie c!ie menschliche E:ken.::/tnisfä­
higkeit und Autonomie beschränkt haben, während W:ssenschaft und
Rationalität gerade zu deren Entfalt;mg führen.
Dies bringt unseren Ve-gleich zwischen Religion und V\Tissenschaft
auf eine andere Ebene. Es geht bei diesem Argument nicht mehl' in
erster Lil1ie um die Rolle der Institutionen Wissenschaft und Kirche,
sondern um den Vergleich religiöser und wissenschaftlicher Aussagen.
3
Die Grenzen religiöser
und wissenschaftlicher Weltbilder
Die Hauptthese, die ich im folgenden erläutern will, besagt, daß reli­
giöse und wissenschaftliche Aussagen sich zwar grundsätzlich unter­
scheiden, aber nicht wechselseitig ausschließen. Weil sie sich grund­
sätzlich unterscheiden, karm Wissenschaft nicht I~eligion ersetzen'
l,"eil sie sich nicht wechselseitig ausschließen, führt der Forlsdnitt der
Wissenschaften nicht notwendig zum Niedergang der Religionen.
Die These, dafS sich wissenschaftliche und religiöse Aussagen grund­
sätzlich unterscheiden, läßt sich auf verschiedenen Ebenen begründen:
Am offensichtlichsten ist die inhaltliche (oder semantische) Ebene.
Wissenschaftliche und religiöse Aussagen beziehen sich zumindest
teilweise auf unterschiedliche Gegenstände, im Falle der Wissenschaf­
ten ist der Geo-oenstand die erfahrbare'Wüklichkeit, im Falle der Relicri_
0'
on ist ein zentraler Gegenstand eine empirisch nicht ohne weiteres
erfahrbare Wirklichkeit, wie Gott oder andere transzendente Gegen­
stände. Oft wird es geradezu als ein Definitionsmerkmal von Religion
angesehen/ daß sie sich auf übernatürliche oder transzendente Gegen­
W
stände bezieht, eine Auffassung, die ich selbst nicht teile
Die zweite Ebene, auf der eine Unterscheidung zwischen wissen­
schaftlichen und religiösen Aussagen möglich ist/ betrifft die formale
(edel' syntaktische) Ebene. Wissenschaftliche und religiöse Aussagen
weisen teilweise unterschiedliche formale Strukturen auf. Während
wissenschaftliche Aussagen idealer\lveise durch eine rationale Argu­
mentationsstruktur gekennzeichnet sind, sind religiöse Aussagen häu­
fig völlig anders strukturiert Ich erinnere hier nur an Mythen, legen­
den oder auch religiöse Hymnen. Freilich gibt es auch religiöse Aussa­
gen, ehva innerhalb der Theologie/ die durchaus eine rationale Begrün­
dungsstruktur aufweisen und insofern in einer gewissen Nähe zu
wissenschaftlichen Aussagen stehen.
Die dritte Ebene der Unterscheidung von wissenschaftlichen und
religiösen Aussagen ist die kontextuelle (oder pragmatische) Ebene. Hier­
bei geht es um die Frage, in welchem Kontext die betreffenden Aussa­
gen von Bedeutung sind/ in welchem praktischen Verwendungszu­
sammenhang sie stehen.
Der Verwendungszusammenhang wissenschaftlicher Aussagen liegt
sehr häufig im Bereich des instrumentellen Handelns. Wissenschaftli­
che Erkenntnisse werden benutzt, um bestimmte konkrete Ziele zu
erreichen. Beispielsweise verwenden wir Erkenntnisse der Physik, um
Bauwerke oder Maschinen zu konstruieren, oder Erkenntnisse der
Psychologie/ um einen Wahlkampf oder eine Werbekampagne zu hih­
ren. Die pra.ktischen Verwendungszusammenhänge religiöser Aussa­
gen sind dagegen in der Regel andere. Ich werde darauf später noch
eingehen.
Halten wir zunächst fest: Wissenschaftliche und religiöse Aussagen
lassen sich inhaltlich, formal und kontextuell unterscheiden, oder in
linguistischer Terminologie: Sie unterscheiden sich in semantischer,
76
svntaktischer und pragmatischer Hinsicht. Gerade weil dies. so ist,
s;ehen sie jedoch in den seltensten Fällen im Widerspruch zueinander
und schließen sich in der Regel nicht wechselseitig aus. Ich will dies an
einem etwas drastischen Beispiel erläutern:
Als Beispiel für eine religiöse Aussage wollen wir das apostolische
Glaubensbekenntnis nehmen/ das allgemein bekannt sein dürfte. Nur
zur Erinnerung: Es beinhaltet unter anderem den Glauben an Gott den
ater, an Jesus Christus als seinen Sohn, an dessen Geburt aus der
Jungfrau Maria, seinen Kreuzestod und seine A uferstehung/ sowie den
Glauben an den Heiligen Geist, die christliche Kirche und das e\vige
Leben. So sehr auch einzelne Artikel dieses Glaubensbekenntnisses
vor dem Hintergrund des modernen wissenschaftlichen Weltbilds be­
weifelt werden mögen/ etwa der Glaube an die Jungfrauengeburt - es
ist keine wissenschaftliche Aussage denkbar, durch welche die Artikel
dieses Glaubensbekenntnisses ausgeschio::,,,en würden. Dies \\ ird deut­
lich/ wenn wir die oben genannten Ebenen der Analyse unterscheiden.
Auf der inhaltlichen Ebene trifft das Glaubensbe;"enntnis Aussagen
tiber Gott und über das Leben nach dem Tode. Dies sind Gegenstände,
über die die Wissenschaft überhaupt nichts aussagt/ auch nichts aussa­
gen kann. Insofern kann hier auch kein Widerspruch zwischen religiö­
sen und wissenschaftlichen Aussagen auftreten. Etwas anders ist es
dagegen mit dem Glauben an die Jungfrauengeburt. Es ist immerhin
den1..bar, daß jemand der Ansicht wäre, es sei eine wissenschaftlich
gesicherte Tatsache/ daß es keine Jungfrauengeburt gebe/ niemals ge­
geben habe und niemals geben könne. lJ Demnach scheinen sich religiö­
se und wissenschaftliche Aussage 'wechselseitig auszuschließen.
Der Widerspruch löst sich jedoch auf, wenn wir die formale Ebene
betrachten, und zwar insbesondere die BegrÜTIdungsstruktur. Gesetzt
der Fall, es gäbe eiTle wissenschaftliche Aussage des Inhalts: "Es gibt
und gab niemals eine Jungfrauengeburt", dann müßte diese Ausage,
um wissenschaftlich zu sein, in bestimmter Weise beg:-ündet werden,
nämlich mit logischen Argumenten unter Verweis z"uI empirische Be­
obachtungen. Wenn ich diese Aussage bestreiten wollte, müßte ich
meinen Widerspruch in gleicher Weise begründen Auf diese Weise
und nur auf diese Weise läßt sich eine wissenschaftliche Streitfrage
7
behandeln. Genau die:; wird jedoch weder im apostolischen Glaubens­
bekenntnis noch in irgendwelchen anderen religiösen Aussagen ver­
sucht. Die Begründung des Satzes "geboren, on der Jungfrau Mann"
erfolgt nicht durch logische Argumente unter Verweis auf empirische
Beobachtung, sondern durch Verweis auf göttliche Offenbarung und
deren Interpretation durch die Kirche. Mit anderen Worten, es handelt
sich hier eben nicht um eine wissenschaftliche Aussage, sondern um
eine religiöse Aussage. Deshalb kann ich sie auch nicht mit wissen­
scha ftlichen Argumenten bestrei ten, genausowenig wie ich wissen­
schaftliche Aussagen mit religiösen Argumenten bestreiten kann. Die
religiöse und die wissenschaftliche Aussage widersprechen sich somit
"war inhaltlich, formal betrachtet schließen sie sich jedoch nicht \\,;ech­
selseitig aus, weil sie in \'öllig unterschiedlichen Argumentationszu­
sammenhängen stehen Beide können in ihrer jeweils spezifischen
egründungsstruktur wahr seinY
Ich vermute, daß nicht wenige von Ihnen die gerade vorgetragenen
Überlegungen für etwas sehr abstrakt und vielleicht auch schwer
nachvollziehbar halten werden. Möglicherweise werden einige auch
anführen, es widerspreche dem gesunden Menschenverstand, daß
ussagen sich inhaltlich ",ridersprechen, aber gleichwohl sich nicht
wechselseitig ausschließen können. Zumindest, was den gesunden
Menschenverstand betrifft, läßt sich der Sachverhalt jedoch noch wei­
ter erläutern, wenn wir die dritte Ebene, die des pragmatischen Ver­
'.vendungszusammenhangs, betrachten.
Hier geht es, wie gesagt, um die Frage, in welchem praktischen
Kontext religiöse und wissenschaftliche Aussagen verwandt werden.
Auf dieser Ebene belegen der gesunde Menschenverst<:l.nd und die
praktische Lebenserfahrung, daß in der Tat inhaltlich widersprechen­
de Aussagen gleichwohl neben einander bestehen. Es gibt keine Hin­
weise darauf, daß gläubige Chrisien - die unter anderem auch an die
Jungfrauengeburt glauben - nicht gleichzeitig auch sehr gute Natur­
wissenschaftler sein könnten. Es besteht in der P;axis kein Gegensat
zwischen dem religiösen Glauben an die Jungfrauengeburt Jesu und
der wissenschaftlichen Überzeugung, daß Parthenogenese beim Men­
schen nicht möglich ist. Kein noch 50 ka tholischer Arzt käme auf die
Idee, der Kinderlosigkeit eines Paares unter Zuhilfenahme des H~iliGeistes abhelfen zu wollen. Indem wir spontan schon diese Formu­
lierung als absurd .empfir,den, wird deutlich, wie selbst oer gesunde
\Iensc11enverstand ein Gespür dafür hat, daß wissenschaftliche und
religiöse Aussagen in völlig verschiedenen Zusammenhängen stehen,
sowohl hinsichtich der fo::-malen Struktur als auch hinsichtlich de
praktischen Verwendung.
b en
Betrachten wir nun den praktischen Verwendungszusarrunenhang wis­
senschaftlicher und religiöser Aussagen noch etwas weiter. Es ist
offensichtlich, daß es eine Reihe von pragmatischen Kontexten gibt, in
denen es sinnvoll ist, sich an den Aussagen der Wissenschaft und nicht
der Religion zu orientieren.
Bei der Konstruktion eines Flugzeuges ist Bibelfesti3keit weniger
:ützlich als gute Kenntnisse der Aerodynamik t:r,c Mechar,i 1,. Allge­
,1lein gesprochen: Wissenschaftliche Erkermtnisse werder, häufig in
usammer.hängen benutzt, bei denen es um die Erreichung konkreter
iele geht, und zwar insbesondere bei Eingriffen in di~ natürliche oder
soziale Umwelt. Wir können diesen Handlungtyp als instrumentelles
Handeln bezeichnen.
Der historisch beispiellose Produktivitätszuwachs moderner Ge­
sellschaften ist in erster Linie eine Folge des Fortschritts wissenschaft­
licher Erkenntnis. Wissenscr.aftliche Erkenntnisse tragen entscheidend
um Erfolg instrumentellen Handelns bei. Wissenschaft ist somit eine
Produktivkraft ersten Ranges.
Gleiches gilt natürlich für religiöse Aussagen nicht. : Der Verwen­
dungszusammenhang religiöser Aussagen liegt nicht im Bereich in­
strumentellen HandeIns, sondern in einem Kontext, den ich als existen­
tielles Handeln bezeichne Ich werde dies erläutern, indem ich zu­
nächst wieder beim instrumentellen Handeln ansetze.
ie gesagt, Wissenschaft trägt entscheidend zum Gelingen instru­
rnentellen Handelns bei, d. h. zum Erreichen bestimmter Z:ele. Was
Wissenschaft jedoch nicht vermag, ist, zu begründen, welche Ziele
erreicht werden sollen. Konkret: Die Wissenschaft kann lms zwar dazu
verhelfen, auf den Mond zu fliegen, aber die Wissenschaft kann uns
79
nicht sagen.. ob es besser ist, auf den Mond zu fliegen oder ein Auffor­
stungsprogramm in der Sahelzone zu betreiben. Bei der Frage, welche
Ziele überhaupt verfolgt werden soll€.ll, hilft uns die Wissenschaft nUr
sehr beschränkt weiter.
Anders formuliert: Wissenschaftliche Aussaoo-en sind neutral o-eCI
genüber den Zielen, die damit verfolgt werden können. Die Ergebnisse
genetischer Forschung beispielsweise können ebensogut für medizini­
sche wie für militärische Zwecke verwandt werden. Das bedeutet aber,
daß wissenschaftliche Rationalität eine beschränkte Rationalität ist
die zwar das Gelingen einzelner Handlungen, das Erreichen bestimm­
ter Ziele verbürgen hann, aber nicht, daß es auch sinnvoll ist, diese
Ziele zu verfolgen.
Ich möchte der Einfachl,eit halber, und v"eil die Zeit knapp ist, das
Problem auf die individuelle Ebene beschränken. Das Gelingen meines
eigenen Lebens ist nicht nur, nicht einmal in erster Linie da\'on abhängig,
ob ich im Sinne instrumentellen Handelns erfolgreich bin. Nicht daß
ich beim Erreichen irgendwe1clzer Ziele erfolgreich bin. ist das Entschei­
dende, sondern daß ich di\::; Ziele erreiche, die mir wichtig sind. Welche
Ziele wichtig sind, kann mir aber nicht die Wissenschaft sagen.
Hier kommen wir nun zu einern der wesentlichen Verwendungszu­
sammenhänge religiöser Aussagen. Religion kann genau das leisten,
wozu Wissenschaft nicht in de.r Lage ist, nämlich zu bestimmen, auf
welches Ziel hin das gesamte Leben orientiert werden soll. Es geht bei
Religion n.icht um das Gelingen von instrumentellem Handeln, son­
dern um das Gelingen der gesamten Existenz. Dies ist, ,,'las ich als
existentielle Rationalität bezeichne.
Zumindest die großen I~eligionen 'Nie Buddhismus, Cluistentum
und Islam enthalten alle Aussagen darüber, was eigentlich das höchste
Ziel des Lebens sei: die Befreiung von der Leidhaftigkeit der Existenz
im Buddhismus, die Nähe zu Gott und Verwirklichung des göttlichen
Willens in Christentum und Islam. Im Vergleich zu diesen Zielen sind
alle anderen Ziele peripher und nebensächlich.
Wichtig ist für unseren Zusammenhang, daß die Religionen sich
keineswegs neutral gegenüber instrumentellen Handlungen verhal­
80
ten. Religiöse Aussagen sagen zwar nichts darüber, wie beStimmte
Ziele zu erreichen seien, aber sie helfen zu entscheiden, welche Ziele
verfolgt werden sollen. Es ist dies der Bereich der religiösen Moral
oder Sittlichkeit. Wie man eine Bombe mit möglichst großer Zerstö­
rungskraft baut, ist eine wissenschaftlich zu beantwortende Frage, ob
man eine solche Bombe bauen soll, ist dagegen eine moralische Frage.
Existentielle Rationalität.. d. h. das Gelingen der eigenen Existenz.. ist
nur möglich, wenn auch moralische Fragen beant'vlortet werden kön­
nen.
In der Vergangenheit und bis heute sind es in erster Linie religiöse
Aussagesysteme, in denen Antworten auf moralisclle Fragen gegeben
werden. Es ist hier nicht der Ort zu diskutieren, ob moralische Frage
möglicherweise auch anders als religiös beantwortet werden können,
et.\a durch rationalen Diskurs. Ich persönlich bezweifle des. Aber 'Nie
dem auch sei: Ganz sicher ist, daß moralische Frager. nicht durch die
Wissenschaft geklärt werden können. Ln diesem Punkt kann also Reli­
ion nicht d LUch Wissenschaft ersetzt werden, karu1 VV:ssenschaft r.icht
die Funktion von Religion übernehme!l. 14
Die 'Wissenschaft kann Fragen normativer i'vt mit ihren Mitteln
grundsätzlich nicht beantworten. Dazu gehören nicht nur moralische
fragen im engeren Sinne, sondern letztlich alle Wertentscheidungen:
Fragen nadl Gut und Böse, Richtig und Falsch, Wünschenswert oder
Verabscheuungswürdig. Fragen dieser .~rt lassen sieb in kei;-ler Gesell­
schaft völlig ausschalten, und sei sie noch so modern und aufgeklärt
Werm aber die Wissenschaft hier keine .A...ntworten zu geben vermag,
was tritt dann in modemen Gesellschaften an die Stelle von Religion 7
Die Philosophie stellt sich hier sicher gern zur Verfügung, aber je
ambitiöser die Versuche der philosophischen GrundlegeU1g einer Ethik
sind, um so geringer scheult ilue gesellschaftliche Relevanz. Der ratio­
nale Diskurs ist ein zu anspruchsvolles Medium.. um gesellschaftliche
Verbindlichkeit erzielen zu können.
Die historische Erfahrung wie auch systematische Analyse deuten
darauf hin, daß ohne Religion als metaphysische Fundierung normati­
ver Systeme kollektive Verbindlichkeit nicht zu erreichen ist. l5 Wer
wilL mag darin einen Beleg für die Krise der Moderne sehen, andere
81
werden das Fehlen kollektiver Verbindlichkeiten als Voraussetzung
für die Freiheit individueller Entscheidung begrüßen. 16
4
Zusammenfassung
Das Ergebnis unseres Vergleichs 2\\'ischen Wissenschaft und Religion
ist somit ehvas widersprüchlich. Wir haben gesehen, daf5 Religion und
Wissenschaft als soziale Institutionen unter Umständen eine Reihe
ähnlicher Funktionen erfüllen können und auch ähnlich strukturiert
sein können. In der europäischen Geschichte jedenfalls sind die mittel­
alterliche Kirche und ihre r~epräsentanten auf der einen Seite und die
moderne Wissenschaft und ihre Repräsentanten auf der anderen in
manchem vergleichbar. Es handelt sich in beiden Fällen um diejenigen
Institutionen, denen von der Gesellschaft die Kompetenz zugewiesen
wird, Wirklicl1keit zu definieren u..r1.d zu interpretieren.
Andererseits haben wir aber auch gesehen, daß Religion emd Wis­
senschaft als Aussagesysteme nicht notwendig in Konkurrenz zu ein­
nder stehen. Sie unte::,scheiden sich in semantischer, syntaktischer
und pragmatischer Hinsicht und schließen sich deshalb in der Regel
nicht gegenseitig aus. Insofern sind sie auch nicht wechselseitig substi­
tuierbar. Wissensch.aft kann nicht die l:;>'ol1e von Religion übernehmen.
Ich möchte schließen mit einer These, die an das TagW1gsthema "Wis­
senschaft und Menschenbild" anknüpft und die wir dann vielleicht
diskutieren können:
Die Wissenschaften sind nicht au.sreichend als alleiniger Bezugs­
punkt menschlichen Handelns, weil sie nämlich einen wesentlichen
Aspekt aussparen müssen: die Frage nämlich, wie man leben soll- was
ein gehmgenes Leben ist.
\IlJl!crkullgen
! Comte entwickelte eille Drei-Stadieil-Theorie der geistigen Evo!ution.
D'lIIoch 1."erlällft die intellektuelle Entwicklul/g der A'fenschheit vom "theolo­
(Tiichen ,. (d. h. von der Religion geprägten) Stadium über das" metaplrysi­
~rhe" (d. h. durch die Plziiosophie geprägten) ZWIl "positiven" (durch die
Wigsellschaften geprilgten) StadiUnI. Auguste Comte: Cours de philosophie
siti,:e, 6 Bäe' Paris 1830-1842.
l
: ZII verschiedenen Theorien über die Evolutiolt und Zukunft der Reiigio;l
"'gi Keiner, Ciinter: Einfiiiznmg in die ReligioilEsoziologie. Dannstadt 1988,
5 1/0-180.
m: korrekt müßte man deshalb von religiösen Sy11lbolsystemfi1 anstalt
~-Oll religiösen Aussagesystemen sprechen. Da umgangssprachlich unter
Sl/I1IL'o!eil meist jedoch nichtspmchliche Symbole vers ta nden werde/i, habe
/;11 :/11' Vermeidung ron Mißverständnissen den Terminlls "religiöse /illssa­
,~I1" gewählt.
Grundlegend- Web<'r, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des
r.:.q:it:lllsmus. 111: dets., GesQl/lllldtl' Allfsätze zur Religionssc7.iologie. Tü­
bingen 1920, 17-206, hier bes. 5 3-83.
'4
3
Kar! Popper~ schon klassisches Werk 'ILogik der Forschung" (.; Auflage,
'li bingen 1971) beginnt mit der Feststellung: "Die Td!igkeit des wisse1:­
.scllllftlichen Forscher~ besteht darin Sätze oder Systeme von SJtzen aufzu­
stelit!1l !llld systematisch zu überpriifen." (5.3).
l
ri Bei einem Vergleich mit China, Indien und der islamisellen Welf erscheiilt
die mittelalterliche Religio1lsgeschichte Europas sogar als Sonderfall, weii
iL'li" 11111 hier die Situation einer religiösen Einhcitskllltur mit einer zentrali­
sierten und pulitisch einflußreichen Kirche vUI:finden,
- ZIII11 Dominanzanspruch der Theologie über die Wissenscha,ffen i11l Mit­
lelnlter siehe Heidelberger, Michael; Tlliessen, Signm: Natur und Elfnh­
nlllg Von der mittela! terlichen zur neuzeitlichen Naturwissenschaff. Rein­
'ek 1981, bes. S. 194ff.
Auf die funktionale und strukturelle Vergleichbarkeit von Glauben an
Religion lind Glauben an Wissenschaft weist auch C. F. von Weizsäcker hin:
Die Tragweite der Wissensc!Jnft. 6. Allj7age. Mit dem bisher ullveröffentlicll­
Iw 2. Teil il1 autorisierter Überset:!lng und mit einem Ileilen Vorwort des
Verfassers. Stuttgart 1990, S 1-19.
; ivlail kann Willial1l von OcklwiI1 (1300 - 1349) als einen der erste,
bekannten Vertreter einer Denkrichtung ansehen, die theologische und wis­
senschaftliche Waltrheitsanspriiche zu trennen versuchte.
Qr""'I
oL
83
Die UnterscheidLmg rO/1 "Ilatiirlicll" llild "iibematiirliciL" ist nicht so
SYSTEMTHEORIE - EIN \'VEG AUS DER KRISE?
eindeutig, wie es auf dell ersten Blick ersc!leiilt. Eille genauere Analyse :eigl,
Zur Wissenschaftskonzeption im New Age
daß es nicht möglich ist, alieii1 t1Urcll inhaltliche Kriterien relIgiöse vo',
niclttreligiösen, :. B. wissellschaftlichen, Allssagen zu w1teTscheideil. Vgl.
Karl Hoheisel
Seiu'ert, Hubert: "Religiöse Bedeutung" als wissenscllGftlicl!e Kategorie. In:
Amwal Review far tlle Social Sciences of Religion, 5 (1981> 43-70
)i
[ch ver:icllte hier darauf, Zll diskutieren, ob eine solclle Aussage wissen­
Kein Geringerer als Georg Picht schrieb:
scJHlftlicl 1 lJegriindbar ist. Nach meiiler l'vIeilllmg ist sie es nicht, uHler
"Die Menschheit ist heute in Gefahr, durch ihre Wissenschaft von der
anderem, weil wir die Nichtexistenz pon et'was Vergangme1l1 niemals wis­
:'Jatur den Bereich der Natur, in dem sie lebt und der ihrem Zugriff
senschaftlich beweiseil könne/I.
I: hIit andereil Argumenten, aber iiilllliche11l Ergebnis, Iwt (ludi Friedricll
ausgesetzt ist, zu zerstören. Eine Erkenntnis, die sich dadurch be­
Tenbi'lLCk dargelegt, dajJ. zwischen Religion und Wisse1lscJwft keine "koglllti­
zeugt, daß sie das, was erkannt werden soll vernichtet, kal1n nicht
ve Systemkonkurre1lz" bestehe, sie sich also nicht wecllsdseitig ausscllließen
,('ahr sein. Desel.-'egen silld wir heutt? gezwungen, die Wahrheit unse­
(Tenbl'llck, F. H. Wisse'nscltaft ,md Religio iL In: WösSiler, J. [Hg.]: Religioll
rer Naturerkel1l1tnis in Frage zu stelleil. "1
im Umbruch. Soziologische Bcitrnge ZHr Situation von Religion und Kirche
Js Picht dies im Jah.re 1973 fe::-tstellte, sah man hierzulande vieles in
111 der gegem.värtigen GeseIlsclwfU
der
Krise, die L'mwelt, Schulen und Hochschulen, die Familie, das
Ich lJcrnachlässige hier Ges:!:!Jrspullkte, 'wie Eie ~lorl Max Weber aufqe.­
zeigt wurden, daß nämlich religiöse GlaubensiniIalte wichtige
parlamentarische System, sogar die Kirchen, nicht jedoch die Wissen­
<vii'tscJwftiicl1cs Handelns sein können. Vgl. Max Webers UnterslLclHLilg :ur
schaft Ganz im Gegenteil erfreute sich diese in einer Welt, die anschei­
rotestantiscl1en Ethik (5. oben Anm. 4).
nend immer weiter aus den Fugen geriet bei den allermeisten Zeitge­
H
Auf einen verwandten Aspekt IW.t Tenbmck hingewiesen: Durch die
nossen höchster Reputation, ja, sie galt sozusagen als Garant und
Wissenschaft ist die Möglichkeit, Ordrnmgskon:eptionen zu begriinden,
Hoffnungsträger für eine bessere ZukW1ft. Picht war einer der ersten
d. 11. mit "Legitimitiit" :u rersehen, verloren gegangen. Sie mußte eingestc.­
prominenten Wissenschaftler, der unmißverständlich auf die Unwahr­
hen, "daß sie zur Aufstellung irgendwelcher normativer AnweislLngel1, ir­
gendwelcher letzter Werte, irgendwelcher legitimen Ordnungen nicllt in der
hdt sogar ihres vornehmsten Z1;veiges, der exakten Naturwissenschaft,
Lage sei." Tenbruck, F. H: Die Gl(wbensgeschicllte der Moderne. 111' Zeit­
hinwies und damit keineswegs nur Zustimm1.mg erntete.
seirriftfUr Politik (Neue Folge), 23 (1976), 1-15, Zitat 5 10
Seither haben folgerueiche Unfälle in Tschernobyl, BhopaL Basel
15
Dies läßt siell nicht nur an}wnd der europäischen Geschichte erläutenz, in
und an anderen Orten, die seit Mitte der 80er Jahre weltweit bekannt
eier die religiösen, d. 11. christlichen Fl/ndamente der meisteIl in der Moderne'
wurden, überdeutlich gezeigt, wie katastrophenträchtig die wissen­
vertretenen Werte offensichtlicll sind, sondern allch an außereuropiiischen
<chaftlich-technische Zivilisation ist. Selbst wenn diese und ändere
Kulturen Vgl. die Schlußfolgerungen bei Rübert N. Bellalz: Tokugawa relJgi­
schlimme
Betriebsunfälle, die die Öffentlichkeit in erheblichem Masse
Oi! Tlle vallIes of pre-industrial Japan. New York 1975,S 1/9.
16
Tell befone diese Ambivalenz, um de1ll Mißverständnis vorzubeugen, ielt
beunruhigt haben, mehr zu Lasten menschlichen Versagens, von
spriiche mich hier für eine religiöse Cnmdlegwlg der Ethik alls. (Ich spreclre
SchlJmperei und ungezügelter Profitgier, als des wissenschaftlichen
mich im Ubrigen auch nicht dageg ell allS.)
Kn0 1N how gehen dürften, führten sie doch überdeutlich vor Augen,
d,18 Wissenschaft keineswegs nur Positives leistet. Schon vor den
Jufsehenerregenden Unfällen hatten angesehene Naturwissenschaft­
!t'r den Stab über weite Teile nicht nur ihrer Spezialgebiete, sondern
Ion Medizin, Wirtschafts- und Sozial- sovvie anderen Kulturwissen­
JD
Triebkräft~ Jiir
5
84