Leseprobe

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Leseprobe
Die Autorin
Teresa Wagenbach ist das
Pseudonym der jungen Autorin Teresa Nagengast, unter
dem sie bewegende Liebesgeschichten veröffentlicht. Sie
wuchs als Drillingskind im
ländlichen Gebiet in Unterfranken auf. Schon damals
verschlang sie zahlreiche Bücher. Nach dem Abitur entschied sie sich für ein Journalismusstudium. Heute arbeitet sie bei einem Bildungsverlag in
Nürnberg.
Das Buch
Annabel & Lukas
Annabel hat bei einem Autounfall ihren kleinen Bruder und
ihre Eltern verloren. Seitdem versucht sie, mit dem Verlust zu
leben. Doch der Wunsch, wieder mit ihrer Familie vereint zu
sein, ist übermächtig. In ihrer Verzweiflung beschließt die
junge Frau, ihrem Leben ein Ende zu setzen und stürzt sich
von einer Klippe. Doch ihr Selbstmordversuch misslingt: Sie
erwacht im Krankenhaus, wo ihr ein fremder Mann seine Hilfe anbietet. Der Pfleger Lukas ist fasziniert von der schönen
Unbekannten und möchte ihr helfen. Doch kann ein Fremder
Annabel ihren Lebenswillen zurückgeben? Als sie zum Schutz
vor sich selbst bei Lukas und seiner Familie einzieht, wird
schnell klar, dass auch Lukas Welt nicht so perfekt ist, wie es
von außen scheint. Und dass er Annabel wohl genauso dringend braucht, wie sie ihn …
Eine ganz besondere Liebesgeschichte!
Teresa Wagenbach
Dem Leben so nah
Roman
Forever by Ullstein
forever.ullstein.de
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Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Juni 2016 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016
Umschlaggestaltung:
ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
ISBN 978-3-95818-096-3
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Kapitel 1
Keuchend durchdrang ihr Atem die Luft, einzig begleitet von
dem Poltern ihrer hastigen Schritte auf dem Asphalt. Um sie
herum lag eine bleierne Stille, die nur der Einbruch der Nacht
mit sich bringen konnte. Dunkelheit umgab sie. Selbst der
Mond hatte sich hinter einer Wolke versteckt. Nur vereinzelte
Sterne strahlten noch schwach am Himmelszelt, zu weit weg,
um Licht und Trost zu spenden. Wie Zuschauer in einem Kinosaal blickten sie auf das Treiben der Erde hinab.
Es war Dezember, und die Luft war schneidend kalt. Doch
sie spürte keinen Wind, keine Kälte und keinen Frost. Ohne
sich umzublicken, rannte sie weiter, von Schluchzern geschüttelt. Ihre Augen waren verhangen von dicken Tränen, sodass
sie den Weg kaum noch erkennen konnte. In ihrer Hast stolperte sie und schlug mit dem Knie hart auf dem geteerten
Boden auf. Warm lief das Blut der Schürfwunde an ihrem Bein
hinab, doch sie bemerkte es nicht. Ihr Schmerz galt einer anderen Quelle, ihre Tränen einem anderen Grund.
Intuitiv schlug sie den richtigen Weg ein. Sie kannte jeden
Winkel, jede Unebenheit und jeden Stein, denn seit Jahren
endete ihr Weg täglich an diesem Ort. Heute jedoch wollte sie
die Schatten der Vergangenheit endlich hinter sich lassen.
Mittlerweile war das Blut an ihrem Bein getrocknet, und ihre
Tränen klebten feucht und unsichtbar an ihren Wangen. Fast
hatte sie es geschafft. Sie wusste, dass es nur noch einige Meter
sein dürften.
Wäre es nicht dunkel gewesen, hätte sie bereits die graue
Mauer erkennen können. Diese hässliche Mauer, die ihre Ver-
gangenheit, ihre Gegenwart und ihre Zukunft prägte. An
jedem anderen Tag wäre sie weinend und zitternd durch das
Tor getreten und mühsam, als müsste sie gegen eine unsichtbare Kraft ankämpfen, zu dem Grab geschritten, doch heute
war das nicht ihr Ziel. Heute wollte sie wieder das Lachen ihres
fünfjährigen Bruders hören und die liebevollen Stimmen ihrer
Eltern vernehmen.
Wie in Trance stürzte sie durch den Friedhof, ohne anzuhalten, denn sie wusste, dass sie jenseits der grauen Mauer ihre
Familie endlich wiedersehen konnte. Es war windig hier oben,
und zum ersten Mal durchdrangen nicht nur ihre Schritte und
ihr stockender Atem die Stille – das Brausen des Meeres und
das Geräusch der Wellen, wie sie unbarmherzig und zerstörerisch gegen die Felsen krachten und dort zerbarsten, mischten sich in die Grabesruhe der Nacht.
Atemlos blieb sie vor der Mauer, die das Festland von dreißig Metern Tiefe trennte, stehen. Wie oft war sie früher genau
auf dieser Mauer gesessen und hatte sehnsüchtig auf das
stürmische Meer hinabgeblickt, hatte zugesehen, wie es langsam die Farben wechselte, von Tiefblau in ein dreckiges Weißgrau und schließlich zu einem dunkleren Grünton. Jetzt war
das Meer schwarz, verschmolzen mit ihrer Umgebung. So
dunkel und aussichtslos, wie ihr Leben seit jenem einen verhängnisvollen Tag geworden war.
Mühsam zog sie sich an der Mauer hoch. Dreißig Meter
unter ihr toste die stürmische See, bis sie ohrenbetäubend an
der steilen Steinwand zerbarst. »Jetzt gibt es kein Zurück
mehr«, schoss es ihr durch den Kopf, und für den Bruchteil
einer Sekunde erfasste sie eine Angst, die ihren Körper lähmte.
Doch schon einen Wimpernschlag später fühlte sie wieder
diese Kälte und Leere, als wäre ihre Seele für eine Sekunde in
ihren Körper zurückgekehrt, um ihn gleich darauf wieder zu
verlassen. Sie spürte den eisigen Wind in ihrem Gesicht, spür-
te, wie er ihr kurzes Haar zurückwehte und ihre Augen erneut
tränen ließ. In ihrem Kopf tauchten die Gesichter ihrer Eltern
und ihres Bruders auf, lächelnd und glücklich, wie sie es seit
dem Tag, an dem sie ihre Familie verloren hatte, nicht mehr
gewesen war, und mit der Erkenntnis, dass sie endlich wieder
vereint sein würden, ließ sie los, trat einen Schritt nach vorne
und flog Richtung Meer.
Ihren Mund umspielte ein friedliches Lächeln, und als sie
auf der Wasseroberfläche aufprallte, spürte sie keinen
Schmerz. Dann war alles vorbei.
Lachend hielt sich Annabel den Bauch, während ihr kleiner
Bruder eine Schnute zog. Es war acht Uhr abends und für Leon
an der Zeit, ins Bett zu gehen. Wie jeden Tag um diese Zeit
versuchte er alles, um seine Eltern zu überreden, länger aufbleiben zu dürfen. Heute hatte er sich etwas Besonderes einfallen lassen. Um zu beweisen, dass er alt genug war, um mit
seiner Familie einen Spielfilm anzuschauen, hatte er sich ein
Hemd seines Vaters übergezogen und dessen Hut geschnappt.
Mit ernster Miene stand er nun am Türrahmen und erklärte
mit verstellter tiefer Stimme: »Mama, Papa, jetzt, wo ich fünf
Jahre alt bin, bin ich schon alt genug, um lang aufzubleiben.«
Zu seinem Verdruss rutschte ihm der viel zu große Hut während seiner Anrede vor die Augen, sodass nur noch sein Mund
zu sehen war. Bei diesem Anblick hielt sich Annabel den
Bauch vor Lachen, und auch ihre Eltern konnten sich ein
Schmunzeln nicht verkneifen.
Grinsend packte sein Vater Leon um den Bauch und warf
ihn über die Schulter. »Du bist mir aber einer. Gerade fünf
Jahre alt, und schon willst du den Ton angeben. Ab ins Bett
mit dir.« Quietschend und strampelnd versuchte sich Leon
aus dem Griff zu befreien. Dabei segelte der Hut zu Boden,
sodass Leons wilde blonde Lockenmähne wieder zum Vor-
schein kam. »Echte Männer müssen auch schlafen gehen«,
belehrte ihn sein Vater weise. »Und echte Männer hören auf
ihre Eltern, also gib deiner Mutter und deiner Schwester einen
Kuss, und dann ab mit dir in dein Zimmer.«
Murrend ließ sich Leon zu seiner Mutter tragen, die ihn
liebevoll in die Arme nahm. »Na, mein Großer, bist du denn
nach dem anstrengenden Tag noch nicht müde?«
»Nein, überhaupt nicht«, beteuerte Leon, während er ein
Gähnen unterdrückte.
Seine Eltern tauschten einen vielsagenden Blick aus, dann
ergriff sein Vater das Wort. »Nun gut, dann bin ich wohl
überstimmt. Du darfst noch etwas aufbleiben und mit uns
fernsehen, aber …« Der Rest des Satzes ging in einem schrillen
Jubelschrei unter.
Leon stürzte sich freudestrahlend auf das Sofa, verfing sich
dabei jedoch in dem riesigen Hemd und stürzte zu Boden.
Schnell rappelte er sich wieder auf, boxte seiner lachenden
Schwester gegen die Schulter und machte es sich neben Annabel bequem. »Darf ich den Film aussuchen?«, begann Leon
sofort zu quengeln und schnappte sich die Fernbedienung.
Schmunzelnd blickte der Vater auf Leon hinab. »Da gibt
man ihn den kleinen Finger …!«
Zielstrebig zappte Leon auf eine Komödie und kuschelte
sich an seine Schwester. Bereits nach fünf Minuten war er
eingeschlafen. Mit warmem Blick beobachtete Annabel ihren
Bruder, legte einen Arm um seine dünnen Schultern und
drückte ihm einen feuchten Kuss auf die glatte Stirn. Es war
Leons fünfter und letzter Geburtstag.
Lukas schaute besorgt auf das Mädchen mit den kurzen rotbraunen Haaren hinab und fragte sich, wie sie den Aufprall
überleben konnte. Etliche Quetschungen und Prellungen bedeckten ihren Körper, ihr linkes Auge war geschwollen, und
sie hatte ein starkes Schädeltrauma erlitten. Seit fünf Jahren
arbeitete er nun schon als Krankenpfleger. Er hatte viele Komapatienten erlebt und wusste, wie schlecht die Aussichten
des Mädchens standen, jemals wieder komplett zu genesen,
vorausgesetzt, sie würde überhaupt wieder aufwachen.
Als sie vor zwei Tagen eingeliefert worden war, hatte er alles
versucht, ihre Eltern oder Angehörige zu kontaktieren, doch
ohne Erfolg. Nach einem Telefonat mit der örtlichen Polizei,
hatte er herausgefunden, dass ihre Eltern und ihr Bruder vor
einem Jahr bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen waren. Seit diesem Tag lebte das Mädchen alleine in
einer heruntergekommenen Wohnung am Rande der Stadt.
Weitere Verwandte oder irgendein Vormund waren den Beamten nicht bekannt, abgesehen von einer Tante, die in Amerika wohnte.
Voller Mitgefühl betrachtete Lukas die Patientin und versuchte sich vorzustellen, wie verzweifelt sie sein musste, um
eine solche Tat zu begehen. Seine Gedanken schweiften zurück in die Zeit, in der er selbst zu kämpften hatte. Seine Hände
zitterten, als er ihr sanft über die kalte Wange strich. Er konnte
sich nicht erklären wieso, aber er fühlte sich für das Mädchen
verantwortlich. Vielleicht lag es an ihrer tragischen Vergangenheit, vielleicht auch an ihrer Einsamkeit, mit der er früher
selbst zu kämpfen hatte.
Dreißig Tage später hatte sich Annabel noch immer nicht gerührt. Ihr einziger Besucher war Lukas, ein junger Mann mit
sanften braunen Augen, den sie nicht einmal kannte und der
jeden Tag an ihrem Bett saß und ihre Hand streichelte. Lukas
wusste, dass die Ärzte bald handeln würden, wenn Annabels
Zustand sich nicht in irgendeiner Weise veränderte. Mit nachdenklicher Miene zog er leise die Tür des Krankenhauszim-
mers zu, als hätte er Angst, sie durch einen lauten Schlag zu
erschrecken.
Mit den Händen in seinen Kitteltaschen lief er stumm zur
Garderobe, legte seine Arbeitsklamotten ab und schlüpfte in
seine Jeans. Die Flure waren leer, die Besuchszeit war bereits
vorbei, einzig ein paar Krankenschwestern schlenderten gemächlich zu den Patienten, um noch einmal nach ihnen zu
sehen oder um den Topf auszuleeren. Einige grüßten ihn
freundlich oder schenkten ihm ein Lächeln. Doch er nickte
ihnen nur kurz zu und lief in Gedanken versunken aus dem
weißen Gebäude.
Auf dem Weg zur U-Bahn zog er sich seine Kapuze tiefer
in die Stirn. Seit Tagen regnete es ununterbrochen, die Wiesen
waren durchweicht, und an einigen Seen überschwemmte das
Wasser bereits das Ufer. Bei jedem Schritt vernahm er das
platschende Gefühl seiner Schuhe in den Pfützen, und er fragte sich, ob es wohl genauso geklungen hatte, als Annabel auf
der Wasseroberfläche aufprallte.
Als er die U-Bahn-Station erreichte, war seine Jacke durchweicht und seine Haare klebten ihm an der Stirn. Er fröstelte.
»Ich darf nicht krank werden«, dachte Lukas panisch. »Wenn
ich jetzt auch zu husten anfange, schickt mich mein Chef nach
Hause.« Zitternd rieb er die Hände gegeneinander und blies
seinen warmen Atem hinein, um sie aufzuwärmen.
Als die U-Bahn einfuhr, waren seine Hände zwar warm,
doch seine Füße fühlten sich durch die undichten Schuhe wie
Eiszapfen an. In der warmen Bahn zog er Schuhe und Socken
aus, um seine Füße aufzutauen. »Ich darf nicht krank werden.
Nicht jetzt«, dachte er erneut, während er bereits ein raues
Kratzen in seinem Hals spürte. Hätte er doch nur eine Mütze
mitgenommen!
Zum Glück befand sich das Haus seiner Mutter nur fünf
Minuten von der U-Bahn-Station entfernt. Ungeduldig klopf-
te er mit der Hand gegen die Haustür. Sein Schlüssel lag wie
so oft in seinem Zimmer. Genervt öffnete seine Mutter die
Tür, doch Lukas hetzte schweigend an ihr vorbei, um sich
schleunigst der nassen Klamotten zu entledigen und sich ein
wärmendes Bad einzulassen.
Der heiße Wasserdampf stieg langsam zur weißen Decke
empor, füllte das kleine, alte Badezimmer mit Nebelschwaden.
Über Lukas’ Körper breitete sich ein wohliges Kribbeln aus,
als seine Haut die Wärme aufsog. Seine verkrampften Schultern, die durch die ständige Anspannung schmerzten, wurden
weicher, bis sich die Verspannungen allmählich auflösten.
Träge schloss Lukas die Augen. Vor sein inneres Auge trat
wieder das Bild eines verzweifelten rothaarigen Mädchens, das
mutterseelenallein auf einer hässlichen Mauer stand und sich
weinend in die Tiefe stürzte.
Annabel saß verwirrt in ihrem Zimmer, hatte die Beine angezogen und den Kopf auf den Knien abgelegt. In dieser Position
verharrte sie bereits seit geschlagenen zehn Minuten, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. »Ich bin schwanger«,
hallte es durch ihren Kopf, immer und immer wieder, wie ein
nie enden wollendes Echo. Wie war das möglich? Wie hatte
sie nichts davon bemerken können. Und wie sollte sie das finden? Sie spürte eine gähnende Leere in sich und saß einfach
nur auf dem Boden ihres vertrauten Zimmers, in welches
schon bald neues Leben kommen sollte.
»Ich bin schwanger!« Als sie diese Worte von ihrer Mutter
hörte, wusste sie nicht, was sie erwidern sollte. Sie war zwölf
Jahre alt, und nie hatte sie sich Gedanken darüber gemacht,
dass sie ein Geschwisterchen bekommen könnte. Wenn ihre
Klassenkameraden von ihren jüngeren Brüdern und Schwestern sprachen, redeten sie von Nervensägen, von Verpflichtungen, von Ärgernissen und von Nachteilen. Nie hatte
Annabel das Verlangen nach einer Schwester oder einem Bruder verspürt – wieso auch, wo doch die ganze Liebe und
Zuneigung ihrer Eltern ihr gehörten.
»Ich bin schwanger«, dröhnte es in ihren Ohren, und plötzlich wurde die Gefühllosigkeit gebrochen. Sie spürte einen
Stich in ihrem Bauch, einen Stich der Eifersucht auf dieses
heranwachsende Kind, welches ihr den Platz als Papas Prinzessin und Mamas Liebling streitig machen wollte. Nein – sie
wollte keine Schwester und auch keinen Bruder. Im dritten
Monat war ihre Mutter bereits, das hieß, dass der kleine Bastard schon in einem halben Jahr auf die Welt kommen würde
– und genau das war es für sie: ein kleiner Bastard.
»Ich werde dich nie akzeptieren! Du wirst noch merken,
was es heißt, eine große Schwester zu haben«, nahm sie sich
grimmig vor und pfefferte wütend ihr Lieblingskuscheltier in
die Ecke. Jedes Mal, wenn ihre Mutter sie in den nächsten
Wochen fragte, ob sie das Treten des Kleinen spüren oder über
den Bauch streichen wollte, stellte sie sich taub, und als ihre
Eltern ihr altes Kinderbett vom Dachboden schleppten, ballte
sie nur wütend ihre Hände zu Fäusten und kniff den Mund
zusammen. »Jetzt fängt er schon an, meine alten Sachen zu
übernehmen, und genau das wird er auch mit Mama und Papa
machen. Mit seinem süßen kleinen Gesicht und den winzigen
Fingern wird er alle begeistern«, dachte Annabel verzweifelt.
Bald würden ihre Eltern abends zu ihm rennen, um ihm
Geschichten vorzulesen, bald würden sie ihn in die Luft werfen und an sich drücken und Annabel dürfte dann seine
dreckigen Windeln wechseln. Ja, Annabel freute sich ganz und
gar nicht auf ihr neues Geschwisterchen! Selbst als ihre Mutter
die ersten Wehen bekam und sich ihr Bauch wie bei einem
dicken Walross mit jedem Atemzug hob und senkte, empfand
Annabel keine Vorfreude.
Schließlich war der Tag gekommen. Die Fruchtblase platzte, und in einer Hektik, die Annabel sonst nur von Familienausflügen kannte, schnappte sich ihr Vater mit glitzernden
Augen die Autoschlüssel und half ihrer Mutter beim Einsteigen. Schnell rannte Annabel zur Hintertür und sprang auf den
Rücksitz, voller Angst, bereits jetzt vergessen zu werden.
Während ihre Mutter auf einer Trage in ein Zimmer gebracht wurde und ihr Vater aufgeregt ihre Hand hielt, musste
Annabel im Besucherraum warten, bis das Kind zur Welt gebracht worden war. Nervös und mit einem flauen Gefühl im
Magen lief Annabel unruhig von einer kahlen weißen Wand
zur nächsten, unfähig, sich auch nur für eine Sekunde hinzusetzen. Nach neun Monaten Groll und Wut drang ihr das erste
Mal wirklich ins Bewusstsein, dass sie tatsächlich einen Bruder
bekam. »Nein, ich freue mich nicht darauf. Er macht alles kaputt«, redete sie sich unaufhörlich ein, doch zu dem Groll in
ihrem Bauch mischte sich zum ersten Mal das Gefühl von
Aufregung.
Es kam ihr wie Stunden vor, und wahrscheinlich waren es
auch Stunden, in denen sie entweder die Wände anstarrte,
wahllos in Zeitschriften blätterte oder ein Kinderbuch aus der
Spielecke überflog. Als es draußen schon düster wurde, kam
ihr Vater lachend und freudestrahlend aus dem Zimmer gestürmt. Er hob Annabel hoch und wirbelte sie durch die Luft,
wie er es seit Jahren nicht mehr gemacht hatte. »Willst du deinen Bruder Leon begrüßen?«
Annabel nickte nur zaghaft, sie hatte einen Kloß im Hals,
der es ihr unmöglich machte, auch nur ein Wort zu sagen. Mit
zittrigen Knien und zwischen Angst, Neugier und Wut
schwankend, folgte sie ihrem Vater und erblickte zum ersten
Mal ihren Bruder. Er lag neben ihrer Mutter auf dem weißen
Laken, in eine hellblaue Decke gewickelt. So klein und zer-
brechlich, als wäre er eine von den Porzellanpuppen, mit
denen sie früher so gerne gespielt hatte.
Vorsichtig trat Annabel näher heran. Aus den Augenwinkeln sah sie ihre Mutter erschöpft lächeln. Und mit einem
Schlag war jeder Groll und jeder Zorn, den sie bis vor Kurzem
noch so heftig gespürt hatte, wie weggeblasen.
Bibbernd lag Lukas im Bett, die Decke eng um den Körper
geschlungen und eine Wärmflasche an den Füßen. Doch noch
immer fröstelte er. Einen Liter Tee hatte er bereits getrunken,
obwohl er das warme Getränk sonst verabscheute. Gebracht
hatte es ihm nichts. Beim Aufwachen reizte ein trockener
Husten seinen Hals, und seine Nase fühlte sich an, als wäre sie
über Nacht wie ein Ballon aufgegangen. Widerstrebend griff
er nach dem Telefon und wählte die Nummer des Krankenhauses, um sich für heute abzumelden.
Bis zum Hals pumpte er sich mit Medikamenten voll in der
Hoffnung, dadurch schneller wieder auf die Beine zu kommen, doch es sollte vier Tage dauern, bis er seine Erkältung
gut genug auskuriert hatte, um wieder zur Arbeit gehen zu
können.
Ungeduldig wartete er auf die U-Bahn, bangend, was ihn
im Krankenhaus in Zimmer 121 erwarten würde.
Annabel saß am Klavier und spielte ein fröhliches Weihnachtsstück, das sie seit Tagen geübt hatte, um ihre Eltern und
ihren Bruder an Heiligabend zu überraschen. Ihre Familie
lauschte andächtig den zarten Tönen. Sogar Leon saß brav und
ruhig auf dem Schoß seines Vaters. Als Annabel die letzte
Taste abklingen ließ, klatschte er begeistert in die Hände. Musik war bereits jetzt die große Leidenschaft des Vierjährigen.
Er selbst klimperte stundenlang freudig auf dem Klavier herum. Dass er keinen Ton traf, störte ihn dabei herzlich wenig.
Zufrieden hob Annabel den Kopf und blickte in die leuchtenden Augen ihres Bruders. Jedes Mal, wenn sie ihn anschaute, fragte sie sich, wie sie nur je auf den Gedanken hatte
kommen können, ihn zu hassen. Seit seiner Geburt hatte sie
ihn verwöhnt, herumgetragen und geliebt, wie sie es sonst nur
bei ihren Eltern vermochte. Leon hingegen blickte zu seiner
großen Schwester auf, als wäre sie die Königin der Welt.
Heute hielt er sich jedoch nicht lange damit auf, denn wie
jedes Kind am Weihnachtsabend wartete er seit Stunden sehnsüchtig auf die Bescherung. Die Kirche hatte er bereits überstanden, und sogar beim Abspülen nach der Weihnachtsgans
hatte er geholfen. Seiner Meinung nach hatte er jede Menge
Geschenke verdient. Schwungvoll sprang er vom Schoß seines
Vaters und rannte zu Annabel, um sie gleich darauf am Arm
zu packen.
Wie die Jahre zuvor mussten die Kinder in ihren Zimmern
bleiben, bis die Geschenke angerichtet waren. Um keine Sekunde länger ausharren zu müssen, wartete Leon erst gar nicht
auf die Ansage der Eltern, sondern zog Annabel gleich mit in
sein Kinderzimmer. Lachend ließ sie es mit einem letzten Blick
zu ihren Eltern geschehen.
»Meinst du, ich bekomme den Düsenjet, den ich mir gewünscht habe, Anna?«, fragte er aufgeregt und schlug seine
Tür so fest zu, dass das riesige Lego-Poster, das dort hing, erzitterte. Leon war der Einzige, der Annabel so nennen durfte.
»Nur artige Jungen bekommen Geschenke«, gab Annabel
wie jedes Jahr zurück. Mit gespieltem Schmollmund und Kulleraugen blickte er sie an, worauf sie ihn scherzhaft zu kitzeln
begann, bis er sich quietschend geschlagen gab.
Sehnsüchtig warteten die beiden auf das Klingeln der Glocke, die ihnen erlauben würde, sich auf die Geschenke zu
stürzen. Doch es blieb aus, einzig ein monotones Piepen
mischte sich in Leons ungeduldiges Schnauben. Ein Piepen,
dass Annabel in den Ohren dröhnte und schmerzhaft mit ihrem Herzschlag verschmolz. Sie wollte sich die Ohren zuhalten, wollte schreien, dass es aufhören solle, doch sie konnte
weder schreien noch sich bewegen.
Verwirrt wollte sie Leon fragen, ob auch er das grässliche
Piepen vernehmen könne, doch ihr Bruder war weg. Stattdessen blickte Annabel auf eine kahle weiße Zimmerdecke. »Ich
will wieder zurück. Ich will wieder zu meiner Familie, wieder
zu Leon!«, schrie sie innerlich.
Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten, doch niemand war da, der sie trösten und in den Arm nehmen konnte.
Plötzlich fiel ihr wieder der Moment auf den Klippen ein, der
Moment, als sie sich in die tosenden Wellen stürzte.
Weinend brach sie zusammen, als ihr klar wurde, wo sie
sich befand. Sie nahm kaum wahr, wie ein Mann im weißen
Kittel das Zimmer betrat, den Monitor, der neben ihr stand,
begutachtete und sie mit ruhiger Stimme fragte, ob sie wisse,
wie sie heiße. Sie konnte nicht antworten, denn ihr ganzer
Körper schien nach wie vor zu schreien.
Das Licht einer kleinen Lampe blendete ihre Augen, und
die beruhigende Stimme des Arztes dröhnte genau wie das
monotone Piepen in ihren Ohren. Wie durch einen Nebel
nahm sie wahr, wie der Mann sie untersuchte, wie er ihr mit
sanfter Stimme erklärte, dass sie im örtlichen Krankenhaus sei
und dass sie noch einige Tage dort bleiben müsse. Er fragte sie
auch, ob sie Verwandte habe, die sie anrufen könnten.
Doch Annabel schüttelte nur den Kopf und blieb stumm.
Sie fühlte sich zu zerschlagen, um eine Antwort zu geben.
Verzweifelt schloss sie erneut die Augen und stellte sich das
kleine Gesicht ihres Bruders vor. Mit einem dumpfen Schmerz
sank sie langsam in einen traumlosen Schlaf.
Kapitel 2
Lukas war schrecklich aufgeregt, als er aus der U-Bahn stieg
und zum Krankenhaus lief. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor,
seit er das letzte Mal auf das Mädchen mit der blassen Haut
und den rotbraunen Haaren hinabgeblickt hatte. Ob sie noch
immer wie eine Puppe auf dem weißen Bett lag?
Beklommen lief er durch den Flur des Krankenhauses, zu
angespannt, um seine Kollegen zu begrüßen oder ihnen auch
nur ein Lächeln zu schenken. Dann stand er vor der Tür. Er
holte tief Luft und drückt die Klinke hinab. Vielleicht hätte er
zuerst mit einem Arzt reden sollen, ob es Neuigkeiten gab,
doch jetzt war es zu spät. Nervös öffnete er die Tür und stellte
mit Erleichterung fest, dass Annabel immer noch mit geschlossenen Augen im Bett lag. Etwas mutiger trat er an ihr
Bett, wollte sich gerade hinsetzen und wie die Tage zuvor ihre
Hand nehmen, doch mitten in der Bewegung hielt er inne.
Irgendetwas war anders. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Angestrengt schaute er sich das Krankenbett genauer an,
überlegte, was sich verändert haben könnte. Dann bemerkte
er es. Die Schläuche, die ihren Körper mit der Maschine verbunden hatten, waren zwar noch immer vorhanden, doch der
Schlauch, der durch ihren Mund in Ihren Magen führte, war
verschwunden. Ihm blieb die Luft weg. Er wusste nicht, wie er
sich fühlen sollte. Natürlich war er unglaublich erleichtert,
doch er hatte auch Angst, dass sie ihn nun wegschicken würde,
dass er sie nie wieder besuchen konnte.
»Ich sollte gehen«, sagte ihm seine Vernunft, aber seine
Beine gehorchten ihm nicht. Also blieb er reglos stehen,
schaute auf das Mädchen hinab und beobachtete, wie sich ihr
Brustkorb unter der Decke leicht hob und senkte. Als er ihre
gerade Nase und die vollen, geschwungenen Lippen betrachtete, bemerkte er den nassen Streifen auf ihrer Backe. Bestürzt
stellte er fest, dass es Tränen waren, die dem Mädchen über
die Wange liefen.
Dann öffnete sie die Augen. »Grau«, war sein erster Gedanke. Doch nicht das Grau des dunklen Schaumes der Wellen, sondern ein helles, klares Grau, wie Nebel, der seinen Blick
verschleierte. »Bist du ein Arzt?«, fragte sie ihn mit krächzender leiser Stimme.
Natürlich – seine Arbeitskluft. Zum Glück hatte er sich bereits umgezogen. »So etwas in der Art«, antwortete er ihr mit
sanfter Stimme, während ein Lächeln seinen Lippen umspielte. »Ich bin Krankenpfleger.«
Sie blickte ihn an, verwirrt, als würden seine Worte keinen
Sinn ergeben. Verloren und zerbrechlich sah sie aus, wie sie
dort unter der weißen Bettdecke lag, das Gesicht fast ebenso
blass. Nur die kurzen rotbraunen Haare hoben sich vom restlichen Zimmer ab.
»Ich heiße Lukas«, stellte er sich vor. »Dein Name ist Annabel, richtig?« Sie nickte stumm. »Wie geht es dir, Annabel?«
Bestürzt musste er feststellen, dass ihre Augen erneut nass
wurden, und sofort bereute er seine Frage. »Du bist ein Idiot.
Wie soll es ihr schon gehen?«, schimpfte er sich stumm, und
um sich zu verbessern, fügte er hinzu: »Hast du Kopfschmerzen, oder spürst du sonst irgendwelche Nachwirkungen?«
Zitternd schüttelte sie den Kopf.
In dem Moment kam der Arzt herein, um Kontrolluntersuchungen durchzuführen. Er nickte Lukas geschäftig zu und
blickte dann auf seine Patientin hinab. Mit betont sanfter
Stimme fragte er Annabel, ebenso wie zuvor Lukas: »Wie geht
es dir heute?« Annabel zuckte nur unbeholfen mit den Schul-
tern. Wieder leuchtete der Arzt mit einer kleinen Lampe die
Augen des Mädchens ab und kontrollierte ihren Blutdruck.
»Dein Körper hat sich hervorragend erholt«, stellte er fest.
»Ich denke, in ein paar Tagen kannst du die Klinik verlassen.«
Bei diesen Worten runzelte der Arzt leicht die Stirn, zog sich
einen Stuhl, der neben dem Bett stand, heran und setzte sich
neben Annabel. »Annabel, wir müssen darüber reden, was in
Zukunft sein wird. Hast du Verwandte, die dich aufnehmen
können?« Annabel schüttelte schweigend den Kopf. »Ich denke, in deiner Situation wäre es gut, wenn du vorerst nicht allein
wohnst.«
»Ich habe niemanden«, erklärte Annabel tonlos.
»Du bist achtzehn, das heißt, dass dir niemand vorschreiben kann, wo du leben sollst, aber ich denke, dass du dringend
Hilfe in Anspruch nehmen solltest. Eine psychologische Betreuung wäre sicherlich nicht schlecht!«
»Meinen Sie, dass ich in die Klapse soll?« Ihre Herzfrequenz, die der Monitor noch immer anzeigte, stieg ruckartig
an, während sie ihre grauen Augen erschrocken aufriss.
Ohne nachzudenken, platzte Lukas heraus: »Wenn du
möchtest, kannst du die ersten Tage bei mir unterkommen.«
Verlegen senkte Lukas den Blick zu Boden, als Annabel und
der Arzt ihn anstarrten. »Nur so lange, bis es dir besser geht«,
stammelte Lukas.
Nach ein paar Sekunden, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, flüsterte Annabel: »Das ist sehr nett von dir.« Dabei
musterten ihre hellgrauen Augen ihn, als würden sie abschätzen, ob er einer von den Guten ist.
»Darüber sprechen wir noch«, brummte der Arzt, verabschiedete sich von Annabel und winkte Lukas mit sich auf den
Flur. »Lukas, ich möchte dir eigentlich davon abraten. Viele
Patienten versuchen schon nach kurzer Zeit erneut, sich um-
zubringen. Es ist wirklich wichtig, dass das Mädchen psychologische Betreuung bekommt.«
Lukas blickte in die ernsten Augen des Arztes. Ihm fiel auf,
dass sie braun waren und einen leicht mitfühlenden Glanz
hatten, und er fragte sich, ob der Arzt wohl Kinder hatte. »Das
sehe ich genauso. Ich denke jedoch nicht, dass sie sich einweisen lassen würde, und wenn sie bei mir wohnt, kann ich
wenigstens darauf achten, dass sie zum Psychologen geht«,
versicherte Lukas.
Der Arzt schaute ihn noch einmal abschätzend an, dann
klopfte er ihm leicht auf die Schulter. »Ihr seid beide erwachsen, und wenn Annabel das möchte, dann kann ich dagegen
nichts einwenden. Ich möchte nur, dass du dir darüber im
Klaren bist, was du machst.«
Lukas nickte und fragte sich bereits jetzt, ob seine Entscheidung richtig war.
Als Annabel aus dem Koma erwacht war, hatte sie sich so einsam wie nie zuvor gefühlt. Niemand war an ihr Krankenbett
gekommen, niemand hatte ihr Blumen oder Bilder vorbeigebracht, und das aus dem einzigen Grund, weil sie niemanden
auf der ganzen Welt hatte.
Warum nur musste sie diesen Sprung überleben? Sie hatte
sich so sehr gewünscht, endlich zu ihrer Familie zurückzukehren, endlich frei zu sein, aber irgendeine höhere Gewalt
wollte das wohl verhindern.
Weinend war sie zusammengebrochen. Dann kam dieser
junge Mann in das Zimmer, ein wildfremder Mann, der sie
ansah, als wüsste er genau, was sie durchmachen musste. Jetzt
hatte er ihr auch noch angeboten, bei ihm zu wohnen. Sie
wusste nicht, ob es die richtige Entscheidung war zuzustimmen? Schließlich kannte sie ihn ja nicht einmal. Doch was
wäre ihre Alternative? Wieder in ihre Bruchbude zurückzukehren? Sie bezweifelte, dass der Arzt das zulassen würde.
Sorgfältig räumte Lukas das Haus auf, schaute noch ein letztes
Mal in jeden Winkel, um sich zu überzeugen, dass es auch
wirklich ordentlich aussah. Immerhin wollte er, dass bei Annabels Ankunft alles perfekt war. Seine Mutter hatte nur den
Kopf geschüttelt, als er ihr berichtet hatte, dass Annabel für
ein paar Tage zu ihnen ziehen würde, doch gesagt hatte sie
nichts, wie sie nie etwas sagte. Sie hatte gelernt, ihren Mund
zu halten und allen Übeln aus dem Weg zu gehen.
Lukas machte sich mittlerweile daran, die Toilette zu putzen. Sein Gesicht verriet nicht, was in ihm vorging, nur sein
Mund war leicht zusammengekniffen. Ob vor Anspannung
oder weil es ihn vor dieser Arbeit grauste, konnte seine Mutter
nicht sagen. Seufzend zog sie sich mit einer frischen Packung
ihrer Medikamente in ihr Zimmer zurück, um wie so oft mit
leerem Blick an die Decke zu starren.
Lukas überlegte, was er noch machen könnte, um die nervige Wartezeit zu überbrücken. Es war zwei Uhr, was hieß,
dass es noch eine Stunde dauerte, bis er Annabel abholen
konnte. Er hatte bereits sein Zimmer geräumt, seine Bettlaken
gewechselt und sich eine neue Schlafmöglichkeit auf dem Sofa
in Karens Zimmer eingerichtet. Seine Schwester kam erst in
zwei Wochen nach Hause, sodass er ihren Raum noch einige
Tage für sich hatte und sich Annabel erst mal eingewöhnen
konnte, bevor er ihr von den Eigenarten seiner Schwester berichten musste.
Nervös rückte er den Blumenstrauß, den er gekauft hatte,
auf dem Esstisch zurecht. Die Blumen waren rot wie die Liebe,
die Lukas bislang nur für ein Mädchen empfunden hat: seine
Schwester Karen. Wie Karen Annabel wohl finden würde? Er
konnte sich ihre Reaktion beim besten Willen nicht ausmalen.
Wenn er Glück hatte, strich Karen ihr mit dem Finger über
das Gesicht, wenn er Pech hatte, brach sie in ein Gebrüll aus,
das jedes Kindergeschrei wie Flüstern wirken lassen würde.
Als es halb drei schlug, schnappte sich Lukas seine dickste
Jacke, setzte sich diesmal eine Mütze auf und machte sich auf
den Weg zur U-Bahn-Station. In den letzten Tagen hatte sich
der Regen in Schnee gewandelt, sodass über der Stadt eine
leichte weiße Schicht lag, wie Puderzucker, der vom Himmel
gefallen war. Noch immer rieselten die »weißen Sterne«, wie
Lukas früher immer zu seiner Schwester gesagt hatte, vom
Himmel. Karen liebte den Schnee. Wenn die Schneeflocken
nass und sanft auf sie hinabsegelten, lachte sie – und dieses
Lachen war für Lukas der schönste Klang auf Erden. Auch jetzt
musste Lukas bei dem Gedanken an Karen unwillkürlich lächeln. Wie schwer das Leben mit ihr auch sein mochte, er hatte
es nie bereut. Vielleicht wollte er deshalb Annabel helfen, weil
sie ihn an Karen erinnerte und daran, dass auch sie seine Hilfe
brauchte.
Annabel saß wartend auf ihrem Bett. Zum ersten Mal, seit sie
im Krankenhaus aufgewacht war, hatte sie das gepunktete
Nachthemd ausgezogen und es durch Jeans und Kapuzenpullover ersetzt. Der kleine Koffer mit ihren Habseligkeiten
stand neben ihren Füßen, die noch in kuscheligen Hausschlappen steckten. Gedankenversunken blickte sie auf ihre Hände. Manchmal, wenn sie an den Jungen mit den braunen
Augen dachte, fühlte sie den Druck seiner Hände und seine
leise wohlklingende Stimme. Annabel fragte sich, ob sie irgendwann einmal von ihm geträumt hatte.
Ihr Magen knurrte, neben ihr stand unberührt das Mittagessen aus der Kantine. Hacksteak mit Kartoffelbrei sollte es
sein, hatten die Schwestern zu ihr gesagt, doch für Annabel
sah es aus wie die Überreste der Krankenhaustoilette. Sie
wusste nicht, wann sie das letzte Mal gemütlich essen war oder
etwas gekocht hatte. Der Arzt hatte zu ihr gesagt, dass sie mit
jemandem reden, sich professionelle Hilfe holen sollte. Bei
diesem Satz war ihr ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen, und sie hatte betreten zu Boden geschaut.
»Ist es jetzt schon so weit, dass ich in die Klapsmühle gehöre.
Wird mich jeder nun mit mitleidvollen Augen anschauen, wie
nach dem Autounfall«, fragte sie sich. Schon damals hatte sie
dieses Mitgefühl gehasst und hatte mit rauem Verhalten und
selbst gewählter Isolation alles versucht, um diesem Mitleid
zu entkommen. Und nun sollte das wieder von vorne anfangen? Ob sie der Junge mit dem sanften Blick wohl auch so
anschauen würde? Nahm er sie nur deshalb auf, weil er Mitleid
mit ihr hatte?
Wütend krallte sie ihre Finger noch fester zusammen, bis
ihre Nägel schmerzhaft in ihre Haut drückten. Sie sollte lieber
wieder weglaufen, einfach ihre Sachen packen und aus diesem
Krankenhaus, aus dieser Gegend verschwinden. Doch gerade
als sie nach ihrem kleinen Koffer griff, öffnete sich die Tür,
und der Junge trat hinein.
Lukas stand vor der Zimmertür, schloss noch einmal kurz die
Augen, bevor er fest den Griff packte und die Tür mit einem
Ruck aufstieß. Seine Augen ruhten auf dem Bett, an dessen
Kante Annabel saß. Stumm blieb er im Türrahmen stehen und
blickte auf die junge Frau hinab, die mit geballten Fäusten zu
Boden starrte. Er spürte sofort, dass Annabel aufgewühlt war.
Ihre Art, wie sie die Muskeln anspannte und wie ihr Blick sich
kalt und unbarmherzig in den Boden bohrte, sprach Bände.
Als sie die Augen hob, um nach ihrer Tasche zu greifen und
ihn dabei direkt anblickte, konnte er ihre Wut erkennen. Eine
Wut, die ihre Augen dunkler erscheinen ließ und ihn nun
doch an tosende Wellen erinnerte. Ausdruckslos, so hoffte er
zumindest, hielt er ihrem Blick stand, schloss langsam die Tür
und trat zu ihr ans Bett, ohne den Augenkontakt zu unterbrechen. Wie ein stählernes Band verbanden sich die grauen
und die braunen Augen, lieferten sich einen stummen, unerbittlichen Kampf.
Lukas wusste, dass er jetzt nicht versuchen durfte, sie zu
besänftigen oder ihr auch nur einen Funken Mitgefühl zu zeigen. Er kannte diese Situation gut genug. Viele Male musste
er sie mit seiner Schwester bestreiten, immer und immer wieder, jahrelang. Er konzentrierte sich und sprach mit harter
Stimme: »Lass uns gehen. Das Essen wird kalt.«
Annabel blickte in die starren braunen Augen, die sie zu
hypnotisieren schienen. Noch immer loderte eine namenlose
Wut in ihr, sprudelte durch ihre Augen, durch ihre kalten
Hände und ihren pochenden Herzschlag. Ihr Blick war von
tiefer Verzweiflung, Angst, Wut und Traurigkeit zu einer
stählernen Maskerade geformt. Doch mit jeder Sekunde, die
er in ihre Augen blickte, schien er ein Stück ihrer Wut wegzunehmen, als würde er sie in sich aufsaugen. Ihre Hände
lösten sich langsam, ihr Herzschlag wurde langsamer und ihr
Atem allmählich ruhiger. Als seine Stimme wie ein Paukenschlag durch die ihr unüberwindbare Stille drang, zuckte sie
zusammen, doch seine harten Worte lösten ihre Wut vollends
auf, denn sie konnte kein Mitleid darin hören.
Artig, wie ein zurechtgewiesenes Kind, nickte sie mit dem
Kopf, wendete ihren Blick zu ihrem Koffer und erhob sich
endgültig von dem Krankenhausbett. Schweigend liefen sie
durch den Flur, nebeneinander, als würden sie sich nicht erst
seit einigen Tagen kennen. Annabel spürte mit jedem Schritt,
wie sie sich freier fühlte. Ihr fiel das Atmen wieder leichter,
ihre Beine wurden automatisch schneller und ihr Körper entspannter.
Dann waren sie an der Drehtür angekommen, und ehe sich
Annabel noch einmal umblicken konnte, stand sie auf der
Straße. Der Himmel war grau, doch an einigen Stellen schien
er heller, als würde sich die Sonne langsam einen Weg hindurchbahnen. Die Straßen und Häuser waren mit einer
Schneeschicht bedeckt und glitzerten mit den Schaufenstern
um die Wette. Annabel hielt sich die Hand vor die Augen.
Nach dem düsteren Zimmerlicht, erschien ihr die Welt grell
und viel zu hell für ihre Augen.
Tausend Geräusche prasselten auf sie ein. Die Autos, die
hupend vorbeifuhren, die Schritte der Fußgänger auf dem
harten Asphalt, das Quengeln der Kinder, das Schimpfen von
Müttern, die ihre Sprösslinge von dem Spielzeugladen wegzerrten. Sie hörte ihren eigenen Atem und Herzschlag nicht
mehr, als wäre er nicht mehr da, als wäre sie unsichtbar geworden.
Der Junge neben ihr blickte sie geradewegs an, lächelte ihr
aufmunternd zu.
»Wo wohnst du denn?« Ihre Stimme klang fremd und rau,
als hätte sie durch das lange Schweigen das Sprechen verlernt,
und sie räusperte sich, um das Kratzen aus ihrer Stimme zu
verscheuchen.
»Nicht weit von hier. Wir müssen nur zwei Stationen mit
der U-Bahn fahren«, antwortete Lukas ihr mit heiterer Stimme. »Hast du Hunger?«
Zur Antwort fing Annabels Bauch zu knurren an, und Lukas lachte auf. Sein Lachen klang so unbeschwert, dass Annabel sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte.
Mittlerweile war die U-Bahn eingefahren, und Annabel und
Lukas drängten sich mit den anderen Fahrgästen hinein. Einen Sitzplatz konnten sie nicht mehr ergattern, sodass sie sich
am Eingangsbereich festhalten mussten.
»Schmeckt dir Lasagne?«, fragte er sie munter, um ihr keine
Chance zum Nachdenken zu geben.
»Ja, aber ich denke, nach dem Krankenhaus würde mir alles
schmecken«, gab Annabel zurück.
Als sie ausstiegen, war Annabel den Umständen entsprechend noch immer ganz gut gelaunt, doch als sie vor dem
großen Haus ankamen, legte sich ein Schleier über ihre Augen,
und Lukas wusste, dass sie sich in ihr Schneckenhaus zurückgezogen hatte, hinter eine Wand, die sie vor der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft schützen sollte.
Kapitel 3
Annabel sah Leon wieder vor sich, wie er lachend Schneebälle
formte. Sein kleiner Körper steckte in einem blauen Schneeanzug, die blonden Locken wurden von einer großen Mütze
mit einem Superman-Logo überdeckt. Seine Wangen waren
gerötet von der eisigen Kälte, die seit Tagen anhielt. Seine Augen blitzten wie der weiße Schnee, in dem er kniete, als er den
Schneeball mit aller Kraft Richtung Annabel warf.
Diese sprang schnell zur Seite, um sich vor dem Angriff zu
schützen, und landete in einem Schneehügel. Bevor sie sich
aufrappeln konnte, hatte Leon bereits den nächsten Schneeball geknetet, und diesmal traf er sein Ziel. Entzückt klatschte
er in die Hände, während Annabel sich den Schnee aus den
Haaren strich.
»Na warte!«, rief sie ihm drohend zu und stürzte sich auf
ihn. »Jetzt werde ich dich in den Schnee eintauchen, und dann
kannst du so lange strampeln, bis du blau wirst.« Quietschend
versuchte sich Leon in Sicherheit zu bringen, tapste mit seinen
kurzen Beinen durch den Schnee, doch schon nach einigen
Sekunden hatte Annabel ihn eingeholt und hob ihn hoch in
die Lüfte.
»Hilfe!«, rief Leon aus vollem Hals. Seine Rufe wurden erhört, denn prompt stand sein Vater da.
Doch anstatt ihm zu helfen, rief er Annabel zu: Ȇberlass
den Taugenichts mir. Dann wird er seine Abreibung bekommen.« Annabel überreichte ihm grinsend den strampelnden
Leon, dem es trotz aller Versuche, sich zu befreien, nicht gelang, sich aus dem Klammergriff seines Vaters zu winden.
»Nein!«, schrie Leon lachend, doch da ließ ihn sein Vater auch
schon auf einen großen Schneehügel plumpsen.
Prustend rappelte sich Leon hoch, wischte sich den nassen
Schnee aus den Augen und machte sich augenblicklich wieder
daran, einen neuen Schneeball zu formen, der diesmal für seinen Vater bestimmt war. Dieser zog Annabel hinter eine
Mauer und drückte sie an sich. Dann rief er: »Dieser Dreikäsehoch hat immer noch nicht genug. Er ist zu hart für uns.
Bitte verschone uns!«
Lachend kam Leon näher und schüttelte den Kopf: »Niemals!« Dann warf er unbarmherzig den Schneeball und traf
seinen Vater auf der Brust. Dieser ließ sich schwankend nach
hinten fallen und hauchte an Annabel gewandt: »Ich wurde
getroffen. Du musst den Kampf jetzt allein bestreiten.« Dann
verdrehte er theatralisch die Augen und streckte die Zunge
raus.
Annabel und Leon schauten sich an und brachen in Gelächter aus.
Annabel schluckte. Das war nun das Haus, in dem sie wohnen
sollte. Mit den großen Fenstern und den weißen Fensterrahmen erinnerte es sie stark an das Haus ihrer Kindheit. Nur die
Wandfarbe war anders, aus einem sanften Hellblau, das am
unteren Rand in einem dunkleren Ton gestrichen war. Sie
verdrängte die schmerzhaften Erinnerungen, zwang sich zu
einem Lächeln, welches ihr missglückte, und nickte Lukas
leicht zu, der bei ihrem Anblick vor der Haustüre stehen geblieben war.
Auf ihr Zeichen hin steckte Lukas den Schlüssel in das
Schlüsselloch und sperrte auf. »Komm rein«, hörte sie ihn wie
durch einen unsichtbaren Nebel, der sie so oft umgab, sagen,
und wie ein Roboter setzte sie sich in Bewegung.
Der Flur war hell und geräumig und führte zu einer weiteren Holztür. Dahinter lag ein großes Wohnzimmer mit Anschluss an einen Essbereich und die Küche. Rechts von
Annabel sah sie eine Wendeltreppe zum Obergeschoss führen. »Willst du erst dein Zimmer sehen, oder wollen wir erst
essen?« Wieder knurrte Annabels Magen. »Das habe ich mir
fast gedacht«, erwiderte Lukas schmunzelnd und führte sie ins
Esszimmer. »Mam?«, rief er laut durch das Zimmer.
Etwas beunruhigt wartete Annabel auf das Eintreffen seiner
Mutter und fragte sich, wie diese wohl darauf reagieren würde,
dass Annabel nun für einige Tage hier einzog. Das Warten
dauerte nicht lange, da trat durch eine Tür seitlich des Wohnzimmers eine schlanke Frau mit schulterlangen braunen Haaren. Wie eine Schlafwandlerin kam Annabel die Frau vor,
während sie mit nahezu lautlosen Schritten herantrat. Ihre
Augen waren groß und ebenso braun wie die ihres Sohnes,
jedoch ohne dessen Lebensfreude widerzuspiegeln. Viel eher
blickten sie resigniert.
»Hallo, mein Name ist Annabel. Danke, dass ich hier schlafen darf.« Annabel versuchte kraftvoll und selbstsicher zu
klingen, doch in ihren Ton mischte sich Nervosität und Unsicherheit. Das schien die Frau jedoch nicht zu bemerken, sie
schien die junge Frau nicht einmal wirklich wahrzunehmen.
»Kein Problem. Fühl dich wie zu Hause«, antwortete sie mit
leiser Stimme, dann gab sie ihrem Sohn abwesend einen Kuss
auf die Backe und schleppte sich zurück in ihr Zimmer.
»Tut mir leid. Heute ist kein guter Zeitpunkt«, entschuldigte sich Lukas leise.
»Das macht doch nichts.« Nachdenklich schaute Annabel
der Frau nach. Sie hatte vergessen, sich vorzustellen, fuhr ihr
durch den Kopf. Ob sie wohl immer so war?
»Na los! Nicht, dass dein Magen noch mehr protestiert«,
riss Lukas sie aus ihren Gedanken. Er hatte sein Lächeln wie-
der aufgesetzt, als wäre es nichts Ungewöhnliches, seine Mutter in diesem Zustand zu erleben. Annabel folgte ihm und
setzte sich auf einen freien Stuhl, mit den Gedanken immer
noch bei dieser seltsamen Begegnung.
Während Lukas schnell die Teller herantrug und die fertige
Lasagne zum Warmmachen in die Mikrowelle schob, versuchte Annabel wieder ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern,
was ihr aber noch immer nicht ganz gelingen wollte.
Lukas dachte über das Verhalten seiner Mutter nach und fragte sich, wieso sie nur wieder ihre Pillen einnehmen musste,
wieso gerade heute? Sie hatte doch gewusst, dass Annabel
kommen würde. Sie hatte gewusst, wie wichtig es für ihn war,
dass sie als stabile Frau, ja als Mutter, den Gast begrüßte. Doch
er wusste auch, dass seine Mutter sich dem Sog, dem Drang
nach den Medikamenten, wie sie so gern sagte, nicht entziehen
konnte.
Traurig betrachtete er Annabels Rücken von der Küche aus,
fragte sich, was sie jetzt wohl gerade denken mochte. Das Piepen der Mikrowelle ließ ihn hochschrecken. Schnell schnappte er sich einen Topflappen und trug die heiße Schüssel zum
Tisch. Aufmunternd lächelte er Annabel zu, die sein Lächeln
etwas gezwungen erwiderte. »Dann lass es dir mal schmecken.« Er merkte, dass seine Stimme ihm nicht ganz gehorchen wollte, doch um seine Verlegenheit zu überspielen,
häufte er Annabel einen großen Haufen des Gerichts auf den
Teller und bediente sich dann ebenfalls.
Schweigend probierte Annabel den ersten Löffel und hätte
sich in ihrem Übermut beinahe die Zunge verbrannt. Gerade
noch rechtzeitig pustete sie, bevor sie die Mahlzeit kostete. Am
liebsten hätte sie vor Genuss die Augen geschlossen und sich
ganz auf den Geschmack der Lasagne konzentriert. Ihr kam
es so vor, als hätte sie noch nie so etwas Leckeres gegessen.
Zwei ganze Portionen verschlang sie, bevor sie mit vollem
Bauch und einem zufriedenen Lächeln den Löffel weglegte.
»Das war sehr gut. Wer hat die Lasagne denn gekocht?«
»Ich«, antwortete Lukas und schenkte ihr ein erfreutes Lächeln. Schüchtern lächelte Annabel zurück. »Komm, ich zeige
dir, wo du schlafen kannst. Du bist bestimmt müde.« Annabel
nickte und folgte Lukas die Treppe hinauf. Tatsächlich fühlte
sie sich wie erschlagen, obwohl es noch nicht einmal sieben
Uhr war.
Lukas öffnete ihr die Tür in sein Zimmer. Alles war sauber
aufgeräumt, kein Krümel lag auf dem Boden, und das Bett war
frisch bezogen. »Du willst dich sicher erst etwas eingewöhnen.
Ruf mich, wenn du etwas brauchst.« Mit diesen Worten lächelte Lukas ihr ein letztes Mal aufmunternd zu, dann ließ er
sie allein.
Das Zimmer war groß, geräumig und praktisch eingerichtet. Es gab ein großes Metallbett, einen Nachttisch mit einer
Lampe, einen Schreibtisch in einem hellen Holzton und einen
dazu passenden Kleiderschrank. Sogar Zugang zu einem Balkon hatte das Zimmer. Annabel schob ihren kleinen Koffer
unter das Bett, öffnete die Balkontür und trat hinaus. Sie lehnte
sich an das Geländer und blickte versonnen in die Nacht hinaus. Im Gedanken ließ sie den Tag noch einmal vor sich
ablaufen. Wie alt mochte Lukas wohl sein? So Mitte zwanzig
schätzte Annabel, nur einige Jahre älter als sie selber. Was seiner Mutter wohl fehlen mochte? Und wo war eigentlich der
Vater …? Annabel schüttelte energisch den Kopf. Das ging sie
alles nichts an. »Du bist hier nur zu Gast«, ermahnte sie sich.
»Steck deine Nase nicht in die Angelegenheiten von fremden
Leuten.«
Dennoch blieb sie eine Zeit lang nachdenklich auf dem Balkon stehen. Erst als sie vor Kälte zu zittern begann, ging sie in
das Zimmer zurück und kramte aus ihrem Koffer einen alten
Pyjama heraus. Mit dem Schlafanzug unter dem Arm machte
sie sich auf, um das Badezimmer zu suchen. Sie wollte gerade
ihre Tür öffnen, als dort ein leises Klopfen ertönte. Annabel
riss die Tür auf und blickte in Lukas erschrockene Augen. »Ich
wollte nur fragen, ob du alles hast?«, sagte er etwas überrumpelt.
»Ja danke, ich suche nur noch das Badezimmer.«
Lachend deutete Lukas zu einer Tür gegenüber. »Tut mir
leid. Das habe ich vorhin ganz vergessen, dir zu zeigen.«
Annabel bedankte sich mit einem Nicken und verschwand
in dem Raum. Schnell zog sie sich um, wusch sorgfältig ihr
Gesicht und putzte sich die Zähne. Auf einmal fühlte sie sich
so müde, dass sie am liebsten einfach im Sitzen eingeschlafen
wäre. Obwohl sie nicht viel getan hatte, war es für sie ein anstrengender Tag gewesen nach der langen Zeit im Krankenhaus.
Als sie in ihr Zimmer zurückgehen wollte, bemerkte sie,
dass Lukas immer noch vor ihrer Tür stand, um ihr eine gute
Nacht zu wünschen. Den Blick zu Boden gesenkt, wünschte
sie ihm ebenfalls schöne Träume, dann zog sie sich schnell
zurück. Jetzt, wo sie hier war, fühlte es sich komisch an, einem
fremden Jungen im Schlafanzug gegenüberzustehen, und dabei zu wissen, dass sie in seinem Zimmer schlafen würde.
Argwöhnisch betrachtete sie das große Bett, überlegte, wer
dort wohl schon alles geschlafen haben mochte, immerhin war
sie nicht blind. Sie wusste, dass Lukas ausgesprochen attraktiv
war und die Frauen ihm wohl die Tür einrannten. Schnell
verwarf sie den Gedanken wieder. »Das geht dich alles nichts
an«, schalt sie sich erneut.
Mit den Händen prüfte sie die Matratze, dann schmiss sie
sich in das bequeme Bett und zog sich die kuschelige Decke
bis zum Hals. Was für ein tolles Gefühl es war, den Geruch
des frischen Bettlakens einzuatmen und in einem Bett zu lie-
gen, das nicht nach Medikamenten, Desinfektionsmitteln und
Krankheiten roch. Zufrieden schloss sie die Augen und fiel
innerhalb von fünf Minuten in einen tiefen, entspannenden
Schlaf.
Wie in jeder Nacht erschien ihr Leon im Traum, wie er
fröhlich lachend auf sie zurannte, wie er mit schokoladenverschmiertem Gesicht am Tisch saß oder wie er weinend sein
aufgeschürftes Knie hielt. Und wie jedes Mal schrie sie seinen
Namen, wollte auf ihn zugehen, ihn umarmen und festhalten,
doch bevor sie ihn erreichte, riss ein schwarzes Loch ihren
Bruder in den Tod, erfasste ihn ein heranbrausender Lkw oder
eine explodierende Bombe.
Zitternd und mit Tränen in den Augen wachte sie auf, das
Herz klopfte ihr bis zum Hals. Leichenblass saß sie aufrecht
im Bett, versuchte die schrecklichen Bilder zu verdrängen und
ihren Herzschlag zu beruhigen. Erst als sie wieder einigermaßen ruhig atmen konnte, ließ sich Annabel zurück in das
Kissen fallen, doch alle Müdigkeit war verschwunden. An
Schlaf war nicht mehr zu denken. Zu groß war die Angst, wieder bei dem Tod ihres Bruders zusehen zu müssen.
Normalerweise würde sie jetzt in ihre Küche gehen, ein
kaltes Glas Wasser trinken und dann ein neues Gemälde von
Leon malen, doch sie war nicht mehr in ihrem Haus. Leise
stand Annabel auf, öffnete den Vorhang und trat erneut auf
den Balkon hinaus. Tief atmete sie die frische Luft ein, die ihr
half, ruhig zu werden.
Mit den Augen fixierte sie einen einzelnen Stern am Himmelszelt, der schwach durch die Finsternis der Nacht hindurchstrahlte. Alle Häuser waren in der Dunkelheit verschwunden, schattenhafte Schemen ihrer selbst. Annabel
lehnte sich über das Geländer, fragte sich, wie viele Meter es
wohl bis zum Boden sein mochten und zu wie oft solch ein
Sturz wohl tödlich enden würde. Wäre das die Lösung?
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