Wissenschaft· und Menschenbild,
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Wissenschaft· und Menschenbild,
Wissenschaft· und Menschenbild, Akademie Forum Masonicum ahrbuch 1992 Röhrig Verlag St./ngbert Literatur 1 Barondess, f A: Thc ncademic henlth center and the public agenda: Wilos e !ree-legged stool? Amt. litt. Med. 115 962-967 (1991) 2 Buthke, M.; Tililo-Körner, D. G. S.: Immunologie und Schmerz - Beeiil flussung der Schmerzschwelle durch Konstitutionsthernpie, Ernährung, A/l ergiebehandlllng lind psychische Bezüge. In: Zilch, M. J.: Immunologie im Spmmungsfeld individueller Disposition und Exposition. 5.181-189; Forum Medi::in Verlag, Gräfelfing (1992) 3 Frankl, V. E.: Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn. R. Piper Verlag, ""ünchen, 7. Aufl. (1989) 4 Gottschaldt, M.: Ablliingigkeit bei Är::ten. Hess Ärztebl. 4 163 - 164 1992) Hartma/1ll, F.: Allthropologiscl7e Gi"C11Zell der Heilkunde - Menschenbil der in Schulmedizin und Alternativmedizinen. Arzt und Christ 37: 16-23 .5 (1991) Schipperges, H.: Medi:.:n aJ~ der Jahrta!lsendwende. 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DATAscript, Weeze, im Druck (1992) 13 Thilo-Körner, D. G 5.: Hat Krankheir einen Sinn? Arztezeitsdl f. Na turhcilvelf. 11. 881-897 (1991) h Thilo-Körner, D. G. S.: Der Einweihungsweg des Menschen. Nicolai Verlag, Gießen, 1987 15 Westphal, E.: bie Zukunft der Krankenhäuser - Krankenhäuser der Zukunft. Med Klin. 85: 216 - 219 (1990) Q J r 64 WISSENSCHAFT ALS RELIGION? unktionen von Wissenschaft und Religion in der modemen Gesellschaft Hubert Seiwert Gegenstand der folgenden Überlegungen ist die frage, ob und in welchem Sinne Wissenschaft in der modernen GesellschaftF1.Inktionen erfijl1t, die in vormodernen Gesellschaften von Religion walugenom men wurden. Die Frage steht, wie wir sehen werden, in enger Bezie hung zum Thema dieser Tagu..'1g "Wissenschaft und Menschenbild", da es unter anderem um die Bedingungen rationalen menschlichen HandeIns und sinnhafter menschlicher ExistefiL gehen wird. _-\usgangspunkt isi dabei eine seit AUg'.lst Comte 1 sehr einfluJrei ehe Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung, die von den Sozial e\'oluhonisten des 19. Jahrhunderts rezipiert und nicht zuletzt durch den histori&chen Materialismus Eingang in moderne sozialwissen schaitliche Theoriebildlmgen gefunden hat. Ich meine die Theorie, daß (23 sich bei Religion gewissermaßen um eine vorwissenschaftliehe Form der Welterkenntnis und Welterklärung handele, die im Verlauf der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins zunehmend durch ratio nalere Formen der Er;':;enntnis und damit letztlich durch Wissenschaft ersetzt werde. In ihren extremen Varianten besagt diese Theorie, daß mit fortschreitender wissenschaftlicher Erkenntnis der Welt Religion immer mehr an Bedeutung verliere und schließlich allenfalls noch als gesellschaftlich unbedeutendes Relikt überwundener Entwicklungs stufen fortbestehe, wenn sie nicht sogar völlig veschwinde. Diese Sicht der Geschichte bildet den Hintergrund der sog. Säkularisierungs these, die besagt, daß die sozialen, ökonomischen und kulturellen Verände rungen in modernen Gesellschaften eine allgemeine Säkularisierung, d. h. einen Verlust an Religion, bewirken." Es geht hier also um die Frage, ob und in welcher Hinsicht Wissen schaft und Religion äquivalent sind. Zur Beantwortung dieser Frage wird es zunächst nötig sein, die Aspekte zu bestimmen, unter denen 0.:) überhaupt ein Vergleich von Religion lIDd Wissenschait möglich ist. Dabei wird sich zeigell, daß es sich in beiden Fällen um mehrdimensio_· nale Gegenstände handelt, die eine ganze Reihe von Fur.ktionen erfül len können. Im zweiten Abschnitt v/erde ich dann auf einige funktionale und strukturelle Ahnlichkeiten von Religion und \Alissenschaft vor dem Hintergrund der europäischen Religionsgeschichte hinweisen. Im drit ten Teil schließlich werden einige wesentliche Unterschiede zwischen "lvissenschaftlichen und religiösen Aussagen behandelt. Handlungen. Unter Umständen kann sogar eine normale-Beruls tätigkeit als religiöse Handlung interpretiert werden, wie Max. Veber am Beispiel der protestantischen Berufsethik gezeigt hat" 3 Religiose Institutionen: In allen Religionen finden wir verschiede ne Formen von Gemeinschaftsbildungen, wie Kultgemeinschaf ten oder Mönchsorden. Religiöse Sozialformen können unter Umständen hochkomplexe soziale Institutionen sein, wie das Beispiel der katholischen Kirche zeigt. 4. Religiose Erfahrungen: Diese Dimension einer Religion ist empi risch am schWierigsten zugänglich. Gemeint sind damit indivi duelle religiöse Erfahrunen, ""ie z. B. Gotteserfahrungen dtllTh Visionen, Auditionen oder in der Mystik. Es ist der Bereich, der yon manchen Religionswissenschaftlern als "Begegnung mit dem Heiligen bezeichnet wird. Probleme des Vergleichs von Religion und Wissenschaft Wenn wir die Frage behandeln wollen, ob Wissenschaft in modernen Gesellschaften an die Stelle von Religon tritt oder t.!."eten kann, I:1ÜSSen wir zunächst klären, welche Aspekte beider wir überhaupt vergleichen wollen. Welche empirischen Sachverhalte meinen wir, wenn wir von "Wissenschaft" und "Religion" sprechen? Als empirische Gegenstän de weiserl sowohl Wissenschaft als auch Religion mehTere Dimensio nen auf, die wir analytisch tIennenmüssen, um die jeweilige Ebene des Vergleichs zu bestimmen. Beginnen wir mit Religion: Bei der Analyse von Religionen möchte ich vier Dimensionen un terscheiden: religiöse Aussagen, religiöse Handlungen, relgiöse Insti tutionen und religiöse Erfahrungen. Lassen Sie mich diese vier zu nächst nur formal bestimmten Dimensionen kurz erläutern: 1. Religiose Aussagen: Gemeint ist hiermit im wesentlichen das, WilS wir umgangssprachlich als Lehre einer Religion bezeichnen wür den Die Lehre einer Religion ist empirisch nur zugänglich durch Symbole, insbesondere durch sprachliche Symbole, d. h. dmcr. schriftliche oder mündliche Aussagen. 2. Religiöse Handlungen: Die Lehre einer Religion ist jedoch nur ein Aspekt. Daneben finden wir in allen Religionen auch verschie dene Formen VOll religiösen Handllli"1gen. Religiöse Handlun gen slnd vielfach ritualisiert, wie im Falle von Kultriten oder rituellen Gebeten. Es gibt freilich auch nicht ritualisierte religiose 66 U Eine Unterscheidung zwischen diesen verscbiedenen Dimensionen einer Religion mag duf den ersten Blick überflÜSSig erscheinen. Es laßt sich jedoch leicht zeigen, daß mu auf diese Weise eine Reihe von \1ifsverständnissen vermieden werden kann. Denn in sehr vielen Fäl len, in denen von Religion die Rede ist, ist eigentlich nur die eine oder andere der genannten Dimensionen gemeint. Die Feststellung, daß die "gesellschaftliche Bedeutung der Religionen" heute geringer sei als in "rüheren Jahrhtmderten meint in der Regel, daß die gesellschaftliche Bedeutung der Kirchen, ci. h. religiöser Institutionen, heute geringer sei Andererseits wird bei einer Gegenübersteliung von Religion und Wissenschaft häufig nur an die Gegenüberstellung von religiösen und wissenschaftlidlen AussageI. gedacht, nicht aber an Kirche als Sozial form von Religion. bringt mich zurück zur Frage der Vergleichbarkeit von Religion und Wissenschaften . .Älmlich wie im Falle von Religion verschiedene Dimensionen unterschieden werden können, gilt dies auch bei Wissen schaft. Wenn wir von "Wissenschaft" reden, kann gemeint sein: L Wissenschaftliche Aussagen. Sie sind das Endprodukt wissen schaftJi c11 er Tä tigkeit, die symbolische Darstellung wissenschaft licher Erkenntnis.s Wenn wir "I·on einem wissenschaftlichen DIe':> 67 c) Schließiich kann sogar gemeint sein: "Wissensch~ftliche Hand lungen treten an die Stelle \"on religiösen Handlungen", etwa in dem Sinne, daß in modernen Gesellschaften rational auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse Handlungsziele veTfolgt werden, während in vormodernen Gesellschaften das Handeln durch religiöse und damit irrationale Motive geleitet werde. Nach diesen theoretischen Vorüberlegungen sind wir jetzt in der Lage, einen Vergleich von Religion und Wissenschaft vorzuneh men, wobei ich mich zunächst auf einige Ähnlichkeiten zvvischen beiden konzentrieren will Weltbild sprechen, meinen wir in der Regel ein Weltbild, das auf wissenschaftlichen Aussagen basiert. L. Wissenschafthche Handlllngen. Der Formulierwlg wissenschaftli cher Aussagen geht eine Tätigkeit voraus, die wir normalerwei se als Forschung bezeichnen. Von wissenschaftlichen Handlu.'l gen kann man aber auch dann sprechen, wenn wissenschaftliche Erkenntn.isse zur Grundlage für praktisches Handeln gemacht werden. Deshalb kann man auch die Entwicklung von Teclmj ken als ein wissenschaftliche Tätigkeit ansehen. Im weitesten Sinne ließe sich schließlich jede Form des rationalen HandeIns, das sich Erkenntnisse der Wissenschaft zunutze macht, als wis senschaftliche Handlung bezeichneli. 3 Wissenschaft ais soziale Institutioll. Als soziale Institution begeg net uns Wissenschaft in Form von Universitäten, Forschungsin stituten, wissenschaftlichen Sachverständigen und wissenschaft lichen Gesellschaften. Wissenschaftliche Institutionen dieser Art können bekanntlich zuweilen über nicht unbeträchtlichen ge sellschaftlichen Einfluß verfügen. Mall denke etwa an die Rolle wirtschaftswissenschaftlicher Gutachtergremien e,Fünf Weise") oder an den Einfluß von wissenschaftlichen Vereinigungen wie dem Club 01 Rome. Wie im Falle von Religion erlaubt uns diese Differenzierung zwischen \'erschiedenen Dimensionen von Wissenschaft, unsere Fragestellun gen präziser zu formulieren. Wir müssen eine These 'Nie: "ln modernen Gesellschaften "'lird Religion durch Wissenschaft ersetzt" schon ge nauer fassen, wenn sie empirisch gehaltvoJ! sein soll. Offensichtlich kann dieser Satz auf verschiedene Weise interpretiert werden. Ge meint kann sein: a) "ln modernen Gesellschaften treten wissenschaftliche Aussagen an die Stelle von religiösen Aussagen" oder umgangsprachlicb formuliert: "Religiöse Weltbilder werden von wissenschaftli chen Weltbildern verdrängt." b) "In modernen Gesellschaften treten wissenschaftliche Institutio nen an die Stelle von religiösen Institutionen" oder prägnanter: "Wissenschaftler treten an die Stelle von Priestern." 2 Funktionale und strukturelle Ähnlichkeiten der Institutionen Religion und Wissenschaft ei der Betrachtlmg der Ähnlichkeiten von Religion und Wisse:lschaf beziehe ich mich in erster Linie auf die europäische Religionsgeschich te, d. h. als Beispiel für eine vormodeme religiös gepräg~e Gesellschaft dient vor allem das europäische 'l\[i t':elalter. Dies ist eine notwendige Einschränkung, denn - anders als gemeinhin angenommen - ist die SteJlWlg der christlichen Religion und Kirche im europäischen Mittel alter keineswegs repräsentativ frn alle vormodernen Gesellschaften. b Betrachten wir zunächst I~eligion und Wissenschaft als soziale In stitutionen. Ob\\'ohl die mit':elalterliche Kirche auf den ersten Blick eine völlig andere gesellschaftliche I~one spielt als moderne wissen schaftliche Ins ti tutionen, lassen sich gleichwohl eiruge überraschende Ähnlichkeiten erkenn.en. In beiden Fällen handelt es sich um diejenigen Institutionen, die das zu ihrer Zeit verfügbare Wissen verwalten und wesentljch an der Produktion neuen Wissens beteiligt sind. Konkret heißt dies: Im Mit telalter wurde praktisch das gesamte Wissen, soweit es über AUtags wi~sen hinausging, von kirchlichen Institutionen verwaltet. Klöster Klosterschulen, kirchliche Universitäten und Bibliothe!<:en waren die Zentren der Bildung, jeder, der Bildung erwerben wollte, mußte auf diese Institutionen zurückgreifen. Dies galt notabene nicht nur für theologische Bildung im engeren Sinne, sondern auch für das, was 68 69 .----..: heute als "weltliche Bildung" bezeichnen würden wie Philosophie, Recht, Mathematik, Geographie, Botanik oder Physik. Die Königin aller Wissenschaften war freilich die Theologie, so daß praktisch das gesamte Wissen von Personen verwaltet wurde, die zumindest auch 7 heologen waren, und das heißt im Mittelalter: Kleriker oder Mönche. Für die Institution Kirche und ihre Vertreter ergab sich daraus ein gesellschaftlicher Einfluß, der \\'eitgehend unabhängig von ihren reli giösen Aufgaben war: Kleriker und }',1önche fungierten als Berater \'on \\'eltlichen Herrschern, bei allen Fragen, in denen spezialisiertes Wis sen verlangt >\'Lude, wurde den Vertretern der Kirche höchste Kompe tenz w1d Autorität zugewiesen, Sie waren für die Erkenntnis lU1d Erklärung der Wirklichkeit zuständig, die Wnhrheit war ein Monopol der Kirche, Wer kein Kleriker war, war ein Laie, und Laien hatten nach allgemeiner Auffassung keine eigene Kompetenz, den Weltdeutungen und Wahrheitsansprüchen der Theologen zu widersprechen, Ein A::>pekt der Entwicklung der Wissenschaften in der Neuzeit 15 bel-anntlich die Emanzipation von kirchlicher und theologischer Be vormundung, Die neuzeitlichen Wissenschaften entwickelten ihre ei genen Standards, nach denen die Wahrheit einer Erkenntnis zu beur teilen sei, Vernunft trat an die Stelle von Offenbarung als höchstem Kriterium der Wahrheit. Insofern veränderte sich die Struktur der ßegründungszusammenhänge für wahre Erkenntnis grundlegend, es kam gev,!issermaßen zu einer Säkularisierung der Wissenschaften, Gleichwohl bewahrten die gesellschaftlichen lnstitutionen, die die se säkularisierten Wissenschaften nunmehr \'erwalten, nicht wenige der Funktionen und Strukturen, die auch die theologisch dominierten Wissenschaften des Mittelalters J.ufwiesen. Heute sind es wissenschaft liche L'1stitutionen und ihre Repräsentanten, die das gesellschaftlich verfügbare Spezia lwissen verwalten. Ihnen wird die Kompetenz und Autorität für die Erkenntnis und Erklärung der Wirklichkeit zuge schrieben, Wie im Mittelalter die Kleriker, so fungieren heute Wissen schaftler als Berater von Politikern und Mächtigen, Es sind letztlich Wissenschaftler, von denen es abhängt, was in den Schulen gelehrt wird, sie haben damit entscheidenden Einfluß darauf, was in unserer 70 Gesellschaft für wahr und falsd1 gehalten wird. Wissen.schaftlcr be stimmen das Weltbild der Moderne, so wie Theologen das Weltbild des Mittelalters bestimmt haben. ie Parallelen lassen sich noch weiter führen, Da sowohl die mo dernen ItVissenschaftler als auch die mittelalterlichen Theologen ein hochspezialisiertes Wissen verwalten, das für Personen, die keine wissenschaftliche bzw. theologische Ausbildung haben, nicht zugäng lich ist, sind ihre Erkenntnisse weitgehend immun gegen Kritik von außen, Das bedeutet nicht, daß es keine Diskussionen oder unter schiedliche Auffassungen gäbe, aber es sind Dikussionen, die sich innerhalb der betreffenden Institutionen abspielen. Laien haben in beiden Fällen rlicht die Möglichkeit, sich an der Diskussion zu beteili gen, seien es theologische Laien oder wissenschaftliche Laien. Man mag hier einwenden, daß heutzutage natürlicl1 auch wisser. scnaftlichc Laien sich außerhalb wissenschaf~licher Institutionen um Erkennh1is bemühel1 könnten. Dies ist zweifelles richtig, genauso wie natürlich im MittelaJte~' jeder Laie sich l~!:rl Erkenntnis temühen konn te. Worauf es mir hier ankcmmt, ist jedoch eie gesellschaftliche Aner kennung von Erkenntnis. Ein Laie hat keine Ausicht, seiner eigenen Erkenntnis gesellschaftliche Geltung zu verschaffen, wenn und solan cre von der Wissenschaft eine andere Auffasslmg vertreten wird. Ich will dies an einem Beispiel erläutern: Es gibt nicht wenige Menschen, die davon überzeugt sind lli1d auch meinen, BeT.\'eise dafiir zu haben, daß mit Hilfe einer Wünschelrute nicht nur Wasseradern, sondern auch sogenannte Erdstrahlen entdeckt werden können und daß diese den menschlichen Organismus beeinflussen können, etwa indem sie zu funktionellen Störungen führen, Solange die Existenz und Wir kung solcher Erdstrahlen nicht wissenschaftlich nachweisbar sind, und das heißt konkret: nicht durch anerkannte Wissenschaftler nach gewiesen wurden, solange werden sie gesellschaftlich auch nicht aner knnnt, sie werden als privater Glaube oder gar Aberglaube abgetan. Beispielsweise würde kein Rechnungshof es akzeptieren, wenn Meh' kosten beim Bau eines öffentlichen Gebäudes damit begründet wür den, es sei notwendig gewesen, den schädlichen Einfluß bestimmter durch Wünschelrutengänger entdeckter "Erdstrahlen" zu verhindern, 71 Ganz anders sähe dagegen die Sache aus, sob21d einige anerkannte Wissenschaftler die Existenz von "Erdstrahlen" durch neue Meßver fahren nachweisen und ihre Wirkung beispielsweise durch Krank heitsstatistiken belegen könnten. Das, was vorher in den Bereich des Aberglaubens gerückt wurde, wäre dann eine gesellschaftlich aner kannte ErkerLTltnis. Insofern kann man sagen, daß deI Institution Wis senschaft von der Cesellschaft die Kompetenz zugeschrieben wird! Wirklichkeit zu definieren: Was wissenschaftlich nicht nachweisbar ist, gilt als nicht existent. Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang, 'Nenn wir statt der Existenz von Erdstrahlen die Existenz von Geistern als Beispiel wählen würden. Jemand! der heute öffentlich die Existenz von Geistern be hauptete, hätte kaum Aussicht! ernst genommen zu werden, selbst wenn er felsenfest davon überzeugt wäre, häufig mit Geistern in Kon takt zu stehen. Er würde gÜ11stigstenfalls als armer Irrer, schlimmsten falls als Betrüger angesehen. Denn da Geister nicht wisse.nschaftlich nachweisbar sind, gelten sie als nicht existent. Die Wissenschaft defi niert, was existiert und was nicht existiert. Und dies, obwohl die Wissenschaft, genau genommen! nicht in der Lage ist, die Nichtexi stenz von Geistern zu beweisen, derm über etwas, was wissenschaftli chen Methoden nicht zugänglidl ist, läßt sich wissenschaftlich auch nichts aussagen. Wenn in lUlserer Gesellschaft somit der Institution Wissenschaft die Kompetenz zugeschrieben wird! Wirklichkeit zu definieren, dann ent spIicht diese Stellung sehr genau der Theologie im Mittela.lter Neb men wir wieder unser Geisterbeispiel: Natürlich gab es auch im Mittel alteI Mellschen, die nicht an die Existenz von Geistern gla.ubten. Im besten Fall wurden sie als harmlose Irre, im schlimmsten Fall als gefährliche Gotteslästerer angesehen. Denn daß es Geister gebe, stand für jeden gebildeten Menschen außer Frage, sind sie doch in der heili gen Schrift und durch die Lehre der Kirche eindeutig belegt. Was existiert und was nicht existiert, wurde mit theologischen Methoden bestimmt. Der Vergleich der beiden Institutionen Religion und Wissenschaft zeigt somit! daß sie unter bestimmten Umständen die gleiche soziale funktion erfüllen körmen:Sie können beide diejenige ~stituttorl sein, der von der Gesellschaft die Kompetenz zugeschrieben wird, Wirk lichkeit zu definieren. In dieser Hinsicht ist also in Europa Wissen schaft an die Stelle von Religion getreten. s Es gibt jedoch nicht nur funktionale .Ähnlichkeiten zwischen beiden Institutionen, sondern auch strukturelle. Die Vertreter beider Institu tionen, der mittelalterlichen Kirche wie der modernen Wissenschaften, ]eitell ihre gesellschaftliche Anerkennung in erster Linie aus formalen Kriterien ab: aus dem Durchlaufen bestimmter Initiationsrituale. Im Fall der mittelalterlichen Kleriker handelt es sich dabei um verschiede ne Weihen! durch die die Stellung innerhalb der kirchlichen Hierarchie bestimmt 'wird. Je höher die Stellung innerhalb der Hierarchie, desto höher auch die gesellschaftlich zugewiesene Kompetenz Das heißt: Die Autorität eines Bischofs oder gar Papstes resultiert nicht in erster Linie aus der theologischer Fachkompetenz - die mag im Einzelfall keineswegs überdurch.schnittlich sein sondern aus dem jeweils zu gewiesenen Amt. -f Eine derart extreme Hierarchisierung der formalen Kompetenz gibt es in den modernen Wissenschaften nicht. Gleichwohl ist die gesell schaftliche Anerkennung von Kompetenz auch hier überwi.egend for IEal bestimmt. Der erfolgreiche Abschluß ei.nes iovissenschaftlichen Studiums, Promotion, Habilitation und die Einweisung L.T1 ein 'Nisser, schaftliches Amt als Professor werden von der Öffentlichkeit als ent scheidende Kriterien wissenschaftJjcher Kompetenz angesehen. Nor malerweise kommt kein wissenschaftlicher Laie auf die Idee! die Kom petenz eines Professors anzuzweifeln, und wenn er es täte, würde die Öffentlichkeit gleichwohl den Pwfessor für kompetenter halten. Die Bedeutung formaler Kriterien Wissenschaftlicher Kompetenz hat gute Gründe. Die Öffentlichkeit kann gar nicht anders, als SIch an formalen Qualifikationen, wie etwa Promotion oder Status innerhalb einer wissenschaftlichen Institution zu orientieren. Wonach sollte sonst die Kompetenz von Wissenschaftlern durch Außenstehende beurteilt werden? Die Öffentlichkeit muß darauf vertrauen, daß eine innerhalb der Institution Wissenschaft zugewiesene Formalqualifikation auch 2 73 ........ einer inhaltlichen Qualifikation entspricht. Dies ist bekanntlich nicht immer, aber doch in den meisten Fällen tatsächlich der Fall. Wie wir gesehen haben, ist die Institution Wissenschaft in der modernen Gesellchaft dasjenige soziale Teilsystem, dem die Verwal tung und Produktion von Wissen zugewiesen ist. Es handelt sich um einen hochspeziaJisierten Funktionsbereich, auf den die übrigen Funk tionsbereiche, ""ie Wirtschaft und Politik, angewiesen sind. Die Gesell schaft muß auf das Spezialwissen der Wissenschaftler zurückgreifen können, sobald Probleme auftauchen, die mit dem verfügbaren Routi newissen allein nicht lösbar sind. Die gilt praktisch für alle lebensbe reiche, für die Außenpolitik ebenso wie für die Landwirtschaft, für den Sport ebenso \vie für die Verbrechensbekämpfung. Mit Ausnahme der Privatsphäre werden alle gesellschaftlich relevanten Handlungsberei elle entscheidend durch die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschwl o mitgeprägt. Der gesellschaftliche Einfluß der Institution Wissenschaft ist dabei nicht in allen Fällen uIlIDittelbar erkennbar. Nicht immer wird er direkt ausgeübt, etwa indem die Vertreter wissenschaftlicher Institutionen als Sachverständige oder Gutachter an politischen oder wirtschaftli chen Entscheidungsprozessen beteiligt sind. Quantitativ sehr viel be deutender ist die Tatsache, daß das füluende Personal in allen größe ren Institutionen, ob es sich nun um Wirtschaftsunternehmen, staatli che Verwaltungen oder publizistische Medien handelt, eine akademi sche Ausbildung absolviert hat, d. h. eine Ausbildung an Universitä ten oder Hochschulen, mithin an wissenschaftlichen Institutionen. In dem wissenschaftliche Institutionen praktisch das Ausbildungsmono pol für Führwlgskräfte besitzen, wird das wissenschaftliche Weltbild in unserer Gesellschaft zum herrschenden Weltbild, Die Stellung der Institution Wissenschaft in der Moderne ist also tatsächlich in vielem derjenigen vergleichbar, die die christliche Kir c11e im Mittelalter einnahm. Die Monopolisierung spezialisierten Wis sens resultiert in beiden Fällen in einer Monopolisierung der höheren Bildung. So wie die theologische, also eine religiöse Weltsicht für Eliten des Mittelalters selbstverständlich war, so ist eine wissenschaft '"'4 liche Weltsicht für die modernen Eliten selbstverständlich. D)es te eutet freilich auch, daß es in beiden Fällen nur sehr schwer möglich ist, die jeweils herrschende WeItsicht grundsätzlich in Zweifel zu iehen, jedenfaUs nicht mit Aussicht auf gesellschaftliche Anerken nung. Bekanntlich dauerte es IWld ein halbes Jahrtausend, bis das europäische Denken sich von Beschränkungen, die sich aus der theolo ,'ischen Einseitigkeit ergaben, emanzipiert hatte 9 o . Nun könnte man argumentieren, daß eine Emanzipation des Den kens \'on theologischen und religiösen Beschränkungen ein Prozeß LTe\\;esen sei, der der Befreiung des menschlichen Geistes diente. Dage o (Yen bestehe jedoch keine Notwendigkeit, den menschlichen Geist vom v \\'issenschaftlichen Weltbild zu befreien, denn dieses sei ja gerade das Ergebnis der Aufklärung und der rationalen Auseinandersetzung mit der Welt Insofern seien l~eligion und Wissenschaft eben doch nicht "ergleichbar, da Kirche und Theologie c!ie menschliche E:ken.::/tnisfä higkeit und Autonomie beschränkt haben, während W:ssenschaft und Rationalität gerade zu deren Entfalt;mg führen. Dies bringt unseren Ve-gleich zwischen Religion und V\Tissenschaft auf eine andere Ebene. Es geht bei diesem Argument nicht mehl' in erster Lil1ie um die Rolle der Institutionen Wissenschaft und Kirche, sondern um den Vergleich religiöser und wissenschaftlicher Aussagen. 3 Die Grenzen religiöser und wissenschaftlicher Weltbilder Die Hauptthese, die ich im folgenden erläutern will, besagt, daß reli giöse und wissenschaftliche Aussagen sich zwar grundsätzlich unter scheiden, aber nicht wechselseitig ausschließen. Weil sie sich grund sätzlich unterscheiden, karm Wissenschaft nicht I~eligion ersetzen' l,"eil sie sich nicht wechselseitig ausschließen, führt der Forlsdnitt der Wissenschaften nicht notwendig zum Niedergang der Religionen. Die These, dafS sich wissenschaftliche und religiöse Aussagen grund sätzlich unterscheiden, läßt sich auf verschiedenen Ebenen begründen: Am offensichtlichsten ist die inhaltliche (oder semantische) Ebene. Wissenschaftliche und religiöse Aussagen beziehen sich zumindest teilweise auf unterschiedliche Gegenstände, im Falle der Wissenschaf ten ist der Geo-oenstand die erfahrbare'Wüklichkeit, im Falle der Relicri_ 0' on ist ein zentraler Gegenstand eine empirisch nicht ohne weiteres erfahrbare Wirklichkeit, wie Gott oder andere transzendente Gegen stände. Oft wird es geradezu als ein Definitionsmerkmal von Religion angesehen/ daß sie sich auf übernatürliche oder transzendente Gegen W stände bezieht, eine Auffassung, die ich selbst nicht teile Die zweite Ebene, auf der eine Unterscheidung zwischen wissen schaftlichen und religiösen Aussagen möglich ist/ betrifft die formale (edel' syntaktische) Ebene. Wissenschaftliche und religiöse Aussagen weisen teilweise unterschiedliche formale Strukturen auf. Während wissenschaftliche Aussagen idealer\lveise durch eine rationale Argu mentationsstruktur gekennzeichnet sind, sind religiöse Aussagen häu fig völlig anders strukturiert Ich erinnere hier nur an Mythen, legen den oder auch religiöse Hymnen. Freilich gibt es auch religiöse Aussa gen, ehva innerhalb der Theologie/ die durchaus eine rationale Begrün dungsstruktur aufweisen und insofern in einer gewissen Nähe zu wissenschaftlichen Aussagen stehen. Die dritte Ebene der Unterscheidung von wissenschaftlichen und religiösen Aussagen ist die kontextuelle (oder pragmatische) Ebene. Hier bei geht es um die Frage, in welchem Kontext die betreffenden Aussa gen von Bedeutung sind/ in welchem praktischen Verwendungszu sammenhang sie stehen. Der Verwendungszusammenhang wissenschaftlicher Aussagen liegt sehr häufig im Bereich des instrumentellen Handelns. Wissenschaftli che Erkenntnisse werden benutzt, um bestimmte konkrete Ziele zu erreichen. Beispielsweise verwenden wir Erkenntnisse der Physik, um Bauwerke oder Maschinen zu konstruieren, oder Erkenntnisse der Psychologie/ um einen Wahlkampf oder eine Werbekampagne zu hih ren. Die pra.ktischen Verwendungszusammenhänge religiöser Aussa gen sind dagegen in der Regel andere. Ich werde darauf später noch eingehen. Halten wir zunächst fest: Wissenschaftliche und religiöse Aussagen lassen sich inhaltlich, formal und kontextuell unterscheiden, oder in linguistischer Terminologie: Sie unterscheiden sich in semantischer, 76 svntaktischer und pragmatischer Hinsicht. Gerade weil dies. so ist, s;ehen sie jedoch in den seltensten Fällen im Widerspruch zueinander und schließen sich in der Regel nicht wechselseitig aus. Ich will dies an einem etwas drastischen Beispiel erläutern: Als Beispiel für eine religiöse Aussage wollen wir das apostolische Glaubensbekenntnis nehmen/ das allgemein bekannt sein dürfte. Nur zur Erinnerung: Es beinhaltet unter anderem den Glauben an Gott den ater, an Jesus Christus als seinen Sohn, an dessen Geburt aus der Jungfrau Maria, seinen Kreuzestod und seine A uferstehung/ sowie den Glauben an den Heiligen Geist, die christliche Kirche und das e\vige Leben. So sehr auch einzelne Artikel dieses Glaubensbekenntnisses vor dem Hintergrund des modernen wissenschaftlichen Weltbilds be weifelt werden mögen/ etwa der Glaube an die Jungfrauengeburt - es ist keine wissenschaftliche Aussage denkbar, durch welche die Artikel dieses Glaubensbekenntnisses ausgeschio::,,,en würden. Dies \\ ird deut lich/ wenn wir die oben genannten Ebenen der Analyse unterscheiden. Auf der inhaltlichen Ebene trifft das Glaubensbe;"enntnis Aussagen tiber Gott und über das Leben nach dem Tode. Dies sind Gegenstände, über die die Wissenschaft überhaupt nichts aussagt/ auch nichts aussa gen kann. Insofern kann hier auch kein Widerspruch zwischen religiö sen und wissenschaftlichen Aussagen auftreten. Etwas anders ist es dagegen mit dem Glauben an die Jungfrauengeburt. Es ist immerhin den1..bar, daß jemand der Ansicht wäre, es sei eine wissenschaftlich gesicherte Tatsache/ daß es keine Jungfrauengeburt gebe/ niemals ge geben habe und niemals geben könne. lJ Demnach scheinen sich religiö se und wissenschaftliche Aussage 'wechselseitig auszuschließen. Der Widerspruch löst sich jedoch auf, wenn wir die formale Ebene betrachten, und zwar insbesondere die BegrÜTIdungsstruktur. Gesetzt der Fall, es gäbe eiTle wissenschaftliche Aussage des Inhalts: "Es gibt und gab niemals eine Jungfrauengeburt", dann müßte diese Ausage, um wissenschaftlich zu sein, in bestimmter Weise beg:-ündet werden, nämlich mit logischen Argumenten unter Verweis z"uI empirische Be obachtungen. Wenn ich diese Aussage bestreiten wollte, müßte ich meinen Widerspruch in gleicher Weise begründen Auf diese Weise und nur auf diese Weise läßt sich eine wissenschaftliche Streitfrage 7 behandeln. Genau die:; wird jedoch weder im apostolischen Glaubens bekenntnis noch in irgendwelchen anderen religiösen Aussagen ver sucht. Die Begründung des Satzes "geboren, on der Jungfrau Mann" erfolgt nicht durch logische Argumente unter Verweis auf empirische Beobachtung, sondern durch Verweis auf göttliche Offenbarung und deren Interpretation durch die Kirche. Mit anderen Worten, es handelt sich hier eben nicht um eine wissenschaftliche Aussage, sondern um eine religiöse Aussage. Deshalb kann ich sie auch nicht mit wissen scha ftlichen Argumenten bestrei ten, genausowenig wie ich wissen schaftliche Aussagen mit religiösen Argumenten bestreiten kann. Die religiöse und die wissenschaftliche Aussage widersprechen sich somit "war inhaltlich, formal betrachtet schließen sie sich jedoch nicht \\,;ech selseitig aus, weil sie in \'öllig unterschiedlichen Argumentationszu sammenhängen stehen Beide können in ihrer jeweils spezifischen egründungsstruktur wahr seinY Ich vermute, daß nicht wenige von Ihnen die gerade vorgetragenen Überlegungen für etwas sehr abstrakt und vielleicht auch schwer nachvollziehbar halten werden. Möglicherweise werden einige auch anführen, es widerspreche dem gesunden Menschenverstand, daß ussagen sich inhaltlich ",ridersprechen, aber gleichwohl sich nicht wechselseitig ausschließen können. Zumindest, was den gesunden Menschenverstand betrifft, läßt sich der Sachverhalt jedoch noch wei ter erläutern, wenn wir die dritte Ebene, die des pragmatischen Ver '.vendungszusammenhangs, betrachten. Hier geht es, wie gesagt, um die Frage, in welchem praktischen Kontext religiöse und wissenschaftliche Aussagen verwandt werden. Auf dieser Ebene belegen der gesunde Menschenverst<:l.nd und die praktische Lebenserfahrung, daß in der Tat inhaltlich widersprechen de Aussagen gleichwohl neben einander bestehen. Es gibt keine Hin weise darauf, daß gläubige Chrisien - die unter anderem auch an die Jungfrauengeburt glauben - nicht gleichzeitig auch sehr gute Natur wissenschaftler sein könnten. Es besteht in der P;axis kein Gegensat zwischen dem religiösen Glauben an die Jungfrauengeburt Jesu und der wissenschaftlichen Überzeugung, daß Parthenogenese beim Men schen nicht möglich ist. Kein noch 50 ka tholischer Arzt käme auf die Idee, der Kinderlosigkeit eines Paares unter Zuhilfenahme des H~iliGeistes abhelfen zu wollen. Indem wir spontan schon diese Formu lierung als absurd .empfir,den, wird deutlich, wie selbst oer gesunde \Iensc11enverstand ein Gespür dafür hat, daß wissenschaftliche und religiöse Aussagen in völlig verschiedenen Zusammenhängen stehen, sowohl hinsichtich der fo::-malen Struktur als auch hinsichtlich de praktischen Verwendung. b en Betrachten wir nun den praktischen Verwendungszusarrunenhang wis senschaftlicher und religiöser Aussagen noch etwas weiter. Es ist offensichtlich, daß es eine Reihe von pragmatischen Kontexten gibt, in denen es sinnvoll ist, sich an den Aussagen der Wissenschaft und nicht der Religion zu orientieren. Bei der Konstruktion eines Flugzeuges ist Bibelfesti3keit weniger :ützlich als gute Kenntnisse der Aerodynamik t:r,c Mechar,i 1,. Allge ,1lein gesprochen: Wissenschaftliche Erkermtnisse werder, häufig in usammer.hängen benutzt, bei denen es um die Erreichung konkreter iele geht, und zwar insbesondere bei Eingriffen in di~ natürliche oder soziale Umwelt. Wir können diesen Handlungtyp als instrumentelles Handeln bezeichnen. Der historisch beispiellose Produktivitätszuwachs moderner Ge sellschaften ist in erster Linie eine Folge des Fortschritts wissenschaft licher Erkenntnis. Wissenscr.aftliche Erkenntnisse tragen entscheidend um Erfolg instrumentellen Handelns bei. Wissenschaft ist somit eine Produktivkraft ersten Ranges. Gleiches gilt natürlich für religiöse Aussagen nicht. : Der Verwen dungszusammenhang religiöser Aussagen liegt nicht im Bereich in strumentellen HandeIns, sondern in einem Kontext, den ich als existen tielles Handeln bezeichne Ich werde dies erläutern, indem ich zu nächst wieder beim instrumentellen Handeln ansetze. ie gesagt, Wissenschaft trägt entscheidend zum Gelingen instru rnentellen Handelns bei, d. h. zum Erreichen bestimmter Z:ele. Was Wissenschaft jedoch nicht vermag, ist, zu begründen, welche Ziele erreicht werden sollen. Konkret: Die Wissenschaft kann lms zwar dazu verhelfen, auf den Mond zu fliegen, aber die Wissenschaft kann uns 79 nicht sagen.. ob es besser ist, auf den Mond zu fliegen oder ein Auffor stungsprogramm in der Sahelzone zu betreiben. Bei der Frage, welche Ziele überhaupt verfolgt werden soll€.ll, hilft uns die Wissenschaft nUr sehr beschränkt weiter. Anders formuliert: Wissenschaftliche Aussaoo-en sind neutral o-eCI genüber den Zielen, die damit verfolgt werden können. Die Ergebnisse genetischer Forschung beispielsweise können ebensogut für medizini sche wie für militärische Zwecke verwandt werden. Das bedeutet aber, daß wissenschaftliche Rationalität eine beschränkte Rationalität ist die zwar das Gelingen einzelner Handlungen, das Erreichen bestimm ter Ziele verbürgen hann, aber nicht, daß es auch sinnvoll ist, diese Ziele zu verfolgen. Ich möchte der Einfachl,eit halber, und v"eil die Zeit knapp ist, das Problem auf die individuelle Ebene beschränken. Das Gelingen meines eigenen Lebens ist nicht nur, nicht einmal in erster Linie da\'on abhängig, ob ich im Sinne instrumentellen Handelns erfolgreich bin. Nicht daß ich beim Erreichen irgendwe1clzer Ziele erfolgreich bin. ist das Entschei dende, sondern daß ich di\::; Ziele erreiche, die mir wichtig sind. Welche Ziele wichtig sind, kann mir aber nicht die Wissenschaft sagen. Hier kommen wir nun zu einern der wesentlichen Verwendungszu sammenhänge religiöser Aussagen. Religion kann genau das leisten, wozu Wissenschaft nicht in de.r Lage ist, nämlich zu bestimmen, auf welches Ziel hin das gesamte Leben orientiert werden soll. Es geht bei Religion n.icht um das Gelingen von instrumentellem Handeln, son dern um das Gelingen der gesamten Existenz. Dies ist, ,,'las ich als existentielle Rationalität bezeichne. Zumindest die großen I~eligionen 'Nie Buddhismus, Cluistentum und Islam enthalten alle Aussagen darüber, was eigentlich das höchste Ziel des Lebens sei: die Befreiung von der Leidhaftigkeit der Existenz im Buddhismus, die Nähe zu Gott und Verwirklichung des göttlichen Willens in Christentum und Islam. Im Vergleich zu diesen Zielen sind alle anderen Ziele peripher und nebensächlich. Wichtig ist für unseren Zusammenhang, daß die Religionen sich keineswegs neutral gegenüber instrumentellen Handlungen verhal 80 ten. Religiöse Aussagen sagen zwar nichts darüber, wie beStimmte Ziele zu erreichen seien, aber sie helfen zu entscheiden, welche Ziele verfolgt werden sollen. Es ist dies der Bereich der religiösen Moral oder Sittlichkeit. Wie man eine Bombe mit möglichst großer Zerstö rungskraft baut, ist eine wissenschaftlich zu beantwortende Frage, ob man eine solche Bombe bauen soll, ist dagegen eine moralische Frage. Existentielle Rationalität.. d. h. das Gelingen der eigenen Existenz.. ist nur möglich, wenn auch moralische Fragen beant'vlortet werden kön nen. In der Vergangenheit und bis heute sind es in erster Linie religiöse Aussagesysteme, in denen Antworten auf moralisclle Fragen gegeben werden. Es ist hier nicht der Ort zu diskutieren, ob moralische Frage möglicherweise auch anders als religiös beantwortet werden können, et.\a durch rationalen Diskurs. Ich persönlich bezweifle des. Aber 'Nie dem auch sei: Ganz sicher ist, daß moralische Frager. nicht durch die Wissenschaft geklärt werden können. Ln diesem Punkt kann also Reli ion nicht d LUch Wissenschaft ersetzt werden, karu1 VV:ssenschaft r.icht die Funktion von Religion übernehme!l. 14 Die 'Wissenschaft kann Fragen normativer i'vt mit ihren Mitteln grundsätzlich nicht beantworten. Dazu gehören nicht nur moralische fragen im engeren Sinne, sondern letztlich alle Wertentscheidungen: Fragen nadl Gut und Böse, Richtig und Falsch, Wünschenswert oder Verabscheuungswürdig. Fragen dieser .~rt lassen sieb in kei;-ler Gesell schaft völlig ausschalten, und sei sie noch so modern und aufgeklärt Werm aber die Wissenschaft hier keine .A...ntworten zu geben vermag, was tritt dann in modemen Gesellschaften an die Stelle von Religion 7 Die Philosophie stellt sich hier sicher gern zur Verfügung, aber je ambitiöser die Versuche der philosophischen GrundlegeU1g einer Ethik sind, um so geringer scheult ilue gesellschaftliche Relevanz. Der ratio nale Diskurs ist ein zu anspruchsvolles Medium.. um gesellschaftliche Verbindlichkeit erzielen zu können. Die historische Erfahrung wie auch systematische Analyse deuten darauf hin, daß ohne Religion als metaphysische Fundierung normati ver Systeme kollektive Verbindlichkeit nicht zu erreichen ist. l5 Wer wilL mag darin einen Beleg für die Krise der Moderne sehen, andere 81 werden das Fehlen kollektiver Verbindlichkeiten als Voraussetzung für die Freiheit individueller Entscheidung begrüßen. 16 4 Zusammenfassung Das Ergebnis unseres Vergleichs 2\\'ischen Wissenschaft und Religion ist somit ehvas widersprüchlich. Wir haben gesehen, daf5 Religion und Wissenschaft als soziale Institutionen unter Umständen eine Reihe ähnlicher Funktionen erfüllen können und auch ähnlich strukturiert sein können. In der europäischen Geschichte jedenfalls sind die mittel alterliche Kirche und ihre r~epräsentanten auf der einen Seite und die moderne Wissenschaft und ihre Repräsentanten auf der anderen in manchem vergleichbar. Es handelt sich in beiden Fällen um diejenigen Institutionen, denen von der Gesellschaft die Kompetenz zugewiesen wird, Wirklicl1keit zu definieren u..r1.d zu interpretieren. Andererseits haben wir aber auch gesehen, daß Religion emd Wis senschaft als Aussagesysteme nicht notwendig in Konkurrenz zu ein nder stehen. Sie unte::,scheiden sich in semantischer, syntaktischer und pragmatischer Hinsicht und schließen sich deshalb in der Regel nicht gegenseitig aus. Insofern sind sie auch nicht wechselseitig substi tuierbar. Wissensch.aft kann nicht die l:;>'ol1e von Religion übernehmen. Ich möchte schließen mit einer These, die an das TagW1gsthema "Wis senschaft und Menschenbild" anknüpft und die wir dann vielleicht diskutieren können: Die Wissenschaften sind nicht au.sreichend als alleiniger Bezugs punkt menschlichen Handelns, weil sie nämlich einen wesentlichen Aspekt aussparen müssen: die Frage nämlich, wie man leben soll- was ein gehmgenes Leben ist. \IlJl!crkullgen ! Comte entwickelte eille Drei-Stadieil-Theorie der geistigen Evo!ution. D'lIIoch 1."erlällft die intellektuelle Entwicklul/g der A'fenschheit vom "theolo (Tiichen ,. (d. h. von der Religion geprägten) Stadium über das" metaplrysi ~rhe" (d. h. durch die Plziiosophie geprägten) ZWIl "positiven" (durch die Wigsellschaften geprilgten) StadiUnI. Auguste Comte: Cours de philosophie siti,:e, 6 Bäe' Paris 1830-1842. l : ZII verschiedenen Theorien über die Evolutiolt und Zukunft der Reiigio;l "'gi Keiner, Ciinter: Einfiiiznmg in die ReligioilEsoziologie. Dannstadt 1988, 5 1/0-180. m: korrekt müßte man deshalb von religiösen Sy11lbolsystemfi1 anstalt ~-Oll religiösen Aussagesystemen sprechen. Da umgangssprachlich unter Sl/I1IL'o!eil meist jedoch nichtspmchliche Symbole vers ta nden werde/i, habe /;11 :/11' Vermeidung ron Mißverständnissen den Terminlls "religiöse /illssa ,~I1" gewählt. Grundlegend- Web<'r, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des r.:.q:it:lllsmus. 111: dets., GesQl/lllldtl' Allfsätze zur Religionssc7.iologie. Tü bingen 1920, 17-206, hier bes. 5 3-83. '4 3 Kar! Popper~ schon klassisches Werk 'ILogik der Forschung" (.; Auflage, 'li bingen 1971) beginnt mit der Feststellung: "Die Td!igkeit des wisse1: .scllllftlichen Forscher~ besteht darin Sätze oder Systeme von SJtzen aufzu stelit!1l !llld systematisch zu überpriifen." (5.3). l ri Bei einem Vergleich mit China, Indien und der islamisellen Welf erscheiilt die mittelalterliche Religio1lsgeschichte Europas sogar als Sonderfall, weii iL'li" 11111 hier die Situation einer religiösen Einhcitskllltur mit einer zentrali sierten und pulitisch einflußreichen Kirche vUI:finden, - ZIII11 Dominanzanspruch der Theologie über die Wissenscha,ffen i11l Mit lelnlter siehe Heidelberger, Michael; Tlliessen, Signm: Natur und Elfnh nlllg Von der mittela! terlichen zur neuzeitlichen Naturwissenschaff. Rein 'ek 1981, bes. S. 194ff. Auf die funktionale und strukturelle Vergleichbarkeit von Glauben an Religion lind Glauben an Wissenschaft weist auch C. F. von Weizsäcker hin: Die Tragweite der Wissensc!Jnft. 6. Allj7age. Mit dem bisher ullveröffentlicll Iw 2. Teil il1 autorisierter Überset:!lng und mit einem Ileilen Vorwort des Verfassers. Stuttgart 1990, S 1-19. ; ivlail kann Willial1l von OcklwiI1 (1300 - 1349) als einen der erste, bekannten Vertreter einer Denkrichtung ansehen, die theologische und wis senschaftliche Waltrheitsanspriiche zu trennen versuchte. Qr""'I oL 83 Die UnterscheidLmg rO/1 "Ilatiirlicll" llild "iibematiirliciL" ist nicht so SYSTEMTHEORIE - EIN \'VEG AUS DER KRISE? eindeutig, wie es auf dell ersten Blick ersc!leiilt. Eille genauere Analyse :eigl, Zur Wissenschaftskonzeption im New Age daß es nicht möglich ist, alieii1 t1Urcll inhaltliche Kriterien relIgiöse vo', niclttreligiösen, :. B. wissellschaftlichen, Allssagen zu w1teTscheideil. Vgl. Karl Hoheisel Seiu'ert, Hubert: "Religiöse Bedeutung" als wissenscllGftlicl!e Kategorie. In: Amwal Review far tlle Social Sciences of Religion, 5 (1981> 43-70 )i [ch ver:icllte hier darauf, Zll diskutieren, ob eine solclle Aussage wissen Kein Geringerer als Georg Picht schrieb: scJHlftlicl 1 lJegriindbar ist. Nach meiiler l'vIeilllmg ist sie es nicht, uHler "Die Menschheit ist heute in Gefahr, durch ihre Wissenschaft von der anderem, weil wir die Nichtexistenz pon et'was Vergangme1l1 niemals wis :'Jatur den Bereich der Natur, in dem sie lebt und der ihrem Zugriff senschaftlich beweiseil könne/I. I: hIit andereil Argumenten, aber iiilllliche11l Ergebnis, Iwt (ludi Friedricll ausgesetzt ist, zu zerstören. Eine Erkenntnis, die sich dadurch be Tenbi'lLCk dargelegt, dajJ. zwischen Religion und Wisse1lscJwft keine "koglllti zeugt, daß sie das, was erkannt werden soll vernichtet, kal1n nicht ve Systemkonkurre1lz" bestehe, sie sich also nicht wecllsdseitig ausscllließen ,('ahr sein. Desel.-'egen silld wir heutt? gezwungen, die Wahrheit unse (Tenbl'llck, F. H. Wisse'nscltaft ,md Religio iL In: WösSiler, J. [Hg.]: Religioll rer Naturerkel1l1tnis in Frage zu stelleil. "1 im Umbruch. Soziologische Bcitrnge ZHr Situation von Religion und Kirche Js Picht dies im Jah.re 1973 fe::-tstellte, sah man hierzulande vieles in 111 der gegem.värtigen GeseIlsclwfU der Krise, die L'mwelt, Schulen und Hochschulen, die Familie, das Ich lJcrnachlässige hier Ges:!:!Jrspullkte, 'wie Eie ~lorl Max Weber aufqe. zeigt wurden, daß nämlich religiöse GlaubensiniIalte wichtige parlamentarische System, sogar die Kirchen, nicht jedoch die Wissen <vii'tscJwftiicl1cs Handelns sein können. Vgl. Max Webers UnterslLclHLilg :ur schaft Ganz im Gegenteil erfreute sich diese in einer Welt, die anschei rotestantiscl1en Ethik (5. oben Anm. 4). nend immer weiter aus den Fugen geriet bei den allermeisten Zeitge H Auf einen verwandten Aspekt IW.t Tenbmck hingewiesen: Durch die nossen höchster Reputation, ja, sie galt sozusagen als Garant und Wissenschaft ist die Möglichkeit, Ordrnmgskon:eptionen zu begriinden, Hoffnungsträger für eine bessere ZukW1ft. Picht war einer der ersten d. 11. mit "Legitimitiit" :u rersehen, verloren gegangen. Sie mußte eingestc. prominenten Wissenschaftler, der unmißverständlich auf die Unwahr hen, "daß sie zur Aufstellung irgendwelcher normativer AnweislLngel1, ir gendwelcher letzter Werte, irgendwelcher legitimen Ordnungen nicllt in der hdt sogar ihres vornehmsten Z1;veiges, der exakten Naturwissenschaft, Lage sei." Tenbruck, F. H: Die Gl(wbensgeschicllte der Moderne. 111' Zeit hinwies und damit keineswegs nur Zustimm1.mg erntete. seirriftfUr Politik (Neue Folge), 23 (1976), 1-15, Zitat 5 10 Seither haben folgerueiche Unfälle in Tschernobyl, BhopaL Basel 15 Dies läßt siell nicht nur an}wnd der europäischen Geschichte erläutenz, in und an anderen Orten, die seit Mitte der 80er Jahre weltweit bekannt eier die religiösen, d. 11. christlichen Fl/ndamente der meisteIl in der Moderne' wurden, überdeutlich gezeigt, wie katastrophenträchtig die wissen vertretenen Werte offensichtlicll sind, sondern allch an außereuropiiischen <chaftlich-technische Zivilisation ist. Selbst wenn diese und ändere Kulturen Vgl. die Schlußfolgerungen bei Rübert N. Bellalz: Tokugawa relJgi schlimme Betriebsunfälle, die die Öffentlichkeit in erheblichem Masse Oi! Tlle vallIes of pre-industrial Japan. New York 1975,S 1/9. 16 Tell befone diese Ambivalenz, um de1ll Mißverständnis vorzubeugen, ielt beunruhigt haben, mehr zu Lasten menschlichen Versagens, von spriiche mich hier für eine religiöse Cnmdlegwlg der Ethik alls. (Ich spreclre SchlJmperei und ungezügelter Profitgier, als des wissenschaftlichen mich im Ubrigen auch nicht dageg ell allS.) Kn0 1N how gehen dürften, führten sie doch überdeutlich vor Augen, d,18 Wissenschaft keineswegs nur Positives leistet. Schon vor den Jufsehenerregenden Unfällen hatten angesehene Naturwissenschaft !t'r den Stab über weite Teile nicht nur ihrer Spezialgebiete, sondern Ion Medizin, Wirtschafts- und Sozial- sovvie anderen Kulturwissen JD Triebkräft~ Jiir 5 84