Lehr- und Lernprogramme für den Mathematikunterricht
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Lehr- und Lernprogramme für den Mathematikunterricht
proceedings Peter Bender; Wilfried Herget; Hans-Georg Weigand; Thomas Weth (Hrsg.) Lehr- und Lernprogramme für den Mathematikunterricht Bericht über die 20. Arbeitstagung des Arbeitskreises „Mathematikunterricht und Informatik“ in der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik e. V. vom 27. bis 29. September 2002 in Soest diverlag franzbecker proceedings Peter Bender; Wilfried Herget; Hans-Georg Weigand; Thomas Weth (Hrsg.) Lehr- und Lernprogramme für den Mathematikunterricht Bericht über die 20. Arbeitstagung des Arbeitskreises „Mathematikunterricht und Informatik“ in der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik e. V. vom 27. bis 29. September 2002 in Soest diverlag franzbecker Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. Bibliographic information published by Die Deutsche Bibliothek Die Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data is available in the Internet at <http://dnb.ddb.de>. Peter Bender; Wilfried Herget; Hans-Georg Weigand; Thomas Weth (Hrsg.) Lehr- und Lernprogramme für den Mathematikunterricht Bericht über die 20. Arbeitstagung des Arbeitskreises „Mathematikunterricht und Informatik“ in der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik e. V. vom 27. bis 29. September 2002 in Soest ISBN 3-88120-351-6 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere die der Vervielfältigung und Übertragung auch einzelner Textabschnitte, Bilder oder Zeichnungen vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Zustimmung des Verlages in irgendeiner Form reproduziert werden (Ausnahmen gem. §§ 53, 54 URG). Das gilt sowohl für die Vervielfältigung durch Fotokopie oder irgendein anderes Verfahren als auch für die Übertragung auf Filme, Bänder, Platten, Transparente, Disketten und andere Medien. © 2003 by Verlag Franzbecker, Hildesheim, Berlin Inhalt Lehr- und Lernprogramme für den Mathematikunterricht 5 Peter Bender, Paderborn & Wilfried Herget, Halle a. d. Saale & HansGeorg Weigand, Würzburg & Thomas Weth, Nürnberg-Erlangen z Hauptvorträge Möglichkeiten und Grenzen problemorientierten Arbeitens beim computergestützten Lernen — dargestellt an einer Lernumgebung zur Linearen Algebra 7 Wolfgang Fraunholz, Koblenz Fehlerdiagnose in intelligenten Lehr-Lern-Systemen 16 Martin Hennecke, Hildesheim Mathematikunterricht und Neue Medien — oder: Bildung ist das Paradies! 24 Horst Hischer, Saarbrücken z Sektionsvorträge Funktionen dynamisch entdecken 43 Hans-Jürgen Elschenbroich, Neuss DGS als Trägermedium für interaktive Arbeitsblätter in der Differentialrechnung 54 Thomas Gawlick, Landau Formen multimedialen Lehrens — ein Vergleich 67 Mutfried Hartmann, Nürnberg Einsatz von DGS am Beispiel von Cinderella 71 Gaby Heintz, Neuss Stationenlernen mit neuen Medien im Mathematikunterricht der Sek. II 79 Henning Heske & Heinz Wesker, Dinslaken Motivationsmöglichkeiten von Lehr- und Lernprogrammen 85 Stefanie Krivsky, Wuppertal Begriffsbildung im Mathematikunterricht 91 Anselm Lambert, Saarbrücken Raumgeometrie mit dem Computer — Schülerprojekte in 2 bis 5 Raumdimensionen 105 Timo Leuders, Dortmund Lernumgebung zum Orientierungswissen „Hypothesentest“ 112 Eckhard Löbbert, Haltern am See – Sythen 3 Ein Projekt zum Einsatz von Software für Dynamische Geometrie (DGS) in derLehramts-Ausbildung: Ein Zwischenbericht 116 Dorothee Maczey, Paderborn Feli-X: Ein Prototyp zur Integration von CAS und DGS 123 Reinhard Oldenburg, Göttingen Zur Integration von Lehr- und Lernprogrammen in den Mathematikunterricht 133 Andreas Pallack, Essen Gestaltungs- und Bewertungskriterien zur Beurteilung von MathematikSoftware für die Grundschule — am Beispiel von Matheland 143 Monika Schoy, Weingarten Modellierung in der Schule 151 Jens Weitendorf, Norderstedt Grundfragen der Evaluation multimedialen Lernens 155 Gerald Wittmann, Würzburg Gruppentheorie — anschaulich mit dem Computer 162 Bert Zimmer, Karin Richter & Wilfried Herget, Halle a. d. Saale Die Elektronische Kreide: Erfahrungen und Perspektiven 174 Siegfried Zseby, Berlin z Arbeitsgruppen Geometrie am Notebook in der 7. Jahrgangsstufe 178 Claudia Hagan, Veitshöchheim PISA und Neue Technologien 184 Anselm Lambert, Saarbrücken Computerunterstützter Mathematikunterricht in der Lehreraus- und -fortbildung 187 Hubert Weller, Lahnau z Anhang Tagungsprogramm 190 Teilnehmerinnen- und Teilnehmerliste 192 Titelgrafik: Rolf Sommer, Halle a. d. Saale, aus Abbildungen im Tagungsband mit Microsoft Office 4 z Lehr- und Lernprogramme für den Mathematikunterricht Peter Bender, Paderborn Wilfried Herget, Halle a. d. Saale Hans-Georg Weigand, Würzburg Thomas Weth, Nürnberg-Erlangen Die 20. Herbsttagung unseres Arbeitskreises „Mathematikunterricht und Informatik“ in der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik (GDM) vom 27. bis 29. September 2002 stand unter dem Thema „Lehr- und Lernprogramme (LLP) für den Mathematikunterricht“. Natürlich kann man dies sehr weit fassen: Bei großzügiger Auslegung fällt jedes elektronische Medium unter diesen Begriff, wenn es nur in didaktischer Absicht eingesetzt wird —, ja sogar, wenn es ohne eine solche Absicht zum Lehren und/oder Lernen benutzt wird. Selbstverständlich müssen Medien, die als LLP in Frage kommen, nicht in elektronischer Form vorliegen: Wir brauchen dazu nur an das gute alte Buch zu denken. Darüber hinaus kann man sich sogar LLP vorstellen, die überhaupt nicht in einem Medium manifestiert sind. Allerdings legen Name und Tradition des Arbeitskreises sowie die Interessen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer nahe, dass vornehmlich elektronische LLP und ihr Umfeld auf verschiedenen Ebenen betrachtet werden. In der Tat boten die Vorträge, die Arbeitskreise und die Diskussionen zwar ein sehr breites Spektrum von Themen, aber immer spielten die elektronischen Medien eine wesentliche Rolle. Hier wurde Mathematikdidaktik, und zwar unterrichtspraxisbezogene, im besten Sinne getrieben. Der Computer wurde nicht um seiner selbst, sondern um seiner Möglichkeiten willen analysiert, das Lehren und Lernen von Mathematik zu befördern, — als ein Instrument in einem ganzen Konzert von Mitteln, die den Mathematikunterricht unterstützen können bzw. ihn beeinflussen. Diese Tendenz ist bei den Jahrestagungen unseres Arbeitskreises schon seit einiger Zeit zu beobachten: dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich wieder stärker auf die mathematikdidaktische Substanz besinnen und informatische Fragen etwas in den Hintergrund geraten. Das heißt nun aber nicht, dass die Informatik und ihre Didaktik keine Rolle mehr spielen würden. Vielmehr muss man mit allem Nachdruck feststellen, dass der jetzige Stand der Diskussion kräftige informatische Wurzeln hat und dass, jedenfalls nach der herrschenden Meinung im Arbeitskreis, das Profil eines modernen Mathematikunterrichts von der Informatik mit geprägt bzw. mit zu prägen ist. Wir wissen, dass die Realität in den Schulen in Deutschland und anderswo noch weit entfernt ist von einem guten Mathematikunterricht mit der selbstverständlichen Nutzung informatischer Kenntnisse. Aber Praxisbezug heißt nicht nur (a) „reale Lehr-Lern-Prozesse beschreiben und anlysieren“, sondern (b), sehr wohl unter Beachtung der realen Möglichkeiten, „ideale Lehr-Lern-Prozesse entwerfen“ und (c) „diese erproben“. Hier hat der Arbeitskreis immer, und auch diesmal, eine ausgewogene Mischung zwischen stärker praxis- und stärker theoriegeleiteten Beiträgen aufzuweisen. Mit dem Thema „LLP“ (verstanden im engeren und im weiteren Sinn) ist der Arbeitskreis mitten in der aktuellen Diskussion. „Virtuelles Lernen“, „E-Learning“, „Edutainment“ usw. sind die Schlagworte der jüngsten Zeit. Schulbuchverlage wenden sich verstärkt dem Nachmittagsmarkt der „Selbstlernprogramme“ für die Schülerinnen und Schüler zu. Zugleich werden umfangreiche Forschungs- und Entwicklungsprojekte für eine „virtuelle Universität“ vorangetrieben, bei deren Paradigmen und Ergebnissen natürlich immer auch zu fragen ist, wie weit sie auf die Schule übertragbar sind und dort Visionen vom „virtuellen Klassenzimmer“ in die Reichweite konkreter Umsetzungen rücken lassen. Pädagogische, didaktische, methodische und praktische Aspekte Hier sind allerdings — und zwar, nach allen unseren einschlägigen Erfahrungen, auch (bzw. erst recht) bei beliebig starker Beteili- 5 Peter Bender & Wilfried Herget & Hans-Georg Weigand & Thomas Weth gung menschlicher Lehrkräfte — z. T. ganz einfache Fragen zu stellen wie: Macht Lehr- und Lernsoftware das Lehren und Lernen wirklich leicht und unterhaltsam? „Die meiste Unterrichts-Software verhält sich wie die alte Belehrungsschule, von der wir uns seit hundert Jahren zu lösen versuchen: Sie lenkt uns.“ — In wie weit ist diese Kritik von Hartmut von Hentig (Forschungsdienst Lesen und Medien Nr. 16, 2001) heute und in Zukunft wohl noch zutreffend? • Welche Erfahrungsberichte gibt es über den Einsatz von LLP und über die Wirkung auf das Lehren und Lernen von Mathematik? • Welche Möglichkeiten und Chancen, aber auch Probleme und Schwierigkeiten für das Lehren und Lernen bringen LLP mit sich? • Wie ist gerade angesichts der TIMSSund PISA-Diskussion die Rolle der LLP einzuschätzen, wenn es weniger um das Üben schlichter Fertigkeiten geht, sondern um eher anspruchsvollere Fähigkeiten und Grundverständnis? • Wie können die Inhalte so aufbereitet und dargestellt werden, dass die neuen Möglichkeiten wirklich genutzt werden? • Welche aktuellen Entwicklungen hin zu einer „intelligenten“, an dem Verhalten der jeweiligen Lernenden orientierten Rückmeldung durch das LLP gibt es? Diese Fragen wurden in den Vorträgen, Arbeitsgruppen und Diskussionen aufgenommen und in den Beiträgen in diesem Band weiter behandelt und ausgeschärft. Wir wissen jetzt erheblich mehr als vor der Tagung. Hauptvorträge Abweichend von der bisherigen Tagungsstruktur haben wir die Hauptvorträge diesmal nicht alle an den Anfang gestellt, sondern zwecks Entzerrung über die drei Tage verteilt. Bereits in ihnen wird die Vielschichtigkeit des Themas deutlich: Als einer der erfahrensten Experten für Neue Medien und speziell LLP im Mathematikunterricht berichtete Prof. Dr. Wolfgang Fraunholz, Emeritus an der Universität Koblenz, über seine Erfahrungen bei der Entwicklung einer Computer-Lernumgebung zur Linearen Algebra, die inzwischen so gut wie „serienreif“ ist. Dabei ging es ihm einerseits darum, die Möglichkeiten selbstständigen, problemorientierten Arbeitens mit einer solchen Lern- 6 umgebung zu demonstrieren, andererseits wies er mit Nachdruck auch auf die Grenzen hin, die nicht zuletzt im immensen Programmieraufwand begründet sind, der erforderlich wäre, um den Lernenden ein wirklich freies Arbeitens zu ermöglichen. Auch im Vortrag von Dr. Martin Hennecke, Universität Hildesheim spielte der zu vermeidende Aufwand — hier: von Speicherplatz und Rechenzeit eines LLP — ein Rolle. Hennecke stellte ein Programm (und dessen Konstruktionsprinzipien) vor, das systematische Fehler, die Schülerinnen und Schüler bei der Bruchrechnung machen, erkennt und adaptiv Rückmeldungen gibt und das in seiner Leistungsfähigkeit weit über Produkte mit vergleichbarem Anliegen hinausgeht. Unser langjähriger AK-Leiter Prof. Dr. Horst Hischer, Universität Saarbrücken, hingegen ist das Thema fundamental angegangen, hat einerseits einen weiten Bogen der historischen Entwicklung von unterrichtlich nutzbaren Medien von der babylonischen Keilschrift bis hin zu den sog. Neuen Medien gespannt, andererseits den Begriff der LLP sehr weit gefasst und ihn in eine grundsätzliche pädagogisch-didaktische Diskussion eingebettet und diese mit konkreten, überzeugenden Beispielen vielfältig an die Praxis der Medien gebunden. Sektionsvorträge und Arbeitsgruppen Diese ausgesprochen breite Auseinandersetzung mit dem vielschichtigen Tagungsthema wurde in den insgesamt 19 Sektionsvorträgen und vier Arbeitsgruppen lebhaft und kritisch-konstruktiv vertieft. Das meiste davon findet sich in dem vorliegenden Tagungsband, teilweise noch aktualisiert und ergänzt. Dank nicht zuletzt Herrn Dr. Rolf Sommer von der Universität Halle-Wittenberg für seine umfassende und kompetente Beratung bei der Erstellung des Tagungsbands und insbesondere für die Schaffung der Titelseite. Juli 2003 Peter Bender Wilfried Herget Hans-Georg Weigand Thomas Weth z Möglichkeiten und Grenzen problemorientierten Arbeitens beim computergestützten Lernen — dargestellt an einer Lernumgebung zur Linearen Algebra Wolfgang Fraunholz, Koblenz Die Kritik an Lernprogrammen, sie reproduzierten die alte Lernschule, da nur Wissen vermittelt werde und die Selbstständigkeit des Lernens nicht gegeben sei, ist sicher zum Teil berechtigt. Andererseits erheben aber Lernprogramme nicht den Anspruch, das problemorientierte Arbeiten in Lerngruppen ersetzen zu wollen. Das Problem liegt darin, dass die Reaktion eines Computerprogramms auf absolut freies Arbeiten von Lernenden an einer Fragestellung — soweit sie überhaupt möglich ist — einen immensen Programmieraufwand bedeutet. Natürlich gibt es heute Methoden der Artificial Intelligence und Datenbanksysteme, mit denen man auf der einen Seite sogenannte „Schülerprofile“ oder auch „Gruppenprofile“ entwickeln und auf der anderen Seite immense Datenmengen zur Verfügung stellen kann, aber solche Entwicklungen können nur mit öffentlichen Mitteln in der Regel im Rahmen von Forschungsprojekten durchgeführt werden. Müssen die Entwicklungskosten — wie bei Verlagen selbstverständlich — durch den Verkauf der Produkte hereingeholt werden, bleiben diese Programme für Schulen unerschwinglich und für Privatpersonen (Nachmittagsmarkt) uninteressant. In der Tat sind die meisten auf dem Markt befindlichen Lernprogramme zumindest nicht in erster Linie für den Klassenunterricht entwickelt worden, sondern zur Unterstützung von Lernenden im Sinne einer „Nachhilfe“. Die Aussage von Verlagen, dass ein Lernprogramm sich nur dann halbwegs kostendeckend vertreiben lässt, wenn es auf dem „Nachmittagsmarkt“ gut verkäuflich ist, zeigt diese Situation ganz deutlich. Man müsste daher von vornherein unterscheiden zwischen — Programmen für Einzellerner, — Programmen für eine Gruppenarbeit, — Programmen für den Klassenunterricht. Der Unterschied zwischen dem zweiten und dritten Typ ist vermutlich unerheblich. Beide setzen voraus, dass man nicht zu jeder Aufgabe die Antwortbestätigung oder auch die Lösung erhält und dass eine relativ große Anzahl von zusätzlichen Daten und Experimentierfeldern zur Verfügung gestellt wird. Entdeckendes Lernen bedeutet ja immer auch, dass man seine Entdeckung testen und kontrollieren kann. Dies schließt auch den Zugang zu einer Fachperson ein, die der forschenden Gruppe „auf die Sprünge“ helfen kann. Programme für den Gruppen- oder Klassenunterricht sind also mehr tools als Lernprogramme im engeren Sinne. Ein weiterer Schritt wäre dann die Entwicklung von tools durch die Lernenden. Dazu haben wir in einigen Vorträgen Beispiele gesehen. Spricht man nicht mehr von Lernprogrammen oder von tools als getrennt vorliegende Möglichkeiten, Lernvorgänge mit einem Computer zu unterstützen, ist man bei der sogenannten Computer-Lernumgebung angekommen. Die Möglichkeiten einer Computer-Lernumgebung liegen darin, dass auf der einen Seite man sich „belehren“ lassen kann, dass aber andererseits Probleme dargestellt und Interaktionen sowie Werkzeuge angeboten werden, die die Lernenden immer wieder zu eigenen Entscheidungen herausfordern. Diese Entscheidungen werden direkt überprüft und mit einer Rückmeldung versehen. Für eine Gruppenarbeit würde es sich vielleicht empfehlen, das direkte feedback auszuschalten. Die Computer-Lernumgebung zur Linearen Algebra, die in der Arbeitsgruppe Computerlernumgebungen an der Universität in Koblenz in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe MuPAD an der Universität in Paderborn und dem Cornelsen Verlag entwickelt wird, stellt als Werkzeuge ein CalcControl und ein Graph-Control zur Verfügung, in deren Hintergrund das ComputerAlgebra-System MuPAD läuft. Zwar werden den Lernenden die mathematischen Fakten in einem Lehrteil erklärt, 7 Wolfgang Fraunholz aber stets in Verbindung mit Interaktionen verdeutlicht. So lassen sich zum Beispiel mit dem Graph-Control eine Vorstellung der Vektoralgebra im Dreidimensionalen entwickeln, der Begriff der linearen Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit durch parallele Rechnungen und Graphiken festigen und mit dem Calc-Control verschiedene Methoden zur Lösung von Aufgaben anbieten bis hin zur freien Verwendung des ComputerAlgebra-Systems (mit einem eingeschränkten Befehlsvorrat). Die Darstellung von Problemen wie des Verteilungsproblems oder der Teileverflechtung lässt die Nützlichkeit der MatrixSchreibweise bei der Problemlösung erkennen; die Bedeutung der Fehlstellen bei einer Permutation kann spielerisch am Puzzle von Sam Lloyd eingesehen werden. Der Begriff des Fixvektors bzw. der Eigenvektoren einer linearen Abbildung wird von den Lernenden in eigener Aktivität in einem Graphikfenster erarbeitet. Eine Reihe von Beispielen soll solche Möglichkeiten verdeutlichen: 1. Die Untersuchung von Pfeilen auf Vektorgleichheit im dreidimensionalen Raum dient nicht nur der Festigung des Begriffs der Vektorgleichheit, sondern auch der Einübung in die dreidimensionale Raumanschauung. Durch die Möglichkeit, den Blickpunkt zu verändern, erkennt man dessen Bedeutung. In drei Dimensionen kann die Welt anders aussehen. (Abb. 1) 2. Die Darstellung, wie zwei Schlepper ein Boot ziehen, stellt die Verbindung zur Anwendung der Vektoraddition in der Physik her. Vektoren können der Beschreibung realer Vorgänge dienen. Häufig bieten gerade diese die Motivation für bestimmte Definitionen. Darstellungen wie diese sind Anlass, nach weiteren „vektoriellen“ Vorgängen zu suchen. (Abb. 2) Abb. 1 3. Vektoraddition und -subtraktion werden in der Ebene und im Abb. 2 Raum durchgeführt. In der Ebene ist das Erkennen des richtigen Summenvektors einfach. Die Interaktivität, das Anklicken des richtigen Vektors, erhöht die Aufmerksamkeit und verstärkt das Behalten des Sachverhalts. Die Wiederholungsmöglichkeiten lassen die Lernenden selbstständig ihr Verständnis überprüfen. (Abb. 3) 8 Problemorientiertes Arbeiten in einer Lernumgebung zur Linearen Algebra 4. Vektoradditionen im dreidimensionalen Raum auszuführen verlangt das Sich-Zurechtfinden. Um deutlich zu machen, dass die Verschiebung eines Vektors stets in einer festen Ebene geschieht, wird diese Ebene eingeblendet (durch zwei Vektoren im Raum wird ja eine Ebenenrichtung festgelegt). Ein Problem ist es, die beste Festlegung des Blickpunktes vorzunehmen. (Abb. 4) 5. In einer Aktivität werden im zweidimensionalen Raum Linearkombinationen von linear unabhängigen Vektoren hergestellt. Diese Übung dient der Erkenntnis, dass jeder Vektor in der Ebene durch eine Vielfachsumme zweier nicht paralleler Vektoren dargestellt werden kann. (Abb. 5) 6. Zur Vertiefung des Verständnisses der linearen Unabhängigkeit bzw. Abhängigkeit werden Übungen angeboten, bei denen man aus vorgegebenen parallelen Vektoren einen zu diesen nicht parallelen Vektor darstellen soll. Bei linear abhängigen Vektoren ergibt sich, dass eine solche Darstellung nicht möglich ist. Das problemorientierte Arbeiten geschieht durch die Entscheidung, welche Operationen man ausführen soll: Verschieben, Strecken oder Umdrehen. Auch bei dieser Aufgabe sind viele Wiederholungen möglich. Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 9 Wolfgang Fraunholz Wie schon vorher wird das spielerische Umgehen mit den Pfeilen als Repräsentanten von Vektoren ermöglicht. (Abb. 6) 7. Der Begriff der Matrix und der Umgang mit Matrizen kann in vielfältiger Weise gelernt werden. Die Übungen dienen der Festigung der wesentlichen Angaben für eine Matrix: Zeilenzahl, Spaltenzahl und Angabe eines Matrixelementes. Neben diesen Übungen zu den Grundtatsachen einer Matrix werden die Matrizenaddition, -subtraktion und -multiplikation (einschließlich der Entscheidung, ob die gegebenen Matrizen multiplizierbar sind) geübt. (Abb. 7) 8. Eine etwas außerhalb der üblichen Matrizen-Algebra liegende Verwendung von Matrizen (mit einem speziellen Kalkül, der ungarischen Methode) zeigt das Zuteilungsproblem, bei dem gleichzeitig der Begriff der Permutation vorbereitet wird. Die Wahl der günstigsten Zuteilung macht es notwendig, bestimmte Umformungen der Angebotsmatrix durchzuführen und — in den einfachen Fällen — alle Permutationen durchzuprobieren. (Abb. 8) 10 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Problemorientiertes Arbeiten in einer Lernumgebung zur Linearen Algebra Bei einer speziellen Fragestellung, nämlich wenn mehr Bewerber als zu vergebende Positionen vorhanden sind, ergibt sich die Notwendigkeit, eine Matrix um eine Spalte (um Spalten) zu erweitern. Dies geschieht etwa dann, wenn sich für vier Leitungsposten fünf Damen bewerben. Abbildung 9 zeigt, wie dann zu verfahren ist, damit man wieder zu einer quadratischen Matrix gelangt. (Abb. 9) Abb. 9 9. Übungen zur Matrizenmultiplikation können in vielfältiger Weise durchgeführt werden. Verschiedene Aufgabentypen zeigen schließlich nochmals das Arbeiten mit Matrizen. (Abb. 10, 11) 10. Durch die parallele Verwendung von algebraischen und geometrischen Darstellungen lassen sich besonders viele problemorientierte Aufgabenstellungen bearbeiten. Ein erstes Beispiel ist die Spiegelung in der Ebene an unterschiedlichen Spiegelachsen. Dabei wird geprüft, welche Koordinaten sich für die Bildpunkte ergeben. Damit wird das Aufsuchen der Abbildungsgleichungen vorbereitet. (Abb. 12) 11. Eine weitere Abbildung stellt die Projektion auf eine Achse dar. Auch hier kann wieder untersucht werden, welche Koordinaten für die Bildpunkte maßgeblich sind. Abb. 10 Abb. 11 11 Wolfgang Fraunholz Gleichzeitig wird verdeutlicht, dass es auch Abbildungen aus dem zweidimensionalen Raum in den eindimensionalen geben kann. Eine gedankliche Weiterführung weist auf Abbildungen aus dem dreidimensionalen in den zweidimensionalen Raum hin. (Abb. 13) 12. Die zentrische Streckung bietet ein Beispiel für eine nicht kongruente Abbildung. Damit soll ein weiterer Schritt zu den allgemeinen Abbildungen getan werden. Es handelt sich hier um eine Vorübung zur Bestimmung der Abbildungsgleichungen. Eine Vielzahl von unterschiedlichen Abbildungen erlaubt ein Experimentieren, das für den Lernprozess von Bedeutung ist. (Abb. 14) 13. Der Zusammenhang der Darstellungsmatrix einer Abbildung mit den Bildern der Einheitsvektoren muss erkannt und durchgeprüft werden. Wieder bietet es sich an zu experimentieren. Das Ergebnis dieser Experimente soll die Darstellungsmöglichkeit einer linearen Abbildung durch eine Matrix sein, wobei die Bilder der Einheitsvektoren die Spalten der Matrix darstellen. (Abb. 15) Abb. 12 Abb. 13 14. Auf einer ExperiAbb. 14 mentierseite lassen sich vielfältige Zusammenhänge erarbeiten. Eine Liste von Standardabbildungen ist zur Auswahl vorgegeben, so dass man diese der Reihe nach untersuchen kann. Die Matrix lässt sich 12 Problemorientiertes Arbeiten in einer Lernumgebung zur Linearen Algebra aber auch nach Belieben festlegen, damit das Bild des vorgegebenen Dreiecks für jede lineare Abbildung erzeugt wird, was eine Fülle von Experimentiermöglichkeiten darstellt. (Abb. 16) 15. Ein wichtiger Begriff ist die Linearität einer Abbildung. Verschiedene Funktionen lassen sich auf Linearität überprüfen. Dies geschieht hier allerdings zunächst nur für Abbildungen von IR in IR (in der Abbildung ist die Überprüfung der Additivität dargestellt: Verändert man die Argumente x1 und x2, so lässt sich erkennen, an welchen Stellen die Werte f(x1)+f(x2) und f(x1+x2) liegen). Es lassen sich beliebige Funktionsterme eingeben. (Abb. 17) 16. Besonders bedeutsam ist die Erweiterung des Abbildungsbegriffs auf höhere Dimensionen. Auch im Dreidimensionalen kann man den Zusammenhang zwischen Abbildungsmatrix und geometrischer Abbildung untersuchen. Wie schon vorher im Zweidimensionalen steht eine Reihe von Standardabbildungen zur Verfügung, aber es können auch beliebige Matrizen eingegeben werden. (Abb. 18) Abb. 15 Abb. 16 17. Ein (zweidimensionales) Experimentierfeld gestattet es, Abbildungen auf Fixvektoren, und EigenAbb. 17 13 Wolfgang Fraunholz vektoren zu untersuchen. Die Auswahlmöglichkeiten sind wie in Abb. 16. Wenn die Berechnung der Eigenwerte bekannt ist (die hier nach der Einführung der Determinanten durchgeführt werden kann), lässt sich zeigen, dass die Eigenwerte durch die Diagonalelemente einer Diagonalmatrix festgelegt sind. (Abb. 19) 18. Bei der Definition der Determinante spielen die Permutationen eine bedeutende Rolle und für die Vorzeichenfeststellung die Anzahl der Fehlstände in einer Permutation. Um den Begriff der Fehlstelle und gleichzeitig eine Anwendung davon zu verdeutlichen, bietet das Puzzle von Sam Lloyd spielerische Möglichkeiten. Die Unlösbarkeit des Puzzle-Problems lässt sich durch Betrachtung der Fehlstände in der Reihe mit dem leeren Feld zeigen. (Abb. 20) Im Programm stehen zur jederzeitigen Verwendung ein Matrixrechner und ein Grafikfenster zur Verfügung. Mit dem Matrixrechner lassen sich die im Rahmen des Programms notwendigen Matrizenoperationen durchführen. Zum Beispiel kann man sich den Rang einer Matrix, ihre Determinante, das charakteristische Polynom und die Eigenwerte ausgeben lassen. Weiterhin sind die Multiplikation von Matrizen und die Be- 14 Abb. 18 Abb. 19 Abb. 20 Problemorientiertes Arbeiten in einer Lernumgebung zur Linearen Algebra stimmung von Vektorprodukt und Skalarprodukt möglich. Dies zeigen die folgenden Abbildungen. (Abb. 21, 22, 23) Das Grafikfenster kann benutzt werden, um Geraden und Ebenen zu zeichnen, also beispielsweise um die Lage von Gerade und Ebene zueinander zu studieren, oder auch Zylinder und Kegel zu konstruieren, so dass man Kegelschnitte erzeugen kann. Auch hierfür zwei Beispiele: (Abb. 24, 25) Abb. 21 Beispiele wie die gezeigten und auch der Matrixrechner sowie das Grafikfenster lassen sich natürlich zu einem freien problemorientierten Arbeiten verwenden, müssten jedoch für eine soziale Lernphase in eine andere Darbietungsform gebracht werden, als sie jetzt im Programm . festgelegt ist. Die Abb. 22 Abb. 23 Computer-Lernumgebung ist zum Gebrauch neben dem Unterricht bzw. neben Vorlesungen entwickelt worden. Es ist aber gut vorstellbar, dass sie auch im Klassenunterricht oder in Übungen, insbesondere im Gruppenlernen, verwendet werden kann, wenn die Lehrenden spezielle Seiten auswählen und Problemstellungen angeben, die etwa mit Hilfe der Experimentierseiten gelöst werden können. Abb. 24 Abb. 25 15 Fehlerdiagnose in intelligenten Lehr-Lern-Systemen z Martin Hennecke, Hildesheim Wer nach Lernsoftware für den Mathematikunterricht sucht, der wird schnell fündig. Mit so manchem multimedial aufgepeppten Lernprogramm versuchen die verschiedenen Anbieter zurzeit vornehmlich den „Nachmittagsmarkt“ zu erobern. Doch was als Ersatz für privaten Nachhilfeunterricht daherkommt, kann nicht einmal angemessen mit den einfachsten Rechenfehlern umgehen – dabei gilt die Diagnose von systematischen Fehlern als eine der wichtigsten Ansätze zur Behebung von Fehlvorstellungen. Anhand eines Lehr-Lern-Systems zur Bruchrechnung wird beschrieben, wie Lernprogramme systematische Fehler in Schülerrechnungen erkennen und adaptiv Rückmeldungen geben können. Schülerinnen und Schüler können damit viel gezielter gefördert werden – und die Lehrkräfte können mit dem zugehörigen Lehrerprogramm Rückschlüsse über verbreitete Probleme in ihrer Klasse gewinnen. Die Frage ist dabei weniger: „Wird das Schulbuch durch die Software abgelöst?“, sondern mehr: „Wie kann Software die bekannten Medien sinnvoll unterstützen?“ 1 Einführung Der kommerzielle Lernsoftware-Markt bietet inzwischen eine breite Auswahl verschiedener Lernprogramme für den Mathematikunterricht: Kaum ein schulrelevantes Gebiet, für das nicht irgendein Verlag eine passende Software verkaufen möchte. Die meisten Angebote richten sich jedoch auf den im Vergleich zu den Schulen finanzkräftigen Nachmittagsmarkt. Multimedial aufbereitete Rahmengeschichten sollen dabei für eine ausreichende extrinsische Motivation sorgen, damit sich Schülerinnen und Schüler in ihrer Freizeit mit Mathematik beschäftigen. Eine Integration dieser Programme in den Schulunterricht ist i. Allg. schwierig. Doch was Eltern gern als Ersatz für private Nachhilfe einkaufen, ist von unterschiedlicher didaktischer Qualität. Neben kleineren Problemen, die sich durch einen unterschiedlichen Sprachgebrauch in der Lernsoftware auf der einen Seite und dem Unterricht bzw. dem Schulbuch auf der anderen Seite ergeben, sind insbesondere viele übersetzte Lernprogramme nur unzureichend an das Schulcurriculum angepasst. Nur wenige Lernprogramme sind in der Lage auf Fehler der Lernenden adaptiv zu reagieren und mehr als nur „falsch“ als Feedback anzubieten. Dies ist besonders vor dem Hintergrund, dass gerade die Beseitigung von Fehlvorstellungen eine der wichtigsten Aufgaben klassischer Nachhilfe ist, zu kritisieren. Seit einiger Zeit arbeitet das Institut für Mathematik und Angewandte Informatik der Universität Hildesheim daher an Möglichkei- 16 ten eine computergestützte Erkennung von fehlerhaften Rechenstrategien innerhalb von Lernsoftware zu ermöglichen. Die gesetzten Rahmenbedingungen waren dabei, dass trotz der diagnostischen Komponente die Schülerinnen und Schüler ihre Rechenwege frei wählen können (anstatt in ein festes Schrittraster gepresst zu werden), dass Fehlerstrategien auch erkannt werden können, wenn mehrere Fehlerstrategien miteinander kombiniert werden und dass die Diagnoseergebnisse so schnell zur Verfügung stehen, dass ein unmittelbares adaptives Feedback möglich ist. Auf dieser Basis wurde inzwischen in enger Kooperation mit dem Schroedel-Verlag ein diagnostisches Lehr-Lern-System entwickelt, mit dem Schülerinnen und Schüler ihre Rechenfertigkeiten trainieren, während sich ihre Lehrkräfte ohne großen Aufwand über die auftretenden Fehlerstrategien informieren können. Die Anlehnung an konkrete Schulbücher soll dabei die Integration in den Unterricht verbessern helfen und insbesondere Probleme mit unterschiedlichem Sprachgebrauch und unterschiedlichen Curricula vermeiden. 2 Fehlerdiagnose Wenn Schülerinnen und Schüler fehlerhaft rechnen, kann dies viele Ursachen haben. Von besonderem Interesse für die unterrichtenden Lehrkräfte sind hierbei jedoch Fehler, die systematisch auftreten und auf Fehlvorstellungen oder falsch erlernte bzw. falsch angewendete Rechenkalküle schließen las- Fehlerdiagnose in intelligenten Lehr-Lern-Systemen sen. Für derartige Fehler lassen sich i. Allg. Maßnahmen finden, die den Schülerinnen und Schülern beim Erkennen ihrer etwaigen Fehlvorstellung und damit beim Erlernen der richtigen Rechenstrategie helfen. So gut das in der Theorie klingt, so problematisch kann sich die Fehlerdiagnose in der Praxis gestalten. Zwar fällt es mit ein wenig Unterrichtspraxis nicht weiter schwer, häufig auftretende Fehlerstrategien (vgl. Abb. 1) zu erkennen, jedoch beginnt die Diagnose ungemein schwierig zu werden, wenn mehrere Fehler kombiniert werden und/oder statistisch selten auftretende Fehlerstrategien zu erkennen sind. Wer erkennt schon ad hoc, welche Fehler hinter der Rechnung in Abb. 2 stecken? 5 6 11 + = 4 2 6 5 6 15 + = 4 2 2 Abb. 1 Abb. 2 Tritt eine derartige Situation im Unterrichtsgespräch ein, lässt sich das Diagnoseproblem häufig durch eine entsprechende Rückfrage klären — vorausgesetzt, die Schülerinnen und Schüler verfügen über die entsprechenden metakognitiven Fähigkeiten und können überhaupt erklären, was sie gerechnet haben. Eine systematische Untersuchung einer ganzen Klasse auf fehlerhafte Rechenstrategien ist mit derartigen Zufallstreffern jedoch nur sehr eingeschränkt möglich. Lehrerinnen und Lehrer treiben daher zum Teil einen bewundernswerten Aufwand, um Hausaufgaben ihrer Schülerinnen und Schüler unter entsprechenden diagnostischen Gesichtspunkten zu korrigieren. Ein weit verbreiteter pragmatischer Ansatz ist die Fehlerdiagnose in Verbindung mit der Korrektur von Klassenarbeiten. Auch wenn dies sicherlich bei der weiteren Gestaltung des Unterrichts helfen mag, für die betroffenen Schülerinnen und Schüler kommt diese Fehlerdiagnose zu spät. Die in der didaktischen Fachliteratur immer wieder mal veröffentlichten diagnostischen Tests (vgl. z. B. die bekannten Arbeiten von Gerster, Padberg oder Radatz) haben vermutlich eher ihren Wert für wissenschaftliche Untersuchungen als für den täglichen Einsatz im Unterricht. Um noch einmal zu verdeutlichen, wie versteckt fehlerhafte Rechenstrategien auftreten können, zeigt Abb. 3 eine mögliche Erklärung für den Fehler aus Abb. 2: Nachdem zuerst als Übergeneralisierung der Multiplikation fehlerhaft „über Kreuz“ gekürzt wurde, werden danach bei gemeinsamen Nennern die Zähler multipliziert. 5 6 5 6 : 2 5 3 5 ⋅ 3 15 + = + = + = = 4 2 4:2 2 2 2 2 2 Abb. 3 Leider sind nur auf Grundlage der Aufgabenstellung und der fehlerhaften Schülerlösung die verwendeten Fehlerstrategien nicht immer eindeutig erkennbar. So zeigt Abb. 4 eine alternative Möglichkeit, den Fehler aus Abb. 2 zu erklären: Nach einer Übergeneralisierung der Multiplikationsregel für die Addition wird fehlerhaft gekürzt, indem die Kürzungszahl in den Nenner eingesetzt wird. 5 6 5 ⋅ 6 30 30 : 2 15 + = = = = 4 2 4⋅2 8 2 2 Abb. 4 Festzuhalten bleibt: Eine systematische Fehlerdiagnose ist für eine ganze Klasse manuell nur mit extrem hohem Aufwand adäquat zu leisten. Insbesondere bei statistisch seltenen Fehlerstrategien oder Kombinationen mehrerer Fehlerstrategien kommt die manuelle Fehlerdiagnose schnell an ihre Grenzen. Im Einzelfall kann nur aufgrund von Aufgabenstellung und Schülerlösung nicht immer sicher auf die verwendeten Rechenstrategien geschlossen werden. 3 Lehr-Lern-Systeme Ähnlich wie der Begriff „Multimedia“ geben auch die Begrifflichkeiten rund um „Lehr- und Lernprogramme“ Grund zur Diskussion, da unterschiedliche Autoren unterschiedliche Vorstellungen von der jeweiligen Bedeutung haben. Bereits beim Begriff „Lernsoftware“ scheiden sich die Geister: so definieren z. B. Issing & Klimsa (2002) im Glossar: „Software, die speziell für Lehr- und Lernzwecke konzipiert und programmiert wurde. Die didaktische Komponente liegt vor allem im Produkt, d. h. in der Software selbst und zeigt sich im Programmdesign, in der Gestaltung und Gliederung der Benutzeroberfläche, den vorgesehenen Feedback-Mechanismen und der Interaktionsmöglichkeiten der Benutzer.“ Dieser Definitionsansatz ist vielen jedoch zu eng. So schließt er z. B. das Internet als solches oder viele konstruktivistisch geprägte Werkzeuge (als die z. B. eine Tabellenkalkulation, eine Textverarbeitung oder ein Computer-Algebra-System verstanden werden können) aus, da diese i. Allg. nicht speziell für Lernzwecke konzipiert wurden. 17 Martin Hennecke Ein diagnostisches Lehr-Lern-System besteht auf der einen Seite aus einem Lernprogramm, mit dem Schülerinnen und Schüler einen ausgewählten thematischen Bereich üben bzw. vertiefen können. Treten fehlerhafte Rechnungen auf, diagnostiziert das Lernprogramm die verwendeten Fehlerstrategien und bietet der Situation angeAbb. 5: Lernprogramm „Mathematik heute“ passte HilfestellunWenn der Begriff „Lernsoftware“ schon disgen wie in Abb. 5 an. Auf der anderen Seite kussionswürdig ist, so ist es der Begriff steht eine Lehrsoftware, mit der Lehrerinnen „Lehrsoftware“ erst recht — der Sprachund Lehrer zeitgleich oder zeitnah die Lerngebrauch erinnert teilweise an die alte Diserfolge ihrer Schülerinnen und Schüler beobkussion um Lehr- oder Lernziele. Einige Auachten und die Fehlerdiagnose für ihre Zwetoren nutzen den Begriff als inhaltliche Abcke auswerten können (vgl. Abb. 6). grenzung, und gelegentlich findet sich auch ein synonymer Einsatz beider Begriffe. Der Autor möchte beide Begriffe — vielleicht etwas unorthodox — im Folgenden zielgruppenorientiert bzw. einsatzorientiert verstanden wissen, d. h. Lernsoftware ist vom Lernenden zum Lernen genutzte Software, Lehrsoftware ist vom Lehrenden zur Vorbereitung, Durchführung oder Nachbereitung von Lehre genutzte Software. Als Lehrsoftware in diesem Sinn könnte z. B. eine Aufgabenwerkstatt, eine computergestützte Materialsammlung oder ein Programm zur Stundenplanung aufgefasst werden. Aber auch Programme wie Powerpoint oder Software zur Übertragung von Lehre zwischen verschiedenen Standorten (Stichwort: virtueller Campus) lassen sich mit dieser Begriffsauffassung als Lehrsoftware bezeichnen. Ein Lehr-Lern-System ist dann eine mindestens aus zwei Komponenten (oder Modi) bestehende Software, von der mind. eine als Lernsoftware und mind. eine als Lehrsoftware genutzt wird und sich aus der Interaktion der Komponenten ein spezifischer Zusatznutzen ergibt. Ein Dynamisches-Geometrie-System kann in diesem Sinn als LehrLern-System genutzt werden, wenn z. B. von der Lehrerin oder vom Lehrer erstellte Konstruktionen von den Schülerinnen und Schülern im Zugmodus untersucht werden. Im weiteren Sinne stellen Autorensysteme, mit deren Hilfe Lehrende Lernprogramme erstellen können, ein weiteres Beispiel dar. 18 Abb. 6: Lehr(er)software zu „Mathematik heute“ Im Vergleich zu den i. Allg. als Selbstlernprogramm ausgelegten klassischen Lernprogrammen ist ein derartiges Lehr-Lern-System anders im Lernprozess positioniert. Abb. 7 zeigt eine stark vereinfachte „Lernkurve“: Nachdem eine anfängliche Verwirrung überwunden wurde, beginnt der Lernende, im Unterricht immer mehr zu lernen, bis schließlich nach Ende der Unterrichtseinheit einiges wieder vergessen wird. Während ein Einsatz klassischer Lernsoftware für den Nachmittagsmarkt weitestgehend parallel zum Unter- Fehlerdiagnose in intelligenten Lehr-Lern-Systemen richt denkbar ist, wird ein diagnostisches Lehr-Lern-System sicherlich erst später im Lernprozess einzusetzen sein —, kann dafür aber auch noch sinnvoll länger genutzt werden. So kann das für die Bruchrechnung (und damit für die 6. Klasse) konzipierte Programm auch sinnvoll zu Beginn der 7. Klasse eingesetzt werden, um mit geringem Aufwand einen etwaigen Wiederholungsbedarf genau ermitteln zu können. tem IDEBUGGY („i“ für interaktiv) zu integrieren, war nicht zufriedenstellend realisierbar. Ein alternativer Modellierungsansatz von Sleemann & Smith (1981) nutzte Ersetzungssysteme zur Simulation von Schülerrechnungen. Das von der Hildesheimer Gruppe entwickelte Diagnosemodul BUGFIX (vgl. Hennecke 1999) arbeitet intern ebenfalls mit einem Ersetzungssystem, um genau zu sein, mit einem Termersetzungssystem, wie es z. B. auch als Grundlage für Computer-AlgebraSysteme verwendet wird (vgl. Abb. 8). z1 z 2 z + z2 + → 1 n1 n 2 n1 + n 2 Abb. 8: Ersetzungsregel Abb. 7: Systemvergleich 4 Computergestützte Fehlerdiagnose Die Idee, fehlerhafte Schülerrechnungen mit dem Computer zu simulieren, wird i. Allg. auf Brown & Burton (1978) zurückgeführt. Aufbauend auf einer empirischen Studie (vgl. Brown et al. 1975) wurde beobachtet, dass alle für die Lösung der Aufgaben notwendigen Teilfertigkeiten unabhängig voneinander durch fehlerhafte Verhaltensweisen ersetzt werden können. Für ihr Programm BUGGY modellierten sie die verschiedenen korrekten und fehlerhaften Teilfertigkeiten und erhielten ein System, mit dem sich korrekte und fehlerhafte Schülerrechnungen im Bereich der Subtraktion natürlicher Zahlen simulieren ließen. BUGGY wurde als Lernprogramm für Lehramtsstudierende eingesetzt. Die eigentliche Diagnose von Fehlvorstellungen wurde erst mit DEBUGGY (vgl. Burton 1982) realisiert. DEBUGGY generiert Hypothesen über die Fehlvorstellung des Lernenden und testet sie mit Hilfe von BUGGY. Dabei ist DEBUGGY aus Komplexitätsgründen als Offline-Diagnose konzipiert worden, d. h. die eigentliche Diagnose wird von der Lehrersoftware durchgeführt und steht einem möglichen Lernprogramm nicht zur Verfügung. So profitiert zwar die Lehrerin bzw. der Lehrer von den Ergebnissen, nicht aber die Schülerinnen und Schüler. Der Versuch, eine Online-Diagnose in das interaktive Lernsys- Anders als Computer-Algebra-Systeme, die ausschließlich Regeln mit besonders günstigen Eigenschaften nutzten und daher sehr effizient arbeiten können, muss BUGFIX mit Regeln umgehen, die den korrekten bzw. fehlerhaften menschlichen Rechenschritten entsprechen. Während es bei einem Computer-Algebra-System i. Allg. ausreicht, mittels Ersetzungen nachzuweisen, dass zwei Terme ineinander überführbar sind, muss für die Diagnose die Menge aller Ableitungen zwischen einem Term (der Aufgabenstellung) und einem anderen (der Schülerlösung) ermittelt werden. Beides, die ungünstigen Eigenschaften des Ersetzungssystems und die veränderte Aufgabenstellung führen letztendlich zu Algorithmen, die eine erschöpfende Suche durchführen. Bei dem für die Bruchrechnung implementierten Diagnosesystem läuft das schon bei einfachen Aufgabenstellungen schnell auf mehrere Milliarden verschiedene Simulationen hinaus. Um diese kombinatorische Explosion in den Griff zu bekommen, nutzt BUGFIX eine Reihe diverser Strategien, deren detaillierte Erläuterung diesen Rahmen sprengen würde. Zwei Kernideen seien im Folgenden jedoch kurz skizziert: „Zeitmanagement“ und „Dynamische Programmierung“. Zielstellung des Algorithmus war, innerhalb eines Lernsystems bereits unmittelbar nach Eingabe einer fehlerhaften Schülerrechnung eine Diagnose liefern zu können. Selbst wenn man für diesen Prozess eine Sekunde Zeit spendieren würde, reicht diese Zeit nicht aus, um die Vielzahl der möglichen Schülerrechnungen zu simulieren. Dafür gibt es zwischen Aufgabenstellung und Fertigstellung der Schülereingabe vergleichsweise viel bisher ungenutzte Zeit. Die zur Eingabe der Schülerlösung vom Editor benötigt Rechen- 19 Martin Hennecke leistung kann hierbei ignoriert werden. Während dieser Eingabezeit können jedoch in einer ersten Phase der Fehlerdiagnose mögliche Schülerrechnungen simuliert werden, so dass nach der Eingabe der Schülerlösung „nur“ noch die richtigen Simulationen ausgewählt werden müssen. Wer schon einmal mit Informatik zu tun hatte, kennt die Fibonacci-Zahlen (vgl. Abb. 9), weil sie auf der einen Seite ein schönes Beispiel für rekursive Programmierung sind — aber auf der anderen Seite auch sehr deutlich die Grenzen der Rekursion aufzeigen, da bereits bei relativ kleinem n die Laufzeit nicht mehr akzeptabel ist. Der Aufrufgraph in Abb. 10 verdeutlicht das Problem. fib : IN → IN fib(0) = fib(1) = 1 fib(n ) = fib(n − 1) + fib(n − 2) n >1 Abb. 9: Fibonacci-Zahlen fib(3) fib( 4) fib(2) fib(5) fib(6) fib(3) fib(3) fib( 4) fib(2) fib(2) fib(1) fib(2) fib(1) fib(1) fib(2) fib(1) fib(1) 1) z1 z 2 z + z2 + → 1 n1 n 2 n1 + n 2 2) z1 z 2 z ⋅z + → 1 2 n1 n 2 n1 ⋅ n 2 3) z1 z 2 z ⋅z + → 1 2 n1 n 2 n1 + n 2 4) a+b→c c := a + b 5) a+b→c c := a + b − 1 6) a⋅b → c c := a ⋅ b 7) 1⋅ b → 1 fib(1) fib(0) fib(0) fib(1) fib(0) fib(1) fib(0) fib(0) Abb. 10: Aufrufgraph bei der Fibonnacci-Berechnung Bereits im Informatik-Unterricht der Schule wird man dieses Problem durch dynamische Programmierung lösen können. Die Grundidee ist, jedes einmal berechnete Ergebnis zu speichern und bei Bedarf einfach wieder zu verwenden, anstatt es neu zu berechnen. Für den in Abb. 10 gezeigten Aufrufgraph fallen so die grau hinterlegten Funktionsaufrufe weg. BUGFIX arbeitet bei der Berechnung der Ableitungen im Prinzip analog. Anstatt berechnete Funktionsergebnisse zu speichern, verweist BUGFIX jedoch auf die bereits simulierte Schülerrechnungen. Ohne in Details einsteigen zu wollen, soll anhand eines Beispiels die Arbeitsweise verdeutlicht werden: 20 Abb. 11 zeigt ein einfaches Diagnosesystem aus sieben Regeln. Die ersten drei Regeln stellen fehlerhafte Rechenstrategien bei der Addition von Brüchen dar, die so auch in der Praxis häufig auftreten. Die restlichen vier Regeln dienen zur korrekten bzw. fehlerhaften Addition bzw. Multiplikation natürlicher Zahlen — dabei ist, zugegeben, die statistische Häufigkeit von Regel fünf eher gering. Abb. 11: Beispiel-Regeln In Abb. 14 werden für eine konkrete Aufgabenstellung die von BUGFIX bis zum Eintreffen der Schülerlösung simulierten möglichen Rechnungen angezeigt. Anders als in der Abbildung angedeutet, speichert BUGFIX jedoch nur eine einzige Instanz jedes Terms, d. h. der Term 1+3 z. B. existiert lediglich einmal. Wenn BUGFIX also einmalig 1+3 → 4 und 1+3 → 3 berechnet hat, steht diese Information allen Instanzen zur Verfügung. In dem Beispiel aus Abb. 14 muss in der Tat nur neunmal eine der Regeln angewendet werden (fett dargestellt). Dennoch werden auf diese Weise bereits 33 mögliche Schülerrechnungen simuliert. In dem realisierten Diagnosesystem zur Bruchrechnung kommen ungefähr 350 Regeln zum Einsatz. Diese basieren auf der einen Seite aus der Aufbereitung bekannter empirischer Untersuchungen (insbesondere Gerster & Grevsmühl, 1983, Hasemann, 1985, Lörcher, 1982, und Padberg, 1995, waren sehr hilfreich) und auf der anderen Seite auf einer eigenen Auswertung von über 1000 diagnostischen Rechentests mit knapp 6000 Einzelfehlern. Da sich auch bei diesem realistischen Diagnosesystem viele Regeln ähnlich sind (vgl. die ersten drei Regeln aus Abb. 11), liefert der Algorithmus sehr überzeugende Ergebnisse. Die folgenden Abbildungen verdeutlichen dies: Abb. 12 zeigt die Entwicklung der durch BUGFIX simulierten korrekten bzw. Fehlerdiagnose in intelligenten Lehr-Lern-Systemen fehlerhaften Rechenschritte (linke Y-Achse) und die dadurch dargestellten möglichen Diagnosen (rechte Y-Achse). Zu sehen ist, dass bei ca. 3 Sekunden (der Wert variiert bei unterschiedlichen Aufgabenstellungen) nur noch selten weitere Rechenschritte gefunden werden, gleichzeitig aber die Anzahl der dargestellten Schülerrechnungen regelrecht explodiert. 1 3 + 2 4 1⋅ 3 2⋅4 1+ 3 2+4 4 3 1+ 3 1+ 3 3 5 2⋅4 2+4 2+4 6 1⋅ 3 2+4 1 1⋅ 3 2⋅4 8 1 2+4 1⋅ 3 6 1⋅ 3 5 4 4 3 3 3 1 1 1 Ein grundsätzliches Pro6 5 6 5 8 8 6 5 blem der dynamischen Programmierung ist der Abb. 14: Nachfolger-Graph hohe Speicherbedarf für werden. Mittels Hashing-Techniken ist dies die Speicherung der berechneten Teilergebmit relativ geringem Aufwand realisierbar. nisse. Durch Verwendung der bereits skizAbb. 15 zeigt als Fortsetzung des eingeführzierten maximalen Strukturteilung ist dieses ten Beispiels Diagnosen für zwei mögliche Problem bei BUGFIX weitestgehend unter Schülerlösungen (vgl. Abb. 14). Kontrolle. Meist reichen 3 MByte Hauptspeicher, um die gewünschten Resultate zu erhalten. Das Ergebnis klingt zudem leicht paDiagnosen für 64 : radox, da durchschnittlich pro gespeicherter 1 3 1+ 3 4 4 Schülerrechnung weniger als ein Bit Spei+ → → → A1 cher benötigt wird (vgl. Abb. 13). 2 4 2+4 2+4 6 44 12 12 + + 1 3 1 3 1 3 4 22 ++ Nachfolger Nachfolger und und Diagnosen Diagnosen 12 12 44 + → → → A2 A1 2 4 2+4 6 6 6.000.000.000 25000 25000 6.000.000.000 4.000.000.000 4.000.000.000 15000 15000 3.000.000.000 3.000.000.000 10000 10000 2.000.000.000 2.000.000.000 5000 5000 Anzahlder der Anzahl Diagnosen Diagnosen Anzahlder der Anzahl Nachfolger Nachfolger Diagnosen für 5.000.000.000 5.000.000.000 20000 20000 B1 1.000.000.000 1.000.000.000 00 00 1000 1000 2000 2000 3000 3000 4000 4000 Zeit Zeit[ms] [ms] Nachfolger Nachfolger 5000 5000 B2 00 6000 6000 B3 Diagnosen Diagnosen Abb. 12: Nachfolger und Diagnosen B4 Speicherbelegung Speicherbelegung 3.000.000 3.000.000 100 100 2.500.000 2.500.000 10 10 2.000.000 2.000.000 11 1.500.000 1.500.000 0,1 0,1 1.000.000 1.000.000 0,01 0,01 500.000 500.000 00 0,001 0,001 00 1000 1000 2000 2000 3000 3000 Zeit Zeit Gesamt Gesamt 4000 4000 5000 5000 Speicherpro proDiagnose Diagnose Speicher [Byte] [Byte] Speicher[Byte] [Byte] Speicher 4 12 22 4 ++ 12 12 12 44 0,0001 0,0001 6000 6000 pro proDiagnose Diagnose Abb. 13: Speicherbedarf Nach der Eingabe der Schülerlösung lässt sich nun die gesuchte Diagnose — oder genauer: die Menge der möglichen Diagnosen — finden, indem alle Pfade zwischen Aufgabenstellung und Schülerlösung bestimmt 1 2 1 2 1 2 1 2 3 4 3 + 4 3 + 4 3 + 4 + 3 6 : 1+ 3 2+4 1+ 3 → 2+4 1⋅ 3 → 2+4 1⋅ 3 → 2+4 → 3 3 → 2+4 6 1+ 3 3 → → 6 6 3 3 → → 2+4 6 1⋅ 3 3 → → 6 6 → B1 B3 Abb. 15: Mögliche Diagnosen Die Diagnosen A1 und A2 unterscheiden sich inhaltlich nur in der Reihenfolge der Berechnung der Additionsschritte. BUGFIX erkennt derartige „Permutationen“ und wählt automatisch einen Repräsentanten aus. Im zweiten Beispiel sind B2 und B4 ebenfalls nur Permutationen — die Diagnosen B1 und B3 erklären sich jedoch durch unterschiedliche Fehlerstrategien (Regel 1 bzw. 3 aus Abb. 11). Nur aufgrund der Schülerlösung ist daher keine sichere Diagnose möglich. BUGFIX begegnet diesem Problem mit drei verschiedenen Strategien. Aufbauend auf statistischen Informationen über die Häufig- 21 Martin Hennecke keit von Fehlern berechnet BUGFIX so etwas wie eine „Wahrscheinlichkeit“ für die jeweiligen Diagnosen. Spricht diese sehr deutlich für eine Diagnose, z. B. weil eine Diagnose mit einem häufig auftretenden Fehler gegen eine Diagnose mit einer Kombination aus drei seltenen Fehlern konkurriert, wählt BUGFIX die wahrscheinlichere Diagnose. Die statistischen Informationen über das Auftreten von Fehlern werden von BUGFIX kontinuierlich an den aktuellen Benutzer angepasst, d. h.: wurde ein bestimmter systematischer Fehler bereits bei einer Schülerin bzw. einem Schüler diagnostiziert, adaptiert BUGFIX die Wahrscheinlichkeitsberechnung entsprechend. Während diese beiden Strategien erst zum Zuge kommen, wenn das Kind in den sprichwörtlichen Brunnen gefallen ist, lässt sich durch geeignete Auswahl der Testaufgaben die Wahrscheinlichkeit von diagnostischer Unsicherheit im Voraus reduzieren. 5 Aufgabenauswahl Betrachtet man die Rechnungen in Abb. 16, so fällt auf, dass sie unter didaktischen Aspekten gleichwertig sind, d. h. vergleichbare Schwierigkeitsfaktoren aufweisen: Addition echter Brüche, Hauptnenner ist durch kgV zu bestimmen, es muss gekürzt werden, und schließlich ist das Ergebnis ein unechter Bruch. Was man den beiden Rechnungen jedoch nicht ansieht, ist, dass das Diagnosesystem für die erste Rechnung 56 mögliche Diagnosen findet, für die zweite Rechnung jedoch nur 6 (beide Angaben bereits ohne Permutationen). a) b) 1 6 10 54 + = =1 2 9 12 36 4 8 7 52 + = =1 9 12 9 36 Abb. 16 Um jedoch sagen zu können, welche der beiden Aufgabenstellungen wirklich besser für die Diagnose geeignet, d. h. trennschärfer ist, muss für alle simulierbaren Schülerlösungen die Anzahl der möglichen Diagnosen untersucht werden. Zu diesem Zweck wurde ein Maß entwickelt, das Aufgaben gut (nahe 1) bewertet, wenn viele verschiedene Rechenstrategien zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, und Aufgaben schlecht (nahe 0) bewertet, wenn viele verschiedene Rechenstrategien zu gleichen Ergebnissen führen. Für das Lehr-Lern-System zur Bruchrechnung kamen ca. 1 Million Aufgaben aufgrund der Größenordnung der in der Aufgabenstellung auftretenden Zahlen in die engere Wahl (große Zahlen stellen unnötige Schwierigkeitsfaktoren dar). Die Aufgaben wurden entsprechend ihren domänen-inhärenten Schwierigkeitsfaktoren (Art der Operanden, Verhältnis der Nenner zueinander, Kürzbarkeit, Art des Ergebnisses) partitioniert und mit dem Gütemaß bewertet. Für diese extrem aufwendige Berechnung musste ein aus 20 Rechnern bestehender Cluster gut zwei Wochen rechnen. Das Ergebnis sind für jede Partition Bewertungen, wie die in Abb. 17 gezeigte. Auffällig dabei ist, dass eigentlich keine trennscharfen Aufgaben existieren. Sofern sinnvoll, wurden danach Aufgaben eliminiert, die aufgrund domänen-fremder Schwierigkeitsfaktoren (etwa schwierige Multiplikationen) ungeeignet sind, und schließlich die Aufgaben mit der besten Güte gewählt. Von den gut 1 Million Aufgaben haben es auf diese Weise nur 44.000 in das Lehr-LernSystem geschafft. 6 Fazit und Ausblick Soweit dem Autor bekannt ist, ist es mit dem Lehr-Lern-System „Mathematik heute“ erstmals gelungen, eine Software mit derart ausgeprägter Fehlerdiagnostik bis zur Marktreife zu entwickeln. Alternative am Markt verfügbare Produkte mit diagnostischen Fähigkeiten erkennen i. Allg. nur sehr wenige wichtige Fehlerstrategien (vgl. z. B. Alfons Diagnostikprogramm; Bauer et al. 1996), haben Pro- Abb. 17: Güteverteilung (Division gem. Zahlen, Kürzen, Umwandlung) 22 Fehlerdiagnose in intelligenten Lehr-Lern-Systemen bleme mit der Erkennung von Kombinationen verschiedener Fehlerstrategie und/oder zwingen Schülerinnen und Schülern feste Rechenwege durch „Kästchenrechnen“ auf (vgl. z. B. Mathebits; Sack 1999). Anders als die für den Nachmittagsmarkt konzipierte Software ist „Mathematik heute“ an Curriculum und Terminologie des gleichnamigen Schulbuchs angelehnt (Adaptionen für „Maßstab“ und „Welt der Zahl“ sind in Vorbereitung). Wie in der Kurzfassung bereits angerissen, stellt sich weniger die in der Tagungsankündigung gestellte Frage „Wird das Schulbuch durch die Software abgelöst?“, sondern vielmehr „Wie kann Software die bekannten Medien sinnvoll unterstützen?“. Geht man davon aus, dass die Fehlerdiagnose aufgrund ihres hohen Aufwands in der Praxis viel zu kurz kommt, kann ein Lehr-Lern-System eine derartige sinnvolle Ergänzung zu den bekannten Medien sein. Dabei ist klar, dass die reine Fehlerdiagnose zuerst einmal nur zusätzliche Informationen in die Hand der Lehrerinnen und Lehrern gibt — die Umsetzung von korrigierenden Maßnahmen bleibt Aufgabe der Schule. So sieht die Arbeitsgruppe dann auch dem Feedback aus der Praxis und einer Evaluation mit Spannung entgegen. Die Bruchrechnung stellt durch die vielen Möglichkeiten (fehlerhaft) zu kürzen aus Sicht der Fehlerdiagnose eine sehr komplexe Domäne dar. Dies lässt hoffen, dass es mit dem gewähltem Ansatz möglich sein wird, auch andere Domänen erfolgreich zu modellieren. Die Wahl des Termersetzungsansatzes zeigt sich dabei zumindest für mathematische Domänen als tragfähiges Modellierungskonzept, wie sich u. a. bei der Entwicklung des z. Zt. in Arbeit befindlichen Diagnosesystems zur Dezimalbruchrechnung zeigt. Dennoch ist sicherlich nicht davon auszugehen, dass diagnostische Lehr-Lern-Systeme deshalb zum Standard werden, da der Aufwand für die Erstellung der Diagnosesysteme zwar realisierbar, aber dennoch beträchtlich ist. Ansätze, wie sie z. B. in Mathebits realisiert sind, zeigen jedoch, dass auch für den Nachmittagsmarkt mehr als nur „leider falsch“ realisierbar und wirtschaftlich vertretbar ist. Literatur Bauer, G., Francich, W., Schönweiss, F. & Wagenhäuser, R. (1996): Alfons Diagnostikprogramm Mathematik. Schuljahr 1–4. Hannover: Schroedel Schulbuchverlag Brown, J. S. et al. (1975): Steps toward a theoretical foundation for complex knowledge-based CAI. BBN Report 3135 (ICAI Report 2). Cambridge, Mass.: Bolt Beranek & Newman Brown, J. S. & Burton, R. R. (1978): Diagnostic Models for Procedural Bugs in Basic Mathematical Skills. In: Cognitive Science 2, 155– 192 Burton, R. R. (1982): Diagnosing bugs in simple procedural skills. In: Sleemann, D. H. & Brown, J. S. (Hrsg): Intelligent Tutoring Systems. Chapter 8. London: Academic Press, 157–183 Gerster, H. D. & Grevsmühl, U. (1983): Diagnose individueller Schülerfehler beim Rechnen mit Brüchen. In: Pädagogische Welt 1983, 654– 660 Hasemann, K. (1985): Die Beschreibung von Schülerfehlern mit kognitionstheoretischen Modellen. In: Der Mathematikunterricht 31 (6), 6–15 Hennecke, M. (1999): Online Diagnose in intelligenten mathematischen Lehr-Lern-Systemen. Fortschr.-Ber. VDI Reihe 10, Nr. 605. Düsseldorf: VDI Verlag Issing, L. J. & Klimsa, P. (2002): Information und Lernen mit Multimedia und Internet. 3. Aufl. Weinheim: Beltz Lörcher, G. A. (1982): Diagnose von Schülerschwierigkeiten beim Bruchrechnen. In: Pädagogische Welt 1982, 172–180 Padberg, F. (1995): Didaktik der Bruchrechnung. Gemeine Brüche, Dezimalbrüche. 2. Aufl. Heidelberg, Berlin & Oxford: Spektrum Sack, M. et al. (1999): MatheBits: Bruchrechnen, Braunschweig: ABASYS Computertraining GmbH, Westermann Schulbuchverlag Sleemann, D. H. & Smith, M. J. (1981): Modelling students' problem solving. In: Artificial Intelligence 16, 171–187 23 Mathematikunterricht und Neue Medien — oder: Bildung ist das Paradies! Horst Hischer, Saarbrücken Technikeinsatz im Unterricht ist kein didaktischer Selbstzweck, der bereits allein durch die Technikverfügbarkeit legitimiert ist, sondern vielmehr gilt mit Walther Ch. Zimmerli: „Bildung ist das Paradies!“ So kann und darf es nicht allein darum gehen, leistungsfähige neue Geräte und Software als methodischen Kristallisationskeim für neuartige Aufgaben zu entwickeln, sondern die Neuen Medien sind auch inhaltlich unter dem Aspekt der Allgemeinbildung zu sehen: Zwar werden die Neuen Medien sicherlich im künftigen Mathematikunterricht unter dem Werkzeugaspekt eine wichtige (und wohl auch selbstverständliche!) Rolle spielen (insbesondere Computeralgebrasysteme und Dynamische Geometriesysteme), ferner werden sie sich zu einem selbstverständlichen Werkzeug bei der Informationsbeschaffung und -darstellung mittels Internet entwickeln — und die künftige Bedeutung „intelligenter Lernprogramme“ bleibt abzuwarten. Allerdings wäre eine ausschließlich bezüglich solcher Einsatzmöglichkeiten der Neuen Medien geführte didaktische Diskussion einseitig, weil diese nur die Mediendidaktik beträfe und zugleich andere wichtige medienpädagogische Aspekte unberücksichtigt blieben! Stattdessen ist in einem umfassenderen Ansatz eine Integrative Medienpädagogik angebracht: Bei diesem normativen Begriff hat das Attribut „integrativ“ eine zweifache Qualität: Zum einen sind alle drei Aspekte der Medienpädagogik — nämlich Mediendidaktik, Medienerziehung und Medienkunde — bei Planung, Durchführung und Evaluation von Unterricht nicht losgelöst voneinander zu berücksichtigen. Und zum anderen kann eine so verstandene Medienpädagogik (bei Bezug auf die Neuen Medien) wegen der Komplexität des Gegenstandes nicht von einem Unterrichtsfach allein übernommen werden, auch nicht vom Fach Informatik; — vielmehr sind im Prinzip alle Unterrichtsfächer mit je spezifischen Ansätzen gefordert. Und in einem so verstandenen Konzept integrativer Medienpädagogik kann und muss auch der Mathematikunterricht Bildungsaufgaben zu jedem dieser drei Teilbereiche der Medienpädagogik wahrnehmen. Dieses soll am Beispiel des Funktionsbegriffs demonstriert werden. 1 Vorbemerkung „Lehr- und Lernprogramme für den Mathematikunterricht“ ist das Tagungsthema. Doch was ist damit gemeint? Zwar ist dies bisher kein wissenschaftlich verbindlicher Terminus, jedoch gibt der Tagungsaufruf eine Interpretationshilfe, denn dort finden wir, dass es um das „Lernen mit den neuen, computerbasierten Medien“ geht. So verbindet sich mit der Bezeichnung „Lehrund Lernprogramme“ ein weiter und offener Begriff — keinesfalls sind darunter also nur „Programme“ im Sinne der Kybernetischen Pädagogik der 1960er Jahre zu verstehen, wie sie uns nunmehr über die Intelligenten Tutoriellen Systeme wieder begegnen, die sich ja u. a. dadurch auszeichnen, dass sie die Kontrolle über den Lernprozess ihrer Benutzer übernehmen (sollen!). Vielmehr zählt im vorliegenden Kontext zu den „Lehr- und Lernprogrammen“ jegliche 24 Software, die bei den Prozessen des Lehrens und Lernens verwendet wird bzw. prinzipiell verwendet werden könnte — also auch fachübergreifende Anwendersoftware wie z. B. Tabellenkalkulation oder fachspezifische Anwendersoftware wie z. B. Computeralgebrasysteme, bei denen die Kontrolle über den Lernprozess (noch?) bei den Benutzern selber liegt! Fachdidaktische Beiträge, Vorschläge und Untersuchungen bezüglich derartiger Lehrund Lernprogramme betreffen nun in aller Regel methodische Fragen des computergestützten oder computerbegleiteten Lehrens und Lernens — sie beziehen sich also auf die „Neuen Medien“ als Unterrichtsmittel. Demgegenüber bzw. weiterführend vertrete ich nun die These, dass dies eine zu enge Sichtweise ist und dass Neue Medien auch zum Unterrichtsinhalt werden müssen. Dies ist dann eine fächerübergreifende Aufgabe, und es entstehen spezifische Aufgaben für den Mathematikunterricht. Mathematikunterricht und Neue Medien — oder: Bildung ist das Paradies! 2 Mathematikunterricht und Medienpädagogik 2.1 Zur Situation Blicken wir in die mathematikdidaktische Literatur, so können wir feststellen, dass es bei dem Thema „Computer“ bzw. „Neue Medien“ im wesentlichen um die Möglichkeiten des Einsatzes von Computern und Taschenrechnern im Mathematikunterricht geht, in letzter Zeit auch unter Hinzunahme des Internets zur Informationsbeschaffung. Taschenrechner, Computer und Internet werden also bezüglich ihrer Möglichkeiten als neuartige Werkzeuge oder Hilfsmittel zur methodisch besseren Gestaltung von Unterricht gesehen. Es gibt aber in letzter Zeit erneut Stimmen, die eindringlich fordern, dass die Begegnung von Schule mit den Neuen Medien sich nicht in deren Einsatz erschöpfen darf — „erneut“ deshalb, weil dieses bereits im Herbst 1983 auf einer Expertentagung in Loccum gefordert wurde 1 — zum Thema „Neue Technologien und Schule“ —, die Zeit damals aber wohl noch nicht reif war für eine nachhaltige Umsetzung im Unterricht. Pädagoge ermutigt zum Nachdenken über die Neuen Medien“. 5 Nimmt man sowohl Stolls als auch von Hentigs Kritik ernst, so wird plausibel, dass es in der didaktischen Forschung und auch bei der Gestaltung von Unterricht nicht nur um den Einsatz solch neuartiger Medien gehen sollte, sondern dass man auch untersuchen müsste, berücksichtigen müsste, welche Wirkungen hierdurch bei den Schülerinnen und Schülern hervorgerufen werden! Und wir müssen noch einen Schritt weiter gehen und fragen, welche Rolle denn die Neuen Medien im Rahmen von Bildung und Allgemeinbildung spielen sollen. Ist etwa nur „Benutzungskompetenz“ das Ziel? Der Philosoph Walter Ch. Zimmerli schreibt hierzu mit Bezug auf das Internet u. a.: 6 Aber Bildung bedeutet nicht nur InternetBenutzungskompetenz, sondern auch Persönlichkeitsbildung. Deren Ziele bestehen nicht in Karrieremustern oder Kognitionsfertigkeiten, sondern in einer Schärfung der Urteilskraft, der Erringung transkultureller Kompetenz sowie der Stärkung geistiger Orientierung. [...] Wenn wir uns klarmachen, dass auch eine große Bibliothek ein externer Wissensspeicher ist, dessen Inhalt selbst gebildete Menschen nicht ständig vor sich haben, dann leuchtet ein, dass auch das Internet strukturell nichts anderes bereitstellt, als eine große Bibliothek, für die wir allerdings keinen Gesamtkatalog haben. Über Bildung zu verfügen hieße daher, so viel zu wissen, dass man sich in den externen Wissensspeichern zurechtfindet — oder in den Worten von Georg Simmel: „Gebildet ist, wer weiß, wo er findet, was er nicht weiß.“ Besondere Bekanntheit erreichte in diesem Zusammenhang im Jahre 2001 der Amerikaner Clifford Stoll mit seinem Buch „LogOut — Warum Computer nichts im Klassenzimmer zu suchen haben und andere High-TechKetzereien“. 2 Dieses auf den ersten Blick unterhaltsam und amüsant geschriebene Buch verfolgt (leider?) — wie sich schon im Untertitel „... Ketzereien ...“ andeutet — nicht das Ziel objektiver (Auf-)Klärung, sondern es bezieht einseitig und ablehnend Stellung. Bill Gates bezeichnete Clifford Stoll auch bereits als den „Advocatus Diaboli des Internet“. 3 Es geht also darum, im Nichtwissen intelligent navigieren zu können. Voraussetzung dafür ist ein Wissen um die Grenzen der eigenen Kompetenz und zugleich zu wissen, wie und mit welcher technischen Hilfe man sucht, was man noch nicht weiß, was aber als latentes Wissen im Netz stehen könnte, [...] Nach wie vor trifft zu, dass Bildung im Sinne dessen, was man einmal gelernt hat, eine ähnliche Bedeutung hat, wie Jean Paul sie der Erinnerung zuschrieb: das Paradies zu sein, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Beachtenswert ist auch das kürzlich erschienene Buch von Hartmut von Hentig: „Der technischen Zivilisation gewachsen bleiben — Nachdenken über die Neuen Medien und das gar nicht mehr allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit“. 4 Mit diesem neuen Werk, das abwägend und vor allem mahnend geschrieben ist, greift von Hentig sein bekanntes Buch ähnlichen Titels von 1984 vertiefend auf: „Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit — Ein 1 Auf einer Experten-Grundsatztagung in der Evangelischen Akademie in Loccum; vgl. (Ermert 1983). 2 (Stoll 2001) Wenn also gemäß Zimmerli künftig als gebildet nur noch jemand gelten kann, der sich das Wissen der Welt im Internet erschließen kann und dessen Urteilskraft geschärft ist, so sollten wir über das Internet hinaus weisend bedenken: 3 gefunden mit http://google.de am 23.10.2001 unter „Clifford Stoll“ 5 (von Hentig 1984) (von Hentig 2002) 6 (Zimmerli 2002, 22); Hervorhebung nicht im Original. 4 25 Horst Hischer Offenbar genügt es nicht, Neue Medien im Unterricht nur einzusetzen, sondern sie müssen auch bezüglich ihrer Möglichkeiten kritisch reflektiert werden — und zwar sowohl bezüglich ihrer Chancen als auch ihrer Risiken! Und das macht dann erst Bildung aus! Zugleich haben wir damit andeutungsweise erfahren, worum es in der Medienpädagogik gehen könnte. Insbesondere sind hierbei die Teilbereiche Mediendidaktik, Medienkunde und Medienerziehung hervorzuheben. In Abb. 1 werden sowohl diese Teilbereiche als auch deren Zusammenhang dargestellt. Mediendidaktik befasst sich 9 mit den Funktionen und Wirkungen von Medien in Lehr- und Lernprozessen, d. h. also mit medienvermitteltem Lernen [...]. Ihr Ziel ist die Förderung des Lernens durch eine didaktisch geeignete Gestaltung und methodisch wirksame Verwendung von Medien. Die Auswahl und der Einsatz von Medien soll dabei in Abstimmung mit den Unterrichtszielen, den Unterrichtsinhalten und den Unterrichtsmethoden erfolgen. 2.2 Medien und Funktionen Was sind „Medien“, bzw. was wollen oder können wir darunter verstehen? Das kann hier nur angerissen werden. 7 Im Lateinischen finden wir zwei Wurzeln: • „medius“ in der Mitte befindlich, dazwischen liegend, Mittelding, vermittelnd, auch: störend • „medium“ Mitte, Mittelpunkt, aber auch: Öffentlichkeit, Gemeinwohl, Gemeingut Die „Neuen Medien“ bilden somit offensichtlich einen wichtigen Untersuchungsgegenstand der Mediendidaktik. Bei der Medienkunde geht es um die 10 Vermittlung von Kenntnissen über Medien, z. B. über die historische Entwicklung der Medien, über Medieninstitutionen und ihre Organisation, über Mediengesetzgebung, Produktionsprozesse, Technik und Gestaltung von Medien; auch die Vermittlung von Erfahrungen in der Bedienung und praktischen Handhabung von Medien zählt zu den Aufgaben der Medienkunde Demgemäß treten uns Medien im pädagogischen Kontext in zwei etymologisch bedingten Grundbedeutungen gegenüber: Medien vermitteln Kultur, und Medien sind dargestellte Kultur. Hierin zeigt sich uns eine Doppelgesichtigkeit von Medien. Und mit Blick auf den letzten Teil meiner Ausführungen sei bereits jetzt darauf hingewiesen, dass sich Funktionen in diesem Sinne als Medien erweisen, und das führt uns dann zu der Aussage: Hier liegt ein weiterer pädagogischer Aspekt vor, der auch die „Neuen Medien“ betrifft. Die „Medienerziehung“ befasst sich 11 vorwiegend mit den Massenmedien, aber auch mit Unterrichtsmedien. Sie hat das Ziel, zu einem bewußten, reflektierten, kritischen, d. h. sozial erwünschten Umgang mit Medien zu erziehen. Funktionen vermitteln Kultur, und Funktionen sind dargestellte Kultur. 2.3 Medienpädagogik Ich komme nun zu einer Charakterisierung der Medienpädagogik nach Issing: 8 Für die Behandlung pädagogischer Fragen theoretischer und praktischer Art im Zusammenhang mit Medien wird in der Literatur am häufigsten der Begriff Medienpädagogik verwendet [...]. Er umfaßt alle Bereiche, in denen Medien für die Entwicklung des Menschen, für die Erziehung, für die Aus- und Weiterbildung sowie für die Erwachsenenbildung pädagogische Relevanz haben. Es erscheint deshalb sinnvoll, den Begriff „Medienpädagogik“ als übergeordnete Bezeichnung für alle pädagogisch orientierten Beschäftigungen mit Medien in Theorie und Praxis zu verstehen und einzelne Aspekte der Medienpädagogik näher zu spezifizieren. Damit sind pädagogische Untersuchungen der „Neuen Medien“ insbesondere auch der Medienerziehung verpflichtet! 2.4 Integrative Medienpädagogik Auf dem Bisherigen aufbauend postuliere ich nun eine Integrative Medienpädagogik als normativen Begriff, bei dem „integrativ“ eine zweifache Qualität hat: 1. Alle drei Aspekte der Medienpädagogik — Mediendidaktik, Medienerziehung und Medienkunde — sind bei Planung, Durchführung und Evaluation von Unterricht in ihrer Ganzheit (integrativ!) und nicht losgelöst voneinander zu berücksichtigen. 9 7 Vgl. (Hischer 2002, 48 ff). 8 (Issing 1987, 24); vgl. auch (Kron 2000, 331). 26 (Issing 1987, 25); zitiert auch bei (Kron 2000, 331). 10 (Issing 1987, 26) 11 (Issing 1987, 25) Mathematikunterricht und Neue Medien — oder: Bildung ist das Paradies! Eine so verstandene Medienpädagogik kann bei Bezug auf die „Neuen Medien“ wegen der Komplexität des Gegenstandes nicht von einem Unterrichtsfach allein übernommen werden, auch nicht vom Fach Informatik — vielmehr sind im Prinzip alle Unterrichtsfächer gemeinsam (integrativ!) mit je spezifischen Ansätzen (!) gefordert. Eine integrative Medienpädagogik kommt somit also stets in ihrem doppelten Sinn zum Tragen: alle drei Aspekte der MedienpäAbb. 1: Integrative Medienpädagogik dagogik und (im Prinzip) alle Unterals eine Bildungsaufgabe der Schule richtsfächer! Und hinsichtlich der drei Aspekte der Medienpädagogik — MeFür die didaktische Forschung ergibt sich diendidaktik, Medienerziehung, Medienkunde nun die Aufgabe, praktikable Unterrichtsbei— gilt dann: spiele zu entwickeln, die den drei in Abb. 1 dargestellten Aspekten der Medienpädagogik • Mediendidaktik: Computer und Internet (mit ggf. je unterschiedlicher Akzentuierung) werden eine immer wichtigere Rolle im gerecht werden. Rahmen von Lehr- und Lernprozessen spielen, und zwar als ein neuartiges techThese: nisches Medium (Hilfsmittel oder WerkDer Mathematikunterricht kann und muss zu zeug) bei der Aneignung von und Teilhabe allen drei Aspekten der Medienpädagogik an Kultur, also beim Enkulturationsprozess. Gewichtiges beitragen! Lehrkräfte, Didaktiker, Bildungsplaner und Diese These möchte ich in meinen AusfühSchulbuchverlage stehen hier vor großen rungen exemplarisch untermauern. Herausforderungen. • Medienkunde: Voraussetzung für eine sinnvolle Nutzung solcher Medien ist eine solide Kompetenz im Umgang mit ihnen. Dazu gehören auch Kenntnisse über Aufbau und Funktionsweise solcher Medien, die als grundlegend und allgemeinbildend zu bestimmen sind. • Medienerziehung: Unverzichtbar zur Persönlichkeitsbildung ist eine Anleitung zum bewussten, reflektierten und kritischen Umgang mit solchen Medien, und zwar im Rahmen eines Allgemeinbildungskonzepts. Die Umsetzung dieser Aspekte ist eine Bildungsaufgabe für Schule insgesamt und damit prinzipiell für alle Unterrichtsfächer mit je spezifischer Ausrichtung. Dies wurde bereits in Abb. 1 veranschaulicht. Zugleich vertritt diese Graphik den pädagogischen Anspruch, dass auch das sog. „multimediale Lernen“ nicht nur einseitig in instrumenteller Anwendung der Neuen Medien bezüglich Effektivierung der Lernvorgänge zu sehen ist, sondern dass auch hier die skizzierten medienpädagogischen Aspekte beachtet werden sollten. 3 „Neue Medien“ — Was ist das eigentlich? Bisher hatten wir die Bezeichnung „Neue Medien“ einfach für die neuen, computerbasierten Medien genommen, also als Zusammenfassung für „Computer und Internet“, wobei die sog. „Multimediacomputer“ und graphikfähige Taschenrechner und Taschencomputer ebenfalls dazu gehören. Warum nun aber die Bezeichnung „Neue Medien“, noch dazu in der Großschreibung? Dies kann hier nur skizziert werden. 12 Es hängt mit der Entwicklung von Technik zusammen: Die Geschichte der Entwicklung der Technik ist aus anthropologischer Sicht zugleich eine Geschichte der „Auslagerung“ mechanischer Fähigkeiten des Menschen auf Geräte und Maschinen, angefangen beim Faustkeil über Waffen und Werkzeuge bis hin zu heutigen geradezu monumentalen Baumaschinen. 12 Details dazu in (Hischer 2002, 60 ff). 27 Horst Hischer Die Maschine „Computer“ ist nun insofern revolutionär, als hier erstmals nicht wie bei früheren Maschinen mechanische Fähigkeiten des Menschen „ausgelagert“ werden, 13 sondern ein neuer Maschinentypus Fähigkeiten übernimmt, die bisher den menschlichen Geistesleistungen zuzurechnen waren. Wir brauchen nur an das Schachspiel zu denken, dessen souveräne Beherrschung stets als Kennzeichen besonderer Intelligenz galt. Und nunmehr treten Großmeister gegen Schachautomaten an, und als „normaler“ Schachspieler hat man ohnehin Schwierigkeiten, gegen gute Schachcomputer, die es ja bereits für den PC gibt, zu gewinnen. Und insbesondere gibt es heute „Schachprogramme“, die man im Internet spielen kann, und zwar entweder gegen einen „menschlichen Gegner“ oder gegen einen „virtuellen Gegner“, d. h. gegen einen Algorithmus in Verbindung mit einer Datenbank. Aber wenn man nicht weiß, welche „GegnerWahl“ getroffen wurde, weiß man letztlich nicht, gegen wen man spielt: Spielt man gerade gegen einen wirklichen Menschen oder (nur!?) gegen ein von Menschen erdachtes Programm? Bedeutet das nun, dass die Fähigkeit zum Schachspielen gar nichts oder nur wenig mit Denkvermögen und Intelligenz zu tun hat, oder bedeutet das, dass Schachcomputer denken können und damit in gewissem Sinn intelligent sind? 14 Allein diese Frage zu stellen, heißt doch, dass hier von Menschen geschaffene Maschinen das bisherige Menschenbild in Frage stellen — ich will noch nicht sagen: bedrohen! Immerhin wird nun in diesem Sinn — mit aller gebotenen Vorsicht formuliert — „Denkfähigkeit“ auf den Computer ausgelagert — mag uns dies nun passen oder nicht! Und das begründet die herausragende Stellung der auf der Mikroelektronik beruhenden Informations- (und der Kommunikations-) techniken und somit ihre „Neuheit“, was zu folgender Charakterisierung führt: Neue Techniken sind die datenprozessierenden Informationstechniken, sie sind sog. „Querschnittstechniken“ — denn: Der Computer erweist sich in nahezu allen Wissenschaften und Anwendungen als ein nützliches Werkzeug, ja gar als ein unverzichtbares Werkzeug! Neue Medien sind dann solche technischen Medien, die auf diesen Neuen Techniken beruhen. 13 Vgl. (Fischer & Malle 1985, 257 – 258). 14 Vgl. hierzu u. a. (Penrose 1991, 12). 28 Und der Besonderheit dieser grundsätzlichen „Neuheit“ dieser Techniken und Medien trägt man oft dadurch Rechnung, dass man das Attribut „neu“ groß schreibt. 4 Unterrichtsmittel vs. Unterrichtsinhalt, Werkzeug vs. Hilfsmittel 15 Gemäß Abb. 1 können wir Neue Medien unter drei pädagogischen Aspekten betrachten: Mediendidaktik, Medienkunde und Medienerziehung. Diese drei Aspekte zählen methodologisch zur sog. Bereichsdidaktik. Während es bei den mediendidaktischen Aspekten Neuer Medien vorrangig um ihren fachdidaktisch begründeten Einsatz im Unterricht und damit um den Umgang mit ihnen geht, werden die Neuen Medien sowohl unter medienkundlichen als auch unter medienerzieherischen Aspekten im Unterricht untersucht, sie werden damit zum Unterrichtsinhalt, und sie dienen dabei der Aufklärung und der Vermittlung von Haltungen und Einstellungen. Da sowohl dieser Umgang mit den Neuen Medien als auch deren Erörterung jeweils in Unterrichtsfächern erfolgt, müssen wir Neue Medien im pädagogischen Kontext in der doppelten Rolle als Unterrichtsmittel und als Unterrichtsinhalt betrachten. Und damit haben wir folgende Perspektiven gefunden, unter denen wir die Neuen Medien betrachten können: • fachdidaktische Funktion Neuer Medien: o als Unterrichtsmittel (d. h. als Werkzeug oder Hilfsmittel) o als Unterrichtsinhalt (d. h. als Gegenstand des Unterrichts) • bereichsdidaktische Sicht Neuer Medien: o mediendidaktisch o medienkundlich o medienerzieherisch Diese zweifache Sichtweise Neuer Medien können wir dann in einer Perspektivenmatrix darstellen (Abb. 2). Diese Darstellung soll deutlich machen, dass die beiden Kategorien „Unterrichtsmittel“ und „Unterrichtsinhalt“ der Perspektivenmatrix nicht trennscharf sind: dass also einerseits zum Unterrichtsmittel, dem „Instrument“, stets auch der Unterrichtsinhalt, das „Thema“ bzw. der „Gegenstand“, gehört und umgekehrt; dass jedoch andererseits „Mediendidaktik“, „Medienkunde“ und 15 Bezüglich einer Vertiefung vgl. (Hischer 2002, 232 ff). Mathematikunterricht und Neue Medien — oder: Bildung ist das Paradies! „Medienerziehung“ zwar jeweils Schwerpunkte unterrichtlichen Handelns beschreiben, aber dennoch nicht voneinander zu trennen sind. Wenn sie „offen“ konzipiert sind, für nicht eng umgrenzte Gebiete anwendbar sind (wie z. B. Computeralgebrasysteme, Programmiersprachen, Tabellenkalkulationsprogramme, aber auch viele Funktionenplotter), sind sie „mächtig“, sonst sind sie nur Hilfsmittel. „Bildung als Paradies“ braucht aber „Offenheit“! Ich betrachte im Folgenden nur Werkzeuge in diesem Sinn. 5 Abb. 2: Perspektivenmatrix Neuer Medien — bereichsdidaktische Sicht (links) und fachdidaktische Funktion (oben) Oben getroffene, noch nicht spezifizierte Unterscheidung der Unterrichtsmittel in Werkzeug und Hilfsmittel mag irritieren, weil sie nicht selbstredend (und ebenfalls nicht trennscharf!) ist. Sie zielt jedoch akzentuierend auf idealtypisch grundsätzliche Unterschiede im Anwendungsbereich solcher Medien ab: o Ein Werkzeug in diesem Sinne ist dadurch gekennzeichnet, dass es — zumindest in einem bestimmten Bereich — recht vielseitig verwendbar ist. o Ein Hilfsmittel dagegen ist (nach diesem Verständnis) weniger vielseitig, sondern es kann im Prinzip für nur einen Zweck konstruiert worden sein. So wird ein Korkenzieher in der Regel nur ein Hilfsmittel sein und nur in extremen Notsituationen als Werkzeug verwendet werden (wenn anderes nicht verfügbar ist). Ein Werkzeug hingegen verleiht seinem Benutzer — im Gegensatz zum Hilfsmittel — Macht im Sinne von Carl Friedrich von Weizsäcker: 16 Macht nenne ich die Bereitstellung von Mitteln für offengehaltene Zwecke. So ist beispielsweise ein Computeralgebrasystem als (vielseitiges!) „Macht verleihendes“ Werkzeug anzusehen, hingegen wäre ein „kastrierter“ Funktionenplotter, der nur die Veranschaulichung und Konstantenvariation fest implementierter Funktionsterme erlaubt, ein geradezu „ohnmächtiges“ Hilfsmittel, das nur für vom „Autor“ vorgegebene Zwecke verwendet werden kann. Diese Betrachtungen können generell auf jegliche sog. „Lehr- und Lernprogramme“ ausgedehnt werden: 16 (von Weizsäcker 1992, 19); Hervorhebung nicht im Ori- ginal. In (von Weizsäcker 1989, 1054) schreibt er: „Ich definiere Macht als (...) Bereitstellung von Mitteln für freigehaltene Zwecke.“ Neue Medien als Unterrichtsmittel — grundlegende Werkzeuge 5.1 Übersicht Folgende Werkzeuge, die auf Neuen Medien basieren, sind derzeit und in naher Zukunft für den Mathematikunterricht bedeutsam. Die Gruppierung der ersten vier Werkzeugtypen ist keinesfalls trennscharf, denn das Anwendungsspektrum der einzelnen Systeme nimmt zu, und die ursprünglich unterschiedlichen, für spezielle Anwendungen konzipierten Systeme wachsen zusammen — eine Tendenz, die wir bei den sog. „Anwendungsprogrammen“ wie etwa zur Textverarbeitung oder zur Graphikbearbeitung ebenfalls seit langem beobachten können. Wenn wir also die oben genannten Bezeichnungen für vornehmlich mathematikorientierte Anwendersoftware benutzen, dann soll dies eine idealtypische Verwendung sein, mit der wir die ursprünglich intendierten Anwendungsrichtungen ansprechen. Diese Werkzeugtypen seien kurz exemplarisch vorgestellt. 5.2 Funktionenplotter „Plotter“ bedeutet „Planzeichner“, und man kennt sie in der Datenverarbeitung als analoge Tuscheplotter bereits seit etwa 1960, und lange zuvor kannte man sie in der Physik als x-y-Schreiber bzw. als t-y-Schreiber für „Endlospapier“. Mit dem Aufkommen der ersten Arbeitsplatzcomputer Ende der 1970er Jahre, verbunden mit der (völlig neuen!) Verfügbarkeit individueller (Nadel-)Drucker, wuchs der Wunsch der Anwender zur Erzeugung von Funktionsgraphen mit dem eigenen System, und so entstanden die ersten sog. Funktionenplotter — auch schon für den Mathematikunterricht. Die Ergebnisse waren zwar einerseits für die normalen Anwender sehr eindrucksvoll, weil 29 Horst Hischer sie bis auf die eigenhändig skizzierten Funktionsgraphen nichts anderes kannten, und andererseits waren die Ergebnisse schlicht miserabel, gemessen an dem Qualitätsstandard, der schon rund 20 Jahre vorher mit den Tuscheplottern üblich war. Dennoch waren diese Ende der 1980er Jahre entwickelten ersten Funktionenplotter mediendidaktisch durchaus interessant, weil durch sie „offen sichtlich“ wurde, dass die Funktionsgraphen nur aus diskreten Punkten bestehen. Immerhin waren sie in der Auflösung den um die Jahrtausendwende herum üblichen graphikfähigen Taschencomputern deutlich überlegen. Ein grundsätzlicher methodischer Vorteil gegenüber dem herkömmlichen Verfahren des Zeichnens von Funktionsgraphen per Hand über Wertetabellen war jedoch kaum erkennbar, zumal ohnehin nicht alle Schülerinnen und Schüler einen eigenen Rechner zur Verfügung hatten. Allerdings waren zwei neue Aspekte methodisch sehr interessant: • Der Trace-Modus, der schon 1991 beim Taschencomputer TI-81 verfügbar war und heute für alle TC wie CASIO oder TI und z. B. auch für das Computeralgebrasystem Derive selbstverständlich ist. (Mit diesem Modus kann man ein frei bewegliches Cursor-Fadenkreuz an einen Funktionsgraphen binden, also auf einen Freiheitsgrad einschränken, und damit z. B. interaktiv Schnittpunktkoordinaten approximieren.) • Die quasi-kontinuierliche Konstantenvariation (oft auch „Parametervariation“ genannt), wie sie leider auch heute noch nicht bei allen Funktionenplottern selbstverständlich ist. (Bei Verfügbarkeit dieser Option lässt sich der Einfluss von „Formvariablen“ auf Lage und Gestalt der Funktionsgraphen interaktiv untersuchen.) Besonders interessant bezüglich der Konstantenvariation sind hier die folgenden beiden aktuellen Neuentwicklungen: DynaPlot und ParaPlot: DynaPlot ist eine Excel-Anwendung mit Schiebereglern. 17 Dieses Programm ist besonders unter medienkundlichen Aspekten interessant, wenn man nämlich versucht, seine Funktionsweise zu verstehen und es „nachzubauen“. Diese Aufgabe ist aber sehr anspruchsvoll und scheidet wohl in aller Regel für den normalen Mathematikunterricht aus. 17 Herunterladbar unter http://www.staatliche-bos-nuernberg.de. Entwickelt von Ulrich Würfl (mit Robert Triftshäuser). 30 Anders dagegen ist das in VisualBasic entwickelte Programm ParaPlot 18 nur eine „Black Box“, dafür aber eine sehr leistungsfähige, die kurz vorgestellt sei (Abb. 3): Es eignet sich zur gleichzeitigen Darstellung von bis zu drei Funktionsgraphen oder bis zu zwei Kurven in Parameterdarstellung, wobei beliebig viele Konstanten als Formvariable mit frei wählbaren Namen verwendbar sind. Die Funktionsterme, die Kurventerme und die Belegungen der Formvariablen lassen sich eingeben, und alle Fenster (Graph, Schieberegler, Termeingabe) sind in Größe und Position frei veränderbar. Abb. 3: Dynamischer Funktionenplotter ParaPlot Es gibt eine Fülle von eigenständigen Funktionenplottern wie ParaPlot auf dem Markt, wenngleich leider nur wenige über die wichtigen Schieberegler zur Konstantenvariation verfügen. Mittlerweile sind auch Dynamische Geometriesysteme wie Euklid DynaGeo in eigentlich systemwidriger Weise als Funktionenplotter verwendbar, weil sich hier vorzüglich Schieberegler realisieren lassen — und zwar von den Schülerinnen und Schüler selber! Abb. 4 zeigt ein „eingefrorenes“ Beispiel. Abb. 4: Euklid DynaGeo als Funktionenplotter 18 Herunterladbar unter http://www.staatliche-bos-nuernberg.de und http://hischer.de/mathematik/didaktik/neuemedien/. Entwickelt von Robert Triftshäuser. Es ist nicht zu verwechseln mit einem über zehn Jahre alten gleichnamigen, auf heutigen Rechnern nicht mehr lauffähigen DOSProgramm. Mathematikunterricht und Neue Medien — oder: Bildung ist das Paradies! Hervorhebenswert ist ferner der Funktionenplotter DPGraph von David Parker, mit dem sich u. a. zeitabhängige Animationen erstellen lassen und der insbesondere für 3D-Darstellungen impliziter Funktionen gedacht und geeignet ist. 19 Bemerkenswert ist auch die implementierte einfache Programmiersprache, die man verwenden muss, um diesen Plotter benutzen zu können. Dies ist gerade unter medienkundlichen Aspekten interessant, zumal diese elementare Programmiersprache für Schülerinnen und Schüler leicht erlernbar ist, — hier kommen die in den 1980er Jahren von Heinz Griesel propagierten 10-ZeilenProgramme wieder zurück in den Mathematikunterricht! Abb. 5 zeigt als Beispiel die Darstellung eines „Huts“ mit Hilfe von DPGraph. Hieran wird offen sichtlich, dass man mit diesem Programm Abb. 5: „Hut“, rein spielerisch und erzeugt mit DPGraph völlig „nutzlos“ schöne Flächen und Kurven erzeugen kann — ein sehr wichtiger Aspekt der Mathematik und des Mathematikunterrichts! Der Programmkern ist hier (Modellierung eines Torus!): graph3d(x^2+y^2+z^2^+a^2-b^2 = 2*a*sqrt(x^2+y^2)) 5.3 Tabellenkalkulation Das erste Tabellenkalkulationsprogramm war das legendäre VisiCalc („sichtbare Berechnungen“), das 1979 von Dan Bricklin erfunden und von Bob Frankston programmiert wurde, und zwar als „eine elektronische Tafel und eine elektronische Kreide im Klassenraum“. 20 Tabellenkalkulation gehört zwar zur sog. Bürosoftware, aber sie ist auch für den Mathematikunterricht ein sehr mächtiges Werkzeug, das noch längst nicht die dort mögliche Rolle spielt! In Erweiterung der ursprünglichen Möglichkeiten verfügen solche Programme heute alle über einen Graphikteil zur Datenpräsentation, und damit sind sie auch als Funktionenplotter geeignet, indem einfach eine Wertetabelle durch Punkte dargestellt wird, ggf. in linearer Interpolation, wobei man vorteilhaft rekursive Programmierung in relativer Adressierung verwendet (Abb. 6). 19 http://dpgraph.com 20 http://dssresources.com/history/sshistory.html, gültig am 17.07.2002. Abb. 6: Tabellenkalkulation als Funktionenplotter Der Mathematikunterricht bietet ein großes Potenzial zur Entschlüsselung von Tabellenkalkulation im medienkundlichen Sinn und zur Reflexion ihrer Verwendungsmöglichkeiten und -probleme außerhalb der Mathematik im medienerzieherischen Sinn. So ist Tabellenkalkulation heute neben Textverarbeitung die wichtigste Anwendersoftware in Wirtschaft und Verwaltung. Die hierbei wichtigen Prinzipien relativer und absoluter Adressierung einerseits und die der Datenpräsentation andererseits können im Mathematikunterricht durchsichtig gemacht werden. Zugleich können die Schülerinnen und Schüler hierbei Tabellen und deren Präsentationsformen als Funktionen erfahren. 5.4 Computeralgebrasysteme Um Computeralgebrasysteme (CAS) ist es in der didaktischen Diskussion ruhig geworden. Sind sie etwa innerhalb der letzten zehn Jahre schon zu einem selbstverständlichen Werkzeug im Mathematikunterricht geworden? Dabei sollten auch sie im Mathematikunterricht nicht nur eingesetzt, sondern kritisch eingesetzt werden, also auch bezüglich ihrer Möglichkeiten und Fallstricke im medienkundlichen und medienerzieherischen Sinn kritisch erkundet und reflektiert werden. Und auch der Aspekt der „Trivialisierung“ mathematischer Gebiete durch Computeralgebrasysteme sollte im Unterricht bewusst gemacht werden. 21 5.5 „Dynamische Geometriesysyteme“ Die sog. Dynamischen Geometriesysteme (DGS) sind mittlerweile als neues mächtiges Werkzeug im Sinne der Mediendidaktik hinlänglich bekannt. 21 Vgl. (Hischer 2002, 102 f, 189), ausführliche Betrachtun- gen in (Hischer 2002, 262 ff). 31 Horst Hischer Aber ist diese Bezeichnung sinnvoll? Ist denn das System dynamisch? Allenfalls doch wohl die damit betriebene Geometrie! Und die neue alternative Lesart „Dynamische Geometriesoftware“ ist kaum besser, weil ja auch die Software nicht „dynamisch“ ist. Aber auch die sich auf diese Systeme gründenden Geometrien sind im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung von „innere Kraft besitzend“ oder „lebendig“ oder „wirksam“ keinesfalls „dynamisch“! Und in der Physik unterscheidet man sorgfältig zwischen „Dynamik“ als der Lehre von den Kräften und „Kinematik“ als der Lehre von den Bewegungen. Und wir gehen ja auch ins „Kino“ und nicht ins „Dyno“! Also warum sagt man nicht „Kinematische Geometrie“ oder einfach „Bewegliche Geometrie“? Oder sollte sich „dynamisch“ im Sinne von „wirksam“ z. B. auf die Erzeugung von Ortslinien beziehen? Dann wäre allerdings das System dynamisch! Hat man das bei der Namensgebung gemeint? Aber sei ’s drum: Wenn wir „Dynamische Geometriesysteme“ lesen oder sagen, sind wir zugleich auch in der Lage, unseren hoffentlich kritischen Schülerinnen und Schülern diese Bezeichnung jederzeit zu erläutern ... Dynamische Geometriesysteme sind bekanntlich wichtige Werkzeuge beim Entdecken mathematischer Sachverhalte und Zusammenhänge, insbesondere von Invarianten im Sinne des Geometriekonzepts von Felix Klein. Aber hierbei ist Vorsicht geboten, und dazu sei ein Beispiel skizziert, das sich medienerzieherisch eignet: Beispiel: Inversion am Kreis Neue Medien als Verführer — Nachdenken ist weiterhin nötig! Manche DGS (z. B. Euklid DynaGeo 22) bieten auch fest implementierte geometrische Abbildungen wie Kongruenz- und Ähnlichkeitsabbildungen. Im medienkundlichen Sinn wird man es nicht versäumen, im Unterricht diese Abbildungen auch „von Hand“ mit Hilfe von Makros nachbauen zu lassen! Ohnehin sind nicht alle interessierenden Abbildungen bereits „eingebaut“, so etwa weder Scherungen noch schiefe Achsenspiegelungen. Bei Euklid DynaGeo reizt eine weitere Abbildung zum spielerischen Erproben, nämlich: „Punkt an einem Kreis spiegeln“. Auch ohne vorherige Kenntnis gelingt es bald, ihre Eigenschaften „zu entdecken“: Punkt und Bildpunkt liegen stets auf einer Geraden durch den Kreismittelpunkt, und das Produkt ihrer Abstände vom Kreismittelpunkt ist konstant 22 Herunterladbar unter http://dynageo.de. 32 (nämlich = ?). Das führt dann zur Namensgebung „Inversion am Kreis“. Und wie erhalten wir das Bild eines Dreiecks? Bei den anderen Abbildungen ging das einfach: Man erzeugte ein Dreieck als Objekt und wendete die Abbildung auf dieses Objekt an. Fertig! Leider geht das bei dieser Kreisinversion nicht. Ärgerlich! Aber wir helfen uns, indem wir die Inversion „von Hand“ nachbauen: Bilder der drei Eckpunkte konstruieren und diese verbinden (Abb. 7). Na also! Oder? Wenn z. B. eine Abb. 7: Bild eines Dreiecks bei OriginaldreiecksInversion am Kreis? seite den Kreis tangiert, müssten Berührpunkt und Bildpunkt übereinstimmen. Das ist aber nicht der Fall! Wir haben uns also von dem System vor- Abb. 8: Bild eines Dreiecks bei Inversion am Kreis! eilig verführen lassen. Erst eine Konstruktion über Ortslinien bringt die richtige Lösung (Abb. 8). 23 Nachdenken ist also (gerade!) bei Neuen Medien weiterhin angesagt! Oder anders: Wir können somit diesen mächtigen Werkzeugen keinesfalls unkritisch vertrauen! Das werden wir in Abschnitt 6 noch vertiefen. 5.6 Werkzeuge zur Visualisierung In der Mathematik wissen wir seit langem, wie problematisch die subjektive Anschauung als Mittel der Erkenntnissicherung ist. Andererseits geht auf Felix Klein folgende Aussage zurück: 24 Was der Geometer an seiner Wissenschaft schätzt, ist, daß er sieht, was er denkt. Dazu ein Beispiel: Auf Archytas von Tarent geht eine Lösung des Delischen Problems zurück, 25 bei der der Satz von der Konstanz der Sehnenabschnittsprodukte sich schneidender Sehnen in einem Kreis benötigt wird. Diesen kann man zwar mit Hilfe eines DGS empirisch leicht bestätigen, aber dies ist weder ein mathematisch akzeptabler Beweis noch eine Begründung dafür, warum das denn gilt! 23 Dies konnte tatsächlich in einem Computerpraktikum zu DGS festgestellt werden! 24 Brieskorn im Vorwort von (Brieskorn & Knörrer 1981, vi). 25 Vgl. (Hischer 2003 b). Mathematikunterricht und Neue Medien — oder: Bildung ist das Paradies! und zugleich zu wissen, wie und mit welDie in Abb. 9 wiedercher technischen Hilfe man das sucht, was gegebene Folie zeigt man noch nicht weiß, das aber z. B. als laeinen wortlosen Betentes Wissen in lokalen oder globalen Daweis im Sinne von Fetenbanken, wie dem Internet, stehen könnlix Klein (s. o.), der mit te. Hilfe Neuer Medien er• Anleitung zum bewussten, reflektierten und stellt wurde: DPGraph kritischen Umgang mit Neuen Medien, und zur Erzeugung des zwar zur Persönlichkeitsbildung im Rahmen 3D-Grundkörpers und eines Allgemeinbildungskonzepts. ein VektorgraphikproHat das etwa auch etwas mit dem Magramm mit Bézierkurthematikunterricht zu tun? Dazu ein ven-Tool (hier CorelDRAW ™) zur NachBeispiel: bearbeitung — sehr Stellen wir uns vor, wir hätten im Unmächtige Werkzeuge terricht das Delische Problem vielseitig zur Visualisierung! behandelt und dann mitgeteilt (oder Abb. 9: Sehnenabschnittsprodukt Und wir können bevon einer Schülerin oder einem Schükanntlich sogar unmögliche dreidimensionale ler gehört), dass es zu den drei berühmten Sachverhalte visualieren, etwa das Firmenklassischen Problemen der Antike gehört. logo von Renault, oder man denke an etliche Sofort entsteht die Frage, welches denn die Bilder von Escher. anderen beiden Probleme seien, und schon liefern die Suchmaschinen „Dreiteilung eines Winkels“ und „Quadratur des Kreises“. Einige 5.7 Internet Schülerinnen und Schüler suchen nach „Quadratur des Kreises“ und finden Diverses, Das Internet ist nicht nur zum Herunu. a. Abb. 10. Was terladen von Programmen und Gerädavon ist seriös? tetreibern hilfreich und nützlich, sonWorum geht es indern es stellt eine außerordentlich haltlich überbreit gefächerte Informationsquelle haupt? So wird dar, wie jede und jeder schnell erfährt, deutlich, dass dem wenn sie oder er mit einer sog. Mathematikunter„Suchmaschine“ ernsthaft etwas richt hieraus eine sucht. Ist das Internet gar ein Werk(neue?) Bildungszeug? aufgabe erwächst. Dazu seien zunächst im Sinne von Welchem Fach Walther Ch. Zimmerli folgende Bildenn hierbei dungsaspekte betont: sonst? • Bildung bedeutet nicht nur Benutzungskompetenz für Neue Medien, sondern auch Persönlichkeitsbildung. Deren Ziele bestehen in einer Schärfung der Urteilskraft, der Erringung transkultureller Kompetenz sowie der Stärkung geistiger Orientierung. • In einer Situation ständiger Überforderung und Überflutung durch noch nicht zum Wissen gewordene Informationen kann Bildung auch eine kognitive Funktion haben, denn sie hat doppelten Wert: nicht nur als Charaktererziehung, sondern auch als Wissen. Aber als Wissen in einem anderen Sinne: Über Bildung zu verfügen heißt dann, so viel zu wissen, dass man sich in den (externen oder internen) Wissensspeichern zurechtfindet — oder in modifizierten Worten in Anlehnung an Georg Simmel: „Gebildet ist, wer weiß, wie er findet, wo er findet, was er nicht weiß.“ • Es geht also darum, im Nichtwissen intelligent navigieren zu können. Voraussetzung dafür ist ein Wissen um die Grenzen der eigenen Kompetenz Und was schreibt die MNU hierzu in ihren „Empfehlungen zum Computer-Einsatz ...“ 26? Abb. 10: Suchergebnis zu „Quadratur des Kreises“ Weiterhin bestand Einigkeit darüber, dass das Recherchieren im Internet [...] noch von untergeordneter Bedeutung ist [...]. Hier hat man also weiterhin nur mediendidaktische Aspekte im Blick, sieht andere heraufziehende Bildungsaufgaben möglicherweise (noch) gar nicht. 26 Beilage: „Empfehlungen zum Computer-Einsatz im ma- thematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht in allgemein bildenden Schulen.“ In: Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht 55 (5) (2002). 33 Horst Hischer 6 Neue Medien als Unterrichtsinhalt — zum Beispiel: Funktionenplotter 6.1 Stroboskopeffekt — Aliasing Der bereits in 5.5 und 5.7 erwähnte „Vertrauensaspekt“ bezüglich der Neuen Medien soll nun eingehender beleuchtet werden, und zwar anhand eines elementaren, eindrucksvollen und dennoch zugleich im Mathematikunterricht behandelbaren Beispiels: Wir nehmen z. B. den Taschencomputer TI 92+ von Texas Instruments und lassen den Graphen von sin(x) in einem Fenster zeichnen, das für x von 0 bis π und für sin(x) von –1 bis +1 definiert ist. Wenn wir in demselben Fenster beispielsweise den Graphen von sin(239x) zeichnen lassen, erhalten wir keinen neuen Graphen (Abb. 11): Beide Graphen sind identisch!!! Abb. 11: sin(x) ≡ sin (239x) beim TI 92+ Verwundert reibt man sich die Augen, wenn man so etwas zum ersten Mal sieht. Wie kann uns die Firma TI so etwas anbieten? Wir greifen hoffnungsvoll zum FX 2.0 von CASIO und stellen bei denselben Fenstereinstellungen fest: Nunmehr sind die Graphen von sin(x) und sin(127x) identisch! Also können wir den Taschencomputern doch nicht so recht trauen, wenn sie uns so massiv täuschen!? Die Hoffnung, dass es die für den PC konzipierten Funktionenplotter besser machen, erweist sich leider als trügerisch. Dieses katastrophale Ergebnis wurde bereits 1991 von Bernard Winkelmann als sog. „Stroboskopeffekt“ erwähnt. 27 In der Numerik ist dieser Effekt wohl bekannt, und er gehört dort zu dem Phänomen „Aliasing“. Die Bezeichnung „Stroboskopeffekt“ soll auch an die sich scheinbar rückwärts drehenden Kutschenräder bei Western-Filmen erinnern. 27 (Winkelmann 1992, 42) 34 Das kann in diesem Rahmen leider nicht vertieft werden, ich verweise auf die Literatur. 28 Allerdings sei hier so viel erwähnt: Dieser Stroboskopeffekt ist typisch für alle mathematischen Funktionenplotter, und er tritt bei der Darstellung von periodischen und fastperiodischen Funktionen auf. In der Numerik wird dieser Effekt innerhalb der Theorie der sog. Moiré-Phänomene behandelt. Wir halten das wie folgt plakativ fest: • Neue Medien können uns als „Täuscher“ begegnen! Für den Mathematikunterricht ergibt sich nun hieraus die Aufgabe, diesen Effekt im medienkundlichen Sinn zu entschlüsseln und im medienerzieherischen Sinn eine kritische und wachsame Haltung gegenüber den Ergebnissen zu entwickeln, die uns die Neuen Medien liefern. Und also sehen wir erneut: Bildung ist das Paradies! 6.2 Funktionsplot als Simulation Zunächst ist anzumerken, dass die graphische Darstellung einer termdefinierten reellen Funktion auf einem Bildschirm oder einem Drucker als Simulation des Funktionsgraphen anzusehen ist! Auch hierauf wies Bernard Winkelmann bereits 1991 hin. Insofern können wir die Darstellungen mit dem TI 92+ oder dem CASIO FX 2.0 als Fehlsimulationen deuten! 29 In Konsequenz davon müssen wir im Nachhinein auch die klassisch von Hand gezeichneten Funktionsgraphen bei Kurvendiskussionen als Simulationen bzw. Fehlsimulationen des Funktionsgraphen ansehen und zugleich fragen, was denn eigentlich der Graph bzw. die Funktion selbst ist! Dies führt zu einer Unterscheidung zwischen dem Begriff und dessen konkreter Darstellung durch ein Objekt. Das, was uns ein Funktionenplotter auf dem Bildschirm oder als Ausdruck liefert, nennen wir einen Funktionsplot, und somit ist der Funktionsplot stets eine Simulation des (abstrakten) Funktionsgraphen oder — wenn man so will — der (abstrakten) Funktion. 30 Keinesfalls aber haben diese Fehlsimulationen etwas mit „optischen Täuschungen“ zu tun, denn die hier beobachteten „Täuschungen“ sind ja objektiv vorhanden, während optische Täuschungen subjektive, physiologische Wahrnehmungsstörungen sind! 28 (Hischer 2002, 295 ff) 29 Bzgl. „(Fehl-)Simulation“ siehe auch (Hischer 2003 a). 30 Man beachte die differenzierenden Namensgebungen: Funktionenplotter, aber Funktionsplot! Mathematikunterricht und Neue Medien — oder: Bildung ist das Paradies! 6.3 Experimente zum Aliasing mit Derive und ParaPlot Abb. 12 zeigt die Simulation von sin(x) und sin(ax) für ein passendes a mit Derive, wobei nur die Fensterbreite variiert wurde. Das linke Bild zeigt die Übereinstimmung beider Simulationen, rechts sind die Simulationen verschieden, und dennoch liegen in beiden Fällen Fehlsimulationen von sin(ax) vor. Wir nehmen zur Kenntnis, dass die Fehlsimulation abhängig von der Fenstergröße ist. Abb. 12: Simulation von sin(x) und sin(ax) (mit a = ?) mittels Derive, nur die Fenstergröße wurde variiert. Führen wir das Experiment analog mit ParaPlot durch, so stellen wir verwundert fest, dass die Fehlsimulationen unabhängig von der Fenstergröße sind! Wie können wir das erklären? Welcher Funktionenplotter ist „besser“? Wie verhalten sich hier andere Funktionenplotter? Testen Sie Ihren eigenen! Wir untersuchen die Einstellmöglichkeiten von ParaPlot genauer und stellen fest: Hier kann man die Anzahl der Stützstellen frei wählen, d. h. in „klassischer Ausdrucksweise“: Man kann selbstständig entscheiden, wie viele Stützpunkte die Wertetabelle enthalten soll, die zum „Zeichnen“ des Graphen verwendet werden. Bei Derive hingegen suchen wir eine solche Option vergebens. Also können wir vermuten, dass Derive eine eingebaute Stützstellenautomatik besitzt, mit der die Stützstellenanzahl an die aktuelle Fensterbreite und möglicherweise auch an die aktuelle Bildschirmauflösung angepasst wird. Das gibt dann auch erste Hinweise zur Deutung des unterschiedlichen Simulationsverhaltens der beiden Programme. Allerdings wissen wir damit noch immer nicht, warum es überhaupt zu solchen Fehlsimulationen kommt und ob es dazu kommen muss! Die Lösung bzw. Erklärung liegt im Shannonschen Abtasttheorem, das u. a. in der Audiotechnik von großer Bedeutung ist. Das Programm ParaPlot erlaubt nun eine zugleich elementare und elegante Demonstration dieses Abtastvorgangs und damit auch ein Grundverständnis für das Aliasing. Sehr hilfreich ist dafür die vom Programmautor auf meinen Wunsch hin eingebaute Option, die Stützstellenanzahl für die einzelnen Funktionsterme unabhängig voneinander festlegen zu können. Abb. 13 zeigt die Abtastung von sin(x), sin(2x), ... , sin(9x) . Abb. 13: Aliasing-Graphen (dunkel) von sin(x), sin(2x), ... , sin(9x) (der Reihe nach von links oben nach rechts unten) bei einer Abtastrate von 8 Intervallen in linearer Interpolation 35 Horst Hischer Abgetastet wird jeweils mit 8 Intervallen. Die ersten drei Simulationen ähneln der „richtigen“ (hellen, im Hintergrund) noch recht gut, dieses in Übereinstimmung mit dem Abtasttheorem, das besagt: Die Abtastfrequenz muss mindestens doppelt so groß wie die abzutastende Frequenz sein. Hier ist die Abtastfrequenz, die auch „Samplingfrequenz“ heißt, stets 8 , und die drei ersten Abtastfrequenzen sind 1, 2 und 3 . (Übrigens würden in der Audiotechnik diese drei abzutastenden Kurven exakt rekonstruiert werden!) Sind die abzutastenden Frequenzen größer als 4 , ergeben sich erkennbar Fehlsimulationen. Die Sonderfälle 4 und 8 , bei denen sich nur die horizontale Achse als Simulation ergibt, möge man selber erforschen! ParaPlot erweist sich damit nicht nur als Werkzeug, sondern darüber hinaus als selbstreferentielles Werkzeug, das also zur Untersuchung seiner selbst geeignet ist und auf diese Weise in besonderem Maße medienkundlichen und — bei entsprechender reflektierender Vertiefung im Unterricht — auch medienerzieherischen Unterrichtszielen dienen kann. 6.4 Die Hauptsätze für Funktionenplotter Diese seien abschließend nur genannt und mögen zum Nachdenken anregen. 31 Erster Hauptsatz für Funktionenplotter: Jeder Funktionsplot ist stetig. Anders: Jede durch einen Funktionenplotter dargestellte Funktion zeigt in ihrer Simulation eine stetige Funktion. Der Satz ist trivial, weil bei einem Funktionsplot (aufgefasst als reelle Funktion) die Definitionsmenge endlich ist und diese also nur aus isolierten Stelle besteht. Das bedeutet insbesondere, dass man Unstetigkeiten mit einem Funktionenplotter eigentlich gar nicht darstellen bzw. simulieren kann. Darüber hat man bisher vielleicht noch nicht nachgedacht, aber nun ist es klar! Wenn es denn einen ersten Hauptsatz gibt, so doch wohl auch einen zweiten. Voilà: tersucht werden!) Gemeint ist etwas anderes: Wenn man z. B. x a sin(ax ) plotten will und dabei eine stochastisch erzeugte Belegung für a verwendet, dann wird sich in der „in der Regel“ ein falscher Plot ergeben. 7 Von der Keilschrift zum Computer: Funktionen und Medien 7.1 Übersicht In 6.2 gelangten wir zur Frage, was denn eigentlich eine Funktion sei. Das führt auf einen wichtigen Zusammenhang mit Medien, dieser sei zum Schluss skizziert. 32 Wann tauchte zum ersten Mal der Funktionsbegriff auf? Und in welchem Zusammenhang? Will man dieser Frage nachgehen, so ist zu untersuchen, wie uns heute der Funktionsbegriff begegnet — und das ist keinesfalls einheitlich, auch nicht in der Mathematik, denn „Funktionen haben viele Gesichter“. 33 Und so können wir heute folgende Vielfalt beobachten: • eindeutige Zuordnung, • Abhängigkeit einer Größe von einer anderen, insbesondere zeitabhängige Größe, • Tabelle, (empirische) Wertetabelle, • „Kurve“, Graph, Datendiagramm, Funktionsplot, • Formel. Zwar lassen sich alle diese Erscheinungen von Funktionen zusammenfassend und formal als „rechtseindeutige Relation“ beschreiben, jedoch geht dabei das jeweils Eigentümliche und Inhaltliche verloren. Durchforstet man daraufhin die historische, auch außermathematische, Literatur, so entdeckt man folgende Meilensteine bei der Entwicklung des Funktionsbegriffs: 19. Jh. v. Chr. Babylonier (Tabellierung von Funktionen, „Formeln“) 5. Jh. v. Chr. ff griech. Antike (Kurven in kinematischer Darstellung) 10.-14. Jh. n. Chr. Mittelalter Arezzo: Erfindung der Notenschrift gegen 1000 n. Chr. Oresme: graphische Darstellung zeitabhängiger Größen Zweiter Hauptsatz für Funktionenplotter: Der Funktionsplot einer trigonometrischen Funktion ist meist falsch. Das ist nicht statistisch bezüglich der Benutzer gemeint. Gemeint ist also nicht, dass man als Anwender meistens eine falsche Simulation erhält. (Das müsste empirisch un- 17. Jh. 31 Mehr dazu bei (Hischer 2002, 307 ff). 33 (Herget et. al. 2000) Newton (Fluxionen, Fluenten) Leibniz, Jakob I Bernoulli (zuerst das Wort „Funktion“) 32 Ausführlich in (Hischer 2002, 319 ff), ferner im Preprint: http://www.math.uni-sb.de/PREPRINTS/preprint54.pdf 36 Mathematikunterricht und Neue Medien — oder: Bildung ist das Paradies! 18. Jh. Johann I Bernoulli (erstmalige Definition von „Funktion“) Euler (Funktion als „analytischer Ausdruck“, d. h. als „Term“, ferner: Funktion als freihändig gezeichnete Kurve) Lambert (empirische Zusammenhänge) 19. Jh. Fourier, Dirichlet (Funktion als eindeutige Zuordnung) Peano, Peirce, Schröder (Funktion als Relation) Anfang 20. Jh. Hausdorff (Funktion als zweistellige rechtseindeutige Relation) 7.2 Babylonier: Plimpton 322 Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden im heutigen Irak, dem früheren Mesopotamien, etwa eine halbe Million babylonischer Keilschrifttafeln ausgegraben bzw. in Bibliotheken gefunden. Dieses kulturelle Erbe hat nahezu 4000 Jahre bis zu seiner Entdeckung überdauert. Unter diesen Tafeln befinden sich etwa vierhundert, die mathematische Probleme oder mathematische Tabellen enthalten. Besondere Berühmtheit hat für die Mathematik u. a. „Plimpton 322“ erlangt. Das ist die Tafel Nr. 322 in der Sammlung von G. A. Plimpton in der Universität von Columbia. Sie wurde in den 1920er Jahren gefunden und gelangte für wenige Dollar in den Besitz von Plimpton. Diese etwa handflächengroße Tontafel von ca. 2 cm Dicke zeigt eine Tabelle, bestehend aus 15 Zeilen und 4 Spalten (vgl. Abb. 14). Abb. 15: Aktuelle Transkription von Plimpton 322 kennen: Beachten wir, dass in diesem Kulturkreis von rechts nach links geschrieben wurde, so erkennen wir die erste Spalte ganz rechts einfach als Zeilennummerierung (wie bei einer Tabellenkalkulation), und wir haben somit 3 Spalten und 15 Zeilen, deren Inhalt zu interpretieren ist. Die oberste Zeile in den Abbildungen 14 und 15 enthält sogar Spaltenköpfe mit informierendem Text. 1;59,0,15 (1.9834) 1,59 1;56,56,58,14,50,6,15 (1.9492) 56,7 1;55,7,41,15,33,45 1;53,10,29,32,52,16 1;48,54,1,40 1;47,6,41,40 (1.9188) (1.8862) (1.8150) (1.7852) 1;43,11,56,28,26,40 (1.7200) 38,11 1;41,33,45,14,3,45 (1.6927) 1;38,33,36,36 (1.6427) 1;35,10,2,28,27,24,26,40 (1.5861) 1;33,45 (1.5625) (119) 2,49 (169) 1 (3367) 1,20,25 *(4825) 2 1,16,41 (4601) 3,31,49 (12709) 1,5 (65) 5,19 (319) 1,50,49 (6649) 5,9,1 (18541) 1,37 (97) 8,1 (481) (2291) 59,1 13,19 (799) 20,49 8,1 *(481) 12,49 1,22,41 (4961) 2,16,1 45,0 (45) 1,15,0 3 4 5 6 (3541) 7 (1249) (769) (8161) (75) 8 9 10 11 1;29,21,54,2,15 (1.4894) 27,59 (1679) 48,49 (2929) 12 1;27,0,3,45 1;25,48,51,35,6,40 1;23,13,46,40 (1.4500) 2,41 (1.4302) 29,31 (1.3872) 56 *(161) 4,49 (1771) 53,49 (56) 1,46 (289) 13 (3229) 14 *(106) 15 Abb. 16: Transliteration von Plimpton 322 — jeweils in Klammern sind auch die dezimalen Werte angegeben (Zahlenangaben mit * waren im Original falsch, sie sind hier korrigiert angegeben). Sie ist zwar links oben und rechts in der Mitte beschädigt, konnte jedoch inhaltlich rekonstruiert werden. 1945 wurde sie erstmals dechiffriert. 2002 publizierte Eleanor Robson mit Abb. 15 die neueste Transkription und mit Abb. 16 eine zugehörige Transliteration vom babylonischen Sexagesimalsystem in unsere dezimale Notation. 34 Es handelt sich hierbei um eine numerische Tabelle, wie wir sie heute von Tabellenkalkulationsprogrammen ken- Es sei an dieser Stelle nur Folgendes mitgeteilt: 35 In beiden mittleren Spalten stehen jeweils zwei Zahlen eines pythagoreischen Tripels, und zwar Hypotenuse und eine Kathete, die Zeilen sind nach abnehmendem Winkel geordnet, und ganz links steht das Quadrat des Sekans dieses Winkels. Es liegt hier also eine tabellierte Funktion vor! Aufgrund der im Februar 2002 publizierten Forschungsergebnisse von Robson ist nun Plimpton 322 nicht mehr — wie bisher — als Dokument zahlentheoretischer Forschung anzusehen, sondern diese Tafel diente Lehrenden zur Vorbereitung ihrer Übungsaufgaben. 34 (Robson 2002), Eleanor Robson ist Mathematikerin und 35 Mehr dazu in (Hischer 2002, 328 ff) und im Preprint: Abb. 14: Keilschrifttafel „Plimpton 322“ Orientalistin. Vgl. auch (Hischer 2002, 327 ff). http://www.math.uni-sb.de/PREPRINTS/preprint54.pdf 37 Horst Hischer Man kann also davon ausgehen, dass die Tafel entsprechend mehrfach für diesen Gebrauch kopiert wurde. Die Entstehungszeit dieser Tafel konnte Robson auf ca. 1800 v. Chr. bestimmen. Damit liegt nicht nur eine tabellierte Funktion vor, sondern ein nahezu viertausend Jahre altes Unterrichtsmittel: Mit der Keilschrifttafel als Medium wird eine Funktion dargestellt bzw. „simuliert“, aber die Funktion ihrerseits ist ein Medium zur Vermittlung eines kulturellen Zusammenhangs — ganz im Sinne der Begriffsdefinition von „Medium“ in Abschnitt 2.2. Es wird eine spannende Aufgabe im Mathematikunterricht sein, Plimpton 322 unter Hinzuziehung der Transliteration und einer noch zu erbringenden Keilschriftdeutung zumindest teilweise selbstständig zu transkribieren, die Sexagesimalzahlen dezimal umzuwandeln, alles mit einer Tabellenkalkulation zu erfassen und nachzudeuten: Dies liefert einen wichtigen Zusammenhang zwischen Neuen Medien und alten Medien und damit dann auch zum Begriffsverständnis. 36 7.3 Mittelalter: Zeitachsen Von Aristoteles wissen wir, dass er sich in seiner „Physica“ u. a. auch mit der Zeit befasste und diese mit einer nach rechts verlaufenden Linie verglich! Diese Vorstellung hat sich als maßgeblich bis in unsere Zeit erwiesen, und zwar in Verbindung mit der graphischen Darstellung zeitabhängiger Daten. Insbesondere ist offenbar die zeitachsenorientierte Darstellung die außerhalb der Mathematik am meisten genutzte Methode zur Visualisierung von Daten. Dies ist das Ergebnis einer viel beachteten Langzeitstudie von 1983: ca. 75 % der in den wichtigsten Zeitungen und Magazinen verwendeten Graphiken sind zeitachsenorientiert! 37 Die historische Forschung dokumentiert zeitachsenorientierte Darstellungen erstmals für das Mittelalter um die Jahrtausendwende: Vermutlich von 950 n. Chr., evtl. auch aus dem 11. Jhdt., stammt die in Abb. 17 wiedergegebene Zeichnung, die im 19. Jhdt. von Sigmund Günther als Teil eines Manuskripts entdeckt wurde, das der Bayerischen Nationalbibliothek in München gehört. Er publizierte seine Entdeckung 1877. 38 Abb. 17: Zodiac — Planetenbahnen im Tierkreis über einer horizontalen Zeitachse, ca. 950 n. Chr. Es handelt sich bei dieser zeitachsenorientierten Darstellung um eine Veranschaulichung der Inklination der Planetenbahnen von Venus, Merkur, Saturn, Mars und Jupiter und der Bahnen von Mond und Sonne, also des Zodiac, d. h., des Tierkreises. Und diese Zeichnung wurde für die Verwendung in Klosterschulen erstellt. So können wir festhalten: Diese graphische Darstellung ist ein Medium, und sie stellt eine zeitabhängige Funktion dar, diese Funktion wiederum stellt einen wichtigen kulturellen Zusammenhang über die Erkenntnis der Planetenbewegungen im Tierkreis dar, sie ist also ein Medium. Und dieses Medium wurde in einer Klosterschule erstellt bzw. benutzt, es ist also darüber hinaus ein Unterrichtsmittel. Etwa zur selben Zeit tauchte im europäischen Mittelalter eine andere zeitachsenorientierte Darstellung auf, nämlich die Notenschrift, Anfang des 11. Jahrhunderts von Guido von Arezzo erfunden. Die Zeitachse verläuft auch hier (und wie bei Aristoteles) von links nach rechts, und vertikal werden die Ton- und Notenwerte abgetragen. Wir können also nachträglich die Notenschrift im Sinne des entstehenden funktionalen Denkens verstehen. Und genau dieses geschieht ja heute bei der digitalen Darstellung der Notenschrift in einer sog. MIDI-Datei. 39 7.4 Neuzeit: empirische Funktionen Auf die bekannten Schritte zur Entwicklung des mathematischen Funktionsbegriffs durch Leibniz, Bernoulli, Euler, Fourier und Dirichlet gehe ich hier nicht ein. 40 Stattdessen skizziere ich einige in der Mathematik weniger bekannte Beispiele. 36 Vgl. als weiteres Beispiel (Hischer 2002), Kapitel 14: Darstellung und Untersuchung Platonischer Körper „haptisch-händisch“ mit Hilfe von „Klickies“ bzw. „virtuell“ mit Hilfe eines 3D-Programms. 37 Edward Tufte, dargestellt in (Hischer 2002, 335). 38 Dargestellt in (Hischer 2002, 336 ff). 38 39 Vgl. hierzu (Hischer 2002, 339 f, 370). 40 Mehr dazu in (Hischer 2002, 319 ff) und im Preprint: http://www.math.uni-sb.de/PREPRINTS/preprint54.pdf Mathematikunterricht und Neue Medien — oder: Bildung ist das Paradies! durch der Charakter periodischer Funktionen offenbart wird. Lambert knüpft damit an die 800 Jahre zurück liegende mittelalterliche Methode zeitachsenorientierter Darstellungen an, was vor ihm rund 100 Jahre vorher Huygens gemacht hatte (Abb. 18). Heutige Messergebnisse differieren trotz größerer Datenbasis nur wenig vom Lamberts Messungen! 1669: Christiaan Huygens stellt aufgrund empirischer Sterbetabellen seine Berechnungen zur Lebenserwartung dar (Abb. 18). 1686: Edmond Wir erkennen hieran, dass parallel zur EntHalley, bekannt wicklung des mathematischen Funktionsdurch den nach begriffs (aus den Bedürfnissen der Analysis ihm benannten Kometen, be- Abb. 18: Lebenserwartungskurve von heraus!) empirische Funktionen eine immer Huygens stärkere Bedeutung erlangten. richtete über BeDas machen die folgenden Beispiele um so obachtungen, die er mit einem Barometer in verschiedenen Höhen gemacht hatte. Dabei mehr deutlich: So werden ja Statistische Dainterpretierte er seine Messwertpaare aus ten zunächst in Tabellen erfasst und nicht Höhe und Luftdruck als Punkte, die auf einer nur mit numerischen Hyperbel liegen (Abb. 19). Hier erscheint alMethoden analysiert, so eine Hyperbel nicht mehr wie bisher im sondern auch grageometrischen Zusammenhang, sondern als phisch visualisiert, Funktionsgraph. Die Punkte auf einer Hyperwie wir das gerade bel anzunehmen, war zwar eine Fehldeubei der Bundestagstung; aber konnte er wissen, dass es eigentwahl wieder erlebt lich eine Exponentialfunktion ist? haben. Die wichtigsten hierfür noch heute verwendeten Visualisierungsformen wie z. B. Balkengraphik, Liniendiagramm und Kreisdiagramm bzw. Tortendiagramm gehen alle Abb. 21: Liniendiagramm von Playfaire auf den Engländer Abb. 19: Luftdruckkurve von Halley 1760: Johann Heinrich Lambert erfindet Ausgleichskurven zur Interpolation empirischer Daten. Er führte auch Langzeitmessungen der Veränderung der Erdbodentemperatur durch und stellt die Ergebnisse in einer zeitachsenorientierten Graphik dar (Abb. 20, 1779 posthum publiziert), wo- Abb. 22: Balkendiagramm von Playfaire Abb. 20: Langzeittemperaturmessung im Erdboden („Pyrometrie“) durch Lambert William Playfaire zurück, der hierfür seine „Lineare Arithmetik“ entwickelte. 1786 veröffentlichte Playfaire Darstellungen ökonomischer Daten mittels Balken- und Liniendiagrammen (Abb. 21 und 22). Es gibt viele weitere Beispiele für empirische Funktionen, von denen noch zwei erwähnt seien: 39 Horst Hischer 1796: John Southern und James Watt führen in England die erste automatische Aufzeichnung von Messwertdaten-Paaren durch, und zwar für die Aufzeichnung von Druck und Volumen bei Dampfmaschinen (sog. „Watt-Indikator“, bis 1822 geheim gehalten). Abb. 23 zeigt ein Foto dieses Watt-Indikators. Wir erkennen deutlich, dass dieses „funktionierende“ Gerät eine geschlossene Linie zeichnet: Hier wird also ein thermodynamischer „Kreisprozess“ erfasst! Das Studium und Verständnis dieser Kurve, die ja einen funktionalen Zusammenhang zwischen Druck und Volumen darstellt, ist zugleich ein Schlüssel zum Verständnis der „Funktion“ der Dampfmaschine! 1821: Jean Baptiste Joseph Fourier stellt die Häufigkeitsverteilung der Altersstruktur der Einwohner von Paris durch einen Funktionsgraphen dar (Abb. 24). Abb. 24: Häufigkeitsverteilung von Fourier Hier ist anzumerken, dass wir Fourier und seinem Schüler Dirichlet die entscheidenden Schritte zur Entwicklung des abstrakten Funktionsbegriffs in der Mathematik verdanken! So schreibt Fourier 1822 in seinem Hauptwerk „Theorie der Wärme“: 41 Allgemein repräsentiert die Funktion f (x) eine Folge von Werten oder Ordinaten, von denen jeder beliebig ist. Da die Abszissen x unendlich viele Werte annehmen dürfen, so gibt es auch unendlich viele Ordinaten f (x) . Alle haben bestimmte Zahlenwerte, die positiv, negativ oder Null sein können. Es wird keineswegs angenommen, dass diese Ordinaten einem gemeinsamen Gesetz unterworfen sind; sie folgen einander auf irgendeine Weise und jede Ordinate ist so gegeben, als wäre sie allein gegeben. Abb. 23: „Watt-Indikator“ von 1796 zur automatischen Aufzeichnung der Volumen-Druck-Kurve bei einer Dampfmaschine Dieser Watt-Indikator ist in beeindruckender Form eine Symbiose aus Medium und Funktion: Er vermittelt ein wichtigen Zusammenhang zur Funktionsweise der Dampfmaschine (und erlaubt vor allem ihre Untersuchung und Kontrolle!). Und aufgrund seiner Darstellungsweise ist er „Funktion“ im doppelten Sinn: bezüglich der „Funktionsweise“ und vor allem der mechanischen Realisierung einer mathematischen Funktion. 40 Fourier spricht zwar (noch) nicht — wie in der heutigen Mathematik — von der „Funktion f “, sondern er bezeichnet den Funktionsterm f (x) als Funktion, aber das war damals (seit den mathematisch-formalen Anfängen bei Bernoulli und Euler) üblich, und es machen wundersamer Weise u. a. viele (Anwender) auch heute (wieder bzw. noch?). Es ist zu vermuten, dass diese verallgemeinernde Sichtweise aus Fouriers eigener Beschäftigung mit empirischen Daten aus der Physik und der Soziologie entstanden ist. Denn solche Primärdaten sind ja — wenn überhaupt — nur angenähert durch termdefinierte Funktionen darstellbar. Damit erscheinen also bereits vor knapp 200 Jahren — mit Bezug auf die Definition von Fourier — die graphischen bzw. numerischen bzw. mechanischen Darstellungen empirischer Daten von Huygens, Halley, Lambert, Playfair, Watt, und Fourier als Funktionen — Darstellungen, die wir bereits als Medien zur Darstellung von Kultur und Wirklichkeit erkannt haben. 41 Siehe (Hischer 2002, 359). Mathematikunterricht und Neue Medien — oder: Bildung ist das Paradies! 7.5 Und heute? Dieser kulturhistorische Überblick deutet an, in welcher Vielfalt uns „Funktionen“ in den letzten 4000 Jahren der Menschheitsgeschichte begegnen. Dabei zeigen die Beispiele zugleich, dass mittels Funktionen immer wieder Wirklichkeit und Kultur dargestellt wurden, dass Funktionen in diesem weiten Sinne also in der Rolle eines Mediums auftreten, während sie in der Mathematik selbst, dieser „Wirklichkeit sui generis“, 42 vor allem zu einem eigenständigen Objekt geworden sind, das auch ohne diesen medialen „Anwendungsaspekt“ bedeutsam ist. Eine solche kulturhistorische Betrachtung von Funktionen und Medien hilft uns dann, den Begriff „Neue Medien“ besser zu verstehen. • Weitere Beispiele Mit Blick auf die bisherigen Ausführungen modifiziere ich die bekannte Aussage des Technomathematikers Helmut Neunzert über die Mathematik 43 wie folgt: Funktionen und Medien sind überall, nur wer weiß das schon! Dass Funktionen überall in der Mathematik sind, ist wohl klar. Aber außerhalb der Mathematik? Dazu zum Abschluss noch einige „moderne“ Beispiele, die auf Neuen Medien beruhen. xel-Punkt mit den Koordinaten (x, y) ein Zahlentripel f (x , y ) ∈ B 3 mit B = {0, 1, 2, ... , 255} (also 256 Helligkeitsstufen für jede der drei Farben R, G, B) zugeordnet, so dass damit jedem Bildpunkt 224 Farbwerte zugeordnet werden können (24-Bit-Darstellung). In Abb. 25 wird dies für 256 Graustufen mit f (x , y ) ∈ B exemplarisch am Buchstaben „ f “ dargestellt, der nebeneinander in drei Pixelgraphiken von normaler Größe, in vierfacher und in sechzehnfacher Vergrößerung zu sehen ist. Die einzelnen Pixel und ihre marginalen Graustufen (aufgrund einer Anti-Aliasing-Darstellung) sind erkennbar. o WAV: Audio-Datei als „Sample-Tabelle“ Eine WAV-Datei kann als zeitachsenorientierte Funktion aufgefasst werden, die wir als Funktionsgraph sichtbar machen können (bzw. durch nachgeschaltete Verkettung mit „Audio-Funktionen“) auch hören können. Bei ihr werden über den Abtastzeitpunkten der Zeitachse als Funktionswerte die abgetasteten Samples dargestellt. Bei der konkreten Bildschirmdarstellung werden jedoch nicht Abtastzeitpunkte, sondern äquidistante, lückenlos aufeinander folgende Abtastintervalle benutzt, und über diesen werden die Samples als Funktionswerte aufgetragen, so dass eine Treppenfunktion vorliegt (Abb. 26, 27). o Pixelgraphik Wenn eine Bitmap-Datei auf einem Bildschirm dargestellt wird, so liegt eine Funktion vor, die jedem Pixel (also jedem Punkt z. B. der Bildschirm-Matrix) einen Farbcode zuordnet. Abb. 26: WAV-Datei eines Musikstücks mit beiden Stereokanälen Durch Zoomen kann Abb. 25: Graustufen-Pixel in 4- und 16-facher Vergrößerung man dieses auch direkt erleben: Wenn man nämlich so weit vergrößert, dass man die ursprünglichen Pixel als monochromes Quadrat sieht. Im RGB-Modus wird dabei jedem Bildschirmpi42 Nach Wittenberg, siehe auch (Hischer 2002, 125, 132) 43 „Mathematik ist überall, nur weiß das schon!“. Zitiert in (Hischer 2002, 107). Abb. 27: horizontal und vertikal gezoomter Ausschnitt aus Abb. 26, bei dem man die Abtastintervalle mit den darüber aufgetragenen Samples erkennt. Es liegt also eine Treppenfunktion vor. Die beiden Stereosignale sind nicht identisch. 41 Horst Hischer Dieses kann man sich mit der Software veranschaulichen, die heute bei nahezu jeder Soundkarte eines PC mitgeliefert wird. Auch hier kann man durch horizontales Zoomen (in der Zeitachse) bis in die Details hineingehen. Noch besser geht es mit einem professionellen Programm, bei dem man auch vertikal zoomen kann (vgl. Abb. 26 und 27). 44 o MIDI: Audio-Datei als „Steuerdatei“ Eine MIDI-Datei kann ebenfalls als zeitachsenorientierte Funktion aufgefasst werden, die wir sogar als Partitur sichtbar machen und durch Verkettung auch hören können. Durch Verkettung können wir dabei jeder einzelnen Stimme ein beliebiges „synthetisches Instrument“ zuordnen. Dieses sollte man mit der eigenen Soundkarte und passender Software ausprobieren. 45 Diese exemplarisch gedachte Liste ungewohnter Beispiele für Funktionen außerhalb der Mathematik möge dazu anregen, auf weitere Funktionensuche zu gehen. Das können dann z. B. Tabellen, Formeln, ... , Balkendiagramme, ... , Algorithmen etc. sein, wobei solche Funktionen dann häufig (immer?) auch Medien sind und andererseits mit Hilfe (auch Neuer!) Medien simulierbar sind. Literatur Brieskorn, Egbert & Knörrer, Horst (1981): Ebene algebraische Kurven. Basel, Boston & Stuttgart: Birkhäuser Dürr, Hans-Peter & Zimmerli, Walter Ch. (Hrsg.) (1989): Geist und Natur — Über den Widerspruch zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und philosophischer Welterfahrung. Bern, München & Wien: Scherz Ermert, Karl (Hrsg.) (1983): Neue Technologien und Schule — Dokumentation einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum und des Niedersächsischen Kultusministeriums vom 14. bis 16. Oktober 1983. Loccumer Protokolle 23/1983 Fischer, Roland & Malle, Günter (1985): Mensch und Mathematik. Mannheim: Bibliographisches Institut Guggenberger, Bernd (1987): Das Menschenrecht auf Irrtum — Anleitung zur Unvollkommenheit. München & Wien: Hanser Hentig, Hartmut von (1984): Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit — Ein Pädagoge ermutigt zum Nachdenken über die Neuen Medien. München & Wien: Hanser Hentig, Hartmut von (2002): Der technischen Zivilisation gewachsen bleiben. — Nachdenken über die Neuen Medien und das gar nicht mehr allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit. Weinheim & Basel: Beltz, München & Wien: Hanser 44 Hier SEKD Samplitude 2496. 45 Empfehlenswert ist die kostenlose Demoversion des Kompositionsprogramms SIBELIUS, herunterladbar unter: http://sibelius.com. 42 Herget, Wilfried, Malitte, Elvira & Richter, Karin (2000): Funktionen haben viele Gesichter — auch im Unterricht! In: Flade, Lothar & Herget, Wilfried (Hrsg.) (2000): Mathematik lehren und lernen nach TIMSS — Anregungen für die Sekundarschulen. Berlin: Volk und Wissen, 115– 124 Hischer, Horst (2002): Mathematikunterricht und Neue Medien — Hintergründe und Begründungen aus fachdidaktischer und fachübergreifender Sicht. Mit Beiträgen von Anselm Lambert, Thomas Sandmann und Walther Ch. Zimmerli. Hildesheim: Franzbecker Hischer, Horst (2003 a): Mathematikunterricht und Integrative Medienpädagogik — zum Beispiel: Funktionen und Aliasing. Erscheint in: Beiträge zum Mathematikunterricht 2003. Hildesheim: Franzbecker Hischer, Horst (2003 b): Moritz Cantor und die krumme Linie des Archytas von Tarent, http://www.math.uni-sb.de/PREPRINTS/preprint86.pdf Issing, Ludwig J. (Hrsg.) (1987): Medienpädagogik im Informationszeitalter. Weinheim: Deutscher Studienverlag Jonas, Hans (1984): Das Prinzip Verantwortung — Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt Kotzmann, Ernst (1989): Alte Theorie — Neue Praxis. Informationstechnologische Auswirkungen auf die Mathematik. In: Maaß, Jürgen & Schlöglmann, Wolfgang (Hrsg.) (1989): Mathematik als Technologie? Wechselwirkungen zwischen Mathematik, Neuen Technologien, Aus- und Weiterbildung. Weinheim: Deutscher Studienverlag, 189–196 Kron, Friedrich W. (2000): Grundwissen Didaktik. München & Basel: UTB (1. Auflage 1993) Penrose, Roger (1991): Computerdenken — Die Debatte um Künstliche Intelligenz, Bewußtsein und die Gesetze der Physik. Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft Robson, Eleanor (2002): Words and pictures: new light on Plimpton 322. In: American Mathematical Monthly 109, 105–120 Sandmann, Thomas (2002): Aliasing bei digitalen Audiosignalen. In: Hischer 2002, 310–318 Stoll, Clifford (2001): LogOut — Warum Computer nichts im Klassenzimmer zu suchen haben und andere High-Tech-Ketzereien. Frankfurt: Fischer Tulodziecki, Gerhard (1989): Medienerziehung in Schule und Unterricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt Weizsäcker, Carl Friedrich von (1989): Geist und Natur. In: Dürr & Zimmerli 1989, 17–27 Weizsäcker, Carl Friedrich von (1992): Zeit und Wissen. München & Wien: Hanser Winkelmann, Bernard (1992): Zur Rolle des Rechnens in anwendungsorientierter Mathematik ... In: Hischer, Horst (Hrsg.) (1992): Mathematikunterricht im Umbruch? ... Hildesheim: Franzbecker, 32–42 Zimmerli, Walther Ch. (1989): Der Mensch als Schöpfer seiner selbst — Realität und Utopie der Neuen Technologien. In: Kwiran, M. & Wiater, W. (Hrsg.) (1989): Schule im Bannkreis der Computertechnologie. Braunschweig & Augsburg: Brockhaus Verlag, 81–96 Zimmerli, Walther Ch. (2002): Bildung ist das Paradies. In: Hischer 2002, 19–22 (erstmals publiziert in DIE WOCHE, 14.7.2000) z Funktionen dynamisch entdecken Hans-Jürgen Elschenbroich, Neuss Aber der Formalismus darf nicht überwuchern; die Hauptsache ist eine klare Erfassung der Grundbegriffe und ihrer anschauungsmäßigen Bedeutung. Felix Klein: Über eine zeitgemäße Umgestaltung des mathematischen Unterrichts an den höheren Schulen (1904) Funktionen sind ein wichtiges Themengebiet der Sekundarstufe I, die Betonung des funktionalen Zusammenhangs ist seit den Meraner Reformvorschlägen ein Thema der Schulmathematik. Mit DGS ist jetzt ein dynamischer, genetischer Zugang zu Funktionen möglich. Die Schüler können die unabhängige Variable x variieren und untersuchen, wie verändert sich y und P(x/y). Es ist stets ein x und das zugehörige y sichtbar, der Graph entsteht dann als Ortslinie von P(x/y). Bei Funktionenscharen können die Parameter variiert werden, es ist stets ein Graph sichtbar, der zu den jeweiligen Parametern gehört und es wird untersucht, welche Auswirkungen deren Variation auf den Graphen hat. 1 Funktionaler Zusammenhang Funktionales Denken ist laut Vollrath (1989) „typisch für den Umgang mit Funktionen“. Der Umgang mit Funktionen wiederum ist typisch für die Mathematik und im Laufe des 20. Jahrhunderts auch für den MathematikUnterricht geworden. Die Reformvorschläge von Meran, siehe Gutzmer (1908), haben erstmals neben der Stärkung des räumlichen Anschauungsvermögens die „Erziehung zur Gewohnheit des funktionalen Denkens“ als besondere Aufgabe hervorgehoben. Es wurde gefordert, dass darauf der „Hauptteil der Arbeit“ im Mathematik-Unterricht verwandt werden sollte, nicht nur in der damals so genannten Arithmetik, denn „diese Gewohnheit des funktionalen Denkens soll auch in der Geometrie durch fortwährende Betrachtung der Änderungen gepflegt werden, die die ganze Sachlage durch Größen- und Lageänderung im einzelnen erleidet“1. - Marzani (1956) hat aus der Erkenntnis, dass starre Demonstrationsmodelle dem dynamischen Denken wenig entgegen kommen und diese daher durch bewegliche Modelle ergänzt werden müssen, „die nicht nur zeigen, wie etwas ist, sondern erleben lassen, wie etwas wird“, einen mechanischen ‚Funktionenschieber’ ersonnen: Bei Funktionen ist dafür der Begriff ‚funktionaler Zusammenhang’ üblich geworden. Die unterrichtliche Umsetzung aber krankte lange daran, dass geeignete Lernumgebungen fehlten. In den 50er bis 70er Jahren gab es dann verschiedene Ansätze: 1 Hervorhebungen durch den Autor dieses Artikels. Abb. 1: Funktionenschieber von Marzani 43 Hans-Jürgen Elschenbroich - - Strunz (1956) und andere sahen den Unterrichtsfilm als geeignetes Werkzeug. War jahrtausendelang ein starres Bild für die Veranschaulichung einer stetigen Überlegung schlecht geeignet, so hat sich dies gewandelt. Im Film können nach Fletcher (1971) „die geometrischen Schaubilder sich ändern und eine kontinuierliche Geschichte erzählen“. Peters (1987) entwickelte in seinem Diaporama-Programm audiovisuelle Diashows, in denen für die Entwicklung typische Schnappschüsse aufeinander folgten. Dies alles war aufwändig herzustellen und schwierig einzusetzen und kaum daher in der Unterrichtspraxis praktisch nicht vor. Vielmehr mutierte die Behandlung des funktionalen Denkens von der dynamischen Untersuchung funktionaler Abhängigkeiten zu einer eher statischen Einführung in den Funktionsbegriff. Dies war schon bei Lietzmann (1922) angelegt, der den Funktionsbegriff „als Bindemittel im ganzen Lehrstoff“ sah. Ein intuitives Verständnis von Variablen als unabhängige bzw. abhängige Veränderliche wurde in der Folge der Exaktheitswelle als „eine naiv-anschauliche Redeweise“, als „eine dem vorwissenschaftlichen Bereich entstammende Redeweise“ angesehen. Pickert (1958/59) betonte: „f(x) ändert sich genauso wenig wie x, wenn auch x als Veränderliche bezeichnet wird; man setzt vielmehr für x Werte aus dem Definitionsbereich ein und erhält so aus f(x) stets wieder Zahlenwerte“. In dem Bemühen „an eine wissenschaftlich befriedigende Auffassung über Variable heranzuführen“ sollten Redeweisen wie „x3 wächst, wenn x wächst“ ersetzt werden durch (korrekte) Formulierungen wie „wenn x1<x2, so x13<x23“. So wurden bei den Lernenden durch das Streben nach fachlicher Korrektheit Hürden für die Entwicklung von Grundverständnis errichtet. 2 Schülerfehler und Variablen-Verständnis Die im Algebra-Unterricht übliche Betonung der Funktionsgleichung führte nicht nur zu einer statischen Sicht von Funktionen, sie förderte bei Schülern oft ungewollt ein falsches Verständnis von Variablen. Wenn Schüler Gleichungen wie y = 2x–3, y = -3x+1, y = x2–2x+3 betrachten, kann der fatale Eindruck entstehen: 44 „x und y ist das, was sich in der Gleichung nie ändert.“ Die in der Zuordnungsschreibweise benutze Symbolik x a y ist keineswegs intuitiv, sondern durchaus missverständlich. So wies Hischer (2002) darauf hin, dass sie häufig (und nicht nur von Schülern!) zunächst gelesen wird als „x wird zugeordnet y.“ was sprachlich mehrdeutig ist und dann statt „dem x wird das y zugeordnet“ oft fälschlich als „das x wird dem y zugeordnet“ interpretiert wird, „weil der Pfeil von x nach y geht“! Wird eine Gerade als Funktionsgraph einer Linearen Funktion gezeichnet, so erkennt der Schüler daran oft den Veränderlichenaspekt und die Zuordnung x a y nicht: „Die Gerade ändert sich doch nicht, wenn x geändert wird?!“ All diese Schülerprobleme2 geben Anlass, über Variablen-Konzepte und Variablen-Verständnis nachzudenken. Malle (1993) hat in seinen Untersuchungen verschiedene Aspekte von Variablen identifiziert, die im Zusammenhang mit Funktionen folgendermaßen gedeutet werden können: - Beim Bereichsaspekt repräsentiert eine Variable eine beliebige Zahl aus einem bestimmten Bereich. Dieser Aspekt lässt sich in den Simultanaspekt und den Veränderlichenaspekt weiter untergliedern. Beide Aspekte bezieht Malle zunächst nur auf eine Variable. - Beim Simultanaspekt durchläuft dabei die Variable alle Zahlen des Bereichs (in der Praxis oft nur einen typischen Ausschnitt), welche gleichzeitig, simultan überblickt werden. Bei Funktionen ist dieser vorrangig der Definitionsbereich; der Simultanaspekt ist dann bei der Wertetabelle und beim Funktionsgraphen vorhanden. - Beim Veränderlichenaspekt geht es darum, dass die Zahlen aus einem Bereich in einer zeitlichen Abfolge durchlaufen werden. Der Veränderlichenaspekt kommt fast ausschließlich im Zusammenhang mit funktionalen Betrachtungen vor, denn „es hat im allgemeinen ja keinen Sinn, eine Variable für sich alleine wachsen oder fallen zu lassen, wenn nicht die Abhängigkeit von mindestens einer weiteren Variablen mitstudiert wird“. 2 Beim Lösen von Gleichungen kommt noch ein weiteres Schülerproblem hinzu: „Das x ist doch gar nicht variabel, da kommt doch eine Zahl raus!“ Darauf soll hier nicht eingegangen werden. Funktionen dynamisch entdecken - Beim Einzelzahlaspekt hat die Variable jeweils einen bestimmten, aber veränderbaren Wert. Dies betrifft bei Funktionen die Parameter (Formvariable), die sich dann in typischer Weise auf den Verlauf des gesamten Graphen auswirken. Diese Variablenaspekte werden im Folgenden darauf untersucht, wie und inwieweit sie in gängigen Mathematikprogrammen bei der Behandlung von Funktionen umgesetzt werden. 3 Funktionenplotter und CAS Numerisch rechnende Funktionenplotter oder symbolisch rechnende Computer-AlgebraSysteme bieten heutzutage komfortable Möglichkeiten, Funktionsgraphen zu zeichnen. Es wird die Funktionsgleichung/ der Funktionsterm eingegeben und dann auf Knopfdruck in Sekundenbruchteilen ‚auf einen Schlag’ der komplette Graph (im Rahmen der Bildschirmskalierung) gezeichnet. Aus didaktischer Sicht ist dies aber nicht immer wünschenswert. Der Simultanaspekt wird so zwar realisiert, aber der Veränderlichenaspekt kommt nicht zum Ausdruck. 1 x+3 beispielsweise 2 (s. Abb. 2) kann der Schüler nicht gut den funktionalen Zusammenhang verstehen und erkennen, denn die Gerade, der Graph als Menge aller Punkte P(x/y) bleibt ja unverändert, statisch. Wünschenswert wäre es vielmehr, zunächst einmal nur zu einem x das zugehörige y zu betrachten und die Auswirkungen der Änderung der unabhängigen Veränderlichen x auf die abhängige Veränderliche y sowie auf P(x/y) zu untersuchen und hierbei die Dynamik zu erleben. Am Graphen von y = - 4 Funktionen plotten mit der Tabellenkalkulation Mit einer Tabellenkalkulation wie Excel kann man zu einer Funktion eine Wertetabelle auf einem bestimmten Bereich mit einer gewünschten Schrittweite erstellen und erhält den zugehörigen Funktionsgraphen dann durch ein geeignetes Diagramm. Der Funktionsterm muss dabei nur einmal eingegeben werden und kann einfach durch Kopierbefehle in die darunter liegenden Zellen übertragen werden. Der Simultanaspekt ist automatisch in den Spalten der Wertetabelle umgesetzt, auch der Zuordnungsaspekt ist in den einzelnen Abb. 2: Funktionen plotten mit CAS (Derive) 45 Hans-Jürgen Elschenbroich Abb. 3: Funktionen plotten mit einer Tabellenkalkulation (Excel) Zeilen der Tabelle (etwas versteckt) zu finden und der Veränderlichenaspekt in der Abfolge der Zeilen. Wie bei den Funktionenplottern wird der gesamte Graph auf einen Schlag (als Diagramm) gezeichnet. Der Einzelzahlaspekt ist bei der Tabellenkalkulation gut umgesetzt, die jeweiligen Parameter-Werte können per Tastatur in entsprechenden Zellen geändert werden (s. Elschenbroich 1996, 1999). Die Änderungen schlagen sich sofort in der Wertetabelle und im Diagramm nieder. Solche Änderungen der Parameter lassen sich in neueren Versionen von Tabellenkalkulationen auch kontinuierlich mit Schiebereglern umsetzen: s. Abb. 3. Ein gewisses Verständnisproblem beim Einsatz einer Tabellenkalkulation besteht darin, dass sie mit zwei Ebenen arbeitet. Eine arithmetische Ebene (Wertetabelle) ist sichtbar, die zu Grunde liegende algebraische Ebene (Term) ist versteckt. Es wird üblicherweise mit Zelladressen statt Variablennamen gerechnet, und es sind unterschiedliche Arten der Adressierung erforderlich (relativ für die unabhängige Variable x, absolut für die Parameter). 46 5 Funktionen plotten mit DGS Dynamische Geometrie-Software wie EuklidDynaGeo oder Cabri II ermöglicht es (mittlerweile), mit Funktionen zu arbeiten, im Zugmodus x zu verändern und die Auswirkung auf y und P(x/y) zu verfolgen. Statt bei den Variablen von bestimmten Werten zu abstrahieren, werden so nun (praktisch) alle Werte überblickt, aber jeweils nur einer betrachtet. Die Schüler erkennen zunächst, dass und wie sich bei Verändern von x der Punkt P(x/y) auf einer gedachten Linie bewegt (s. Abb. 4). DGS ermöglicht so eine ‚Entschleunigung’. Erst anschließend entsteht diese Linie aus der Bewegung von P als Ortslinie/ Spur und der Funktionsgraph somit als neues, komplexeres Objekt: s. Abb. 5. Dieser für das Verständnis wichtige Zwischenschritt wurde bislang in der Regel sowohl ohne als auch mit Computereinsatz übersprungen. Die fehlenden technischen Möglichkeiten behinderten an dieser Stelle das genetische Lernen, was zu vielen Verständnisproblemen im Umgang mit Variablen und Funktionen geführt hat. Funktionen dynamisch entdecken Abb. 4a–d: Funktionaler Zusammenhang mit DGS (Euklid-DynaGeo) Abb. 5a, b: Funktionsgraph-Entstehung mit DGS (Euklid-DynaGeo) Mit DGS wird nun beim Plotten von Funktionen sowohl der Simultanaspekt als auch der Veränderlichenaspekt berücksichtigt. 6 Funktionenscharen Nach der Untersuchung einzelner Funktionen, z. B. einzelner Linearer Funktionen in den Klassen 7–8 oder einzelner Quadratischer Funktionen in der Klasse 9 steht die allgemeine Untersuchung von Funktionen dieses Typs, also y = mx+n oder y = x2+px+q an. Die Koeffizienten werden selbst zu Variablen, zu Parametern. Somit werden dann Funktionenscharen betrachtet. Auch hier sind Funktionenplotter3 und CAS oft für den Aufbau von Verständnis nicht op3 Das DOS-Programm Paraplot von M. Weiß ermöglichte schon Anfang der 90er Jahre das Zeichnen von Funktionsgraphen bei kontinuierlicher Parametervariation. Es hatte aber keine große Verbreitung gefunden, vermutlich weil der dynamische Ansatz nicht recht zu der damaligen Sicht von Mathematik passte. In jüngster Zeit gibt es eine zunehmende Zahl von solchen Programmen oder in Web-Seiten eingebundenen Applets, die Derartiges in moderner Umgebung leisten. timal, weil zu mächtig. Sollen beispielsweise Graphen von y = x2+px betrachtet werden, so muss in dem verbreiteten CAS Derive zunächst der Vector-Befehl eingesetzt werden und dann werden sämtliche Graphen der Schar wieder ‚auf einen Schlag’ gezeichnet. Dabei kommt der Einzelzahlaspekt nicht zum Tragen, sondern wird eher verdunkelt. Der dynamische Zusammenhang ‚wie ändert sich der Graph, wenn p geändert wird’ ist zwar vorhanden und vom Kundigen herauszulesen, aber für den Lernenden recht schwer zu entdecken. Denn der Schüler sieht sofort viele Graphen gleichzeitig und nicht den Zusammenhang zwischen einem Wert des Parameters p und dem zugehörigen Graphen: s. Abb. 6. Mit DGS kann dagegen die kontinuierliche Veränderung des Parameters durch Schieberegler realisiert werden (je nach DGS als Zahlobjekt definiert oder mittels einer Strecke konstruiert), der jeweilige Funktionsgraph ist dann als Ortslinie vorhanden. Änderungen des Parameters wirken sich unmittelbar auf den Graphen aus, die Schüler können interaktiv untersuchen, wie der Graph reagiert, wenn ein Parameter variiert wird. 47 Hans-Jürgen Elschenbroich Abb. 6: Funktionenschar mit CAS (Derive) Abb. 7a–d: Funktionen’schar’ mit DGS (Euklid-DynaGeo) Der Parameter (in der Sprechweise der Algebra: die Formvariable) wird somit als eine ‚Supervariable’ erfahren, die den gesamten Graphen beeinflusst, als eine Variable, die den Graphen formt (Abb. 7). y = x2+px+q bei Variation von p?’. Mit DGS lässt sich diese Kurve einfach im Zugmodus als Ortslinie des Scheitelpunktes erzeugen4: Eine Erweiterung auf typische Ortslinienprobleme bietet sich jetzt an, z. B. ‚wie verhält sich der Scheitelpunkt des Graphen von 4 Die Parametervariation durch Schieberegler kann auch 48 gut mit einer Tabellenkalkulation wie Excel realisiert werden, aber nicht mehr die anschließende OrtslinienUntersuchung des Scheitelpunktes! Funktionen dynamisch entdecken Plots von Funktionen mit zwei Variablen, so wie er in CAS Standard ist. Eine Funktion fp(x) mit einem Scharparameter p kann auch als Funktion mit zwei Variablen f(x; p) gesehen werden, der Graph ist dann eine Fläche im Raum. So wie der Graph einer Funktion y = f(x) als Linie aus der Spur der Bewegung des Punktes P(x/y) bei Variation von x entsteht, so entsteht der Graph von y = f(x; p) als Fläche aus der Spur des Graphen von y = fp(x) bei Variation von p. Die Parabelschar aus Abb. 6 wird dann wie in Abb. 9 dargestellt. Querschnitte parallel zur xAchse, senkrecht zur p-Achse durch die Fläche liefern die jeweiligen Graphen von fp(x). 2 Abb. 8: Ortslinie des Scheitelpunkts von y = x +px+q mit DGS (Euklid-DynaGeo) Ein derartiges Ortslinienproblem lässt sich interaktiv in der Klasse 9 behandeln, siehe Elschenbroich & Seebach (2002), dies muss nicht bis zum Ende der Differenzialrechnung warten. Die dynamische Visualisierung von Funktionenscharen, in denen der Zusammenhang von jeweiligem Parameterwert und zugehörigem Funktionsgraphen sichtbar wird, ist auch die Grundlage für ein Verstehen des 3D- 7 Zusammenhänge entdecken Systematische Veränderungen von Parametern ermöglichen es, Eigenschaften von Funktionen zu entdecken und/ oder in neuer, dynamischer Sicht zu sehen. Dies soll am Beispiel der bekannten p-q-Formel zur Lösung quadratischer Gleichungen aufgezeigt werden. Die p-q-Formel ist noch eiserner Be- 2 Abb. 9a–d: Verschiedene Ansichten des 3D-Plots von f(x; p) = x +px mit CAS (Derive) 49 Hans-Jürgen Elschenbroich Abb. 10a–d: Nullstellenformel und Scheitelpunkt mit DGS (Cabri II) standteil des Algebra-Schulwissens. Sie gehört aber zu den Themen, über die im Zeitalter der CAS-Taschenrechner im Gefolge des Beitrags von Herget u.a. (2000) diskutiert wird, ob man sie in absehbarer Zeit noch unterrichten wird. Als auswendig gelernte Formel ist ihr künftiger Sinn sicher strittig. Aber die Schüler können Zusammenhänge zwischen Nullstellen und Scheitelpunkt der Parabel entdecken, die zu einem tieferen Verständnis von Parabeln und einer anderen Formulierung der sogenannten p-q-Formel führen, siehe Elschenbroich (2002). Dies behält auch im CAS-Zeitalter seinen Bildungswert! (Abb. 10) Im Zugmodus entdecken die Schüler zunächst qualitativ, dass die Parabel keine Nullstelle hat, wenn der Scheitelpunkt S(xS/yS) oberhalb der x-Achse liegt, genau eine Nullstelle hat, wenn S auf der x-Achse liegt, und zwei Nullstellen, wenn S unterhalb der x-Achse liegt, siehe Abb. 10a–d. Dann finden sie heraus, dass die Nullstellen stets symmetrisch zur Parallelen zur y-Achse 50 durch xS liegen und umso weiter auseinander, je weiter sich S unterhalb der x-Achse befindet. Wird S weiter ‚nach unten’ gezogen, so wandern die Nullstellen ‚auseinander’, aber offensichtlich nicht im gleichen Maße wie ‚nach unten’. Variiert man nun S nur auf der y-Achse, so erkennt man, dass die Nullstellen um die Wurzel aus dem Abstand von S zur x-Achse vom Ursprung/ von der yAchse entfernt sind. Dies führt zur Nullstellenformel x1,2 = xS± − y S , die den Zusammenhang zwischen der Lage von S und den Nullstellen jetzt auch quantitativ wiedergibt. 8 Ko-Variation und Umkehrfunktion Malle (2000) betont bei Funktionen neben dem mehr statischen Aspekt der Zuordnung „jedem x wird genau ein y = f(x) zugeordnet“ den dynamischen Aspekt des funktionalen Funktionen dynamisch entdecken Abb. 11a, b: Ko-Variationen mit DGS (Cabri II) Abb. 12a–d: Umkehrung von y = cos(x) mit DGS (Cabri II) Zusammenhangs im Sinne Felix Kleins, auch Kovariation genannt. Hierbei geht es darum „die Variation von y zu erfassen, wenn x eine bestimmte Skala von Werten durchläuft“, wie schon Strunz (1956) formulierte. Malle (2000) hat aber noch eine Ergänzung gemacht, die den Aspekt der Ko-Variation betont: „Wird x verändert, so ändert sich f(x) in einer bestimmten Weise und umgekehrt5.“ Diese Umkehrung ist bislang weder mit Tafel und Kreide noch mit gängigen Funktionenplottern adäquat handhabbar gewesen und fand da5 Hervorhebungen durch den Autor dieses Artikels. her im Unterricht praktisch nicht statt. DGS bietet hier (ansatzweise) ein Werkzeug. Es kann nicht nur x variiert werden (s. Abb. 4), sondern auch P(x/y) (s. Abb. 11a) oder y (s. Abb. 11b), um dann die Auswirkungen zu studieren. Die Effekte des Ziehens an P bzw. y können in der Druckversion leider nur angedeutet werden. DGS eignet sich damit auch hervorragend zur Einführung in das Thema „Umkehrfunktionen“. Der Punkt P(x/y) kann an der Hauptwinkelhalbierenden zu P′ gespiegelt werden (s. Abb. 12b) und P′ kann man dann durch Ziehen an x eine Ortslinie zeichnen lassen 51 Hans-Jürgen Elschenbroich Abb. 13: Dynagraph (s. Abb. 12c). Nun kann die Eindeutigkeit der Umkehrrelation im Zugmodus untersucht werden, indem man einen für die Umkehrfunktion infrage kommenden Teil der Kurven im Spurmodus hervorhebt, siehe Elschenbroich/ Seebach (2003) und Abb. 12d. 9 „Los von Descartes!“: Dynagraph Die Darstellung von Funktionen im cartesischen Koordinatensystem ist so sehr zum Standard geworden, dass sie vielfach schon als die einzig mögliche erscheint. Dabei ist sie nicht immer optimal geeignet, um Eigenschaften von Funktionen zu visualisieren. Goldenberg (1992) wählte für seine Dynagraph genannte Darstellung statt der orthogonalen Achsen zwei parallele Achsen, vorzugsweise ohne Skalierung, nur mit einer Markierung des Ursprungs. Dies wurde damals in LOGO programmiert, lässt sich aber heute ideal mit DGS realisieren: s. Abb. 13. Dynagraph ist eine dynamische Umsetzung der bislang wenig genutzten LeiterdiagrammDarstellung von Zuordnungen. Dabei entsteht im Zugmodus schnell und besonders eindrucksvoll ein Gefühl für Montonie, Linearität, Extrema, Polstellen und Periodizität, für qualitative Eigenschaften6. Werden die Schüler angehalten, das beobachtete Verhalten zu beschreiben, so ergibt sich auch eine neue Chance zur Versprachlichung von Mathematik. 10 Fazit DGS-Plotter eignen sich bestens zum Aufbau des Verständnisses von Variablen und Funktionen. Sie ermöglichen eine umfassende Realisierung der verschiedenen Variablenaspekte und bieten durch die dynamische Visualisierung mittels Zugmodus und Ortslinien eine neue Qualität im Erleben und Verstehen von Funktionen. Sie sollen und können CAS 6 Das kann in der Druckversion nicht erlebt werden, hier empfiehlt sich die DGS-Version: http://elschenbroich.bei.t-online.de/dynagraph/dynagraph.htm 52 nicht aus dem Unterricht verdrängen, aber in der wichtigen Begriffsbildungsphase ergänzen. Literatur Elschenbroich, H.-J. (1996): Tabellenkalkulation als dynamisches Rechenmittel. Lehrerfortbildung NRW. Fachübergreifende Arbeit im mathematisch-naturwissenschaftlichen Schwerpunkt des Wahlpflichtbereichs der Jahrgangsstufen 9/10 am Gymnasium. Soest: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung Elschenbroich, H.-J. (1999): Dynamik als durchgehendes Unterrichtsprinzip. Eine neue Lernumgebung für den Mathematikunterricht in der Sekundarstufe I. Expertise zum rheinland-pfälzischen Vorhaben ‚Selbstgesteuertes Lernen in Mathematik und Erdkunde in der Sekundarstufe I’ im Rahmen des BLK-Programms SEMIK. Mainz: Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Weiterbildung Elschenbroich, H.-J. (2002): Visuell-dynamisches Beweisen. In: mathematik lehren 110, 56–59 Elschenbroich, H.-J. & Seebach, G. (2002): Dynamisch Geometrie entdecken. Elektronische Arbeitsblätter Klasse 9. Rosenheim: CoTec Elschenbroich, H.-J. & Seebach, G. (2003): Dynamisch Geometrie entdecken. Elektronische Arbeitsblätter Klasse 10. Rosenheim: CoTec Fletcher, T. S. 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In: Journal für Mathematik-Didaktik 12, 347–366 53 DGS als Trägermedium für interaktive Arbeitsblätter in der Differentialrechnung z Thomas Gawlick, Landau Dieser Beitrag berichtet über verschiedene Konzepte zum Einsatz von DGS — vom „visuellen Verstärker“ und „Datenlieferant“ bis hin zum Träger von Bedeutung bei der Konzeptentwicklung. Französische Erfahrungen zeigen die Notwendigkeit, aber auch die Schwierigkeiten der damit verbundenen „instrumentellen Genese“. Es erweist sich: Den daraus resultierenden Anforderungen an eine FDGS (Funktionen repräsentierende DGS) werden bestehende DGS unterschiedlich, aber stets mit Einschränkungen gerecht, was die didaktischen Möglichkeiten einschränkt. Dennoch kann der Einsatz von FDGS den gewünschten Erkenntniswert („epistemic value“) besitzen, wie an Beispielen gezeigt wird. 1 Die Ausgangslage Der Mathematikunterricht der Sekundarstufe II in den Zeiten nach PISA muss sich der Herausforderung stellen, mit allenfalls knapper werdenden (weil in den Primärbereich umverteilten) Ressourcen die nun auch öffentlich sichtbaren Defizite auszugleichen — und das bei vermutlich höheren Kursfrequenzen für eine heterogenere Klientel als bisher. Aber schon jetzt zeigen Testergebnisse wie Berichte aus der täglichen Praxis, dass zunehmend die formalen Voraussetzungen für das tradierte SII-Curriculum nicht mehr aus der SI mitgebracht werden. Diese Gemengelage — zusammen mit einer stärkeren Akzentuierung allgemeinbildender Unterrichtsziele, wie etwa im neuen NRWLehrplan — legt zweierlei nahe: • inhaltlich das vermehrte Einbeziehen heuristischer und explorativer Zugangsweisen, • methodisch eine größere Binnendifferenzierung durch entsprechende Arbeitsformen. Beides lässt sich durch den Einsatz geeigneter Lehr-Lern-Programme bewerkstelligen — wobei sich die damit angestrebte Flexibilisierung aber am ehesten erreichen lässt, wenn die Lernumgebung sich mächtiger Werkzeuge wie CAS oder DGS bedient. 2 Erfahrungen mit CAS und DGS Nachfolgend wird zunächst über neuere französische Arbeiten zum Thema „Integration von Technologie im Mathematikunterricht“ 54 berichtet: In Frankreich wird seit über 20 Jahren der Einsatz elektronischer Medien vorangetrieben, allerdings war man höheren Orts mit dem erzielten Effekt des Mitteleinsatzes so unzufrieden, dass ein entsprechender Untersuchungsauftrag zur Erforschung der Ursachen an eine Gruppe französischer Mathematikdidaktiker und Mathematikdidaktikerinnen erging. Eine Metastudie (Lagrange et al. 2001) über 662 Publikationen aus 1995 bis 1998 (davon 175 über CAS) „has clearly shown that the complexity of instrumental genesis has been widely under-estimated until quite recent” (Artigue 2001). Dabei wird mit dem Begriff instrumentelle Genese zum Ausdruck gebracht, dass von einem Werkzeug wie CAS nicht schon per se der bestimmungsgemäße Gebrauch gemacht wird. „The artefact at the outset does not have an instrumental value. It becomes an instrument through a process, called instrumental genesis, by the construction of personal schemes or, more generally, the appropriation of social pre-existing schemes.” Und dabei zeigt sich immer wieder, dass dieser Prozess keineswegs in den voraus gedachten Bahnen verläuft. So berichtet Artigue über eine eigene Studie zur Variation von Funktionen in Klasse 11 (über ein Jahr, als Werkzeug wurde der TI-92 benutzt): „Our attention was attracted by the slowness and windings of this instrumental genesis ... The economic strategies of use of the TI-92 were rarely chosen.” Als Ursachen für den unbefriedigenden Ausgang benennt sie: „The immediateness of results opposes to their epistemic value, — an explosion of techniques which remain at a relatively hand-made level, the theoretical discourse about instrumented techniques had been rather poor, episodic and lacking structure.” DGS als Trägermedium für interaktive Arbeitsblätter in der Differentialrechnung Diese Erfahrungen zeigen, dass der Verlauf der instrumentellen Genese entscheidend von der Rolle der Lehrperson abhängt. Konsequenter Weise wurde eine vergleichbare Studie (Laborde 2001) über DGS gleich als gemeinsames Entwicklungsprojekt mit Lehrern und Lehrerinnen angelegt. Dabei zeigt sich in zwei Zyklen über einen Zeitraum von drei Jahren, dass die Integration der Technologie in den Unterricht ein langer und komplexer Prozess ist, da sie mit allen Komponenten des didaktischen Systems interagiert. Dieser Prozess erfordert naturgemäß auch von den Lehrenden selbst Lernprozesse und Konzeptwechsel, die nicht ohne weiteres vonstatten gehen. Vielmehr tendierten die Lehrenden anfänglich dazu, die Interaktion der Technologie mit dem Kern des didaktischen Systems zu vermeiden: richts. Heute sehe ich, dass diese Revolution nicht stattgefunden hat. Ich sehe weiter, dass es zudem nicht sinnvoll war, eine solche zu erwarten“ (Neveling 2002). Vielmehr propagiert er „Das Zwei-Schritte-Prinzip“ zur Vernetzung von Papier und Bleistift mit rechnergestützten Aktivitäten, um so schrittweise Technologie in den Lernprozess einzuführen. – rechnergestützte Aufgaben betrafen eher Randbereiche und Erweiterungen des Curriculums, – Einfluss von Parametern auf den Graphen einer Funktion, – geometrische Deutung der Ableitung, – Mittelwertsatz, – Aufgaben wurden häufig auch parallel auf Papier behandelt, 3 DGS erlaubt • • – häufig wurden mathematische Sachverhalte bloß mit der Software nachvollzogen („verifying use“), die Rolle der DGS wurde dabei auf Ziehen, Messen und Beobachten begrenzt. Im Lauf der Zeit änderte jedoch graduell die Software ihre Rolle von einem „visuellen Verstärker (visual amplifier)“ oder „Datenlieferant (provider of data)“ zu einem essentiellen Bestandteil der Bedeutung von Aufgaben. Dies ist entscheidend für die Erreichung des Endstadiums der Interpretation, das Laborde wie folgt charakterisiert: „Technology gives a meaning to mathematics and mathematics justifies the use of technology.” Dies wurde dadurch ermöglicht, dass die erfahreneren Lehrer und Lehrerinnen nach ein bis zwei Jahren Entscheidend bei der Bewertung dieser Ergebnisse scheint der Aspekt, dass die beschriebene Entwicklung keine anfängliche Fehlentwicklung darstellt, die zu korrigieren war, sondern ein notwendiges Stadium, das es zu durchlaufen galt. Entsprechend resümiert auch Neveling auf dem Hintergrund seiner Erfahrungen als Fachberater: „Als ich vor ca. fünfzehn Jahren Derive kennen lernte, dachte ich, wir stehen vor einer Revolution des Mathematikunter- die dynamische Visualisierung mathematischer Sachverhalte wie etwa die eigenständige Erkundung mathematischer Sachverhalte wie – Finden einer Funktion mit vorgegebenen Eigenschaften, – heuristische Ableitungsbestimmung, – geometrische Lösung von Extremwertaufgaben. Vorteile von DGS gegenüber CAS sind dabei (vor allem bei der eingangs benannten Problematik heterogener Zielgruppen): • die Verwendung von DGS erfordert nicht so viele formale Fähigkeiten, • die dynamische Variation gehorcht dem Prinzip der direkten Manipulation: das System gibt sofort die gewünschte Antwort, so dass Änderungen in ihrem zeitlichen Verlauf erfahrbar werden, • DGS verhält sich dabei theoriegeleitet: der Benutzer bzw. die Benutzerin kann daher die Auswirkungen mathematischer Phänomene erfahren, ohne dass er bzw. sie sie kalkülmäßig beherrschen muss. – DGS bei Hausaufgaben und Prüfungen verwendeten, – mathematische Inhalte DGS-gestützt entwickelten. Möglichkeiten und Vorteile des Werkzeugs DGS in der Differentialrechnung In diesem Sinne ist DGS also eine Experimental-Umgebung für den Mathematikunterricht, insofern daher vergleichbar mit Modellbildungssystemen in der Physik. 4 Zur Funktionalität von FDGS Zur konkreten Umsetzung dieser Möglichkeiten ist aber keineswegs jede DGS geeignet. 55 Thomas Gawlick Eine Funktionen darstellende DGS (FDGS) muss vielmehr die folgende Funktionalität aufweisen: 1. Explizite Spezifikation funktionaler Abhängigkeiten zwischen den Koordinaten eines Punktes („Generator“), 2. Dynamische Erzeugung von Funktionsgraphen durch Zeichnen der Ortslinie des Generators („dynamischer Graph“), 3. Interaktive Variation des Funktionsgraphen durch Manipulation von Parametern mit automatischer Anpassung des Graphen („dynamische Aktualisierung“), 4. Interaktives Verschieben und Umskalieren („Zoomen“) des Koordinatensystems („dynamische Re-Präsentation“). Wie weit werden gängige DGS diesen Anforderungen gerecht? „Euklid“ ermöglicht die Spezifikation des Generators durch direktes Editieren seiner Koordinaten: So wird etwa in Abb. 1 die unabhängige Variable x als Punkt auf der xAchse modelliert, die abhängige Variable y dagegen als Punkt mit festen Koordinaten, für die — das ist die entscheidende Neuerung — auch Terme eingegeben werden können. Parameter lassen sich dabei über Schieberegler dynamisch verändern und per numeri- scher Eingabe auch auf einen exakten Wert festlegen. In Abb. 1 wird der funktionale Zusammenhang y = x2/q durch Zuweisung des Terms Cx(x)2/val(q) an die y-Koordinate des Punktes y realisiert, wobei durch Cx(x) die xKoordinate des Punktes x und durch val(g) der aktuelle Wert des Parameters g referenziert wird. Der dynamische Graph lässt sich dann sowohl durch eine Punktfolge als auch durch eine Linie darstellen, was didaktisch sicherlich hilfreich ist, wenn man — wie schon Euler 1748 in seiner „Introductio in analysin infinitorum“ — den Funktionsgraphen als Spur eines Stabs beweglicher Länge einführt. Schwächen zeigt „Euklid“ dagegen bei der dynamischen Aktualisierung — lässt man etwa im Beispiel g gegen Null gehen, so zeigt die den Graphen approximierende BézierKurve zunehmende Abweichungen von der realen Gestalt. Dies ist auch nachteilig für den Versuch, das Zoomen selbst zu realisieren — das ist aber nötig, denn in der jetzigen Version ist die Einheit auf 1 cm festgelegt. Die Ergebnisse sind aber nur eingeschränkt verwendbar, s. u. „Cabri“ ermöglicht die Realisierung funktionaler Abhängigkeiten mittels der Menüfunktion „Maß übertragen“ von Termen (auf Koordinatenachsen!). Der Graph kann als Punktmenge mit der Spurfunktion erzeugt Abb. 1: Erstellung eines dynamischen Funktionsgraphen mit „Euklid“ 56 DGS als Trägermedium für interaktive Arbeitsblätter in der Differentialrechnung werden — um ihn als dynamisches Objekt zu erhalten, muss man ihn aber nochmals mittels der Ortslinienfunktion erzeugen — und erhält ihn dann auf einen Schlag. Zoomen des Graphen ist durch Ziehen an den Einheiten möglichen, der Graph ist dabei etwas stabiler als bei „Euklid“. Mit Alt-+ können zusätzliche Punkte auf ihm erzeugt werden, was aber auch nicht alle Probleme löst, s. u. Parameter lassen sich durch das Einbeziehen von Maßgrößen realisieren (Schieberegler muss man selber mit Hilfe von Punkten auf Strecken basteln). Die Termeingabe ist dabei etwas zu sehr dem Prinzip der direkten Manipulation verpflichtet: Klickt man während der Termeingabe auf Maße, ordnet „Cabri“ ihnen selbst die Bezeichnungen a, b, … zu, mit denen sie dann in den Term eingehen. Später auf sie oder den Term zurückzugreifen, scheint nicht ohne weiteres möglich zu sein. „Cinderella“ bietet weitaus weniger Unterstützung für Funktionen: die Koordinaten von Punkten sind nicht direkt zugreifbar, insbesondere also nicht editierbar. So können allenfalls Polynome „von Hand“ über die geometrische Realisierung der Grundrechenarten realisiert werden, was ohne Makros jedoch sehr mühselig ist. Transzendente Funktionen wie der Sinus lassen sich gar nicht darstellen, da keine Maßübertragung für die Bogenlänge vorhanden ist. Als Notbehelf kann man einige Funktionen geometrisch definieren, die Darstellung ist jedoch unbefriedigend (vgl. Abb. 2). AE um B und CD um F abgetragen, so dass GF = CD . Die Ortslinie von G enthält neben dem gewünschten Graphen allerdings auch sein Spiegelbild an der x-Achse. Das liegt daran, dass beim Bewegen von D durch C die beiden Schnittpunkte des Hilfskreises um F mit der Senkrechten durch F ihre Plätze tauschen — eine notwendige Konsequenz des stetigen Verhaltens von „Cinderella“. Zoomen ist möglich, aber nur eingeschränkt tauglich: Gitter und Markierungen der unbeschrifteten Achsen werden nicht mit skaliert, sondern neu erzeugt — allein aus einer Längenangabe rechts unten ist es möglich, ihre aktuelle Bedeutung zu errechnen (im Prinzip). Auch die Dynamik von Ortslinien lässt Wünsche offen: animiert man etwa die Bewegung von C auf dem Kreis, wird die erzeugte Ortslinie nicht modifiziert, obwohl sie offenbar von C abhängt. 5 Beispiele für FDGSbasierte Arbeitsblätter Nachfolgend werden drei Beispiele für den möglichen Einsatz von FDGS als Trägermedium für Arbeitsblätter zur Differentialrechnung diskutiert, die verschieden tief in die konzeptionelle Basis des Unterrichts eingreifen: Abb. 2: Geometrische Funktionsdarstellung mit „Cinderella“ D = (x, y) variiert auf dem Kreis um A durch C. Dargestellt werden soll die Funktion x a CD in einem nach B verschobenen Koordinatensystem. Dazu wird mit dem Zirkel Beispiel 1: Das Funktionenmikroskop Bereits Kirsch hatte in den siebziger Jahren als eine mögliche Grundvorstellung von Differenzierbarkeit vorgeschlagen, „dass das 57 Thomas Gawlick beobachtete kleine Graphenstück bei hinreichend starker Vergrößerung praktisch geradlinig verläuft und somit eine gewisse Steigung besitzt.“ (Blum & Kirsch 1979) Diese Eigenschaft lässt sich in konkreten Beispielen natürlich gut mit einem rechnerbasierten Funktionenmikroskop überprüfen. Auf dem Hintergrund beobachteter Schwierigkeiten mit dem Grenzwertbegriff schlägt Tall (1986)1 vor, dieses rechnergestützte Konzept als fundierende Grundvorstellung des Lehrgangs zu betrachten, wobei der interaktiven Visualisierung im stand-alone-System „Graphic Calculus“ eine Schlüsselrolle zukommt: „The existence of interactive visual software leads to the possibility of an exploratory approach to mathematics which enables the user to gain intuitive insights into concepts, providing a cognitive foundation on which meaningful mathematical theories can be built“ (Tall & West 1992). Damit verbindet auch Tall schon die Hoffnung der Curriculumreformer „that students which might be termed as ‚symbolically illiterate’ can be successful in learning and understanding calculus through the use of graphic and heuristic tools“ (Tall 1997). Die Rolle des Rechners bei der Konzeptbildung sieht Tall dabei vor allem in der besseren Behandelbarkeit nicht differenzierbarer Funktionen. Wenn auch die Behauptung, „in a traditional calculus course, non-differentiable functions would not be considered until a very late stage, if at all“ (Tall & West 1992), nicht ohne Weiteres auf deutsche Verhältnisse übertragbar ist, bleibt doch festzuhalten, dass gerade die Behandlung stetiger, aber nirgends differenzierbarer Funktionen durch interaktive Visualisierung sehr an Prägnanz gewinnt, was dazu beitragen dürfte, das Verständnis von Differenzierbarkeit zu vertiefen. Bei der Darstellung solcher Funktionen ist man natürlich auf die Berechnung einer endlichen Teilsumme einer unendlichen Reihe beschränkt — wie ja auch bei den transzendenten Funktionen: im Unterschied zu diesen ist es aber hier essentiell, beim Zoomen zugleich auch die Genauigkeit der Näherung zu adjustieren. Dies beschränkt die Einsatzmöglichkeit von DGS — allein das in Deutschland wenig verbreitete „Geometer’s Sketchpad“ bietet die Möglichkeit der MakroIteration mit einer wählbaren Schrittzahl. Aber bereits bei der Behandlung von Funktionen, die nur in einem Punkt nicht differenzierbar sind, dies aber auf essenzielle Weise 1 Der Verfasser dankt Tommy Dreyfus für den Hinweis auf die Arbeiten von Tall. 58 (also nicht bloß durch einen Knick oder Sprung), zeigt DGS ihre Grenzen: Das klassische Beispiel ist f(x) = sin(1/x) bei Null. Abb. 3 zeigt eine „Euklid“-Realisierung mit selbst gemachter Zoom-Funkion: Beim Skalierungsfaktor 10-5 (der Exponent ist über den Schieberegler veränderbar) werden beim Zeichnen der Ortslinie etwa 700 ziemlich gleichmäßig verteilte Stützstellen über [0, 2,4·10-4] erzeugt (Abb. 3a), die beim Zeichnen der approximierenden Bézier-Kurve aber nicht zu einer adäquaten Darstellung der Funktionsgraphen verbunden werden (Abb. 3b). Gegenüber dieser visuellen Aberration verblasst der mögliche didaktische Effekt, den das Erleben der Oszillation der Sekante durch (0, 0) und (x, sin(1/x)) beim Ziehen an x haben kann. Auch „Cabri“ vermag bei diesem Beispiel nicht zu überzeugen: Die Ortslinie in Abb. 4 bleibt beim Zoomen im Wesentlichen selbstähnlich — daran ändert leider auch das Hinzufügen zusätzlicher Punkte via Alt-+ nichts. Mit „Cinderella“ lassen sich derartige Beispiele gar nicht untersuchen, da ja keine Möglichkeit besteht, den Graphen der SinusFunktion als Ortslinie zu erzeugen. Die Programmautoren sehen dies nicht als „bug“, sondern als „feature“ — zur Wahrung des von „Cinderella“ realisierten Kontinuitätsprinzips. Für den unterrichtlichen Einsatz ist es sicherlich nachteilig, dass dieses klassische Beispiel für wesentliche Nichtdifferenzierbarkeit nicht angemessen rechnergestützt behandelt werden kann. Allerdings muss man auch konzedieren, dass sich das Konzept des Funktionenmikroskops in der Behandlung von Differenzierbarkeit nicht durchgesetzt hat — obwohl (oder weil?) es mit Rechnerunterstützung realisiert zu einer konzeptionellen Erweiterung des Analysisunterrichts hätte beitragen können. Dies illustriert die in den französischen Arbeiten benannten Schwierigkeiten hinsichtlich der Interaktion von Technologie mit dem Kern des didaktischen Systems. Entsprechend wird in den folgenden Beispielen das Ziel „technology gives meaning to mathematics“ zurückhaltender angesteuert — was natürlich die Herausforderung erhöht, dass der Technologieeinsatz tatsächlich mathematisch gerechtfertigt ist. Beispiel 2: „Visualizing Change“ Unter diesem Titel legten Steketee & Jackiw 1998 acht „calculus activities“ für „Geome- DGS als Trägermedium für interaktive Arbeitsblätter in der Differentialrechnung ter’s Sketchpad“2 vor, die den Bogen von der ε-δ-Definition des Grenzwerts über Integrale und das Newton-Verfahren bis zu Lösungen von Differentialgleichungen spannen. Für jedes Thema wird zu einem elektronischen Arbeitsblatt ein Papier-Arbeitsblatt mit einer Reihe von Aufträgen vorgegeben. Abb. 5 zeigt das elektronische Arbeitsblatt zur Diffe- renzierbarkeit, Abb. 6 die dazugehörigen Aufträge, wobei als Kommentar hinzugefügt wurde, in welcher Weise DGS hier im Lernprozess umgesetzt wird. Dieses Beispiel zeigt die besonderen Möglichkeiten von „Sketchpad“ (in der Version 4 sind diese nochmals erweitert, besonders hinsichtlich Iteration und interaktiver Dyna- Abb. 3a: Stützstellen für den Graphen von sin(1/x) Abb. 3b: Approximation der Graphen von sin (1/x) durch „Euklid“ 2 Der Verfasser dankt Bernard Winkelmann für den mik, wovon im Bereich der Differentialrechnung das an „Visualizing Change“ anschlie- Hinweis auf diese Arbeit. 59 Thomas Gawlick ßende Buch von Clements et al. (2002) wesentlichen Gebrauch machen): • • • Ein- und Ausblenden vorbereiteter Informationen, Abspielen von Animationen auf Knopfdruck, Angabe einer Schrittzahl für die Iteration eines Makros (in der Aktivität zur Lösung von Differential-Gleichungen). dass dieses Material gut zu einem beginnenden Technologieeinsatz passt, der den Schwerpunkt der Arbeit auf Papier belässt. Der „epistemic value“ liegt darum eher in den thematischen Erweiterungen des Curriculums. Das weite Themenspektrum spricht zudem für einen eher punktuellen, episodischen Einsatz, wie er von der Zielgruppe vermutlich sowohl aufgrund der verfügbaren Ressourcen als auch des eigenen Erfahrungshintergrundes auch bevorzugt wird — zumindest als Einstieg. Nach einer persönlichen Mitteilung des „Sketchpad“-Entwicklers Jackiw wurden diese Aktivitäten auch entsprechend entworfen, nämlich als „scaffolds for teachers experimenting with change“. Dass es dabei tatsächlich zu einer Fortentwicklung im Gebrauch der Arbeitsblätter durch die Lehrer kommt, zeigt sich laut Jackiw nicht nur in seinen Erfahrungen in konkreten Unterrichtsversuchen, sondern ließe sich sogar statistisch anhand der Zugriffsfrequenzen auf die Materialien seiner Website belegen! Abb. 4: Der Graph von sin(1/x) mit „Cabri“ Die Klassifikation der Aktivitäten in Abb. 6 nach Verwendungsweisen von DGS zeigt, Abb. 5: „Sketchpad“-Arbeitsblatt zur Differenzierbarkeit 60 DGS als Trägermedium für interaktive Arbeitsblätter in der Differentialrechnung Abb. 6: Das begleitende Papier-Arbeitsblatt Beispiel 3: DGS-Arbeitsblätter zum selbstständigen Lernen Der Verfasser versuchte im Rahmen eines Projektes am Oberstufen-Kolleg der Universität Bielefeld, einen Mittelweg zwischen den beiden vorigen Herangehensweisen zu beschreiten: Ausgehend von einem „verifizierenden Gebrauch“ in bekannten Beispielen (Ableitung der Parabel) sollte die „instrumentelle Genese“ durch das Einbeziehen heuristischer Techniken (Ableitung der Exponentialfunktion) vorangetrieben werden, um dann durch das Entdecken neuer Sachverhalte (Mitteltangente einer kubischen Funktion) den Erkenntniswert in Form eines vertieften Verständnis des Tangentenkonzepts zu erhalten. Hier nun eine Übersicht über die Themen der interaktiven Arbeitsblätter zur Differentialrechnung: 1. Der Grenzübergang vom Differenzenzum Differentialquotienten 1.1 Ableitung der Parabel 1.2 1.3 Erarbeitung der Ableitung der Exponentialfunktion Ableitung der Logarithmusfunktion 2. Anwendungen der Differenzierbarkeit 2.1 2.2 Modellierung eines Gleisanschlusses Zur Herleitung der Kettenregel 3. Entdeckung von Tangenteneigenschaften 3.1 3.2 3.3 3.4 Parabeltangenten Mittelwertsatz Mitteltangente Polynome im Affenkasten 4. Extremwertaufgaben 4.1 4.2 Glasscheibe Claim abstecken 5. Kurvenscharen 5.1 5.2 5.3 Die parabolisch gebrochene Scheibe Die Helligkeitsverteilung einer Lampe Quartiken Die Arbeitsblätter können vom learn:lineServer herunter geladen werden (Gawlick 2002). Zu jedem „Euklid“-Arbeitsblatt gibt es ein Papier-Arbeitsblatt mit ergänzenden didaktischen Bemerkungen. Vom Funktionsumfang der FDGS wird hier im Wesentlichen Ziehen, Messen, Ortslinienfunktion und Termeingabe verwendet. Ein vorheriger Kontakt mit DGS ist daher zwar sicher hilfreich, aber nicht Voraussetzung. 61 Thomas Gawlick 6 Ein Beispiel für den Erwerb einer heuristischen Technik Bei „gutartigen“ Funktionen (das sind z.B. alle auf einem Intervall stetig differenzierbaren, also alle Polynome und Potenzreihen) kann der Differentialquotient gleichmäßig durch einen geeignet gewählten Differenzenquotienten approximiert werden. Diese Eigenschaft wird in Blatt 1.1 zunächst an dem klassischen Beispiel der Parabel erkundet. Dabei geht es um das Wiedererkennen vertrauter Phänomene im neuen Gewande und zugleich um das Vertrautwerden mit der Arbeitsumgebung DGS. Darüber hinaus kann aber auch hier etwas Neues entdeckt werden: Beim Zusammenziehen des Steigungsdreiecks bewegt sich der Graph der Sekantensteigungsfunktion nach unten. Das bedeutet: Bei monoton fallendem Grenzübergang ist auch der Differenzenquotient monoton fallend, was sich geometrisch begründen lässt. Natürlich lässt sich dieses Resultat auch in der klassischen Papier-und-Bleistift-Umgebung aussprechen — die Visualisierungsmöglichkeiten von FDGS, speziell die automatische Aktualisierung von Ortslinien und die direkte Manipulation der Parameterwerte, machen es aber doch in einer Weise augenfällig, die konventionell nicht möglich wäre. Man mache sich selbst davon ein Bild!Diese Gleichmäßigkeit des optischen Grenzübergangs h→0 kann auch als Motivation dafür dienen, dass man tatsächlich den Differentialquotienten gut durch einen geeigneten Differenzenquotienten annähern kann. Im zweiten Schritt wird dann die so eingeführte heuristische Methode angewendet, um neue Ableitungen zu finden: die der Exponentialfunktionen. Deren konventionelle Herleitung macht ja wegen der exakten Berechnung von limh→0(eh–1)/h ein wenig Probleme, so dass ein alternativer, heuristischer Zugang wünschenswert ist. Natürlich lässt sich der auch mit Tabellenkalkulation o.ä. beschreiten, allerdings sind die Möglichkeiten hierbei doch etwas beschränkt. Ein sicher drastisches Beispiel dafür (aus Busch 1999, Hervorhebungen im Original): „Als besondere Eigenschaft der Exponentialfunktion wird in Schulbüchern herausgestellt, daß die Funktionswerte proportional zur Steigung an der entsprechenden Stelle sind. Diese Eigenschaft macht sich die folgende Herleitung (für Grundkurse) zu Nutze. 62 x f(x) f’(x) f’(x)/f(x)=dy/dx -1,5 0,544 0,221 0,406 -0,5 0,816 0,331 0,406 0 1 0,405 0,405 1 1,5 0,608 0,405 Anhand der Funktion f(x) = 1,5·x wird mit Einsatz des Graphikrechners die Steigung in verschiedenen Punkten ermittelt: Ergebnis: f´(x) = 0,405 · f(x) Damit ist nun die Proportionalität hinreichend gut belegt worden. Wie groß ist der Proportionalitätsfaktor genau? An Hand der Tabelle sieht man gut, daß dieser an der Stelle x=0 als Steigung auftaucht. Hier besteht für den Schüler noch einmal die Möglichkeit der selbständigen Überprüfung und für den Lehrer die Festigung des Verfahrens. Ergebnis: f´(x) = 0,405465 · f(x) Wie geht’s weiter? Hier steht man vor einer methodisch-didaktischen Klippe. “Was hat der Proportionalitätsfaktor mit der Basis 1,5 zu tun?“, könnte man fragen. Da die Schüler durch den Graphikrechner das Probieren gewöhnt sind, ist dieses Vorgehen legitim. Eine spätere exakte Herleitung kann dieses ja noch untermauern. Zur Absicherung dieses Vorgehens kann man vorher den Proportionalitätsfaktor an einer anderen Basis überprüfen. Es gilt: ln 1,5 = 0,405465. Damit steht das Endergebnis fest: f´(x) = ln 1,5 · 1,5 x.“ Es erscheint fraglich, ob auf einem solchen Wege tatsächlich ein Zugewinn an Einsicht erzielt oder eine heuristische Problemlösestrategie vermittelt werden kann. Grundsätzlich dürfte aber das Vorliegen des fertigen Ergebnisses im CAS eher als ein Hindernis zu betrachten sein, ebenso die Tatsache, dass der heuristische Prozess jeweils nur für wenige feste Parameterwerte durchgeführt werden kann. Entsprechend verzichtet etwa Koepf (1993) in seiner „Analysis mit Derive“ bei dieser Ableitungsbestimmung auf den CAS-Einsatz (auch bei der Grenzwertberechnung). DGS bietet demgegenüber die Möglichkeit, diese stetig in einander zu überführen — wobei auf die ausschnittshafte Dokumentation von solchen Grenzprozessen in Form von Wertetabellen durchaus nicht verzichtet werden sollte, nur eben als Rahmen, nicht als Ersatz der dynamischen Visualisierung. Das könnte dann etwa wie in Abb. 7 und 8 aussehen. DGS als Trägermedium für interaktive Arbeitsblätter in der Differentialrechnung Abb. 7: Das interaktive Arbeitsblatt zu Exponentialfunktionen Man kann nämlich durch Variation der Basis entdecken, dass der Graph der Sekantensteigungsfunktion S dem der Exponentialfunktion f: x → ax sehr ähnlich sieht — durch geeignete Manipulation lassen sich die beiden sogar zur Deckung bringen. Mit Hintergrundwissen über Potenzen und Logarithmen lassen sich nun gezielte Experimente anstellen: Ist f’ vielleicht selbst eine Exponentialfunktion? Falls f’(x) = bx, so ist b durch Loln f ' ( x ) , garithmieren zu ermitteln: ln(b) = x ln f ' ( x ) b= e x ln S ( x ) ≈e x . Dann müsste allerdings insbesondere der ln S( x ) Ausdruck konstant sein. Und das x lässt sich durch Termeingabe und Ziehen an x mit „Euklid“ überprüfen — und widerlegen. Wie kommt man nun weiter? Hier sind mehrere Wege denkbar, von denen die Lernenden — hoffentlich — den einen oder anderen ausfindig machen. So ist es zum Beispiel möglich herauszufinden, dass der Ausdruck ln S( x ) zwar nicht immer konstant ist, — in x der Nähe von a=e aber fast. S könnte also eine „gestörte“ Exponentialfunktion sein. Ein anderer Hinweis hierauf ist die Beobachtung, dass bei echten Exponentialfunktionen in 0 stets der Wert 1 angenommen wird. — S(0) hängt jedoch offenbar deutlich von a (und etwas von h) ab. Und Ziehen zeigt: die Abhängigkeit ist ersichtlich multiplikativ. Hier ist also ein Faktor zu ermitteln. Entsprechend ln S( x ) kann auch beobachtet werden, dass x nahe von x=1 und a=3 nur wenig von ln a abweicht. Also dürfte es sich bei der Basis um a handeln. Auch die Übereinstimmung der beiden Graphen für a≈e deutet darauf hin. Auf solchen Wegen kann man also zu der Hypothese S(x)~cax kommen. Durch Ziehen an x lässt sich auch die Fastkonstanz S( x ) erhärten. Zur symbolischen Bevon ax schreibung der Faktoren ist ein verdeckter 63 Thomas Gawlick S( x ) ) konax struiert. Zieht man an a und zeichnet die Ortslinie des Punktes, also den Graphen des Vorfaktors c in Abhängigkeit von a, erhält man eine Vermutung für die vorliegende Punkt mit den Koordinaten (a, Abhängigkeit: der Graph ähnelt einer Logarithmus-Funktion (zur Unterscheidung von einer Wurzelfunktion bewege man a zwischen 0 und 1). Der heuristische Ansatz liefert also visuelle Evidenz für die Vermutung f’(x) = ln a · ax. Auf dem Bildschirm siehst Du den Graphen der Funktion f(x):=ax. 1. Ziehe an x, um den Wert für x zu verändern. Die Werte für x und y=f(x) werden immer aktuell in den schwarzen Termfenstern angezeigt. Beachte: 1LE entspricht 10cm! Welchen Bereich von x kann das Programm also darstellen? Und von y? 2. Wie verändert sich f(x), wenn Du x veränderst? 3. Ziehe jetzt an dem roten Schieberegler, um den Wert für a zu verändern. Wie ändert sich dabei f? 4. Für diese Funktion kennen wir noch nicht die Ableitung. Auf dem Bildschirm siehst Du aber die Sekante zu den Stellen x und x1=x+h. Den Wert von h kannst Du über den blauen Schieberegler einstellen. Wie berechnet man die Steigung der Sekante? 5. Im blauen Termfenster siehst Du den aktuellen Wert der Sekantensteigung. Dieser Wert entspricht der Länge der blauen Strecke steig. Der Wert ändert sich, wenn Du x und h verstellst. Zeichne jetzt mit Hilfe des Buttons „Ortslinie aufzeichnen“ den Graphen der Sekantensteigungsfunktion: Wähle dabei zuerst Punkt S an und ziehe dann den Punkt x auf der x-Achse auf und ab. Der Punkt S hinterlässt eine Spur: das ist der gesuchte Graph. Er zeigt Dir für jeden Wert von x den Wert der Sekantensteigung zwischen den Punkten x1 und x. 6. Was hat die Sekantensteigung mit der Ableitung zu tun? 7. Welchen Zusammenhang vermutest Du zwischen f(x) und f’(x)? 8. Benutze „Euklid“, um eine Tabelle mit Näherungswerten für die Ableitung anzulegen: Stelle zunächst a=2 ein (mit der rechten Maustaste auf den Schieberegler und dann “Bereich editieren“). Lies dann die Werte auf 2 Stellen genau ab. Nutze die letzten Zeilen für weitere Berechnungen, um Deine Vermutung zu überprüfen. Du kannst dazu mit „Euklid“ weitere dynamische Terme berechnen: wechsle ins Menü „Messen&Rechnen“, drücke auf den Taschenrechner. Vorhandene Terme kannst Du einbauen, indem Du auf sie klickst. Zum Schluss „Enter“ drücken und auf den Bildschirm klicken, wo Dein Term erscheinen soll. x f(x) f'’(x) 1 a= x f(x) f'’(x) 1 a= x f(x) f'’(x) 1 9. Notiere hier den erarbeiteten Zusammenhang zwischen f(x) und f’(x) f(x)= f’(x)= Abb. 8: Das interaktive Arbeitsblatt zu Exponentialfunktionen 64 DGS als Trägermedium für interaktive Arbeitsblätter in der Differentialrechnung In einem dritten Schritt kann die Anwendung der heuristischen Technik gefestigt werden durch die Bestimmung der Ableitung des natürlichen Logarithmus. Zum Abgleich mit der Arbeit auf Papier ist dabei wieder das Erstellen von Wertetabellen vorgesehen. Durch das selbständige Erarbeiten solcher Beispiele lässt sich in den Augen des Verfassers ein höherer Grad von kognitiver Eigenaktivität erreichen als durch die üblichen Versuche strenger Herleitungen, bei denen die Lernenden aufgrund der technischen Schwierigkeiten sicher über weite Strecken bloß rezeptiv sein dürften. Die Erfahrung mit dem unterrichtlichen Einsatz dieser Blätter am Oberstufen-Kolleg zeigt allerdings, dass von einigen Lehrenden dennoch das heuristische Arbeiten als bloßer Umweg bei einer auf Epsilontik basierenden formalen Erarbeitung des Differentialkalküls betrachtet wurde — während andere der technischen Beherrschung dieses Kalküls im Hinblick auf Prüfungen und spätere Kurse den Vorzug gegenüber seiner Veranschauli- erst über einen längeren Zeitraum entwickelt werden muss und institutioneller Veränderungen bedarf. 7 Ein Beispiel für das Entdecken neuer Sachverhalte Abb. 9 zeigt das Arbeitsblatt zur Mitteltangente: für die kubische Funktion f(x) = ax(x–m)(y–n) soll die Tangente im Mittelpunkt zweier Nullstellen untersucht werden3. Hier kommt es auf das genaue Sehen an: nur allzu schnell wird dort nämlich fälschlich die Extremstelle lokalisiert. Hier hat die Computervisualisierung offenbar Vorteile gegenüber der Handskizze, was die Genauigkeit der Darstellung angeht. Zudem lässt sich natürlich im Zugmodus viel leichter Evidenz für die doch etwas überraschende Vermutung herstellen: die Tangente verläuft immer durch die dritte Nullstelle! Abb. 9: Das Arbeitsblatt zur Mitteltangente chung gaben. Die Aporien, in die das Zusammenspiel solcher Haltungen führen kann, verdeutlich die Reaktion eines Kollegiaten auf die obigen Beispiele: „Mit ‚Mathematica’ bekomme ich das doch auf Knopfdruck.“ Diese Reaktionen bestätigen die französischen Erfahrungen, dass sich der erhoffte „epistemic value“ des Technologieeinsatzes nur bei einer insgesamt veränderten unterrichtlichen Schwerpunktsetzung einstellt, die Im Unterrichtsexperiment zeigt sich zudem, dass bei der Computerpräsentation der Aufgabe die Situation häufiger als beweglich aufgefasst wurde als auf Papier: die Lernenden kamen hier selber dazu, die Mitte nicht nur zwischen m und n zu untersuchen, sondern auch zwischen 0 und m bzw. 0 und n. Das Verziehen der ursprünglichen Reihen3 Nach einer Idee von D. Haftendorn. 65 Thomas Gawlick folge mag dabei eine Hilfe bei der Überwindung der psychologischen Barrieren gewesen sein, die Mitte auch zwischen nicht benachbarten Punkten anzusehen. Zudem zeigte sich, dass die Findung des gesuchten Sachverhalts weitaus leichter fiel als seine algebraische Beschreibung, geschweige denn seine Verifikation mittels Differentialrechnung. Gerade deshalb ist das Beispiel wertvoll, etwa um die Gleichung der Tangente vertieft zu bearbeiten. Häufige Fehler wie der Ansatz y = f’(x0)·x oder y = f’(x0)·x+f(x0) können mit Hilfe der DGS als falsch erkannt und selbständig korrigiert werden. 8 Fazit Elektronische Arbeitsblätter auf der Basis von FDGS besitzen ein bedeutsames heuristisches Potential. Sie können dazu beitragen, auch Lernenden mit formalen Defiziten Einsichten in zentrale Grundvorstellungen zu vermitteln und ihnen das Entdecken mathematischer Sachverhalte ermöglichen. Wichtig ist dabei die Einbettung von Selbstlernphasen am Rechner in den unterrichtlichen Gesamtkontext, sowohl wegen des beschränkten Feedbacks durch die FDGS als auch im Hinblick auf die graduelle Modifikation der bestehenden Unterrichtspraxis. Um vollen Nutzen aus dem potentiellen Erkenntniswert solcher Arbeitsblätter zu ziehen, bedarf es allerdings, so zeigt die mit ihnen gemachte Erfahrung, einer Veränderung des institutionellen Umfeldes hinsichtlich besserer Verfügbarkeit und der Möglichkeit, sie auch bei Hausaufgaben und Prüfungssituationen zu verwenden. Literatur Artigue, M. (2001): Learning Mathematics in a CAS Environment. Plenary Lecture, 2nd symposion of the group „Computer Algebra in Mathematics Education” (CAME 2). Utrecht: Freudenthal Institute, http://ltsn.mathstore.ac.uk/came/events/freude nthal/1-Presentation-Artigue.pdf Blum, W. & Kirsch, A. (1979): Anschaulichkeit und Strenge in der Analysis IV. Heft 3 von: Der Mathematikunterricht 25 Busch, C. (1999): Die Ableitung der Exponentialfunktion. In: TI-Nachrichten 1, 27-28, http://www.ti.com/calc/schweiz/pdf/TI_0199.pdf 66 Clements, C., Pantozzi, R. & Steketee, S. (2002): Exploring Calculus with The Geometer's Sketchpad. Emeryville: Key Curriculum Press Gawlick, T. (2002): Selbstständiges Lernen mit Dynamischer Geometrie-Software. Teil 2: Interaktive DGS-Arbeitsblätter in der Differentialrechnung. Soest: Landesinstitut für Schule, http://www.learnline.de/angebote/selma/medio/ dgs/dgseinleitung.htm Koepf, W., Ben-Israel, A. & Gilbert, B. (1993): Mathematik mit Derive. Braunschweig: Vieweg Laborde, C. (2001): Integration of Technology in the Design of Geometry Task with CabriGeometry. In: International Journal of Computers for Mathematical Learning 6, 283–317 Lagrange. J.-B. et al. (2001): A meta study on IC technologies in education. In: Proceedings of the 25th Conference of the International Group for the Psychology of Mathematics Education. Vol. 1. Utrecht: Freudenthal Institute, 111–122 Neveling, R. (2002): Das Zwei-Schritte-Prinzip. In: Herget, W. et al. (Hrsg.): Medien verbreiten Mathematik. Bericht über die 19. Arbeitstagung des Arbeitskreises „Mathematikunterricht und Informatik“ 2001. Hildesheim: Franzbecker, 37–39 Steketee, S. & Jackiw, N. (1998): Visualizing Change: Calculus Activities for The Geometer's Sketchpad, http://www.keypress.com/sketchpad/talks/calc ulus_nctm98/index.html Tall, D. (1986): Graphic Calculus I – III. London: Glentop Tall, D. (1997): Functions and Calculus. In: Bishop, A. et al. (Hrsg.): International handbook of mathematics education. Dordrecht: Kluwer, 289–325 Tall, D. & West, B. (1992): Graphic Insight into Mathematical Concepts. In: Cornu, B. & Ralston, A. (Hrsg.): The influence of computers and informatics on mathematics and its teaching. Paris: UNESCO, 117–123 z Formen multimedialen Lehrens — ein Vergleich Mutfried Hartmann, Nürnberg In Nürnberg werden den Lehramtsstudierenden seit einigen Jahren vorlesungsbegleitend mathematische Inhalte im WWW zur Verfügung gestellt. Die Aufbereitung erfordert, Konzepte für die Darbietung dieser Inhalte zu entwickeln, damit diese von den Studierenden möglichst effektiv rezipiert werden können. Auf der Basis medienpsychologischer Erkenntnisse wurde dabei im Laufe der Zeit durch Synthese verschiedener Darbietungsformen eine neue Instruktionsform entwickelt, das „Pop-up-Ikonogramm“. — In einer aktuell durchgeführten Evaluation wird versucht, das „Pop-up-Ikonogramm“ mit anderen Darbietungsformen, wie etwa schulbuchtypischen Einzelbild-Text-Kombinationen, Bildfolgen oder reinen Lehrfilmen, hinsichtlich des damit erzielten Lernerfolgs zu vergleichen. Die zentrale Frage dabei ist: Kann durch eine geeignete multimediale Darbietungsform der Lernerfolg überhaupt merklich gesteigert werden? Und wenn ja, welche Darbietungsform lässt auf den höchsten Lernerfolg hoffen? — Im Folgenden soll zunächst kurz in die Grundideen von „Pop-up-Ikonogrammen“ eingeführt werden. Im Anschluss werden Fragestellungen, Design und erste Ergebnisse der Evaluation vorgestellt. 1 „Pop-up-Ikonogramme”, Prototyp einer neuen Darbietungsform Der Inhalt, hier am Beispiel des „Beweises des Sehnensatzes“, wird bei Pop-up-Ikonogrammen auf drei „Ebenen“ angeboten: normalen Lernenden soll sie vor allem dazu dienen, nach dem vollständigen Studium des Lerninhalts nochmals dessen Struktur zu veranschaulichen und einzuprägen. 2. Ebene: Pop-up-Fenster 1. Ebene: Strukturübersicht Abb. 2 Abb. 1 Auf den ersten Blick stellt sich der Lerninhalt für den Benutzer als Bildfolge dar. Die einzelnen Abschnitte des Lerninhalts, in diesem Fall Beweisschritte, werden dabei jeweils durch ein kleines Bild („Ikone“) dargestellt, das den jeweiligen Abschnitt möglichst gut graphisch repräsentieren soll. Diese Ikonen sind entsprechend der Abfolge der Abschnitte mit Nummern versehen und entsprechend der logischen Struktur des Inhalts angeordnet. Sich allein aus der Strukturübersicht den Lerninhalt im Ganzen zu erschließen, ist i.a. nur vorgebildeten Lernern möglich. Dem Wenn man mit der Maus über eine Ikone fährt, wird ein Fenster mit detaillierter Information eingeblendet. Darin wird der entsprechende Abschnitt erläutert und formal korrekt notiert. Eine Sonderrolle stellt die „Idee“Ikone dar. Dort werden heuristische Hinweise gegeben und die zentrale Idee aufgezeigt. Mithilfe der Pop-up-Fenster kann sich der Lerner prinzipiell den Lerninhalt komplett neu erschließen. Sie dienen vor allem aber dazu, schnell und gezielt auf Informationen zuzugreifen, wenn der Lerner unter Rückgriff auf die Strukturübersicht nach der Betrachtung der Filmsequenzen (s.u.) den Lerninhalt mental zu rekonstruieren versucht. 67 Mutfried Hartmann 3. Ebene: Filmsequenz Abb. 3 In die letzte Ebene eines Pop-up-Ikonogramms kommt man, wenn man auf eine der Ikonen klickt. Hier wird der jeweilige Abschnitt als Tonfilmsequenz dargeboten. Man kann den Film jederzeit bei Bedarf anhalten und wieder starten bzw. an den Anfang oder das Ende der Sequenz springen. Ist der Film am Ende einer Sequenz angekommen, so erscheint ein „nächster Schritt“-Button mit dem direkt die darauffolgende Filmsequenz gestartet werden kann. Auf diese Weise kann der komplette Inhalt als Kette von Tonfilmsequenzen erschlossen werden. Aus den Filmen kann jederzeit in die Strukturübersicht zurückgekehrt werden. Um den Wiedereinstieg in die Filmdarbietung zu erleichtern, wird durch eine grüne Hinterlegung der entsprechenden Ikonen angezeigt, welche Filmsequenzen bereits bearbeitet wurden. 2 Fragestellungen Um gesicherte Aussagen über die Effektivität der Ikonogramme hinsichtlich des Lernerfolgs zu gewinnen, wird dieser Typ mit Lehramtstudierenden in Nürnberg evaluiert. Die erste Datenerhebung erfolgte im SS 02. Sie dient dazu, im Sinne einer Voruntersuchung zu prüfen, inwieweit das Erhebungsinstrument zur geplanten Lernerfolgsmessung sowie zur Bildung weiterer Hypothesen geeignet ist. Eine zweite, umfangreichere Datenerhebung ist für das WS 02/03 geplant. Erst mit Abschluss dieser Erhebung ist mit signifikanten Ergebnissen zu rechnen. Die Hauptfragestellung ist, welcher Lernerfolg mit Ikonogrammen im Vergleich zu anderen Darstellungen, z.B. den in Büchern übli- chen als Einzelbild mit begleitenden Texten, erzielt wird. Weitere Fragestellungen leiten sich daraus ab, dass die Vollversion des Pop-up-Ikonogramms im Wesentlichen auf zwei medialen Formen aufbaut: Dem Lehrfilm und den Bildfolgen. Der Lehrfilm wurde dabei modifiziert, indem er sequenziert wurde und Steuerelemente hinzugefügt wurden. Auch die klassische Bildfolge wurde verändert. Sie tritt nicht als einfache Abfolge von Bildern, in die alle Detailinformationen bereits integriert sind, in Erscheinung, sondern als eine, die logische Struktur des Beweises widerspiegelnde Strukturübersicht. Um dieses Übersichtsbild nicht zu überladen, werden Detailinformationen mittels Pop-up-Fenster abgerufen. Aus diesen Gegebenheiten bzw. Modifikationen ergeben sich weitere Fragen: • o sequenziert (entspricht Pop-up-Ikonogramm ohne Strukturübersicht) und einmal o unsequenziert ohne jede Steuermöglichkeit. • Welche Bedeutung kommt der Bildfolge und speziell deren Strukturierung zu? — Um dies zu klären, war es ebenfalls notwendig, zwei reine Bildfolgeversionen zu erstellen, eine o strukturierte (entspricht Pop-up-Ikonogramm ohne Film) und eine o unstrukturierte Version, die die Bilder entsprechend ihrer Abfolge auf einer Seite ohne Pop-up-Effekte zeigt. • Muss es überhaupt Multimedia sein? Oder ist es eventuell effektiver, Lerninhalte mittels eines einfachen Druckbuttons auf Papier darzubieten? — Eine Klärung dieser Frage erforderte die Bereitstellung der Einzelbildversionen sowohl am Bildschirm als auch als Ausdruck auf Papier. Die folgende Abbildung zeigt die einzelnen Vergleichsgruppen nochmals im Überblick: Abb. 4 68 Welche Bedeutung hat der Lehrfilm für den Lernerfolg und welchen Anteil hat daran die Sequenzierung des Films? — Um dies zu testen, wurden zwei reine Lehrfilmversion erstellt; einmal Formen multimedialen Lehrens — ein Vergleich 3 Evaluation Die Evaluation, wie auch die bereits abgeschlossene Voruntersuchung, gliedert sich im Wesentlichen in drei Phasen: 1. Erhebung des Vorwissens der Probanden mit dem Ziel der Bildung vergleichbarer Gruppen 2. Unterweisung der Gruppen in einer der sieben Versionen 3. Test des Lernerfolges Phase 1: Erhebung des Vorwissens zur Gruppenbildung Die Probanden waren alle Studierende des Lehramts Grund- bzw. Hauptschule am Ende ihrer jeweiligen Geometrie-Didaktik-Veranstaltung. Um sicherzustellen, dass in den einzelnen Gruppen jeweils das ganze Leistungsspektrum von sehr schwachen bis zur sehr starken „Mathematikern“ in gleicher Weise vertreten ist, wurde in einer Vorerhebung zunächst der Leistungsstand der Teilnehmer mittels eines Punktesystems ermittelt. Die Kriterien zur Ermittlung des Leistungsstands bildeten in der Hauptsache Fragen zu Schulleistungen, wie etwa nach der Abiturnote im Fach Mathematik, sowie die Bearbeitung einfacher geometrischer Aufgabenstellungen, wie etwa die Bestimmung der Diagonalenlänge eines Rechtecks. Darüber hinaus flossen weitere Aspekte mit ein, z.B. welche Einstellung die Teilnehmer zur Mathematik haben und ob Mathematik von Ihnen als Leistungskurs belegt wurde. nes kurzen Fragebogens zur Selbsteinschätzung des Lernerfolgs und Handhabbarkeit des Programms. Phase 3: Lernerfolgstest Eine Woche nach der Unterweisung wurde der Lernerfolg für Reproduktions- und Transferwissen getestet. Dazu mussten die Probanden zunächst den Beweis für den Sehnensatz reproduzieren und in einer zweiten Aufgabe diesen Beweis auf eine gegenüber der Unterweisung hinsichtlich Lage und Bezeichnungen veränderte Beweisskizze adaptieren. Hierbei konnten insgesamt 23 Punkte erreicht werden. Im Anschluss war als Transferleistung der Sekantensatz zu beweisen. Hier konnten 8 Punkte erreicht werden. 4 Erste Ergebnisse der Voruntersuchung Mittels Reproduktionsleistung gemessener Lernerfolg Insgesamt konnten sieben Gruppen mit jeweils sieben GS-Studierenden und einem HS-Studierenden gebildet werden, die ein vergleichbares Leistungsspektrum aufwiesen und deren Gesamtsummenwerte aus der Vorerhebung um maximal 2,5% variierten. Phase 2: Unterweisung Ziel der Unterweisung war, dass sich die Probanden mit unterschiedlich medial aufbereiteten Material den Beweis für den Umfangswinkel- und den Sehnensatz ohne Zeitvorgabe erschließen konnten. Dabei diente der Umfangswinkelsatz sowohl zur Angleichung der notwendigen Vorkenntnisse als auch zur Einführung und Gewöhnung an das jeweilige Lernsystem. Die Unterweisung erfolgte in getrennten Räumen durch Hilfskräfte mit festgelegten Einweisungstexten. Die Schulung endete mit der Bearbeitung ei- Abb. 5 Erwartet wurde, dass sich bzgl. der Reproduktionsleistungen die beiden Einzelbildversionen, Papier bzw. Bildschirm, nicht relevant unterscheiden. Hingegen sollte die sequenzierte Filmversion der unsequenzierten und die strukturierte Bildfolge der unstrukturierten deutlich überlegen sein. Die besten Ergebnisse sollte mutmaßlich das Pop-UpIkonogramm liefern, während aufgrund der rein passiven Aufnahme die Filmversionen 69 Mutfried Hartmann insgesamt am schlechtesten abschneiden sollten. Die Ergebnisse wichen in zwei Punkten von den Erwartungen ab: Die Filmversionen brachten immerhin in etwa den gleichen Lernerfolg wie die Einzelbildversionen und die sequenzierte Filmversion brachte keine besseren Ergebnisse als die unsequenzierte. Mittels Transferleistung gemessener Lernerfolg Abb. 6 Gegenüber dem Abschneiden bei den Reproduktionsaufgaben wurde bei der Transferaufgabe erwartet, dass sich der Strukturüberblick sowie die gleichzeitige Darbietung von Ton und Animation positiv auf die Transferleistungen auswirken (Theorie der „doppelten Encodierung“ nach Paivio 1986). Bei den reinen Filmversionen sollte dieser Effekt allerdings bedingt durch die geringe Verarbeitungstiefe nicht zur Geltung kommen. Für das Pop-up-Ikonogramm hingegen wurde erwartet, das sich der Strukturüberblick und der Effekt durch die doppelte Encodierung gegenseitig ergänzen. Dies sollte zu einer besonders hohen Transferleistung der mit dieser Version geschulten Probanden führen. Entgegen dieser Erwartung liegen deren Leistungen in der Bearbeitung der Transferaufgabe zwar immerhin an zweiter Stelle, übersteigen aber die anderer Gruppen nur 70 wenig. Allein die Bildfolgegruppe mit Strukturübersicht hebt sich in der Transferleistung deutlich von denen anderer Gruppen ab. 5 Zusammenfassung Auch wenn bei dieser Voruntersuchung aufgrund des geringen Datensatzes noch keine signifikanten Ergebnisse zu erwarten waren, so lassen sich dennoch gewisse Tendenzen erkennen. Das Pop-up-Ikonogramm, eine speziell für das WWW entwickelte Darbietungsform für mathematische Inhalte, lieferte vergleichsweise gute Reproduktionsergebnisse. Die mit dieser Darbietungsform geschulten Probanden konnten im Schnitt etwa 50% der Inhalte wiedergeben, während die mit den Einzelbild- und reinen Filmversionen geschulten Teilnehmer jeweils nur etwa ein Viertel der Inhalte reproduzieren konnten. Allein die Bildfolgeversion mit Strukturübersicht konnte eine noch annähernd gleichgute Reproduktionsleistung bewirken. Die Produktion reiner Filmversionen (egal ob sequenziert oder nichtsequenziert) kann hingegen bereits jetzt mit großer Wahrscheinlichkeit als Fehlinvestition angesehen werden. Da die Erstellung von Filmen im Gegensatz zu Standbildern wesentlich aufwendiger ist, findet man bei den Filmversionen mit Abstand das ungünstigste Verhältnis aus Nutzen und Produktionsaufwand. Hinsichtlich dieser „Produktionseffizienz“ liegt hingegen die Bildfolgeversion mit Strukturübersicht bereits für den Bereich der Reproduktionsleistungen an erster Stelle. Berücksichtigt man nun noch, dass diese Darbietungsform die mit Abstand besten Transferleistungen zeitigte, so kann vermutet werden, dass diese filmlose Variante des Popup-Ikonogramms sich am Ende der Untersuchungen als besonders geeignete Darbietungsform mathematischer Inhalte im Netz erweisen wird. Ob sich diese Aussagen tatsächlich statistisch erhärten werden, hängt von den Ergebnissen ab, die eine Neuauflage dieser Untersuchung mit erhöhter Probandenzahl im WS 02/03 liefern wird. Literatur Paivio, A. (1986): Mental representations: A dual coding approach. Oxford: Oxford University Press z Einsatz von DGS am Beispiel von Cinderella Gaby Heintz, Neuss Als ein besonders wichtiges Mittel, die Aufmerksamkeit der Schüler zu erregen, ihr Interesse wach zu halten und sie allmählich an das für später so wichtige funktionale Denken zu gewöhnen, wird in der neueren Zeit die Bewegung angesehen. Detlefs, H. (1913) Das Papierarbeitsblatt ist im Unterricht als didaktisches Mittel bereits fest integriert. Durch den Einsatz von DGS kommen durch das ‚bewegliche’ Arbeitsblatt neue Perspektiven hinzu. Die Besonderheit der ‚Interaktivität’ bei einem Cinderella-Arbeitsblatt und die notwendigen Rahmenbedingungen beim Einsatz im Unterricht werden in diesem Beitrag vorgestellt. 1 Bewegung und Arbeitsblatt Detlefs’ (1913) oben zitierte Aussagen sind vor dem Hintergrund der damaligen Kinohefte bzw. Daumenkinos entstanden. Vielleicht erstaunt es, dass hier bereits auf drei wesentliche Aspekte der Bewegung hingewiesen wird: Durch das Phänomen der Bewegung kann beim Lernenden werkzeuges in der neuen Version. In Abb. 2a–c wurden die Linien der Freihandzeichnung automatisch in Strecken bzw. Geraden umgesetzt.) • die Aufmerksamkeit und • die Motivation gesteigert werden sowie • eine neue Fähigkeit im Unterricht erreicht werden. Was ist mit der neu zu vermittelnden Fähigkeit, dem „Beweglichen Denken“, gemeint? Man versetze sich dazu einmal in folgende konkrete Unterrichtssituation: Der Lehrer fordert die Schüler auf, ein Dreieck zu zeichnen, um daran die verschiedenen Eigenschaften zu erarbeiten. Betrachten wir hierzu eine mögliche Fragestellung im Geometrieunterricht in der Jahrgangsstufe 7: Wo liegt der Schnittpunkt der Mittelsenkrechten in Abhängigkeit zur besonderen Form des Dreiecks? Gewohnheitsmäßig werden von den Schülern bekannte Figurenkonstellationen von Dreiecken aus dem Unterricht übernommen. So kann man häufig folgendes Phänomen feststellen, vgl. Abb. 1. (Die Abbildungen 1 und 2 wurden mit einer Beta-Version von Cinderella 2.0 realisiert. Abb. 1 zeigt die Verwendung des Freihand- Abb. 1: Beispiel einer möglichen Schülerzeichnung Der Schüler zeichnet in seinem Heft bzw. auf der Tafel in der Regel ein „besonderes“ Dreieck, ein rechtwinkliges oder auch regelmäßiges Dreieck. Als Grundseite wird häufig die Seite AB gewählt, die parallel zur Tafelkante oder den Rechenkästchen im Heft angeordnet ist. Aus der einen vorliegenden Zeichnung sollen nun vom Schüler Eigenschaften von einer Menge von Dreiecksfiguren erschlossen werden. Viele Zeichnungen müsste man zeichnen, um einen Überblick über verschiedene Lagen zu erhalten. Erwartet wird aufgrund obiger Aufgabenstellung, dass der Schüler „im Kopf“ eine Bildfolge von Figuren entwickelt, vgl. Abb. 2a–c. 71 Gaby Heintz Die Lage des Schnittpunktes F im Inneren des spitzwinkligen Dreiecks muss als ein Sonderfall begriffen werden, um so auch weitere Sonderfälle, wie z.B. in Abb. 2b, zu erschließen. Auch Abb. 2c zeigt nur eine mögliche Sonderform, die unter Zuhilfenahme des Zugmodus in der DGS entdeckt werden kann. Allerdings muss der Schüler erst einmal erkennen, dass verschiedene Konstellationen und damit Fälle existieren, um diese erschließen zu können. Abb. 2a: Schnittpunkt der Mittelsenkrechten im Inneren des Dreiecks Ohne die Verwendung von DGS heißt das für den Schüler, in das statische Bild Bewegung zu integrieren. Damit ist gemeint, den Punkt C in Abb. 2a „stetig“ in seiner Lage zu den Punkten A und B zu verändern. Die Schwierigkeit für den Schüler besteht darin, die Veränderung des Punktes in seiner Bewegung rein gedanklich zu verfolgen, vgl. Gattegno (1971). Das bewegliche Bild muss sich in eine Menge von unterschiedlichen Dreiecksformen auflösen lassen. Aus dem einzelnen Dreieck muss die Fülle der betrachtungswerten Dreieckskonstellationen erkannt und einzelne Fälle dann in der Besonderheit erschlossen werden. Damit wird beim Einsatz von DGS eine neue Fähigkeit vom Schüler erwartet, die darin besteht, mathematische Probleme in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Dass so auch ein weiterer Zugang zu Definitionen, Problemlösungen und Beweisen ermöglicht werden kann, soll nur kurz erwähnt werden. In Anlehnung an Roth (2002) sind wesentliche Komponenten für die Umsetzung des „beweglichen Denkens“ im Unterricht: • Hinsehen • Erfassen und Erkennen • Argumentieren • Analysieren • Verbalisieren • Realisieren • Reflektieren Abb. 2b: Schnittpunkt der Mittelsenkrechten auf einer Dreiecksseite Diese Komponenten sind beim Einsatz von DGS insbesondere bei den methodischen Notwendigkeiten im Unterricht zu berücksichtigen, s. Kap. 4. 2 Interaktivität und Arbeitsblatt Im Unterricht stellt sich Lehren und Lernen als Interaktionsprozess dar, d. h. eine Wechselwirkung zwischen dem Verhalten des Lehrers und dem Verhalten des Schülers. Das Verhalten des einen Beteiligten im Lernprozess beeinflusst das Verhalten des anderen. Wie kann diese Wechselwirkung beim Arbeiten mit dem Computer erreicht werden? Abb. 2c: Schnittpunkt der Mittelsenkrechten außerhalb des Dreiecks 72 Im Rahmen des interaktiven Lernens sind Rückmeldungen zum Lernprozess, d.h. eine Einsatz von DGS am Beispiel von Cinderella Aufgabenstellung (in Textform) Werkzeugleiste (ausgewählt) Zeichenoberfläche (Applet) 'Rückmelde'-Fenster Abb. 3: Aufbau eines interaktiven Cinderella-Arbeitsblattes Bestätigung über das Erreichen von Zwischenlösungen und damit eine Erfolgskontrolle für den Schüler wesentliche und förderliche Komponenten für den Lernprozess. Hilfestellungen, eingebettet in das Arbeitsblatt, wurden schon von Schumann (1998) als wünschenswert herausgestellt. Ein sogenanntes ‚interaktives’ Arbeitsblatt kann diese Forderung umsetzen, weil sich dort Hinweise integrieren lassen, die entweder als Rückmeldung zu bereits vollzogenen Konstruktionen oder als Hilfestellung zur Lösung fungieren. Ein in Cinderella eingebauter stochastischer „Beweiser“ kann auf vom Schüler konstruierte Elemente insofern reagieren, dass sie mit vom Lehrer vorbereiteten Konstruktionselementen verglichen werden. Werden Übereinstimmungen festgestellt, werden diese an den Schüler rückgemeldet. Durch diese Möglichkeit der Rückmeldung grenzt sich eindeutig das „interaktive Arbeitsblatt“ vom herkömmlichen Papierarbeitsblatt und auch vom ‚beweglichen’ Arbeitsblatt ab. dungen in Form von Hilfestellungen (s. Abb. 4) zum anderen in der Lösungskontrolle einer vom Lernenden durchgeführten Konstruktion, vgl. Heintz (2001). Nun zum Aufbau eines Cinderella-Arbeitsblattes: wesentliche Bestandteile des interaktiven Cinderella-Arbeitsblattes sind drei verschiedene Applets, deren Reihenfolge und Größe sich mit einem HTML-Editor individuell verändern lassen. Nach Rückmeldungen aus Unterrichtsversuchen, vgl. Heintz (2000), hat sich aus meiner Sicht der graphische Aufbau des Arbeitsblattes nach Abb. 3 bewährt. Hinweise für den Lernenden zur Erstellung einer Konstruktion sind vom gewählten Lösungsweg unabhängig. Soll beispielsweise eine Mittelsenkrechte konstruiert werden, ist das Lösungselement allein die Mittelsenkrechte, in Abb. 4 mit dem Buchstaben f bezeichnet. Das Hinweiselement („f“) besteht also nur aus einer Geraden mit Namen f, nicht aus der Konstruktion der Mittelsenkrechten selber. Der Hinweis oder integrierte Tipp ist somit von der eigentlichen Wahl der Mittel des Konstrukteurs unabhängig. Farbliche Unterstützungen durch Einfärbungen der Linien oder Kreise werden auf der CinderellaOberfläche vorgenommen und beim Abspeichern des Hinweiselements automatisch mitübernommen. Diese visuellen Rückmeldun- Unterhalb des Arbeitsblattes sind textliche Ergänzungen, z.B. zusätzliche Erläuterungen zur Werkzeugleiste, je nach Kenntnisstand der Lernenden hilfreich. Die Besonderheiten des interaktiven Arbeitsblattes bestehen zum einen in der Möglichkeit von textlichen und visuellen Rückmel- Abb. 4: Ein beispielhaft ausgefülltes Hinweisformular 73 Gaby Heintz gen, verstärkt durch die Einfärbungen, unterstützen den Lernprozess durch Aktivierung weiterer Eingangskanäle des Schülers. Der Lehrer entscheidet bei der Erstellung des Arbeitsblattes über die Wartezeit bzw. Verzögerungszeit, in der der Schüler die einzelnen Hinweise erhält. In Abb. 4 werden beispielsweise 30 Sekunden vorgegeben; die Wartezeit sollte jeweils auf die Lerngruppe abgestimmt sein. Werden vom Schüler zwischenzeitlich weitere Hinweise zur Vorgehensweise abgefragt, wird er auf die verzögerte Rückmeldung hingewiesen, s. Rückmeldefenster in Abb. 3 unten. So kann vermieden werden, dass der Lernende ohne eigene Anstrengung durch einfaches Anklicken der Hilfestellung zu einer Teillösung gelangt. Dies unterscheidet eine HTML-Seite mit verlinktem Hinweis, in der sich ein bewegliches Bild befindet, von einem interaktivem Cinderella-Arbeitsblatt. In dem vorgefertigten Hinweis-Formular sind ebenso binnendifferenzierte Aufgabenstellungen realisierbar. So kann der Lernstoff, das Lerntempo und der Schwierigkeitsgrad der jeweiligen Lerngruppe angepasst und somit individuelles Lernen ermöglichen werden. Die mit Cinderella erstellten Arbeitblätter haben eine sehr geringe Dateigröße, die Transportmöglichkeiten über das Web oder per Diskette sind dadurch vereinfacht. 3 Didaktische Klippen Welche didaktischen Klippen müssen nun vom Lehrer beim Einsatz von beweglichen bzw. interaktiven Arbeitsblättern gemeistert werden? Die veränderte Lernumgebung bringt trotz Nutzung einer StandardBrowseroberfläche eine erhöhte Komplexität für Lehrer und Lernenden mit sich, vgl. Heintz & Wittmann (2002). Neben der Gewährleistung der technischen Anforderungen hinsichtlich Stabilität und arbeitsergonomischen Gesichtspunkten der einzusetzenden Rechner muss der Lehrer weitere didaktische Entscheidungen treffen. Möchte der Lehrer das eigenständige „Geometrietreiben“ seiner Schüler unterstützen und fördern, sind hierzu für den ungeübten Schüler didaktische Anleitungen zu geben. Der Einsatz des Mediums ‚interaktives Arbeitsblatt’ ermöglicht dem Lehrer ein heuristisches Vorgehen. Ein rein linearer Aufbau der Unterrichtssequenz nach steigendem Schwierigkeitsgrad würde der Wirkung des Mediums widersprechen. Je nach Leistungs- 74 stand der Lerngruppe ist es für dieses Unterrichtsvorhaben erforderlich, dass der Lehrer eine gestufte Anleitung und Motivation zur Selbstständigkeit der Lernenden einplant. Es ist eine Illusion zu glauben, dass die vom Lehrer ausgewählten Lernziele immer deckungsgleich sind mit denen seiner Schüler. Freie Erkundungen der Schüler schaffen auch neue sinnvolle Unterrichtsvorhaben. Hier muss der Lehrer sich entscheiden, inwiefern es aus curricularen Vorgaben möglich ist, Abstriche bei seinen bisher aufgestellten Lernzielen zu machen und es Sinn macht, den Erkundigungen seiner Schüler zu folgen. Sind bestimmte Vorgehensweisen zum Erlernen notwendig oder sind spezielle Zwischenschritte bei einer Konstruktion zu erlernen, müssen Vorgaben vom Lehrer gegeben werden. Dies kann zur Einengung der Vorgehensweise führen. Zusätzlich erfordert der Umgang mit unterschiedlichen Leistungsstärken der Schüler differenzierte Hilfestellungen und alternative Aufgabenstellungen. Zur Berücksichtigung der unterschiedlichen Lerntypen sind weitere binnendifferenzierte Vorgehensweisen erforderlich. Die Veränderung der Lehrerrolle vom Wissensvermittler und Instrukteur zum Indikator und Moderator des Lernprozesses ist beim Einsatz von interaktiven Arbeitsblättern mit integrierter Lösungskontrolle implizit gegeben. Bender (2001), Elschenbroich (2001) und Hölzl (1999) haben auf das Problem der Entstehung von fragmentarischem Wissen beim Einsatz von DGS und CAS immer wieder hingewiesen. Hier wurde insbesondere eine große Ablenkungsmöglichkeit durch die Fülle der zur Verfügung stehenden Werkzeuge für den Schüler beim Einsatz von DGS gesehen. Der Lehrer muss überlegen, wie er die kreativen Möglichkeiten des Spieltriebs nutzt, ohne ihnen unnötigen Überhang zu geben. Hierzu kann der Lehrer bei der Erstellung eines Cinderella-Arbeitsblattes eine gezielte Einschränkung von Werkzeugen vornehmen, die dem Schüler bei der Lösung der Aufgabe zur Verfügung stehen sollen. Eine Anzahl von Tipps in Form von gestaffelten Hinweiselementen, die wesentliche Lernschritte absichern, kann hilfreich sein. Ein mittleres Maß zwischen notwendiger Offenheit und Absicherung von wesentlichen Elementen in der Besprechungsphase ist zu finden. Hier greifen auch methodische Notwendigkeiten, s. Kap. 4. Bei der Erstellung der Aufgabenstellung sollte der Text auch unter dem Kriterium Verständlichkeit beleuchtet werden. Knappe, Einsatz von DGS am Beispiel von Cinderella wenig gegliederte Aufgabenstellungen, die nicht bestimmte Lösungswege und -ansätze nahe legen, haben sich aus meiner Sicht bewährt. 4 Methodische Notwendigkeiten Aus den didaktischen Entscheidungen beim Einsatz eines interaktiven Arbeitsblattes ergeben sich methodische Notwendigkeiten. Grundsätzlich sollte der Lehrer Kommunikation zwischen den Lernenden ermöglichen. In der Computerarbeitsphase hat sich aus meiner Sicht die Sozialform Partnerarbeit bewährt. Sie ermöglicht den Austausch und die Diskussion von unterschiedlichen Lösungsansätzen, schafft Raum für interne Fragen zur Aufgabenstellung und verhilft zum intensiven Lesen. Die Arbeitsphase lässt sich grob in drei Phasen aufteilen, in denen differenzierte Vorgaben vom Lehrer zu geben sind: In der eigentlichen Computer-Arbeitsphase sollten die Schüler zu Vorhersagen und Vermutungen aufgefordert werden. Bei der Öffnung von Fragestellungen ist die Suche nach unterschiedlichen Lösungsansätzen und -wegen zu betonen. Aufgrund der Tatsache, dass Konstruktionen auf den verschiedenen Applets im interaktiven Arbeitsblatt nicht abgespeichert werden können, sind beim Schüler Ergebnisfixierungen sowie Kommentierungen in Schrift und Bild einzufordern. Eine Dokumentation über einzelne Screenshots ist zwar möglich, gibt aber die Fülle von Konstruktionsschritten schwerlich wieder. Insbesondere sind auch mit DGS erstellte Konstruktionen per Hand ins Heft zu übertragen. Der Einsatz von Arbeitsblättern mit integrierter Lösungskontrolle bedingt eine darauf abgestimmte Besprechungsphase. Durch die gestuften Hinweiselemente ist den Schülern auf jeden Fall ‚ein’ Ergebnis bekannt. Hieraus ergeben sich möglicherweise Motivationsprobleme hinsichtlich einer notwendigen Besprechung, die bereits durch eine darauf abgestimmte Aufgabenstellung aufzufangen sind. Der Schwerpunkt bei der Lösungspräsentation durch die Schüler liegt nun in erster Linie auf der Art und der Qualität der Begründungen ihrer Konstruktionsschritte und der Betrachtung und Diskussion von differenzierten Lösungswegen. Der Umgang mit unerwarteten Schülerlösungen ist bereits in der Zeit- planung der Unterrichtsstunde zu berücksichtigen. In der anschließenden Reflexionsphase können Papierarbeitsblätter in Form von Tagebuchprotokolle oder Lerntagebücher den Lernprozess weiterhin effektiv unterstützen. Hierdurch hat der Lehrer auch die Möglichkeit, neben der Besprechungsphase weitere, in selbstständigen Schülerarbeitsphasen erreichte Arbeitsergebnisse sowie Lernschwierigkeiten zu erfahren. 5 Chancen durch Einsatz von DGS Der Lehrplan der Jahrgangsstufe 11 in NRW sieht integrierende Wiederholungen aus den Themenbereichen der Sekundarstufe I vor. Bei der Umsetzung des Lehrplans im Unterricht wird bedauerlicherweise häufig der Aspekt der reinen Wiederholung in den Vordergrund gestellt. Niemann (1990) stellte schon zehn Jahre vor dem Inkrafttreten der neuen Richtlinien für die Sekundarstufe II einen Ansatz vor, der anhand von Papierarbeitsblättern, noch ohne die Verwendung von DGS, den Wiederholungsstoff in einzelnen Themenbereichen von den Schülern an unbekannten Aufgabenstellung nochmals aufrollt. Ausgangspunkt ist z.B. folgende Aufgabenstellung: Aufgabe: Gegeben sind zwei Punkte P und Q, die nicht auf den Koordinatenachsen liegen. Kann man einen Punkt R auf den Achsen so wählen, dass das Dreieck PQR rechtwinklig ist? Bei dieser Unterrichtseinheit werden die Inhalte von Thaleskreis über das Lösen von linearen, quadratischen und BruchGleichungen bis hin zur Aufstellung von Kreisgleichungen sequenziell in einzelnen Arbeitsblättern, je nach geeigneter Wahl der Punkte P und Q im Koordinatensystem, behandelt. Hierzu muss der Schüler Argumentationsketten aufstellen und Fallunterscheidungen hinsichtlich der Lösungsvielfalt von quadratischen Gleichungen vornehmen. Dieser Ansatz zeigt aus meiner Sicht auch neue Perspektiven für den Analysis-Unterricht der Sekundarstufe II auf. Der Schwerpunkt dieser Unterrichteinheit liegt im Bereich der Algebra, die geometrischen Ansätze sind zur Unterstützung der Algebra-Kenntnisse diesen untergeordnet. Zur Verdeutlichung der Inhalte ein Beispiel: 75 Gaby Heintz Abb. 5: Startseite eines interaktiven Arbeitsblattes (Download möglich unter www.mathe-ecke.de ) Wählt man z.B. die Punkte P(-2/3) und Q(2/-1) im Koordinatensystem, so ergeben sich als mögliche Lösungen: a) die Punkte R1(0/5) und R2(-0/5), falls der rechte Winkel bei P liegt. b) die Punkte R3(0/-3) und R4(3/0), falls der rechte Winkel bei Q liegt. c) die Punkte R5(0/1+2 2 ), R6(0/1–2 2 ), R7( 7 /0) und R8(- 7 /0), falls der rechte Winkel bei R liegt. Zu a) und b) sind jeweils Geradengleichungen aufzustellen und die Schnittpunkte der Geraden mit den Koordinatenachsen zu berechnen. Zu c) ist die Bestimmung der Koordinatendarstellung des Thaleskreises über die Berechnung des Mittelpunktes und des Radius erforderlich. Weiterhin sind die Schnittpunkte des Kreises mit den Koordinatenachsen zu berechnen. Ist die Tangentengleichung an den Kreis in Koordinatendarstellung bekannt, ist dies eine weitere mögliche Lösungsvariante. Setzt man die Arbeitsblätter in interaktive Arbeitsblätter um, kann der Schüler durch die Möglichkeit der Bewegung auf einen Blick verschiedene Situationen entdecken. Die in Abb. 5 benannte Aufgabenstellung spannt den gesamten Rahmen der Untersuchungen auf und ist tragendes Element dieser Unterrichtseinheit. Stellt man nun dem Schüler das Problem z.B. in Form von Abb. 5 vor, kann bzw. muss der Schüler nun die Einzelprobleme selber entdecken und in seiner Relevanz beurteilen. So muss er u.a. die Abhängigkeiten von der Anordnung der Punkte A und B im Koordinatensystem erkennen, Lösungsvarianten in Bezug auf die Lage des rechten Winkel bei A bzw. B, s. Abb. 6, oder auch bei C, s. Abb. 7, ermitteln. Welche neuen Chancen für den Lernprozess können nun beim Einsatz von DGS hinzukommen? Beim Einsatz der Papierarbeitsblätter, die i. d. R. von den Schülern nacheinander bearbeitet werden, werden einzelne Schwierigkeiten isoliert betrachtet. Der Schüler wird von einem Arbeitsblatt zur nächsten Schwierigkeit geführt. 76 Abb. 6: Fall: Kein Schnitt des Thaleskreises mit den Koordinatenachsen Neben den integrierten Hinweisen im interaktiven Arbeitsblatt können dann den Schülern Hilfestellungen zur Aufarbeitung seiner Lü- Einsatz von DGS am Beispiel von Cinderella cken aus dem Wiederholungsstoff angeboten werden. Methodisch bietet sich hier das Stationenlernen an. Hierbei entscheidet der Schüler und nicht der Lehrer, welchen Themenbereichen er sich aufgrund seiner Wissenslücken verstärkt widmen muss. 6 Ausblick Richter-Gebert & Kortenkamp (2002) kündigen neue Funktionen in der Version 2.0 von Cinderella an. Für den Mathematikunterricht sind aus meiner Sicht folgende besonders interessant: • Freihandzeichnungen: Wie mit einem Bleistift können Zeichnungen vorgenommen werden. Diese lassen sich mithilfe eines dazu passenden Werkzeuges anschließend in Geraden oder Strecken umsetzen. Darauf kann dann wiederum der Zugmodus angewendet werden. So ist es möglich, die Veränderung vom starren Bild zum beweglichen Bild zu erleben. Abb. 7: Fall: Ein Eckpunkt liegt auf einer Koordinatenachse Die Qualität liegt hier also nicht nur in erster Linie in den zu vollziehenden heuristischen Strategien, sondern in der Notwendigkeit, das gestellte Problem strukturell zu durchdringen. Weitere Spezialfälle können bei geeigneter Wahl der Koordinaten der Punkte A und B vom Schüler erarbeitet werden, vgl. Abb. 8. Hier ist die Lage auf den Koordinatenachsen, vgl. Abb. 7, nur ein zu betrach- • Physik-Optionen: Bewegte Wellen, wie z.B. die Sinuswelle, können für den Mathematikunterricht konstruiert werden. • Makros bzw. Skripte: Insbesondere können auch geometrische Objekte in Textform als Konstruktionsvorschrift eingegeben werden und in Konstruktionen umgesetzt werden. 7 Resümee Beim Einsatz von DGS stellen die neuen Visualisierungsmöglichkeiten nicht nur unter Zeitaspekten eine große Hilfestellung für den Lehrer dar. Durch die zweigleisige Betrachtungsweise in Bild und Sprache werden unterschiedliche Lerntypen berücksichtigt. Die Möglichkeit zur aktiv-entdeckenden Auseinandersetzung mit geometrischen Fragestellungen durch die Schüler kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Abb. 8: Beispiel in der Situation mit 8 möglichen Fällen tender interessanter Fall. Dieser Ansatz ergibt eine andere Sichtweise der Unterrichtseinheit. Die Vielfalt der Lösungsansätze ist auf den geometrischen Lösungsansatz verlagert, die algebraische Betrachtungsweise des Problems ist in den Hintergrund gestellt. Unterrichtsversuche zeigten die Annahme von Hilfestellungen durch Schüler und eine positive Bewertung der Sozialform Partnerarbeit, s. Heintz (2001) und somit eine Bewährung der hier vorgestellten didaktischen und methodischen Vorgehensweise. In Form von Protokolldateien wurden die Tätigkeiten der Schüler aufgezeichnet. Schülertätigkeiten an der Tastatur und mit der Maus wurden dabei protokolliert und in Log-Files festgehalten. Mit zunehmender Erfahrung mit den Cinderella-Arbeitsblättern zeigten sich auch zunehmende Aktionen bei den Lernenden. 77 Gaby Heintz Literatur Bender, P. (2002): Dynamische GeometrieSoftware in der Lehramts-Ausbildung — Erste Ergebnisse einer Evaluation. In: Herget u. a. (2002), 75–83 Detlefs, H. (1913): Die Veranschaulichung von veränderlichen Figuren im Unterricht. In: Unterrichtsblätter 19, 121–124 Elschenbroich, H.-J. (2001): Lehren und Lernen mit interaktiven Arbeitsblättern. Dynamik als Unterrichtsprinzip. In: Herget, W. & Sommer, R. (Hrsg.) (2001): Lernen im Mathematikunterricht mit neuen Medien. Hildesheim: Franzbecker, 31–39 Gattegno, C. (1971): Zur Didaktik des Mathematikunterrichts 2. Beiträge zu einer neuen Didaktik. Hannover: Schroedel Heintz, G. (2000): WWW-basierte interaktive Arbeitsblätter für den Geometrie-Unterricht. In: Beiträge zum Mathematikunterricht 2000. Hildesheim: Franzbecker, 273–277 Heintz, G. (2001): Didaktische Betrachtungen zum Einsatz von DGS in Klasse 7 — beim Einsatz von Cinderella. In: Beiträge zum Mathematikunterricht 2001. Hildesheim: Franzbecker, 273–276 Heintz, G. (2001): Interaktive Arbeitsblätter — Hilfestellungen, Tipps und Lösungskontrolle für Lernende. In: Amelung, U. & Barzel, B. (Hrsg.) 78 (2001): Reflexionen und Visionen eines technologiegestützten Mathematikunterrichts. Münster: Zentrale Koordination Lehrerausbildung (ZKL-Texte 17), 14–17 Heintz, G. & Wittmann, G. (2002): Gestaltung von neuen Lernumgebungen durch neue Medien. In: Herget u. a. (2002), 169–170 Herget, W., Sommer, R., Weigand, H.-G. & Weth, T. (Hrsg.) (2002): Medien verbreiten Mathematik. Hildesheim: Franzbecker Hölzl, R. (1999): Qualitative Unterrichtsstudien zur Verwendung dynamischer Geometrie-Software. Universität Augsburg: Habilitationsschrift Krüger, K. (2000): Erziehung zum funktionalen Denken. Zur Begriffsgeschichte eines didaktischen Prinzips. Berlin: Logos Niemann, W. (1990): 11/1: Wiederholung — Angleichung — Motivation. In: Mathematik Betrifft uns 4/90-1. Aachen: Bergmoser & Höller, 1–30 Richter-Gebert, J. & Kortenkamp, U. (2002): Making the Move: The next version of Cinderella. In: www.kortenkamps.net Roth, J. (2002): Bewegliches Denken — ein wichtiges Prozessziel des Mathematikunterricht. In: Beiträge zum Mathematikunterricht 2002. Hildesheim: Franzbecker, 423–426 Schumann, H. (1998): Interaktive Arbeitsblätter für das Geometrielernen. In: Mathematik in der Schule 36, 562–569 z Stationenlernen mit neuen Medien im Mathematikunterricht der Sek. II Henning Heske & Heinz Wesker, Dinslaken Im Rahmen des BLK-Modellversuchs SelMa („Selbstlernen in der gymnasialen Oberstufe — Mathematik“) wurde ein didaktisch-methodisches Konzept entwickelt und erprobt, das die Möglichkeiten der neuen Technologien für ein selbstständiges Lernen im Mathematikunterricht nutzt. Zentrale Medien bei diesem Unterrichtskonzept sind der PC mit einem offline zu nutzenden Internetbrowser samt vorbereiteten HTML-Dateien und Programmen (z.B. LiveMathAnimationen, AVI-Videosequenzen, Mathcad-Grafiken, Excel-Programmen, Java-Applets) sowie der TI-89 mit seinem implementierten Computeralgebrasystem. Anhand der Stationenzirkel zu den Themen „Ganzrationale Funktionen“ und „Matrizenrechnung“ werden das Konzept und seine Umsetzung in der Praxis vorgestellt. 1 Stationenlernen mit neuen Medien Der von Februar 1999 bis Januar 2003 in Nordrhein-Westfalen laufende BLK-Modellversuch SelMa („Selbstlernen in der gymnasialen Oberstufe — Mathematik“) hatte sich zur Aufgabe gestellt, Unterrichtsszenarien und -materialien zu entwickeln, die neue Medien „intelligent“ in den Mathematikunterricht der Sekundarstufe II integrieren und dabei die Eigenaktivität der Schülerinnen und Schüler fördern. Eine zusätzliche Fragestellung war, inwieweit sich bei solchen Unterrichtskonzepten die Rolle der Lehrerinnen und Lehrer verändert. Im Rahmen dieses Modellversuchs haben wir als Autorenschule (Ernst-Barlach-Gesamtschule Dinslaken) u. a. zwei Unterrichtseinheiten als Stationenlernen für die gymnasiale Oberstufe entwickelt, die diesen Ansprüchen gerecht werden. Lernen an Stationen (synonym auch Stationenlernen, Stationenzirkel und Lernzirkel) ist eine offene Unterrichtsform, die aus dem Grundschulbereich stammt und inzwischen Eingang in die Sekundarstufe I (Bauer 1997) auch der Gymnasien gefunden hat, in der Sekundarstufe II aber noch wenig erprobt ist (Heske 2001). Diese Form des ganzheitlichen Lernens berücksichtigt unterschiedliche Lernvoraussetzungen, unterschiedliche Zugänge und Betrachtungsweisen sowie unterschiedliches Lern- und Arbeitstempo in besonderer Weise. Den Schülerinnen und Schülern wird ein vielfältiges Angebot an Aufgaben angeboten, so dass ein Lernen mit allen Sinnen möglich ist. Die Auswahl und Be- arbeitung der Aufgaben, einschließlich Kontrolle und Korrektur, erfolgt weitgehend selbstständig und eigenverantwortlich. Ideal ist diese Unterrichtsform, wenn es möglich ist, einen Unterrichtsgegenstand so aufzubereiten, dass er auf verschiedenen Wegen erschlossen werden kann. Ziel ist es, möglichst viele Lerneingangskanäle anzusprechen. Auf diese Weise wird der Unterricht auch den unterschiedlichen Lerntypen gerecht, die in einer Lerngruppe vorhanden sind. Für den Mathematikunterricht verlangt dieses Vorgehen eine Präsentation des Gegenstandes auf der enaktiven, der ikonischen und der symbolischen Ebene. Darüber hinaus ist auch eine interaktive Darstellung durch einen Computereinsatz anzustreben (Hole 1998). Es sind verschiedene Zielrichtungen eines solchen Unterrichts denkbar. Besonders geeignet ist diese Methode für vertiefendes, individuelles Üben. Aber auch das Erschließen eines neuen Unterrichtsgegenstandes oder Mischformen sind möglich. Die Organisation dieser Unterrichtsform, die mindestens über drei Stunden — angemessen sind aber eher vier und mehr Doppelstunden — ablaufen sollte, ist aufwendig, da etwa 12–25 Stationen vorbereitet werden müssen. Sie werden in der Regel in einem geeigneten Klassenraum an den Wänden aufgebaut. Gearbeitet wird entweder an den Stationen, oder die Schülerinnen und Schüler nehmen sich die Materialien (z. B. Arbeitsblätter) mit an ihren Arbeitsplatz. Es ist sinnvoll, Stationen mit unterschiedlichen Sozialformen anzubieten, damit sich dieser Unterricht nicht in Einzelarbeit erschöpft, sondern 79 Henning Heske & Heinz Wesker auch Partner- und Gruppenarbeit berücksichtigt. Die Stationen sollten nummeriert und farbig markiert sein. Die Farbe könnte Auskunft über den thematischen Schwerpunkt, die Sozialform oder den Zugang geben. Da nicht alle Schülerinnen und Schüler alle Stationen bearbeiten sollen, ist es auf diese einfache Weise möglich, das Lernen trotzdem zu strukturieren, indem man gewisse Vorgaben bezüglich Wahl- und Pflichtpensum macht, z. B.: jeder muss wenigstens drei blaue, eine rote und zwei gelbe Stationen bearbeiten. Selbstverständlich kann eine vorgelegte Konzeption ohne größeren Aufwand auf die eigene Lerngruppe zugeschnitten werden, indem bestimmte Stationen weggelassen werden, die Aufgabenstellung der einen oder anderen Station umformuliert wird oder einige wenige zusätzliche Stationen hinzugefügt werden. Die inhaltliche Zusammenführung der Lerngruppe und der Anschluss an den weiteren Unterricht ist überlegt zu organisieren. Da nicht alle Schülerinnen und Schüler die selben Stationen bearbeiten, ist es empfehlenswert, durch die Ausweisung von Pflichtstationen eine inhaltliche Grundlage zu schaffen, an die angeknüpft werden kann. Beispielsweise muss die Erarbeitung wichtiger neuer Inhalte selbstverständlich Pflicht sein. Es ist zudem möglich und sinnvoll, der Lerngruppe während der Arbeit an den Stationen (z. B. in der zweiten Doppelstunde) eine umfangreiche Hausaufgabe zu stellen, die zur ersten Stunde nach Beendigung der Arbeit an den Stationen anzufertigen ist. Diese Hausaufgabe verlangt die Bewältigung aller wichtigen (vor allem der neuen) Aspekte des Themas. Ihre Besprechung dient dann als Zusammenführung der Lerngruppe und als Übergang in eine traditionelle Unterrichtsform. (vgl. Gabriel & Heske 2001) und „Matrizenrechnung“ (vgl. Gabriel, Heske & Teidelt 2002) liegen komplett als HTML-Dateien vor und können online oder nach dem Herunterladen vom Bildungsserver learn-line offline bearbeitet werden. Bei einigen Stationen ist der Einsatz eines Computers mit Browser zwingend notwendig, da sie entsprechende Lern- und Animationsprogramme (LiveMath mit dem entsprechenden Plugin) beinhalten. Andere Stationen lassen sich ausgedruckt auch problemlos als Arbeitsblatt oder Karteikarte auslegen. Die Schülerinnen und Schüler können wählen, welche Stationen sie in welcher Reihenfolge bearbeiten. Es empfiehlt sich jedoch, insbesondere neue Inhalte als Pflichtstationen auszuweisen. Die Schülerinnen und Schüler erhalten zur Orientierung einen sogenannten Laufzettel (Abb. 1), auf dem alle Stationen aufgeführt sind (Nummer, Titel, Themenbereich, Pflicht- oder Wahlstation, Sozialform). Der Lehrer übernimmt bei dieser Unterrichtsform im Wesentlichen die Funktionen des Beraters, da die Lösungen der Aufgaben an den jeweiligen Stationen ausliegen bzw. angeklickt werden können. Die im Rahmen des BLKModellversuchs SelMa entwickelten Stationenzirkel „Ganzrationale Funktionen“ Abb.1: Laufzettel zum Stationenlernen „Matrizenrechnung“ 80 Stationenlernen mit neuen Medien im Mathematikunterricht der Sek. II Rechnungen und Ergebnisse notieren die Schülerinnen und Schüler in ihrem Heft. Der Unterricht wird durch eine umfangreiche Hausaufgabe, die über den gesamten Zeitraum begleitend gestellt wird, ergänzt. Dadurch wird auch eine zusätzliche Lernerfolgskontrolle erreicht, an die der weitere Unterricht anknüpfen kann. ger, offline zu nutzender Internetbrowser (Netscape oder Internet Explorer) gewählt. Daher wurde der gesamte Stationenzirkel in HTML-Dateien erstellt, die auf einer CD vorliegen. Der unschätzbare Vorteil ist, dass — sofern ein vernetzter Computerraum mit CDServer vorhanden ist — eine einzige CD genügt, so dass alle Schülerinnen und Schüler auf die Materialien und Animationen zugreifen können. 2 Der Lernzirkel umfasst 21 Stationen, die in vier Aufgabengruppen unterteilt sind, was einem unterrichtlichen Umfang von ca. 10–14 Stunden entspricht. Lernen an Stationen in der Sek. II: Matrizenrechnung Der Stationenzirkel „Matrizenrechnung“ ist für den Mathematikunterricht in den Jahrgangsstufen 12 und 13 konzipiert. Das dort zu behandelnde Thema Matrizenrechnung ist bisher von den Schülerinnen und Schüler meistens eher als langweilig erlebt worden. Zudem verhinderte ein hoher Rechenaufwand, der eine hohe Fehlerhäufigkeit beinhaltete, die Untersuchung interessanter Anwendungen. Der erstellte Stationenzirkel dient der selbstständigen und ganzheitlichen Erarbeitung dieses Themas. Die Nutzung der neuen Technologien erfolgt durch die Verwendung allgemeiner und fachspezifischer Computerprogramme wie des Computeralgebrasystems LiveMath und des Tabellenkalkulationsprogramms Excel. Günstig ist es, wenn den Schülerinnen und Schüler zudem ein computeralgebrafähiger Taschenrechner wie der TI-89 zur Verfügung steht. Als Lernumgebung wurde ein gängi- Die Unterrichtsreihe ist für ein Halbjahr der Jahrgangsstufe 12 oder 13 als Einstieg in die Lineare Algebra konzipiert. Sie eignet sich auch zur Vermittlung eines Orientierungswissens zum Thema Lineare Algebra. Lernvoraussetzungen der Lernenden sind grundlegende Kenntnisse über geometrische Abbildungen aus der Sekundarstufe I, der Begriffe Matrix (rechteckiges Zahlenschema) und Vektor (einspaltige Matrix) sowie die Fähigkeit und Fertigkeit, einen Internet-Browser zu bedienen und ein Computeralgebrasystem (z.B. Derive oder TI-89) zu benutzen. 3 Beispielhafte Stationen Auf dem Laufzettel (Abb. 1) bieten die ersten sechs Stationen unterschiedliche Zugänge zum Themenbereich „Einführung in die Matrizenrechnung“. In Station 2 werden in ei- Abb. 2: Aufgabe zur Einführung der Matrizenmultiplikation 81 Henning Heske & Heinz Wesker nem für Schülerinnen und Schüler verständlichen Anwendungszusammenhang die Matrix-Vektor-Multiplikation und die Matrizenmultiplikation als zweckmäßiges Bearbeitungsschema hergeleitet. Im 1. Aufgabenteil geht es darum, die Menge der einzelnen Bestandteile zu bestimmen, die die Energy Company braucht, um die Bestellung der Firma Sport Mayer ausliefern zu können, also um eine Matrix-Vektor-Multiplikation. Im 2. Aufgabenteil soll eine Tabelle erstellt werden, aus der ersichtlich wird, wie viel Kilogramm der einzelnen Bestandteile für die Bestellungen der einzelnen Firmen benötigt werden. Die Multiplikation zweier Matrizen löst dieses Problem, dem im Nächsten eine weitere Systematisierung folgt. Abb. 3: Lösung zur Aufgabe rens kann erschlossen werden, wenn die elementaren Zeilenumformungen mit einem Computer-Algebra-System berechnet werden. Bei einer Bearbeitung dieser Station ohne entsprechende Computer- bzw. Taschenrechnernutzung könnte der Rechenaufwand und die damit verbundene Fehleranfälligkeit den Blick auf den Algorithmus als solchen verstellen. So werden in dieser ersten Gruppe von Stationen unterschiedliche Lerneingangskanäle angesprochen, die den verschiedenen Aspekten des Matrixbegriffes Rechnung tragen. Die Stationen zur „Codierung von Nachrichten“ und zum „Gaußschen Algorithmus“ bieten Gelegenheiten, weitergehende systematische Fragen zur Lösbarkeit von Gleichungssystemen oder Invertierbarkeit von Matrizen in den Blick zu nehmen. Mit Blick auf die Stationen des gesamten Lernzirkels wird der Aspekt unterschiedlicher Zugänge zum Themenbereich Matrizenrechnung deutlich. Während die 2. Gruppe (Nr. 7 bis 14) die geometrische Wirkung der Matrizen in den Mittelpunkt rückt, wird in den Stationen Nr. 15 bis 19 (grüne Gruppe) erarbeitet, wie man mit (stochastischen) Matrizen Prozesse aus verschiedenen Bereichen (Gesellschaft, Ökologie) simulieren kann. In Station Nr. 10 kann die Geometrie von 2x2-Matrizen mit Hilfe eines interaktiven Plugins (LiveMath) systematisch erkundet werden. Die AusAbb. 4: Systematisierung Matrix-Vektor-Multiplikation und Matrizenmultiplikation wirkung der Änderung Andere Zugänge zur Matrizenrechnung bievon Koeffizienten der Matrix C kann unmitten die Stationen Nr. 5 und 6. Während bei telbar beobachtet werden. Mögliche gedankder „Codierung von Nachrichten“ (Nr. 6) stärliche Fehler werden sofort visualisiert und ker die Wirkung, hier die Ver- und Entschlüskönnen mit dem Partner analysiert werden. selung von Informationen, im Mittelpunkt In Station Nr. 17 wird der Prozess (Wandern steht, knüpft die Station zum Gaußschen Alvon Kundenstämmen) als solcher in den Mitgorithmus an Vorwissen aus der Sekundartelpunkt gestellt, während es in der Station stufe I an. Das Lösen von Gleichungssyste„Biesbosch“ (Nr. 15) stärker darum geht, den men ist bekannt, die Systematik des Verfah(ökologischen) Prozess mathematisch an- 82 Stationenlernen mit neuen Medien im Mathematikunterricht der Sek. II gemessen zu modellieren. Die Umweltbedingungen eines Biotops ändern sich, wodurch sich ein anderes ökologisches Gleichgewicht einpendelt, indem unterschiedliche Vegetationsformen ineinander übergehen. Solche Anwendungssituationen führen unmittelbar auf recht große Matrizen, die nur sinnvoll mit einem Computer-Algebra-System, oder wie in der Station eingebaut, mit dem LiveMathPlugin bearbeitet werden können, da die Potenzen recht großer Matrizen zu berechnen sind. Vernetzung der Begriffe zu visualisieren (s. Abb. 7). 4 Erfahrungen und Erkenntnisse Durch die Möglichkeit, das Lerntempo weitgehend sowie die Lernmaterialien und den Schwierigkeitsgrad zumindest teilweise selbst zu bestimmen, wird die Unterrichtsmethode „Lernen an Stationen“ von den Schülerinnen und Schülern sehr gut angenommen. Die Aufmerksamkeit und die Bereitschaft selbst zu lernen sind in der Regel deutlich höher als im traditionellen Unterricht. Durch die Anwendungsorientierung der Aufgabenstellungen wird zudem ein Bezug zur Lebenswirklichkeit der Lernenden deutlich gemacht und eine zusätzliche Motivation geschaffen, sich mit Mathematik auseinAbb. 5: Interaktives Plugin LiveMath zur Geometrie von 2x2 Matrizen ander zu setzen. Durch die Organisation von Stationen, die in Partner- oder in Gruppenarbeit zu bewältigen sind, werden auch Lernsituationen initiiert, in denen gemeinsam gelernt wird und eine Interaktion zwischen Schülerinnen und Schülern über Mathematik stattfindet. Durch die Möglichkeit und die Notwendigkeit, sich selbst zu kontrollieren und sich selbst für eine Abb. 6: Bestimmung einer Übergangsmatrix aus einem Flussdiagramm bestimmte Station zu entscheiden, wird die Mögliche systematische Vertiefungen zu dieVerantwortung für das eigene Lernen und ser Gruppe von Stationen können die Unterdas Bewusstsein über eigene Stärken und suchung von Fixelementen linearer AbbilSchwächen deutlich erhöht. dungen bzw. die Fixverteilung stochastischer Prozesse sein. Die verwendeten Medien (z.B. LiveMath-Animationen, Videosequenzen, Mathcad-GrafiDie beiden letzten Stationen des Zirkels ken, Excel-Programm, Java-Applets, TI-89) widmen sich dem Aspekt der Begriffsbildung. dienen vor allem der Entlastung der SchüleIn der Aufgabe (Station Nr. 20) sollen vorgerinnen und Schüler von aufwendigen Rechgebene Begriffe aus der Matrizenrechnung nungen durch die Benutzung eines Compuzu einer Mindmap strukturiert werden, um die teralgebrasystems und der Visualisierung 83 Henning Heske & Heinz Wesker Abb. 7: Mindmap zum Begriff Matrizenrechnung von mathematischen Zusammenhängen. Die Einbeziehung von sinnstiftenden Anwendungen wird größtenteils dadurch erst möglich. Die Schwierigkeiten für einen häufigeren Unterrichtseinsatz des Stationenlernens lagen in der äußerst aufwendigen Erstellung der einzelnen Stationen und in dem organisatorischen Problem, einen geeigneten Raum in der Schule für längere Zeit entsprechend einzurichten. Durch unsere beiden kostenlos zum Downloaden bereit stehende Stationenzirkel wird ein Einsatz im alltäglichen Mathematikunterricht praktikabel, da nur mit einer CD und lediglich einem mit CD-Server ausgestatteten Computerraum ein entsprechender Unterricht organisierbar ist. Lernen an Stationen ist eine Unterrichtsmethode für den Mathematikunterricht in der Sekundarstufe II, die es ermöglicht, die neuen Medien „intelligent“ in den Unterricht zu integrieren. Sie fördert dabei nachhaltig das selbstständige Arbeiten der Schülerinnen und Schüler. Die Rolle der Lehrerinnen und Lehrer wandelt sich vom Teaching zum Coaching, d. h. sie entwickelt sich hin zu einer individuellen Lernberatung. Literatur Bauer, Roland (1997): Schülergerechtes Arbeiten in der Sekundarstufe I: Lernen an Stationen. Berlin: Cornelsen Scriptor Gabriel, Ilona & Heske, Henning (2001): Tarifsysteme und Bogenbrücken. Stationenlernen mit neuen Medien im Mathematikunterricht. In: Computer + Unterricht 11, Heft 44, 16–19 Gabriel, Ilona, Heske, Henning & Teidelt, Markus (2002): Einführung in die Matrizenrechung — Selbstlernen durch Lernen an Stationen. In: Amelung, U., Barzel, B. & Berntzen, D. (Hrsg.): Neues Lernen — Neue Medien — Blick über den Tellerrand. Münster: Zentrale Koordination Lehrerausbildung (ZKL-Texte 19), 339–342 Heske, Henning (2001): Lernen an Stationen im Mathematikunterricht. In: Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht 54, 398– 401 Hole, Volker (1998): Erfolgreicher Mathematikunterricht mit dem Computer. Methodische und didaktische Grundfragen in der Sekundarstufe I. Donauwörth: Auer Internetadressen Den Stationenzirkel zu den Ganzrationalen Funktionen findet man unter: www.learn-line.nrw.de/angebote/selma/foyer/projekte/dinslakenproj1/index.htm Den Stationenzirkel zur Matrizenrechnung findet man unter: www.learn-line.nrw.de/angebote/selma/foyer/projekte/dinslakenproj3/index.htm Einige Pfade höher stehen alle Materialien dort auch gezippt zum Downloaden bereit. 84 z Motivationsmöglichkeiten von Lehr- und Lernprogrammen Stefanie Krivsky, Wuppertal Entwickelt wird ein Kriterienkatalog für Lehr- und Lernprogramme auf Basis der Lernvoraussetzungen und im Hinblick auf die Lernziele. Am Beispiel MathePrisma werden Möglichkeiten zur Realisierung dieser Anforderungen gezeigt. 1 Lernziele und Lernvoraussetzungen Lehr- und Lernprogramme sind geprägt von den unterschiedlichen Lernzielen, die sie verfolgen, sowie den verschiedenen Lernvoraussetzungen, die die Autoren jeweils zu Grunde legen. Auf Grundlage verschiedener Lerntheorien haben sich (nach Baumgartner 1994) vor allem drei Arten von Lernprogrammen entwickelt: • Computer aided „drill and practice”-Programme, • (Intelligente) Tutorensysteme, • Simulationen, Mikrowelten. Erstere beziehen ihren Ursprung aus dem Behaviorismus. Sie gehen davon aus, dass Wissen „angeeignet und gespeichert“ wird und eine „korrekte Ein-/Ausgabe-Relation“ ist. Lernen bedeutet damit die „Bildung von Reiz-Reaktions-Ketten“, was zum Ziel hat jeweils „eine (einzige) richtige Antwort zu finden“. Damit ist der Ablauf dieser Programme „starr vorgegeben“ und der Computer ein autoritärer Lehrer. Abb. 1: Einflussfaktoren bei Lernprogrammen Wie in Abb. 1 dargestellt, ist durch die Lernziele festgelegt, welche Kompetenzen zu vermitteln sind und somit die inhaltliche Richtung vorgegeben. Bei den Voraussetzungen ist zum einen das Individuum „Mensch“ zu berücksichtigen, welches die Methodik bedingt, nach der Lerninhalte zu vermitteln sind. Zwar sind die methodischen Möglichkeiten durch die Technik bzw. durch das Medium Computer sicherlich (noch) eingeschränkt, dennoch bieten vor allem Interaktionen und Visualisierungen einen neuen Zugang zu insbesondere mathematischen Inhalten. Nach dem Kognitivismus wird Wissen „verarbeitet und gespeichert“. Lernen bedeutet hier „Aufbau kognitiver Strukturen“ und Lernziel ist, „sich richtige Methoden zum Finden einer Lösung anzueignen“. Für die Lernprogramme bedeutet dies, dass sie „dynamisch und abhängig vom Lernmodell“ sind. Der Rechner wird damit zum „helfenden und beobachtenden Tutor“. Mit konstruktivistisch ausgelegten Lernprogrammen wird Wissen „konstruiert und gespeichert“ und bedeutet „mit einer Situation geeignet umgehen können“. Lernen heißt also „Erwerb von Erfahrungen“, und das Lernziel heißt „komplexe Situationen bewältigen können“. Der Ablauf solcher Lernprogramme muss also vom Benutzer „selbst bestimmt und autonom“ sein, denn der Computer gilt als „kooperativer Berater“. Da der Aufbau entsprechender Programme damit recht stark vorgegeben ist und sich diese Programme überwiegend an der Methodik und der Technik orientieren, werden die Möglichkeiten, die sich für einzelne Inhalte bieten, nicht immer ausgeschöpft. Daher 85 Stefanie Krivsky sollen im Folgenden, ausgehend von mathematischen Lernzielen, methodische und technische Notwendigkeiten zusammengetragen und diese abschließend mit Forderungen aus Lernbiologe und -psychologie begründet werden. 2 Das Modul „Rekursive Folgen“ Das Modul „Rekursive Folgen“ beinhaltet Begriffs-, Regel- und Beweislernen, denn es wird das in Abb. 2 dargestellte Begriffsnetz zu Folgen erarbeitet, Bildungsgesetze von arithmetischen und geometrischen Folgen, der Folge der Quadratzahlen sowie der Folge der Fibonacci-Zahlen behandelt, und das Beweisprinzip der vollständige Induktion thematisiert. • Begriffsbildung wird mittels (interaktivem) Begriffsnetz dargestellt. • Bildungsgesetze zu arithmetischen und geometrischen Folgen können mittels Aufgabengeneratoren trainiert werden. • Wachstumsprozesse von Sonnenblumen werden simuliert und zeigen mathematische Strukturen in der Natur, und zwar an einem besonders ansprechenden Beispiel. 2.1 Inhaltliche Konzeption im Hinblick auf Technik Der Folgenbegriff ist sehr facettenreich. Je nach dem, welches Lernziel im Vordergrund steht, werden der Aufzählungsaspekt, der Funktionsaspekt, der rekursive oder iterative Aspekt oder der Diskretisierungsaspekt hervorgehoben, wobei der Aufzählungsaspekt der intuitiven Vorstellung wohl am nächsten kommt. Wie in Weigand (1993) beschrieben, bietet es sich beispielsweise für die Einführung des Grenzwertbegriffs an, den Funktionscharakter von Folgen zu betonen, während im Zusammenhang mit Approximationen und Intervallschachtelungen der Diskretisierungsaspekt im Vordergrund steht. Im Hinblick auf das Beweisverfahren der vollständigen Induktion ist vor allem der rekursive Aspekt der Folgen von Bedeutung. Ebenso kann zwischen globalen, lokalen und punktuellen Sichtweisen unterschieden werden. Wird die Folge als Objekt, Funktion oder ErAbb. 2: Begriffsnetz zu Folgen im Modul „Rekursive Folgen“ gebnis z. B. einer Intervallzerlegung aufgefasst, Methodische und technische Vorteile des spielt erstere eine zentrale Rolle. Die lokale Computereinsatzes: Sichtweise steht bei Betrachtungen von auf• Es werden Beispiele zu Folgen in einanderfolgenden Folgengliedern im Mittelsymbolischer, graphischer und operatiopunkt wie bei der rekursiven Darstellung, naler Form dargeboten. während bei punktuellen Sichtweisen jeweils genau ein Folgenglied von Bedeutung ist, al• Anwendungsbeispiele werden in interakso bei der expliziten Darstellung von Folgen. tiver Form präsentiert (Türme von Hanoi, Treppenstufen von Fibonacci). 86 Motivationsmöglichkeiten von Lehr- und Lernprogrammen Schließlich lassen sich die vorgestellten Aspekte mit dynamischen und statischen Sichtweisen in Zusammenhang setzen. So zeigt sich die statische Sichtweise im Diskretisierungs-, Gesamtheits- und punktuellen Aspekt und die dynamische Sichtweise im iterativen Aspekt und Aufzählungsaspekt. Der funktionale und der lokale Aspekt lässt sich hierbei beiden Kategorien zuordnen (vgl. Weigand 1993). Da der Reiz der technischen Möglichkeiten von Computern sicherlich vor allem in Animationen und Interaktionen liegt, gilt es vor allem den dynamischen Aspekt von Folgen bzw. rekursiven Folgen bei der Begriffseinführung herauszuarbeiten. Da in dem Modul zudem das Beweisverfahren der vollständigen Induktion vorgestellt werden soll, werden Folgen über den rekursiven Aspekt eingeführt. Das Ziel des Moduls beschränkt sich nicht nur auf die Vorstellung des Begriffs der rekursiven Folge, sondern neben der rekursiven Darstellung wird auch die explizite Darstellung motiviert und das zugehörige Begriffsnetz (s. Abb. 2) und insbesondere der Zusammenhang zwischen rekursiven Folgen und vollständiger Induktion vermittelt. Als Beispiele zu Folgen werden im wesentlichen arithmetische und geometrische Folgen betrachtet, ferner aber auch periodische Folgen, die Summenfolge der natürlichen Zahlen und die der Quadratzahlen studiert. Dabei ermöglichen insbesondere Aufgabengeneratoren ein Training im routinierten Umgang mit Folgen. Aufgaben, bei denen Handlungen simuliert werden, bieten sich im Zusammenhang mit den „Türmen von Hanoi“ und der Folge der Fibonacci-Zahlen an. 2.2 Inhaltliche Konzeption im Hinblick auf Methodik In der Einstiegsphase gilt es vor allem, den Lernenden durch Simulationen Gelegenheit zu geben, an ihre Vorkenntnisse anzuknüpfen und zu vorgelegten Problemstellungen eigene Ideen zu entwickeln. Da allgemein das Fortsetzen von Zahlenfolgen aus Rätseln oder Einstellungstests bekannt ist, bietet es sich an, den Benutzer darüber an das Thema heranzuführen. Gleichzeitig werden dabei im Sinne des Prinzips der Variation der Veranschaulichung die wesentlichen Merkmale von rekursiven Folgen herausgestellt. Die Folgen, die der Lernende dabei fortzusetzen hat, werden in Form von Zahlen, aber auch in Form von Bildern dargeboten. Motivationsmechanismen dieses Einstiegs sind: • Die Aufgabenstellung ist von Rätseln und Tests her bekannt und gibt ein Gefühl der Vertrautheit. • Der Alltagsbezug und die Bedeutung des Themas für den Alltag ist durch den Einstellungstest gewährleistet. • Ohne theoretischen Hintergrund können die Aufgaben „intuitiv“ gelöst werden und vermitteln erste Erfolgserlebnisse. • Ein Wechsel zwischen Zahlen und Bildern regt verschiedene Assoziationen an, wobei Bilder besonders Lernende mit „Abwehrhaltung“ gegenüber mathematischer Symbolik ansprechen. Eingeführt wird der Folgenbegriff also über den Aufzählungsaspekt, wobei es Aufgabe des Lernenden ist, die Rekursionsvorschrift dieser Folgen zu erkennen und anzuwenden. Abb. 3: Beispielaufgabe aus dem Einstellungstest In der dem Aufbau von Sach- und Fachkompetenz dienenden Erarbeitungsphase werden die einzelnen Begriffe formal definiert, wobei der Rechner bzw. das Programm immer mehr die Aufgabe eines helfenden Tutors übernimmt. Im Modul werden zuerst die Teilbegriffe „Startwert“ und „Rekursionsvorschrift“ vorgestellt, die eine rekursive Folge kennzeichnen, bevor der Oberbegriff „Folge“ bzw. „rekursive Folge“ eingeführt wird. Zur Veranschaulichung der Bedeutung der Teilbegriffe für das Prinzip der rekursiven Folgen und im späteren auch für das Prinzip der vollständigen Induktion wird das „Dominoprinzip“ herangezogen. Dazu wird das Umfallen von Dominosteinen simuliert, d. h. der Benutzer startet durch Anklicken eines ersten Dominosteins eine Animation bei der „unendlich viele“ Dominosteine zum Umfallen gebracht werden. Die Parallele zwischen erstem Dominostein und Startwert bzw. Kippmechanismus und Rekursionsvorschrift wird nochmals dadurch be- 87 Stefanie Krivsky tont, dass ebenso durch Anklicken eines Startwertes eine ähnliche Animation abläuft, bei der jedes Folgenglied seinen Nachfolger „erzeugt“. Von der rekursiven Darstellung lässt sich durch geeignete Fragen überleiten zur impliziten Darstellung, also auch der funktionale Aspekt vermitteln. Die Frage nach einer Beweistechnik, mit der sich implizite in rekursive Darstellungen transformieren lassen, motiviert das Prinzip der vollständigen Induktion. Wie in Abb. 4 gezeigt, kann für die Einführung dieses Beweisverfahrens das Dominoprinzip erneut aufgegriffen werden. ben an, bei denen rekursive Funktionsvorschriften in Bildern erkannt, Folgenglieder berechnet sowie explizite und implizite Darstellungen bestimmt bzw. mittels vollständiger Induktion bewiesen werden sollen. Als Transferaufgaben sind im Modul die Seiten zu den „Türmen von Hanoi“ und den Fibonacci-Zahlen anzusehen, da hier das Rekursionsprinzip auf Handlungsabläufe übertragen wird und die Rekursionsvorschrift operational durchdacht wird. Die „Türme von Hanoi“ stellen dabei eines der bekanntesten Beispiele zum Rekursionsprinzip dar: Ein aus verschieden großen Scheiben zusammengesetzter Turm soll so abund an einem anderen Platz aufgebaut werden, dass nie eine kleinere Scheibe unter einer größeren liegt, wobei ein dritter Platz als Zwischenablage zur Verfügung steht. Es ist Aufgabe des Lernenden zu erkennen, dass das Problem für einen Turm mit n Scheiben dadurch rekursiv gelöst werden kann, dass man den Turm mit n–1 Scheiben auf die Zwischenposition schiebt, die größte Abb. 4: Beispiel zum Beweisprinzip der vollständigen Induktion Scheibe umlegt und den Turm auf dieser aufbaut. Die Zusammenhänge zwischen den einzelIn dem Modul wird dazu nach der minimalen nen Begriffen werden in einem Zusatzfenster Anzahl der benötigten Umlegungen von dargestellt, das bei jeder Begriffsdefinition Scheiben gefragt, also für den Aufwand die aufgerufen werden kann. In diesem Fenster rekursive Folge wird das in Abb. 2 dargestellte Netz mit etF(n)=2F(n–1)+1 mit F(1)=1 erarbeitet. was veränderter Symbolik entwickelt, und Die Folge der Fibonacci-Zahlen ist die Anthilft so bei der Einordnung eines neuen Bewort auf die Frage nach der Anzahl der Möggriffs und stellt gleichzeitig noch einmal eine lichkeiten eine Treppe hinaufzusteigen, wenn Wiederholung der bereits bekannten Begriffe die erste Stufe betreten werden muss, und dar, wobei durch Anklicken eines Begriffs die dann auf die jeweils nächste oder übernächsentsprechende Seite (im Hauptfenster) ante gewechselt werden kann. Diese berechgezeigt werden kann. nen sich nach dem Bildungsgesetz der Folge Am Ende der Erarbeitungphase gilt es, die der Fibonacci-Zahlen Folgen aus dem Eingangstest zu definieren F(1)=F(2)=1 und F(n)=F(n–1)+F(n–2). und den Test somit auch aufzulösen. Der letzten Phase, der Ergebnissicherung, dienen im Modul sicherlich die Trainingsaufgaben zu geometrischen und arithmetischen Folgen. Verschiedene Berechnungsmethoden können dazu an mit Zufallsgeneratoren erzeugten Aufgaben erarbeitet und trainiert werden. Auch das Arbeitsblatt bietet Aufga- 88 Die Zusammenhänge zwischen FibonacciZahlen, expliziter Darstellung und goldenem Schnitt lassen sich eindrucksvoll am Beispiel der Spiralen bei Sonnenblumenkernen vorführen und mit Hilfe der vollständigen Induktion bzw. Kettenbrüchen zeigen. Motivationsmöglichkeiten von Lehr- und Lernprogrammen In Abb. 6 werden durch das Prägnanzgesetz die mittleren „Formen“ zu einer „Figur“ zusammengesetzt und als Buchstabe „B“ wahrgenommen. Je nach Kontext wird die gleiche Figur auch als „13“ interpretiert. Bei Lernenden hat sich im Zusammenhang mit dem Modul „Rekursive Folgen“ gezeigt, dass die Bildungsgesetze der grafischen Darstellung in der Aufgabe aus Abb. 3 zunächst nur schwer erkannt werden. Erst anhand der Zahlenfolge werden die Gesetzmäßigkeiten wahrgenommen und dann auch an der Grafik erkannt. Abb. 5: Simulation von Wachstumsprozessen von Sonnenblumenkernen 3 Beobachtungen aus der Lernbiologie und Lernpsychologie Abschließend soll grob skizziert werden, welche Prozesse beim Lernen im Gehirn ablaufen, und anhand ausgewählter Beispiele erläutert werden, wie sich hier gewonnene Erkenntnisse für Lernprozesse nutzen lassen. In der ersten Phase der Wahrnehmung werden Informationen als Reize über die verschiedenen Sinnesorgane aufgenommen, als Töne, Muster, Farben erkannt, nach einer semantischen Analyse bewertet und gefiltert. Nicht nur bei der Gestaltung des Layouts von Lernprogrammen, sondern auch bei der Darstellung von Lerninhalten gilt es zu beachten, dass dabei folgende Gesetzmäßigkeiten gelten (vgl. Banyard 1995, Vollrath 2001): • Wahrnehmung erfolgt und nicht isoliert. kontextbezogen • Gestalten höherer Prägnanz werden bevorzugt. • Von konkurrierenden Wahrnehmungen wird nur eine bewusst wahrgenommen. • Veränderungen werden gemäß der Hysteresekurve erkannt, d. h. erst bei Überwindung eines Schwellwertes werden diese bewusst. Als das Gesetz von der guten Gestalt wird das Prägnanzgesetz bezeichnet, welches sich darin äußert, dass der Mensch den Drang verspürt „schlechte Gestalten“ in „gute“ zu überführen, d. h. in Gestalten, die durch Gesetzmäßigkeiten, Einfachheit, Geschlossenheit, Symmetrie gekennzeichnet sind (vgl. Vollrath 2001). Abb. 6: Die mittlere Figur wird je nach Kontext als „B“ oder als „13“ interpretiert (siehe Spektrum der Wissenschaft 2002). Jede Wahrnehmung wird bewertet und mit einem Gefühl wie Freude oder Angst verknüpft. Wird dabei beispielsweise der Fluchtinstinkt ausgelöst, können die Denkprozesse, die automatische Reaktionen behindern, unterdrückt werden. Da jedes Lebewesen von Natur aus auf neue Gegenstände oder Situationen zunächst mit Abwehr bzw. Flucht reagiert, bedeutet dies, dass auch bei neuen Lerninhalten das „rationale Denken“ zunächst eher blockiert wird (vgl. z. B. Vester 1997). So sollten Lernenden bereits in der Einstiegsphase Erfolgserlebnisse ermöglicht werden, da positive Erlebnisse besonders gut verarbeitet werden. Dazu zählen auch sogenannte „Aha-Erlebnisse“ wie auch das Wiedererkennen von vertrauten Erinnerungen. Die Erarbeitung von neuem Lehrstoff fällt entsprechend leichter, wenn an Bekanntes angeknüpft wird und die Angst vor Fremdem durch Neugier kompensiert wird. Der Einsatz des Moduls in Testreihen zeigt, dass durch das Eingangsrätsel die Hemmschwelle gegenüber Mathematik deutlich gesenkt und das selbstständige Erarbeiten von Themen gefördert wird. Die Informationen, die als wichtig bzw. als neu eingestuft werden, gelangen in die bewusste Wahrnehmung, welche auch als selektive Wahrnehmung bzw. Aufmerksamkeit bezeichnet wird. Aufmerksamkeit ist eine 89 Stefanie Krivsky • Neue Informationen oder Reaktionen, • Nichteintreffen erwarteter Reize, • Erwarten von Urteilen, Je mehr Regionen an der Verarbeitung bestimmter Informationen beteiligt sind, desto besser lassen sich diese wieder abrufen. So hat sich gezeigt, dass die Reproduktion von Informationen bei einer vielseitigen Verarbeitung deutlich verbessert werden kann (vgl. beispielsweise Janotta 1990): • Überwindung von Gewohnheiten. • Hören 20%, Grundvoraussetzung für Lernprozesse und lässt sich provozieren durch (vgl. Birbaumer & Schmidt 1999): Entsprechend sind bei Lernprozessen geeignete Reize und Motivationsmittel einzusetzen, um die Aufmerksamkeit der Lernenden auch über längere Zeiträume hindurch zu erhalten. Auf wichtige Informationen kann sie beispielsweise durch Fragen oder Überraschungseffekte gelenkt werden. In diesem Sinne hat sich die Kombination aus Präsentation von Sachverhalten und Fragen bzw. Experimenten als sehr konzentrationsfördernd erwiesen. So hat sich beispielsweise gezeigt, dass sich insbesondere bei einem Schüler mit ADS-Syndrom die Lerngeschwindigkeit deutlich steigern ließ und er erstmals nicht nur von der Geschwindigkeit, sondern auch vom Lernerfolg her im Vergleich mit seinen Mitschülern sehr gute Leistungen erbrachte. Aus Sicht der Lernbiologie umfasst das Denken mentale, bewusst ablaufende Prozesse wie logisches Denken und Problemlösen oder das Einordnen und Bewerten vom Situationen und Ereignissen. Wie mittels PETAufnahmen nachgewiesen werden kann (vgl. z. B. Birbaumer & Schmidt 1999) spezialisieren sich unterschiedliche Gehirnregionen auf die Verarbeitung unterschiedlicher Informationen (z. B. bzgl. verschiedener Sinnesorgane, verschiedener Merkmale von Informationen und auch umfangreicherer Szenarien, bzgl. unterschiedlicher Bewertungssysteme, u. v. m). Wird neuer Stoff dabei in Bezug zu bereits vorhandenem Wissen gesetzt, so fällt das Verarbeiten bzw. Einordnen leichter. Entsprechend sollte bei umfangreicheren Lerngebieten zunächst ein Wissensgerüst aufgebaut und dieses erst danach mit Details gefüllt werden. Schließlich gilt es, die Beziehungshaltigkeit von Informationen darzustellen, da ein dichtes Wissensnetz einerseits Erfolgserlebnisse, andererseits aber auch ein vielseitiges Kombinieren und kreatives Verarbeiten des Wissens ermöglicht. Untersuchungen (vgl. z.B. Spitzer 1996) haben ergeben, dass nach Ausfällen einzelner Bereiche — beispielsweise infolge einer Gehirnoperation — die Verarbeitungen teilweise von anderen Arealen übernommen werden. Ebenso widmen sich Regionen nach dem Ausbleiben von Reizen anderen Aufgaben. 90 • Sehen 30%, • Hören und Sehen 50%, • Anwenden und Erfahren 70%. Lernprogramme sollten vor diesem Hintergrund besonderen Wert auf eine sehr vielseitige Darstellung von Lerninhalten Wert legen, so dass Informationen intensiver verarbeitet werden und vielfältigere Assoziationen entstehen können. Literatur Banyard, P. (1995): Einführung in die Kognitionspsychologie. München & Basel: UTB Baumgartner, P. & Payr, S. (1994): Lernen mit Software. Digitales Lernen Bd. 1. Innsbruck: Österr. Studien-Verlag Birbaumer, N. & Schmidt, R. F. (1999): Biologische Psychologie. 4. Aufl. Berlin, Heidelberg & New York: Springer Janotta, H. (1990): Computer based training in der Praxis. Landsberg/Lech: verlag moderne industri Spitzer, M. (1996): Geist im Netz — Modelle für Lernen, Denken und Handeln. Heidelberg, Berlin & Oxford: Spektrum Vester, F. (1997): Denken, Lernen, Vergessen. 24. Aufl. München: dtv Vollrath, H.-J. (2001): Grundlagen des Mathematikunterrichts in der Sekundarstufe. Heidelberg & Berlin: Spektrum Weigand, H.-G. (1993): Zur Didaktik des Folgenbegriffs. Mannheim, Wien & Zürich: BI-Wissenschaftsverlag Spektrum der Wissenschaft Magazin. Gehirn und Geist, Magazin für Hirnforschung und Psychologie Vol. 1. Spektrum der Wissenschaft. Heidelberg 2002 z Begriffsbildung im Mathematikunterricht Anselm Lambert, Saarbrücken Begriffsbildung ist ein allgemein anerkannter und wesentlicher Gegenstand des Mathematikunterrichts. Damit ist es unstrittige Aufgabe der im Unterricht eingesetzten Neuen Medien, speziell auch der Lehr- und Lernprogramme, jene zu unterstützen. Begriffsbildung findet durch den Einsatz Neuer Medien offensichtlich in einer anderen Lernumgebung als bisher statt. Eine Frage, die nun zu stellen ist, um die dadurch bedingten eingetretenen bzw. notwendigen Veränderungen zu untersuchen, ist die danach, was denn Begriffsbildung sei. Begriffe und Begriffsbildung sind auf einer ersten Ebene unter ontogenetischen und kulturhistorischen Aspekten zu betrachten und enthalten auf einer zweiten Ebene von der kognitiven, epistemologischen oder soziokulturellen Wissensstruktur abhängige Komponenten. Diese beiden Ebenen sind miteinander verwoben. Die Fachdidaktik bedient sich nun der geeigneten Hilfswissenschaften, von der Psychologie über Pädagogik, Philosophie und Soziologie bis hin zur Geschichte, um ein ganzes Bild von Begriffsbildung in Mathematik und Mathematikunterricht zu erhalten (siehe Abb. 2). Das hier vorgestellte theoretische Modell von Begriffsbildung ist deskriptiv in dem Sinne, dass es die vorhandenen Sichtweisen strukturiert, und normativ, da es auffordert die genannten Aspekte alle zu berücksichtigen. Es eignet sich für praktische Unterrichtsplanung, -beobachtung und -bewertung durch Lehrkräfte und bietet sich an als Basis für weitere systematische empirische Untersuchungen. Von der im Modell beschriebenen Struktur des ontogenetischen Aspektes des Begriffes „Begriffsbildung“ geführt, tragen wir aus den Befunden empirischer Mathematikdidaktik schließlich ein begründetes systematisches Modell von Zugängen zur Mathematik zusammen, die für die Begriffsbildung im Mathematikunterricht eine entscheidende Rolle spielen. 1 Der Begriff „Begriffsbildung“ in der didaktischen Literatur Über Mathematik im allgemeinen und Begriff im besonderen wurde schon nachgedacht, bevor es die Fachwissenschaft „Didaktik der Mathematik“ gab. So wie wir aus der Geschichte der Mathematik im Rahmen eines genetischen Unterrichts wertvolle Anregungen für das Machen und Darstellen von Mathematik, also für den Prozess und das Produkt Mathematik erhalten können, so liefern uns die Vordenker des Nachdenkens über Mathematik auch heute noch zwar nicht empirisch messend abgesicherte, aber dennoch unverzichtbare wichtige Impulse und Erkenntnisse. Beginnen wir also mit einem Klassiker. 1.1 Ein klassischer Anfang: Gottlob Frege Das Wort Begriff wird verschieden gebraucht, teils in einem psychologischen, teils in einem logischen Sinn, teils auch in einer unklaren Mischung aus beiden. (Frege 1892, 64) Gleich zu Beginn wird hier von dem „Wort“ Begriff gesprochen, das „gebraucht“ wird. Frege beschreibt hier (zumindest implizit), dass der Gebrauch eines Wortes seine Bedeutung ist. Ein Wort, als Zeichen für einen Begriff, ist nicht notwendigerweise der Repräsentant eines Dinges. Sprache ist also nicht wie beim jungen Wittgenstein Abbild der Wirklichkeit, sondern wie beim späten Wittgenstein gilt, dass der Gebrauch eines Wortes in einer Sprache seine Bedeutung ist. Dies gilt auch für die Zeichen der Sprache „Mathematik“. Begriffe verbergen sich hinter den gebrauchten Zeichen. Wir unterscheiden, wenn nötig, das Zeichen (also das Begriffswort, den Begriffsnamen oder Bezeichner) von dem Begriff, der durch Begriffsinhalt und/oder --umfang gegeben ist. Und davon weiter die Relation von Bezeichner und Begriff. Betrachten wir den Begriff als gegeben und ordnen ihm seinen Bezeichner zu, so nennen wir dies Be- 91 Anselm Lambert zeichnung (oder Ausdruck); umgekehrt ist der Begriff die Bedeutung des Bezeichners: des Algebraunterrichts heraus. (Vollrath 1994, 253) Bezeichnung: Begriff a Bezeichner Hier beschreibt Vollrath den ontogenetischen Aspekt von Begriffsbildung (Hischer 1996, 9). Lesen wir dies exemplarisch, erhalten wir als Verallgemeinerung auf alle Gebiete der Mathematik sinngemäß: Die Begriffe bilden sich im Mathematikunterricht heraus. Der Lernende erwirbt (oder konstruiert — je nach Begriffsbildung in der diese beschreibenden Lehr-Lern-Theorie) — im Laufe des Unterrichts Begriffe. Aber was heißt „im Unterricht herausbilden“? Wie kommt ein Begriff in eine Unterrichtssituation? Was ist eigentlich ein zu beobachtender Begriff im Unterricht? Wie können wir ihn beobachten und erkennen, ob er erworben (oder konstruiert) wurde? Dazu werden wir in Bälde das epistemologische Dreieck heranziehen. Bedeutung: Bezeichner a Begriff Frege stellt in dem oben angeführten Zitat zwei Aspekte von Begriffsbildung heraus: einen psychologischen Aspekt auf der einen und einen logischen, das heißt zeitgenössisch: einen philosophischen Aspekt, auf einer anderen Seite, die sich in seinen Augen in diesem Spannungsverhältnis — oft in (unerwünschter) Unklarheit — vermischen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es zu zeigen, dass wir bei den Begriffen „Begriff“ und „Begriffsbildung“ neben den beiden von Frege angeführten noch einige weitere Aspekte zu betrachten haben, und davon zu überzeugen, dass wir durch diese Vielgesichtigkeit eher (die erwünschte) Klarheit erlangen. Unsere Aufgabe ist es also, den vielfältigen Gebrauch des Wortes „Begriff“ oder auch des Wortes „Begriffsbildung“ aufzuspüren. Die in der Literatur gefundenen Sichtweisen werden dann im zweiten Abschnitt in ein systematisierendes Modell zusammen gefasst. Dann sehen wir weiter. 1.2 „Begriffsbildung“ in der aktuellen didaktischen Literatur Wir wollen im nun Folgenden aus der originär fachdidaktischen und weiterer, der Fachdidaktik nützlichen und von der Fachdidaktik zu nutzenden Literatur zusammentragen, in Verbindung setzen und strukturieren, was wir dort zur Begriffsbildung finden können. Begriffsbildung im Unterricht; ein fachdidaktischer Einstieg. Allen, die sich für das Thema „Begriffsbildung“ interessieren, würden wir für einen Einstieg in der Regel gewiss eines der Bücher von Hans-Joachim Vollrath empfehlen. Das ist meist das erste, was einem, mir und den von mir befragten Didaktikern zumindest, zu „Didaktik der Mathematik und Begriffsbildung“ einfällt: „Schauen Sie doch mal in den Vollrath!“ (insbesondere Vollrath 1984). Schauen wir also mal: Der Zahlbegriff, der Verknüpfungsbegriff, die Begriffe Term und Gleichung, sowie der Funktionsbegriff bilden sich im Laufe 92 Vollrath fährt fort: Diese Begriffsbildungsprozesse spiegeln bis zu einem gewissen Grade die historische Entwicklung wieder. (Vollrath 1994, 253) Hier beschreibt Vollrath den kulturhistorischen Aspekt von Begriffsbildung (Hischer 1996, 9). Auch Uwe-Peter Tietze fährt auf diesen beiden Schienen. Er unterscheidet Begriffsbildung (a) als Entstehung und Fortentwicklung eines Begriffs im historischen Rahmen der mathematischen Wissenschaft, (b) als Entstehen eines Begriffs im Kopf eines Schülers [...], (Tietze u. a. 2000, 56) und ergänzt [...] (c) als Handlungsabsicht des Lehrers im Unterricht. (Tietze u. a. 2000, 56) Der Begriff kann also nach dieser Vorstellung auch von der Lehrkraft vorgebildet werden, ohne dass er von den Lernenden nachgebildet (erworben oder konstruiert) wird! Es gibt eine Handlungsweise der Lehrkraft, die einen Begriff in den Raum zu stellen vermag, der dort von den Lernenden abgeholt wird oder aber auch nicht. Zurück zu Vollrath: Die Lernenden können sich dieser Begriffsentwicklungen in reflektierenden Phasen des Unterrichts bewusst werden. (Vollrath 1994, 253) Welcher Begriffsentwicklungen? Das ist nun etwas schwieriger zu verstehen. Meint Vollrath den kulturhistorischen Aspekt? Dafür spricht — entlang „der Gebrauch eines Wortes ist seine Bedeutung“ — das in beiden Sätzen gebrauchte Wort „Entwicklung“. So orientieren sich etwa auch Roland Fi- Begriffsbildung im Mathematikunterricht scher und Günther Malle bei „Begriffsentwicklung“ an der Geschichte der Mathematik (Fischer & Malle 1985, 150ff). Oder meinen sie (auch) den ontogenetischen Aspekt? Sinn macht beides. Beides könnte und wird bildungsbedeutsam sein [...]. (Hischer 1996, 9) „Bildungsbedeutsam“ unter der Perspektive sowohl der Allgemeinbildung als auch der Begriffsbildung. Für unseren Mathematikunterricht heißt das, dass Begriffsbildung unter den beiden Aspekten (ontogenetisch und kulturhistorisch) sowohl impliziter als auch expliziter Unterrichtsinhalt sein kann und soll. Die Lernenden sollten im Mathematikunterricht über die in ihnen stattfindende Begriffsbildung genauso reflektieren und sich genauso dazu äußern können, auch in schriftlicher Form, wie zu der kulturhistorischen Begriffsbildung (die ihnen in inhaltlichen Zusammenhängen gegenüber treten sollte). „Äußern können“ heißt hier: wir sollten den Erwerb dieser Fähigkeit zur Reflexion fordern und fördern und im Unterricht die Zeit und den Raum und damit die Gelegenheit zur Muße dazu zur Verfügung stellen. In einem ersten Schritt kann dies, wie von Wilfried Herget (in der Tradition von Wagenschein) vielerorts propagiert, in Form von Aufsätzen über Inhalte des Mathematikunterrichts geschehen. Einerseits in „etwas anderen Aufgaben“ mit authentischem Bezug zur Wirklichkeit: an Hand von Zeitungsausschnitten mit fragwürdigen (d. h. des (Nach-) Fragens würdigen) mathematischen Argumentationen. Andererseits mit authentischem innermathematischem Bezug, etwa in Beantwortung der Fragen „was ist eine negative Zahl?“ oder „wozu brauchen wir negative Zahlen?“ — wie von Günter Schmidt (Stromberg) erfolgreich im Unterricht verwirklicht, in sinnvoller Ergänzung zum Rechnen mit negativen Zahlen. Nebenbei: solche Aufsätze ersetzen nicht Rechnen durch Schreiben, sondern betten Rechnen sinnhaft ein; hier wird Unterrichtszeit nicht für vermeintlich Unmathematisches geopfert, sondern vielversprechend investiert. Es ist ein kleiner zweiter Schritt, auch zur Begriffsbildung selbst als Thema vorzustoßen, einerseits die Stärken (und Schwächen) der Sprache Mathematik zu diskutieren, andererseits die Fragen „Wie ich lernte, was eine negative Zahl ist!“ (ontogenetischer Aspekt) oder „Wie die negativen Zahlen in die Mathematik kamen!“ (kulturhistori- scher Aspekt) oder beides anzugehen. Wie wir reflektierende, nachdenkliche Fragen, die im Laufe des Unterrichts dann zu eigenen Fragen der Lernenden werden sollten und könnten, weiter systematisch ausdifferenzieren können, finden wir von Susanne Prediger begründet und exemplarisch an der Exponentialfunktion vorgeführt in (Prediger 2002). Sie klammert dort allerdings den kulturhistorischen Aspekt aus. Es gibt [...] immer wieder Bemühungen, die Schüler zum Schreiben über Mathematik zu bringen. Wer wie Gallin und Ruf einen Weg findet, dass sie [...] aufschreiben, welche Fragen sie besonders berührt, welche Ergebnisse sie beeindruckt haben, welche Erfahrungen für sie aber vielleicht auch schmerzhaft waren, kann ihnen helfen eine persönliche Beziehung zur Mathematik zu gewinnen und wird dabei selbst eine neue Dimension des Mathematikunterrichts kennen lernen. (Vollrath 2001, 151) Reflektierende mathematische Aufsätze (auch über Aspekte der Begriffsbildung), gerade auch in Alltagssprache, sind darüber hinaus ein wertvoller Beitrag zum selbstgesteuerten Lernen, das notwendige Bedingung eigenständigen lebenslangen Lernens ist. Es ist unbestreitbar, dass die Tätigkeit des umgangssprachlichen Kommentierens und Analysierens mathematischer Aktivitäten zur Förderung des Verständnisses und zum Aufbau einer größeren mathematischen Kompetenz beiträgt. In diesem Sinne sind die Aufforderungen von Herget zu unterstützen, häufiger mathematische Aufsätze schreiben zu lassen. (Kaune 2001, 38) Gerade dann, wenn über die Inhaltsebene hinaus auch auf metakognitive Fragen danach, welche Ideen zu einem Begriff geführt haben, Antworten gesucht werden, um die metakognitive Kompetenz der Schüler zu verstärken (vgl. Kaune 2001, 39): Mathematische Aufsätze! Zurück zu Vollrath: Man sollte versuchen, ihnen den Eindruck zu vermitteln, dass diese Begriffsentwicklungen nicht abgeschlossen sind. (Vollrath 1994, 253) Wir wollen es wieder für beide oben herausgelesenen Aspekte behaupten: Sowohl die ontogenetische als auch die kulturhistorische Begriffsbildung sind nie abgeschlossen. Jeder kann sich individuell weiterentwickeln; niemand kann wissen, wie sich die 93 Anselm Lambert Mathematik in den nächsten 100 Jahren entwickeln wird. aus bilden die Interaktionen den Begriff (radikal: die Interaktion ist der Begriff). Der Eindruck kann implizit vermittelt werden, in obigem Beispiel (zum Zahlbegriff) durch den weiteren Ausbau des Zahlensystems: die Lernenden lernen auch noch irrationale Zahlen kennen. Besser aber wird er explizit reflektiert. Es kann im Unterricht nachgezeichnet werden, wie Menschen durch den Auf- und Ausbau von Begriffen in Begriffssystemen sich die Möglichkeit gaben, die Phänomene in der Welt zu ordnen (s. u.), und wie der Erwerb dieser Begriffe und darüber hinaus der Fähigkeit zu reflektierender Begriffsbildung auch den Lernenden diese Möglichkeit schenkt. Es ist also von der Natur des Wissens her erforderlich, sowohl den formalen Kalkül, als auch die ausgezeichneten Anwendungen, und die Beziehung beider Ebenen im Unterricht zu vermitteln. (Bromme & Steinbring 1990, 162) Das epistemologische Dreieck Bei Vollrath heißt es sinngemäß: „Die Begriffe bilden sich heraus“ (s. o.). Dazu kommen wir nun zurück. Aus der Sprachwissenschaft haben Rainer Bromme und Heinz Steinbring für die Didaktik der Mathematik das dort bewährte Werkzeug des epistemologischen Dreiecks übernommen. Wenn man Mathematik als Sprache zu lesen und zu sprechen bereit ist, ist dies durchaus naheliegend. Begriff Objekt Wir haben auf unserer Suche nun auch das Wort (das Zeichen) „epistemologisch“ im Zusammenspiel mit dem Wort (dem Zeichen) „Begriff“ gefunden. Schauen wir uns nun jenes Wort und seinen Gebrauch in der Literatur an, stellen wir fest: „epistemologisch“ bedeutet „erkenntnistheoretisch“, und zwar bezüglich subjektiver oder aber auch intersubjektiver Erkenntnis. Ein solcher Doppelgebrauch kann leicht zu Missverständnissen führen, da hier ein Bezeichner für zwei verschiedene, wenn auch nicht disjunkte Begriffe steht. Uns weist er allerdings auf den epistemologischen Doppelaspekt von Begriffsbildung hin, der sowohl unter ontogenetische als auch kulturhistorische Begriffsbildung fällt. Begriffsschriften und Begriffssprache Symbol Mit dem epistemologischen Dreieck setzen wir Objekt (oder Ding), Zeichen und Begriff in Beziehung. Statt „Zeichen“ finden wir in der Didaktik der Mathematik dann auch den Bezeichner „Symbol“. Mit diesem Modell gehen wir [...] davon aus, daß nur die Zeichen- und die Gegenstands-Ebene der Beobachtung zugänglich sind, während sich die Begriffsebene nur indirekt beobachten lässt [...]. (Seeger 1990, 139) Der Begriff ist in diesem Modell das stattfindende und zu beobachtende Zusammenspiel von Objekt und Zeichen. Der Begriff konstituiert sich somit in einem relationalen Gefüge von Objekt(en) (Anwendungskontext), Symbol (Struktur) und Begriffsinhalt. (Bromme & Steinbring 1990, 160) Dies werden wir gleich noch etwas vertiefen, wenn wir „Begriffssprache“ und damit auch die Zeichen näher betrachten. Eins noch: Vom platonistischen Standpunkt aus, der die mathematischen Ideen als gegeben glaubt, stellt der Begriff diese Interaktion her, vom konstruktivistischen Standpunkt 94 Hierin ist eine geeignete begriffsbildende Handlungsabsicht (vgl. Tietze oben) der Lehrkraft zu suchen und zu finden. Die Idee, eine Schrift zu entwickeln, die Begriffe verarbeitbar macht, ist alt. Sie findet sich bereits im 13. Jahrhundert bei dem katalanischen Philosophen Raimundus Lullus1. Auch Gottfried Wilhelm Leibniz, der Erfinder des Binärsystems, hat darüber nachgedacht. Beginnen wir aber auch hier wieder mit unserem Klassiker, mit Frege: In den abstrakteren Teilen der Wissenschaft macht sich immer aufs Neue der Mangel eines Mittels fühlbar, Missverständnisse bei anderen und im eigenen Denken zu vermeiden. Beide haben ihre Ursache in der Unvollkommenheit der Sprache. [...] Wenn wir aber das Zeichen einer Vorstellung hervorbringen, [...] so schaffen wir einen festen Mittelpunkt, um den sich Vorstellungen sammeln. Von diesen wählen wir nun wieder eine aus, um ihr Zeichen hervorzubringen. So dringen wir Schritt für Schritt in die Welt unserer Vorstellungen ein und bewegen uns darin nach belieben [...]. (Frege 1882, 89f) Wichtig ist für Frege also bei einer Begriffssprache und den in dieser verwendeten Zeichen die Unmissverständlichkeit. Haben wir geeignete Zeichen an der Hand, bei de1 Für diesen Hinweis danke ich Hans Schupp. Begriffsbildung im Mathematikunterricht nen Darstellung und Vorstellung (möglichst) eineindeutig verbunden sind, können wir diese zur weiteren Begriffsbildung nutzen. Dieser Prozess setzt sich iterativ fort und führt über die Konstruktion von Zeichenhierarchien zur Konstruktion von Begriffshierarchien. Diese Vorstellung von Begriffshierarchien hat Parallelen in der Lernpsychologie nach Ausubel, der Begriffe in Begriffshierarchien gespeichert denkt (vgl. etwa Straka & Macke 1979, Lehrtext 7; in seiner Sprache sagen wir hier gerade, dass es eine korrelative Subsumtion zwischen unserer und seiner Vorstellung von Begriffshierarchien gibt.) Beispiele für Zeichen sind die Symbole unserer mathematischen Formelsprache (etwa mit der uns als Kalkül dienenden Struktur „Körperaxiome“), aber auch die Objekte unserer Geometrie (etwa mit „Konstruktion mit Zirkel und Lineal“), die von den alten Griechen in den Sand gezeichnet und von uns durch die Neuen Medien zu dynamischem Leben erweckt wurden. Und nicht zuletzt natürlich die Worte unserer gesprochenen Sprache. Darstellung und Vorstellung Zeichen sind immer nur Darstellungen von Vorstellungen. Die Darstellung, etwa eines Dreiecks, mit Bleistift auf Papier oder mit Kreide an die Tafel oder mit Maus in den Bildschirm gezeichnet, ist nicht gleichzusetzen mit der mathematischen Vorstellung, die wir uns davon machen. Sie ist immer nur eine Abbildung unserer Vorstellung in die Wirklichkeit. Das Zeichen „Dreieck“ kann in weitere Begriffsbildungen eingebracht werden, wenn die Lernenden von ihrer Zeichnung so weit zu einem Zeichen zu abstrahieren in der Lage sind, dass sie darin die ideale Vorstellung eines Dreiecks sehen. Betrachten wir das Beispiel in Abb. 1, das wir (Vollrath 2001, 86) entnehmen, wo es zur Illustration gestaltpsychologischer Zugänge zur Beweisfindung, als Suche nach der guten Gestalt, verwendet wird. In unseren Formelzeichen sieht es so aus: A= g gh h h= =g 2 2 2 Wir sehen hier verschiedene Zeichen (visuelle und formale) zur Bestimmung des Flächeninhalts eines Dreiecks. In diesen Zeichen sind verschiedene Beweisideen noch enthalten: Der Flächeninhalt ist das Produkt der Hälfte der Grundseite mit der Höhe bzw. die Hälfte des Produkts aus Grundseite und Höhe bzw. das Produkt der Grundseite mit der Hälfte der Höhe. Dies steht zunächst einmal der formalen Assoziativität im Weg, ganz zu schweigen von der Kommutativität. Erst wenn der (höhere) Begriff „Flächeninhalt“ erworben ist, erst dann sind die formalen Terme wirklich gleich und das Symbol für Flächeninhalt steht weiteren höheren Begriffsbildungen zur Verfügung. Wir können uns auch diese Situation wieder mit dem epistemologischen Dreieck veranschaulichen, von dem wir inzwischen über seine (symbolische) Darstellung (und deren Anwendung auf die von uns betrachteten Objekte) eine Vorstellung erworben haben. Der Begriff vermittelt hier nun zwischen der Darstellung (als Objekt im epistemologischen Dreieck) und der Vorstellung (als Symbol dort), zwischen der externen und internen Repräsentation, bis zur begrifflichen Identifikation von Darstellung und Vorstellung. Dieser Teil der Begriffsbildung ist nicht direkt zu beobachten. Unsere Vorstellungen sind von den von uns (individuell) bevorzugten Darstellungen abhängig. Mit „Nimm-Stellung-Aufgaben“ zu Vorstellungen und Fehlvorstellungen kann dies zum Thema eines an Begriffsbildung interessierten, diskursiv reflektierenden Mathematikunterrichts werden. Siehe dazu (Kaune 2001, 44f). Subjektive und intersubjektive Begriffsbildung Abb. 1 Frege hat für uns oben den psychologischen Aspekt der Begriffsbildung ins Spiel gebracht. Was sagt die heutige Lernpsychologie zur Begriffsbildung? Dort finden wir die folgende Unterscheidung (vgl. Edelmann 1995, 29f): 95 Anselm Lambert usw. unter epistemologischen Aspekten betrachtet werden. (Seeger 1990, 130) Klassische Theorie: Logische Struktur Kombination der kritischen Attribute Prototypentheorie: Das heißt also: auch intersubjektiv. Dazu benötigen wir dann allerdings Modelle aus der Soziologie. Begriffe werden abgespeichert in Form von typischen Objekten Gewollte Begriffsbildung Wir können eine Parallele ziehen: Diese Unterscheidung ist auch die von Mathematik als Produkt, in dem Begriffe durch die klare Beschreibung ihrer kritischen Attribute bestimmt sind, und Mathematik als Prozess, in dem Begriffe abgrenzend durch Beispiele und Gegenbeispiele bestimmt werden. Jeder weiß, dass ein Dreieck drei Ecken hat, und erkennt ein solches. Aber keiner zählt dazu die Ecken eines Dreiecks, um es über seine logische Struktur als Dreieck zu bestimmen. (Und: Wir können oben auch das epistemologische Dreieck sehen, ohne dass ein Dreieck eingezeichnet ist.) Nebenbei zeigt sich hier auch der kulturhistorische Aspekt von Begriffsbildung am Begriff „Begriffsbildung“ in der Lernpsychologie. Die klassische Theorie ist noch stark von den Vorstellungen der Logiker geprägt, die Begriffe durch Begriffsinhalt und Begriffsumfang beschreiben und den Begriffsinhalt, also Definiens und Definiendum, in den Vordergrund stellen. Die neuere Prototypentheorie hat sich nun von diesem historischen Rahmen gelöst. Wir sehen theoretische Begriffe außerdem als den Ausdruck bestimmter Sichtweisen von Menschen, als soziale, kommunikative Konstrukte an. (Fischer & Malle 1985, 151) Auch der in der vorliegenden Arbeit gebildete Begriff von Begriffsbildung versteht sich als Diskussionsbeitrag, der die Sichtweise der zitierten Autoren in einer virtuellen Kommunikation fasst. Sie ergeben sich nicht zwangsläufig aus der Natur, unserer Wahrnehmung ... (Der Begriff „Unendlichkeit“ ist hier ein gutes Beispiel. Wie ist es mit dem Begriff „Begriff“?) ..., sie sind hingegen Ausdruck eines bestimmten Wollens; Ausdruck dessen, dass uns ein gewisser Gesichtpunkt wichtig ist. [...] Es ist in der Regel natürlich nicht der Wille eines einzelnen Menschen, der hier maßgebend ist, es ist das gemeinsame (teilweise unbewusste) Bestreben von Mathematikern, die als Mitglieder der Gesellschaft in einer bestimmten historischen Situation tätig sind. (Fischer & Malle 1985, 151) Ein solches Wollen formuliert Hans Freudenthal wie folgt: Wissen ist in jedem Fall subjektiv, [...] strukturell organisiert [...] eine mentale Konstruktion. (Edelmann 1995, 22) „Wissen ist subjektiv“ kann für uns nur heißen: die Modelle der Psychologie beschreiben nur das subjektive, in den Individuen vorhandene Wissen. Intersubjektives Wissen gibt es dennoch auch, kann aber von den Modellen, die die kognitionspsychologische Struktur des Wissens beschreiben, nicht erfasst werden. Der Preis für die Genauigkeit eines Modells ist immer die Einschränkung seiner Reichweite. Wissen ist in den Modellen der Lernpsychologie in Begriffshierarchien strukturiert (vgl. Ausubel und Gagné nach Reinmann-Rothmeier & Mandl 2001, 611f) und muss von den Lernenden in Eigenleistung aktiv erarbeitet werden (mehr dazu: ReinmannRothmeier & Mandl 2001, 626). Auf der anderen Seite finden wir aber auch: „Wissen“ kann [...] als Produkt eines Gemeinwesens, einer „Sprachgemeinschaft“ 96 Unsere mathematischen Begriffe, Strukturen und Vorstellungen sind erfunden worden als Werkzeuge, um die [...] Phänomene der Welt zu ordnen. (Klieme u. a. 2001, 142) Diese Feststellung kann uns als normativer, diskussionswürdiger und -fähiger Standard dienen. Sie liegt auch dem Begriff der Mathematical Literacy der PISA-Studie zu Grunde. 2 Ein systematisierendes Modell Das Phänomen „Begriffsbildung“ aus den Fundstücken aus der Literatur zusammenpuzzelnd können wir ordnend das folgende Bild festhalten: Begriffsbildung zeigt sich auf zwei unterschiedenen, wenngleich miteinander verwobenen Ebenen. Die hier getroffene Begriffsbildung von Begriffsbildung ist Ausdruck (m)eines Wollens, Begriffsbildung im Mathematikunterricht eine überschaubare Struktur in die Phänomene zu bringen. Wichtige Begriffe stellen gewissermaßen Anfangspunkte von Theorien dar und werden ihrerseits durch die Theorien erklärt. Dabei ist es eine nützliche Sichtweise, solche Begriffe als den Ausdruck von Beziehungen im Rahmen eines Netzwerks von Beziehungen, eben der Theorie, zu sehen. „Theoretische Begriffe“ der Mathematik, wie wir diese Begriffe auch nennen wollen, stehen für wesentliche Relationen und entstehen nicht bloß durch Weglassen von Eigenschaften (sogenannte „empirische Abstraktion“) aus anderen Begriffen. Die Entfaltung dieser im Begriff angelegten wesentlichen Relationen führt zu jenem Netzwerk, das wir Theorie nennen. (Fischer & Malle 1985, 151) Abb. 2 (Hischer & Lambert 2002, 145) 97 Anselm Lambert 3 Erste Anwendungen des Modells Als reiner Mathematiker könnte ich mich nun zufrieden zurücklehnen und sagen: „Ich habe die Phänomene der Welt geordnet in einem schönen, symmetrischen Diagramm, das die (von mir; oder: uns?) betrachteten Aspekte strukturiert.“ Als Didaktiker muss ich (oder: müssen wir?) aber über den theoretischen Erkenntnisfortschritt hinaus auch den praxisrelevanten suchen. 3.1 Begriffsbildung im Mathematikunterricht aus kognitionspsychologischer Sicht Wir hatten oben schon angesprochen, dass die beiden Modelle der kognitiven Struktur bei der Begriffsbildung in den Begriffsbildenden und den Begriffsgebildeten mit wichtigen Phasen mathematischer Arbeit synchronisieren. Der Begriff als Produkt rigoroser Mathematik ist immer strikt durch seine charakterisierenden Eigenschaften bestimmt, also ein Begriff klassischer Bauart. Die Frage Wittgensteins, ob ein verschwommener Begriff denn ein Begriff sei, beantwortet die moderne Mathematik des 20. Jahrhunderts mit einem eindeutigen, lauten „Nein!“. Selbst die Begriffe der Fuzzy-Theorie, der mathematischen Wissenschaft von der Vagheit, sind strenge mathematische Begriffe. Im Prozess der Mathematik hingegen arbeiten viele Mathematiker mit prototypischen Repräsentanten der von Ihnen untersuchten und benutzten Begriffe. Die später ausgeschärften Begriffe entstehen im Prozess „Mathematik“ durch die implizite oder explizite Unterscheidung von Beispielen und Gegenbeispielen. Ein Begriff ist das, was er nicht nicht ist. Dies ist auch ein Weg für den Mathematikunterricht. Siehe dazu auch (Hischer & Lambert 2002, S.146ff: 13.3 Begriffsbildung im Unterricht). Die Didaktik hat sich also um geeignete diskriminante Musterprototypen zu bemühen, die den Lernenden einen Begriff nahe bringen können. 3.2 Zugänge zur Mathematik Legen wir unser obiges Modell von Begriffsbildung zu Grunde, so behaupten wir, dass der ontogenetische Aspekt von Begriffsbildung in der kognitiven und episte- 98 mologischen Wissensstruktur der Lernenden zu suchen ist. Die Wissenschaften, derer sich die Fachdidaktik hier bedienen kann, sind die Psychologie in Form der Kognitionspsychologie sowie die Philosophie und die Soziologie in Form der Epistemologie. Kognitive Mathematik Am Institut für Kognitive Mathematik in Osnabrück untersucht man die Zugänge zur Mathematik im Rahmen eines kognitionstheoretischen Paradigmas. Die dortigen Untersuchungen führten zu folgender (hier stark verkürzten) Begriffsbildung. Es kann zwischen zwei Ausprägungen der kognitiven Struktur unterschieden werden. Wir unterscheiden bei einem Menschen, der sich in seiner Umwelt mittels Kognition Orientierung verschafft, zwischen dem Einsatz einer prädikativen und dem einer funktionalen kognitiven Struktur. Wir vermuten, daß nicht beide Anteile bei allen Menschen gleich stark ausgeprägt sind. (Schwank 1996, 171) Diese Strukturen lassen sich wie folgt skizzieren (vgl. Schwank 1996, 171, und Schwank 1998a): Prädikative Struktur Auf Beziehungsgeflechte und Ordnungsprinzipien ausgerichtet Feststellung von Eigenschaften und Strukturen Begriffe sind Relationen zwischen mathematischen Gegenständen. Funktionale Struktur Denken in Handlungen Wirkungsweisen und Organisation von Prozessen Begriffe sind Operationen zwischen mathematischen Gegenständen. Daraus resultiert eine unterschiedliche Haltung in Anbetracht eines Problems. (Wir sprechen nur in solchen Fällen von einem Problem, in denen die Lösung nicht (einfach) durch Anwendung eines erworbenen Schemas hergestellt werden kann.) Bei der Sichtung eines Problems wird eine unterschiedliche „Brille“ aufgesetzt und so vom Typ her unterschiedliche Akzente gesetzt [...] Die Art des Zurechtlegens des Problems beeinflusst die Begriffsbildung [...] wesentlich. (Schwank 1996, 171) Begriffsbildung im Mathematikunterricht Inge Schwank hat Tests zur Bestimmung der individuellen kognitiven Struktur entwickelt (Schwank 1998b): keine. In anwendungsbezogener mathematischer Modellbildung, in der die wirkliche Situation verarbeitbar zurechtgestutzt wird, dann in einem mathematischen Modell verarbeitet wird und die deduzierten Konsequenzen erst noch interpretiert werden, ist entscheidend, dass das Ergebnis einer Überprüfung an der Wirklichkeit, seiner Validierung, standhält (vgl. Schupp 1988). Die heutige Mathematik lebt von Ihrer sprachlichen Vielfalt. Dies hat auch für den Mathematikunterricht Folgen, auch für Idealtypen reiner Mathematik: Die Schulgeometrie sollte die dynamischeren Möglichkeiten der Alltagssprache auch begrifflich nutzen. (Führer 2002, 178) In dem gegebenen Bild fehlt unten rechts ein Element. Versuchen Sie sich selbst, und finden Sie eine möglichst sinnvolle Ergänzung. Achten Sie dabei auf Ihre Begründung, warum Sie von Ihrer Lösungsfigur überzeugt sind. Abb. 3 (nach Schwank 1998b, C-18) Eine Einordnung Ihrer Lösung zu der hier gestellten Aufgabe finden Sie in (Schwank 1998a), weitere erläuterte Beispiele in (Schwank 1996, 178) und (Schwank 1999b, 91 und 95). Die rigorose, moderne Mathematik des 20. Jahrhunderts ist prädikativ. Diese Betonung erklang mit dem Einzug der Neuen Mathematik und der damit einschwingenden Strengewelle auch in der Schule und hallt heute noch dort nach. Nach Maier & Schweiger pflegt die im 20. Jh. favorisierte mathematische Fachsprache einen Verlautbarungsstil, der sich auch im Vergleich zu anderen Fachsprachen besonders zeitlos, objektivistisch, substantivistisch und redundanzarm-esoterisch gibt. [...] Inzwischen zeigen sich jedoch in der Fachwissenschaft selbst starke Tendenzen zu anwendungsorientiert „robusten“ Mathematikauffassungen, die [...] nach stärker prozessualen Ausdrucks- und Denkweisen verlangen [...]. (Führer 2002, 178) Es gilt also: Je nach Kontext ist die heutige Mathematik zu Beginn des 21. Jahrhunderts prädikativ oder funktional. Und: Je nach Kontext ist Rigorosität oder Robustheit das Kriterium der Wahrheitsfindung. In der reinen Mathematik führt kein Weg an strenger Beweisführung vorbei, sonst ist es Und die dynamischen Möglichkeiten eines Dynamische-Geometrie-Systems als eines visuellen und funktionalen Werkzeugs. Der Zugmodus etwa verlangt auch funktionales Denken in Wirkungsweisen und Handlungen. Eine solche dynamische Geometrie ist dadurch eine andere als die von den alten Griechen im Sand fixierte, Strukturen beschreibende; sie ist nicht einfach ein Neuer Weg zu alten Zielen. In Ergänzung zur klassischen Geometrie bereichert sie gerade deshalb den Unterricht. Peter Bender stellt fest: DGS und CAS stiften Sinn durch Konkretisierung und Visualisierung von abstrakten Begriffen: Viele Begriffe lassen sich durch ein Tafelbild nur unzureichend veranschaulichen, vor allem jene, die sich aus Parameteränderungen ergeben. (Bender & Schwill 1995) Dem ist in soweit zuzustimmen, als wir nun auf einfacherem Weg viele Beispiele (und Gegenbeispiele), die prototypisches Begriffslernen ermöglichen, erzeugen können. Offen ist hingegen die Frage, wie Lernende in Abhängigkeit von ihrer kognitiven Präferenz mit DGS umgehen. Die Unterscheidung „prädikative vs. funktionale kognitive Struktur“ legt nahe, dass vor allem funktionale Lernende von diesem beweglichen Werkzeug profitieren, dass hingegen für prädikative Lernende eher eine Sammlung von Einzelbildern die Beziehungsgeflechte offenbart. Es wäre zu erwarten, dass dies sich auch in unterschiedlichem Umgang mit DGS zeigt. Und da wir gerade bei bewegten Bildern sind: Wir müssen die Frage stellen, welche Lernenden von animierten Funktionsplots profitieren und welche aber mehr von reichhaltigen Einzelbildsammlungen? Oder anders: Wer versteht konkretisierte und vi- 99 Anselm Lambert sualisierte Parameteränderungen besser im Fluss und wer Schritt für Schritt? 60 % der Interviewten haben zwei der Zugänge, 36 % einen und 4 % alle drei. Ich nenne diese Zugänge im folgenden visuell, formal, konzeptuell. Veranschaulichen wir sie uns an einem Beispiel: Gegeben sind eine Gerade, zwei Punkte auf dieser Geraden und zwei sich schneidende Kreise um diese Punkte. Abb. 5 Welche Steigung hat die Gerade durch die Schnittpunkte der Kreise? Lösungen: Abb. 4a–e Nur eins scheint klar: Offen sichtlich erhöht ein visueller Zugang zur Mathematik den Nutzen eines visuellen Werkzeugs. Denkstile: Epistemologien von Mathematikerinnen und Mathematikern Leone Burton hat 70 professionelle, forschende Mathematikerinnen und Mathematiker sowohl aus der reinen, als auch aus der angewandten Mathematik interviewt, um ihre Zugänge zur Mathematik zu erforschen (Burton 1999). Auf der Basis ihrer Interviews unterscheidet sie die folgenden Denkstile: Stil: Denken: Anteil: Visual in Bildern, oft dynamisch 66% Analytic symbolisch, formalistisch 37% Conceptual in Ideen, klassifizierend 47% 100 1. formal: Aufstellen der Kreisgleichungen, Berechnung der Schnittpunkte, Berechnung der Geradengleichung. (Dies ist sehr aufwändig, besonders wenn keine konkreten Kreise gegeben sind). 2. konzeptuell: Symmetrie ausnutzen: die Kreise sind symmetrisch, damit sind auch die Schnittpunkte und die durch diese induzierte Gerade symmetrisch zur gegebenen Gerade, also sind die Geraden orthogonal. (Jetzt ist der nötige formale Aufwand zur Berechnung stark reduziert). 3. visuell: Das zu beobachtende Phänomen ist: die Geraden stehen senkrecht auf einander. (Das ist hier die geometrische Invariante unter einer Kongruenzabbildung: das Koordinatensystem und damit auch die Steigung sind uninteressant!) Wir sehen weiter: Auch die (individuell interessierende) Fragestellung hängt vom (individuellen) Denkstil ab. Von den hier beschriebenen Dialekten der Sprache „Mathematik“ hat nur der formale die Präzision und Reichweite hervorgebracht, die die moderne Mathematik für ihren rigorosen Aufbau benötigt. Aber auch die anderen beiden (oder die möglichen Kombinationen) haben in der Geschichte der Mathematik große Leistungen beim Ordnen der Phänomene ermöglicht und tragen hier zu elegant(er)en (?) Lösungen bei. Im Unterricht sollten die Zugänge neben einander und mit einander verwendet werden, mit dem formalen Zugang als pri- Begriffsbildung im Mathematikunterricht mus inter pares. (Den Ausdruck „präformal“ für die nicht formalen Zugänge klammere ich hier aus.) Burton beschreibt als weitere Dimensionen mathematischen Tuns in der Praxis neben dem Denkstil u. a. Schönheit2 oder Intuition und Einsicht. Felix Klein hatte bereits intuitiv eine ähnliche Unterteilung der Denkstile wie Burton vorgeschlagen (vgl. Borromeo Ferri 2002, 124). Er nannte die Typen Geometer (der sieht, was er denkt), Analytiker (der mit der Formel) und Philosophen. Eine weitere Beschreibung von Denkstilen liefert der Mathematiker und Psychologe Jacques Hadamard (1954). Er unterscheidet einen visuellen und einen analytischen Zugang und stellt als eine wichtige Fähigkeit eines Mathematikers heraus, flexibel zwischen den beiden wechseln zu können. Betrachten wir dazu das folgende Beispiel: Dass die beiden Geraden senkrecht auf einander stehen, sehen (sehr gute) Visualisten in der obigen Zeichnung, Formalisten lesen es in den Formeln. Für einen formalen Zugang ist „senkrecht aufeinander stehen“ ein eher künstlicher Begriff. Hier liegt dann etwa die Frage nach der Punktmenge näher, die dadurch beschrieben ist, dass sie Lösungsmenge der Gleichungssysteme ist, die dadurch gegeben sind, dass wir in obigem Gleichungssystem jede 2 durch eine Variable ersetzen: y= 1 x−a a y = − ax + 1 . a Für den Visualisten ist wiederum die Frage nach der Gestalt (dem geometrischen Ort) eben dieser Punktmenge in der Ebene interessant. Das bewusste Zusammenspiel der Sichtweisen bereichert unsere Mathematik, deshalb sollte Mathematikunterricht den Lernenden die Bewusstheit verschiedener, sich ergänzender Denkstile ermöglichen. Rita Borromeo Ferri untersucht diese Denkstile bei 15- bis 16-jährigen Schülerinnen und Schülern und beginnt eine empirisch begründete Beschreibung zu entwickeln (Borromeo Ferri 2002). Ein zweidimensionales Modell ... Fassen wir obige Erkenntnisse zu mathematischen Denkstilen zusammen, erhalten wir ein zweidimensionales, idealtypisches Modell möglicher Zugänge zur Mathematik: Prädikativ Funktional Formal Visuell Konzeptuell ... und seine Konsequenzen Abb. 6 Je nach Sichtweise sind zwei Gleichungen gegeben oder zwei Geraden. Der Erwerb der Fähigkeit, zwischen beiden flexibel wechseln zu können, setzt voraus, dass im Unterricht hinreichend oft beide Sichtweisen aufeinander bezogen thematisiert werden. Das Bestimmen des Schnittpunkts der beiden Geraden oder der Lösung des Gleichungssystems ist mathematisch das Selbe in verschiedenen Verpackungen. Eine empirische Erhebung der Anteile für die einzelnen Zellen dieser Matrix steht noch aus. Nichtsdestoweniger führt uns dieses Modell zu einer wichtigen Einsicht: Es gibt unterschiedene Zugänge, und um auf die Zugänge der Lernenden zur Mathematik eingehen zu können, muss die Lehrkraft diese und ihren eigenen Zugang kennen.3 So schreibt Johann Sjuts zu den hier übernommenen kognitionspsychologischen Unterscheidungen der Osnabrücker Schule: 2 Auch unsere zeitgenössische Theoretische Physik glaubt an die Wahrheit ihrer experimentell kaum überprüfbaren Naturbeschreibungen mit der Stringtheorie aus ebendiesem Grund: Schönheit in der verwendeten Mathematik. 3 Ich ordne mich zum einen als funktional zum anderen als visueller Konzeptualist in das Schema ein. 101 Anselm Lambert Lehraktivitäten müssen sich folglich an den vorhandenen kognitiven Strukturen orientieren. Deren Modifizierungs- und Differentiationspotenzial bildet neben der stoffbezogenen Frage, welche externen Repräsentationen (Darstellungen) zu erwünschten internen Repräsentationen (Vorstellungen) führen können bzw. führen, die wesentliche Größe. (Sjuts 2002, 468) Analoges gilt für die epistemologisch unterschiedenen Zugänge. Jugendliche, die über andere mathematische Denkstile verfügen als die betreffende Lehrperson, haben demnach größere Schwierigkeiten mit dem Unterricht als Jugendliche, die über Denkstile verfügen, die denen der Lehrperson ähnlich sind. (Borromeo Ferri 2002) Zur Diskussion Die ihr nicht eigenen, oben beschriebenen Zugänge zur Mathematik muss die Lehrkraft lernen, um sich verständigen zu können, auch wenn diese Dialekte nie zu ihrer Muttersprache werden. Auch die Lernenden sollten versuchen, sich die ihnen nicht eigenen Zugänge der Mitlernenden zu erarbeiten. Dies gilt besonders für den modernen, prädikativ-formalen. Aber dort, wo dieser nicht erlernt wird, mit den anderen, eigenen Zugängen aber Phänomene geordnet und Probleme gelöst werden, wird auch Mathematik gemacht, sind diese Fähigkeiten also im Mathematikunterricht anzuerkennen. Die klassische Analysis war schon sehr leistungsfähig, bevor ihr Cauchy, Bolzano und Weierstraß ihre heutige formale Strenge verordneten und nun etwa auch nach der zuvor stillschweigend unterstellten Vollständigkeit der reellen Zahlen gefragt wurde. Die klassische Algebra löste konkrete Gleichungen, bevor sie in ihrer modernen Form nach abstrakten Strukturen forschte. Mathematik ist immer mehr als der zur letzten Gewissheit notwendige Formalismus, Mathematik beginnt mit Anschauung. Gauß veranschaulichte die formal vorhandene imaginäre Zahl − 1 , „um diese Größe in das Gebiet der Mathematik zuzulassen“, um ihr „volles Bürgerrecht im Reich der Mathematik zu verschaffen“ (nach Volkert 1989, 16). Das Prinzip von der Verlässlichkeit der Anschauung: „Was anschaulich evident ist, lässt sich auch formal beweisen“ (Volkert 1989, 11), trägt uns sehr weit, auch wenn es sich etwa beim Begriff der Stetig- und Differenzierbarkeit Weierstraßschen Monstern beugen muss — die aber 102 doch mehr Objekt innermathematischer Freude denn Subjekt außermathematischer Begrenzung sind. Der Mathematikunterricht sollte Gelegenheiten bieten, die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der verschiedenen Zugänge bewusst kennen zu lernen. Inhaltlich-anschauliche Argumentationen sollten im Mathematikunterricht ebenso ihren Platz haben wie formale, damit die Lernenden erfahren, wie die verschiedenen Zugänge zur Mathematik sich gegenseitig entgrenzen: durch Formalisierung der Anschauung und umgekehrt der Veranschaulichung des Formalismus, und so einen umfassenderen Begriff „Mathematik“ bilden. Die Untersuchung von Leone Burton zeigt, dass die drei beschriebenen, epistemologisch unterschiedenen Denkstile auch heute immer noch im Prozess „Mathematik“ zum Machen von aktueller Mathematik verwendet werden, auch wenn wir im Produkt „Mathematik“ in der Regel nur noch den formalen wiederfinden. Eine wissenschaftliche Arbeit muss als Baustein im Gebäude der modernen Mathematik in der prädikativ-formalen Hochsprache als der derzeitigen Sprache innerwissenschaftlicher Kommunikation gefasst sein, eine begründbare Lösung eines Problems im Unterricht (oder im Leben) kann sich hingegen auch der Dialekte bedienen. Begründbarkeit — nicht formale Strenge (die dem Problem angepasst werden sollte) — ist die besondere Qualität der Sprache „Mathematik“. Denkstile sind über die aus ihnen resultierenden Begriffe auch „Ausdruck eines bestimmten Wollens“. Die analytische und die synthetische Geometrie etwa drücken ein Interesse an unterschiedlichen geometrischen Phänomenen aus und gehen so verschiedenen Fragen nach. Die Vielfalt der Denkstile trägt wesentlich zur Reichhaltigkeit auch der modernen Mathematik des 20. Jahrhunderts in ihrer kulturhistorischen Tradition — von der sie sich ja nicht löste, sondern die sie unter einer pointierten Sichtweise fortführte — bei. In der bunten Tradition, in der unsere heutige Mathematik steht, ist es legitim, auch den Lernenden ihren eigenen Dialekt zu lassen, wenn sie damit mehr erreichen können als mit einem unverstandenen, ihnen fremden. Die Kommunikation mit denen, die einen anderen Dialekt sprechen, ist eine wünschenswerte — aber eben nicht immer zur individuellen Fähigkeit, Mathematik machen zu können, notwendige — allgemeinbildende Fähigkeit. Diese Fähig- Begriffsbildung im Mathematikunterricht keit zur Kommunikation wird durch die Bewusstheit der unterschiedenen Zugänge gefördert. Und zum Abschluss: eine PISA-Aufgabe Die Aufgaben des internationalen PISATests wurden für den nationalen Test um sogenannte innermathematische ergänzt. Es sind der Inhalt der Grundfläche einer Pyramide ([...]) und die Länge der Mittellinie eines Dreiecks (Frage „Dreieck“), beides jeweils als rein mathematische Gegenstände vorgestellt, zu berechnen. (Klieme u. a. 2001, 151) Betrachten wir die „rein mathematische“ Dreiecksaufgabe: AB des Dreiecks ABC ist 6 cm lang. Es werden die Mittel- Dreieck: Die Seite punkte E und F der Seiten AC und BC eingezeichnet. Wie lang ist EF ? Abb. 7 (nach Klieme u. a. 2001, 152) Dies ist keine (!) Aufgabe der reinen, modernen, prädikativen Mathematik. Warum?: Einzeichnen ist eine (funktionale) Handlung, die Mittelpunkte der Seiten sind uns aber doch mit den Seiten bereits gegeben, wir als moderne Prädikative können sie nur noch benennen; sie müssen nicht mehr von uns eingezeichnet werden. Strenge beiseite, wichtiger ist: auch diese auf den ersten Blick eher konvergente Aufgabe ermöglicht eine anregende Vielfalt unterschiedlichster Lösungswege: 1. Intuitiv 2. Messen 3. Abrufen von Satzwissen: „Die Mittenparallele im Dreieck ...“ 4. Strahlensatz 5. Hineinsehen von kongruenten Dreiecken 6. Analytisch: a. Koordinatendarstellung b. Vektorzüge Ein derart buntes Spektrum an Lösungswegen (zu einer praktisch rein mathemati- schen Aufgabe) ermöglicht und verlangt eine umfassende Diskussion im Unterricht — auch gerade zum Einüben der Kommunikation und Verständigung (allgemeinbildend!) zwischen den individuellen Dialekten der Sprache „Mathematik“ — und entsprechend ganzheitliche Beurteilungen und Bewertungen der Lösungen in einer Klassenarbeit oder Klausur. Das wesentliche, unaufkündbare Sprachspiel, das unsere Mathematik zur Mathematik macht, ist auch hier die intersubjektive Begründbarkeit der Lösung. Zur vorliegenden Arbeit In der vorgetragenen Arbeit wird die Systematisierung der in der Literatur zu findenden Beiträge zur Begriffsbildung weiterverfolgt, wie sie von Horst Hischer begonnen wurde. Die in (Hischer 1996) zu findenden Gedanken, von denen auch die vorliegende Arbeit profitiert, dienten als Keimzelle für das hier vorgestellte, vollständigere Modell zur Begriffsbildung von Begriffsbildung (siehe dazu auch Hischer & Lambert 2002). Das durch dieses fundierte Zugangs-Modell wird hier so zum ersten Mal präsentiert. Ich danke Uwe Peters für seine kritische Durchsicht des Manuskripts, durch die die Chance erhöht wurde, dass über meine hier vor Ihnen liegende Darstellung meiner Vorstellung von Begriffsbildung bei Ihnen eine meiner zumindest ähnliche (Vorstellung von meiner) Vorstellung erzeugt werden kann — zu der nun Sie Stellung beziehen (können). Literatur Beiträge zum Mathematikunterricht 2002 (hrsgg. von W. Peschek). Hildesheim: Franzbecker Bender, Peter & Schwill, Andreas (1996): Stiften Computeralgebrasysteme Sinn? – Zusammenfassung und Einschätzung der Podiumsund Plenumsdiskussion. In: Hischer & Weiß (1996), 50–55 Borromeo Ferri, Rita (2002): Erste Ergebnisse einer empirischen Studie zu mathematischen Denkstilen von Schülerinnen und Schülern der 9. und 10. Klasse. In: Beiträge zum Mathematikunterricht 2002, 123–126 Bromme, Rainer & Steinbring, Heinz (1990): Die epistemologische Struktur mathematischen Wissens im Unterrichtsprozeß. In: Bromme, Heinz, Seeger, Falk & Steinbring, Heinz (Hrsg.) (1990): Aufgaben als Anforderungen 103 Anselm Lambert an Lehrer und Schüler. Köln: Aulis-Verlag Deubner, 151–230 Burton, Leone (1999): Mathematics and their epistemologies — and the learning of mathematics. In: Schwank (1999a), Vol. 1, 90–105 Edelmann, Walter (1996): Begriffsbildung und Wissenserwerb aus lernpsychologischer Sicht. 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An einigen Unterrichtsbeispielen wird demonstriert, wie eine Analyse der menschlichen Raumwahrnehmung und der Darstellung räumlicher Objekte zum Ausgangspunkt für die (Nach-) Erfindung vektorgeometrischer Objekte werden kann. Einige Schülerarbeiten sollen belegen, wie durch den Einsatz des Computers vielfältige Anschlussfragestellungen projektartig bearbeitet werden können. 1 Analytische Geometrie — Wunsch und Wirklichkeit Als Begründungen für die curriculare Bedeutung der Analytischen Geometrie in Richtlinien für die gymnasiale Oberstufe werden vornehmlich die folgenden angeführt (vgl. z.B. MSWWF 1999): • In der Analytischen Geometrie entfaltet sich die zentrale Idee des räumlichen Strukturierens, des Modellierens und des funktionalen Zusammenhangs (fachliche Repräsentativität). Ein Teilaspekt hiervon ist der folgende: • Descartes Verbindung von Algebra und Geometrie, die der Analytischen Geometrie zugrunde liegt, ist von fundamentaler Bedeutung für die moderne Entwicklung der Mathematik und der Naturwissenschaften (geistesgeschichtliche Bedeutung). • Die Eigendynamik der mathematischen Begriffsbildung (insbesondere der Weg von der Anschauung bis hin zur Axiomatik) kann hier besonders gut als eine typische Eigenschaft der Wissenschaft Mathematik erfahren werden (fachmethodische Repräsentativität). • Die Analytische Geometrie — so wird oft argumentiert — halte eine Fülle von Kontexten bereit (Anwendungsorientierung). Wie sehr hierbei aber zwischen authentischen und scheinbaren Kontexten unterschieden werden muss, wird im Folgenden noch deutlich werden. • Die geometrische Anschauung kann als Basis und Quelle der mathematischen Intuition dienen (Anschaulichkeit). Wurde früher oft noch stillschweigend angenommen, die Anschaulichkeit sei der Analyti- schen Geometrie per se zu eigen, so sieht man heute differenzierter, dass man diesen Aspekt bei der Unterrichtsgestaltung bewusst verfolgen muss. Man muss sich angesichts dieser Auflistung in Erinnerung rufen, dass ungeachtet aller schlüssigen Argumente die Tatsache, dass die Analytische Geometrie in unseren Curricula vorkommt, immer noch eine normative Setzung ist. Dass auch andere Themen an ihre Stelle treten können, zeigt die in vielen Bundesländern gängige Grundkurspraxis und zeigen auch die Curricula anderer Länder. Ein Blick in die pädagogische Praxis beweist zudem, dass die hier hervorgehobenen Aspekte wie „Anschauungsorientierung“ und „mathematische Begriffsbildung“ eher als nachträgliche Rationalisierungen denn als Kriterien für die Konstruktion von Unterricht dienen. Die Struktur vieler Unterrichtsgänge zur Analytischen Geometrie spiegelt zudem nicht selten eine deduktivistische Sicht der Mathematik wider — dies ist ein offenbarer Nachhall der Wissenschaftsorientierung. Zentrale Begriffe, wie etwa der des „Vektors“ oder der „Ebene“ werden nach einer aus zeitökonomischen Gründen knapp gehaltenen „Motivationsphase“ definitorisch festgesetzt. Sodann werden mit ihnen Probleme gelöst, die aus einer unmittelbaren Kombination der Grundelemente entstehen („Schnitt zwischen Gerade und Ebene“), was zu einer Akkumulation von eher als technisch zu bezeichnenden Grundverfahren führt. Etwaige Anwendungen werden meist an den Schluss gestellt. Diesem Vorgehen liegt die implizite, oft anzutreffende subjektive Lerntheorie zugrunde, dass erst die Techniken gründlich geschult werden müssen, bevor sie auf komplexere Zusammenhänge angewendet werden können. Ein solches Gliederungsprinzip prägt sowohl viele einzelne Unterrichtsse- 105 Timo Leuders quenzen als auch die Gesamtstruktur mancher Curricula. Diese kurze, vielleicht etwas überpointierte Schilderung macht deutlich, worin die Desiderata in der unterrichtlichen Behandlung der Analytischen Geometrie liegen: Mathematische Grundbegriffe der Analytischen Geometrie sollen nicht am Anfang der Beschäftigung mit geometrischen Problemen stehen, sondern ihr Ergebnis sein. Ihre (Nach-) Erfindung soll durch die Auseinandersetzung mit ganzheitlichen Problemzusammenhängen notwendig und sinnerfüllt erscheinen. Diese Forderung spiegelt die Freudenthalsche Vorstellung wider: „Man wendet Mathematik an, indem man sie jeweils von neuem erschafft“ (Freudenthal 1973, 113). Sie entspricht zugleich auch der historischen Entwicklung: Der axiomatische Begriff des abstrakten Vektorraums ist erst ein Kind des frühen 20. Jahrhunderts. Die heute festzustellende Beschränkung der Analytischen Geometrie auf lineare Gebilde (meist wird die Kugel als einziges nichtlineares Objekt hinzugenommen) ist allein aus dem Wunsch zu rechtfertigen, alle Probleme mit Techniken der linearen Algebra lösen zu wollen. Diese Feststellung führt nicht zu dem oft gehörten Ruf nach der Rückkehr der Kegelschnitte, sondern zu einem Plädoyer für das verstärkte Einbeziehen authentischer raumgeometrischer Figuren: Spiralen und andere Raumkurven oder eine große Vielfalt von Polyedern geben die Gelegenheit zu einer reichhaltigen Diskussion raumgeometrischer, aber auch algebraischer und kombinatorischer Fragestellungen. Der Schritt weg von der Behandlung geometrischer Elementarprobleme, hin zu komplexeren, anwendungsnäheren Fragestellungen steht prinzipiell offen und sollte genutzt werden. Dass „komplex“ nicht mit „kompliziert“ gleichzusetzen ist, lehren uns inzwischen viele Beispiele aus unterschiedlichen Schriften zu einem „realitätsbezogenen Mathematikunterricht“ (s. die Istron-Bände von 1990 bis 2000, insbesondere Meyer 2000, s. aber auch unter www.alympiade.de). Der Einsatz des Computers kann hierbei als eine Entlastung von aufwändigen algebraischen und algorithmischen Verfahren begrüßt werden. 2 Anlässe für eine (Nach-) Erfindung der Analytischen Geometrie Im Folgenden soll exemplarisch an einem meines Erachtens besonders geeigneten Themenfeld dargestellt werden, wie eine solche Neuorientierung in der unterrichtlichen Behandlung der Analytischen Geometrie aussehen kann. Ausgangspunkt ist hier, wie oben gefordert, die individuelle Anschauung und, was motivational noch stärker wiegt, die Betrachtung des eigenen Wahrnehmungsapparates anhand der fundamentalen Fragenstellungen: „Wie sehen wir unsere Umwelt eigentlich räumlich?“ und „Wie(so) gelingt die flächige Darstellung räumlicher Gebilde?“. Diese Fragen können organisch zur Genese (d.h. zur Erfindung bzw. Nacherfindung) vektorgeometrischer Grundbegriffe im Unterricht führen. Als zwei „fruchtbare Momente“ können hier die beiden folgenden Anregungen dienen, von denen die erste eher im Rahmen einer offenen, moderierten Unterrichtsdiskussion, die zweite als Gruppenreflexion zu einer Lehrerdarbietung organisiert werden kann. 2.1 Situation 1: Räumliches Sehen von Zweifarbstereogrammen (Anaglyphen) Seit der Erfindung der Fotografie haben Menschen versucht, auch den räumlichen Seheindruck auf das Medium Foto oder Film zu bannen. Grundprinzip ist dabei immer, das binokulare Sehen, d.h. die für die beiden Augen getrennte Darbietung zweier verschiedener Bilder, anzusprechen (Details hierzu im Internet unter www.schul-mathe.de unter dem Stichwort „Projektion“). Die Betrachtung solcher Zweifarbstereogramme im Unterricht durch einfach zu verfertigende Komplementärfarbenbrillen regt zu Fragen nach dem Abb. 1: Die Augen sehen durch eine rote und eine grüne Farbfolie, die, hintereinander gelegt, das Licht vollständig absorbieren. 106 Raumgeometrie mit dem Computer — Schülerprojekte in 2 bis 5 Raumdimensionen Funktionsprinzip der Bilddarstellung sowie dem der eigenen Wahrnehmung an (vgl. Abb. 1). Der Anlass für eine Mathematisierung ergibt sich zwanglos, wenn man sich beispielsweise zur Aufgabe nimmt, eine Figur wie das abgebildete Tetraeder etwa auf der Folie eines Tageslichtprojektors so als Zweifarbbild zu zeichnen, dass es durch die Brille betrachtet den Eindruck eines echten Tetraeders macht (vgl. Abb. 2). Wie dieses Vorhaben zu einer (Nach-) Erfindung elementarer vektorgeometrischer Begriffe führt, wird weiter unten dargestellt. Abb. 3: Heilige Dreifaltigkeit von Andreij Rubliev (1411) Abb. 2: Jeweils drei Innenkanten sind grün bzw. rot gefärbt. 2.2 Situation 2: Simulation von Räumlichkeit in der bildenden Kunst — oder: die Entdeckung der Perspektive Die Empfindung der Räumlichkeit auch bei einer flächigen Darstellung ist dem Menschen keineswegs von der Natur in die Wiege gelegt, sie muss vielmehr individuell erworben werden. Daher verwundert es nicht, dass sie sowohl kulturell als auch historisch bedingt ist (Rock 1998). Dies können Schülerinnen und Schüler im Unterricht „augenscheinlich“ wahrnehmen, wenn man etwa bildnerische Darstellungen aus den verschiedenen Epochen der Menschheitsgeschichte betrachtet — von der Höhlenmalerei über die ägyptischen Wandmalereien und die Renaissance bis hin zu der „Augenwischerei“ eines M.C. Escher. Da an dieser Stelle der Platz für eine Wiedergabe aller dieser Beispiele nicht ausreicht, seien nur exemplarisch drei Abbildung betrachtet (weitere unter www.schul-mathe.de). In Andreij Rublievs Heiliger Dreifaltigkeit von 1411 (Abb. 3) ist neben der Technik der Verdeckung der uns noch nicht überzeugend scheinende Versuch zu erkennen, Tiefenwirkung durch eine perspektivische Darstellung zu erzielen. Schnell jedoch vermag unser Auge die „Fehler“ zu entdecken, wohingegen das Bild in der Mitte bereits eine perfekte Täuschung bietet. Der Besitz der Technologie zur Erzeugung einer solchen Perspektive bedeutete für die Künstler Einfluss und potentiellen Reichtum: Aus Venedig schreibt 1506 Albrecht Dürer, „...werde ich nach Bologna reiten, um der Kunst in geheimer Per- Abb. 4: Mathematik als Technologie hinter der Kunst 107 Timo Leuders spektive willen, die mich einer lehren will. ...“ (Abb. 4 und Zitat nach Burlisch, 1998). Die geometrischen Verfahren waren Ausdruck einer „unbewussten Mathematik“, ein „in materiellen Objekten ausgedrücktes, intuitives Wissen um Formen, Sachverhalte und Algorithmen“ (Scriba & Schreiber 2002, 251ff). Auf eben diesem Stand sind Schülerinnen und Schüler, wenn sie im Kunstunterricht Zeichenverfahren zur Darstellung von Parallel- und Fluchtpunktperspektive erlernen. sam paradigmatisch und — heute würde man sagen: handlungsorientiert — abgebildet. Dieses Bild ist ein willkommener Anlass, den Projektionsbegriff mit Schülerinnen und Schülern sukzessive zu mathematisieren und dabei die Grundtatsachen der Analytischen Geometrie nachzuerfinden. 3 Die kartesische Erfindung Ausgehend von dieser „didaktischen“ Darstellung des Projizierens lässt sich eine nach zunehmender Abstraktion gestufte Begriffsbildung betreiben: Diese beginnt mit einem enaktiven Nachvollzug der obigen Situation (z.B. mit einem langen Gummiband). Hierbei wird das dargestellte Funktionsprinzip, aber auch seine scheinbare Inkonsistenz aufgedeckt (Wie entstehen die Bildpunkte, wenn Leinwand und Band nicht gleichzeitig im Rahmen sein können?). Abb. 5: Schülerzeichnungen von Würfeln Die abgebildeten Schülerzeichnungen von Würfeln (Abb. 5) schließlich sind aus dem Auftrag entstanden, möglichst unterschiedliche Ansichten eines Würfels zu zeichnen. Die Frage, welche dieser Darstellungen als realistisch zu werten ist, wurde durchaus kontrovers diskutiert. Abb. 6: Dürers enaktive Darstellung der Projektion Der Durchbruch zum Bewussten, der Übergang von der Frage des „Wie“ zur Frage des „Warum“, drückt sich in dem berühmten Dürerschen Blick in eine imaginäre Künstlerwerkstatt aus (Abb. 6): Hier wird der Prozess, den wir als „Projektion“ bezeichnen, gleich- 108 Im nächsten Schritt, der sprachlichen Erschließung, können die Schülerinnen und Schüler die ersten Grundbegriffe aushandeln: Objekt, Gegendstand,...; Bildfläche, Leinwand,...; Bild,...; Blickpunkt, Zentralpunkt, Augenpunkt,...; Sehstrahl, Projektionslinie,... In der nachfolgenden ikonischen Darstellung (Abb. 7) muss entschieden werden, welche Aspekte für den Prozess unerheblich und welche konstitutiv sind. Hier können die Begriffe erstmalig ausgeschärft und bewusste Reduktionen vorgenommen werden: Die Leinwand wird zur (nicht mehr begrenzt gedachten) Ebene, das Objekt wird in Objektpunkte aufgelöst. Abb. 7: ikonische Darstellung der Projektion Erst jetzt ist die Grundlage für eine „radikale“ Mathematisierung geschaffen: Um die genaue Lage der Bildpunkte in der Ebene festzustellen, werden die geometrischen Objekte symbolisch, nämlich in Form von Zahlen und deren Platzhalter dargestellt, der geometrische Projektionsprozess wird zu einer Raumgeometrie mit dem Computer — Schülerprojekte in 2 bis 5 Raumdimensionen — noch zu erarbeitenden — arithmetischen Operation. Dies ist die fundamentale Idee, die auf Descartes Schlüsselwerk „Géometrie“ (1637) zurückgeht und die seither zu einem Herzstück des Erfolges der modernen Mathematik und Naturwissenschaft geworden ist. Wie aber wird die Notwendigkeit dieses letzten Schrittes für Schülerinnen und Schüler erlebbar? Man kann dies erreichen durch eine nachvollziehbare Produktorientierung, wie z.B. in den folgenden Ansätzen: Man will ... • die genauen Lage der Bildpunkte einer komplizierteren geschwungenen Figur berechnen, etwa um eine realistische Vorlage für eine Decken- oder Wandmalerei zu erstellen (z.B. in der Art einer Pozzo’ schen Scheinkuppel; vgl. Scriba & Schreiber 2002, 329). • die mathematisch exakten Lagen der Bildpunkte einer einfachen Figur bestimmen. Hier bietet sich z.B. an, das oben abgebildete Zweifarbstereogramm eines Tetraeders zu berechnen, um ein realistisches Bild zu erhalten. • die Arbeit einem Computer übertragen. Hier entfaltet sich die eigentliche Macht der kartesischen Methode. Das geometrische Problem kann als Algorithmus einem Computer aufgetragen werden, dessen besondere Kapazität in der wiederholten schnellen Anwendung eines Algorithmus liegt. Abbildung 8 zeigt das Arbeitsergebnis einer Schülergruppe, die im Rahmen einer Sommerakademie Mathematik/Informatik in Münster gearbeitet haben. Sie entwickelten ein Programm, mit dem man Kantenmodelle beliebiger Polyeder erstellen, stereographisch darstellen und animieren kann (s. „SMIMS2001“ bzw. „SMIMS2002“ unter www.leuders.net/timo/schule). Es sollen nun einige konkrete unterrichtliche Ansatzpunkte dargestellt werden, wie sich die Grundbegriffe der Raumgeometrie und der Analytischen Geometrie aus dem beschriebenen „Projektionsproblem“ heraus entwickeln lassen, — wie man sich also einer Erfüllung der anfangs genannten Desiderata nähern kann. • Um ein „berechenbares Modell“ eines Körpers zu erhalten, müssen dessen Koordinaten bestimmt werden. Hieraus ergeben sich zahlreiche Anlässe, die Eckpunkte einfacher und komplexerer Polyeder zu ermitteln. Es können zunächst auch elementargeometrische Argumentationen wiederholend herangezogen werden. • Für eine mathematische Modellierung des Projektionsprozesses benötigt man zumindest eine mathematische Darstellung der Projektionsgeraden und der Bildebene, sowie ein Verfahren, deren Schnittpunkt zu berechnen. Hierbei können erste Auffassungen von der Geraden als parametrisierbare Punktmenge und davon, was ein Vektor ist, entwickelt werden. • Soll der Blickpunkt und damit die Projektionsebene um einen Körper herum wechseln, so wird es nötig, angemessene Darstellungen von Ebenen verschiedener Lage zu suchen. • Will man im Computer Figuren bewegen oder drehen können, so müssen sukzessive räumliche Kongruenzabbildungen (z.B. Translationen und Drehungen um die Koordinatenachsen) entwickelt werden. • Die Notwendigkeit der Berechnung von Winkeln zwischen Geraden kann bei der innermathematischen Frage nach der Form bestimmter Polyeder auftauchen, aber auch bei dem Wunsch, Flächen ausgefüllt und — je nach Lage zu einer Beleuchtungsrichtung — verschieden hell ausgeleuchtet darzustellen. Viele dieser Aspekte setzen nicht etwa Informatikkenntnisse voraus, sondern lassen sich ebenso mit einem Grundkurs Mathematik behandeln. Dabei kann man entweder gänzlich ohne Computer arbeiten, mit einem Informatikkurs kooperieren, oder aber einzelnen Schülerinnen oder Schülern „Programmieraufträge“ durch den Kurs geben lassen, für die dann selbstverständlich zunächst gemeinsam adäquate Algorithmen entwickelt werden müssen. Abb. 8: Anaglyphischer Dodekaeder 109 Timo Leuders 4 Höher hinaus: Vier Dimensionen und mehr Das Thema ist mit den angedeuteten Aspekten keineswegs erschöpft. Zu den vielen weiteren mathematisch produktiven Fragestellungen gehört z.B. das Funktionsprinzip der auf dem wallpaper effect beruhenden Autostereogramme (hier gibt es eine Vielzahl von Internetseiten; ein Projekt für den Informatikunterricht beschreiben Heiss & Hermes 1999) oder das Problem der Bestimmung von Raumpunkten aus Abstandskoordinaten für 3D-Arbeitsplätze oder für die elektronische Erfassung menschlicher Bewegungsvorgänge für Animationsfilme. Hierin liegen viele Ideen für Projektarbeit und Facharbeiten. Einer dieser weiterführenden Aspekte ergibt sich, wenn man die mit dem Projektionsvorgang umschriebene Dimensionsfrage betrachtet. Der Dimensionsbegriff ist nämlich, den anfänglichen Argumentationen folgend, weder in der Frage der Existenz einer Vektorraumbasis erschöpft noch sollte er von ihr ausgehen. Viel interessanter ist es hier, sich zunächst die Charakteristika der verschiedenen Raumdimensionen vor Augen zu führen und sich so eine lebendige Vorstellung von Dimensionalität zu machen. Ein faszinierender Ausgangspunkt kann hier Abbotts berühmte Novelle „Flatland“ (1884 & 2001) sein, in der er schildert, wie eine zweidimensionale Welt und ihre Geschöpfe aussehen könnten und mit welchen Wundern und Paradoxa für diese Wesen die Entdeckung der dritten Dimension verbunden ist. Schnell geraten Schüler ins Grübeln, wie für uns die vierte Dimension aussehen könnte. Ähnlich wie Abbott kann man diese Frage auch an mathematischen Grundproblemen und Grundfiguren festmachen: Was sind vierdimensionale Würfel, Kugeln, Pyramiden etc.? Wie kann man sie in drei Dimensionen darstellen? Schülerinnen und Schüler untersuchen und entdecken, wie Objekte und Operationen übertragen oder adäquat verallgemeinert werden können. Sie bestimmen Eckenkoordinaten, entdecken, dass die Projektionsmethode von drei in vier Dimensionen mathematisch völlig analog übertragbar ist, sie untersuchen Schnittgebilde oder verallgemeinern Drehungen. Abbildung 9 zeigt die Ergebnisse der Projektarbeit zweier Schülergruppen (siehe „SMIMS2001“ bzw. „SMIMS2002“ unter www.leuders.net/timo/schule). 110 Abb. 9: zweidimensionale Projektion einer vierdimensionale Pyramide über dreidimensionalem Würfel Ein Team entwickelte ein Programm, mit dem man durch sukzessive Konstruktion von Prismen, Pyramiden und Kugelschalen zweidimensionale Abbildungen und n-dimensionale Koordinatenmengen höherdimensionaler Polytope erzeugen kann. Eine andere Gruppe schrieb ein Programm, das vierdimensionale Gebilde stereographisch auf den Bildschirm projiziert und mit dem man diese dann in vier Dimensionen verschieben und drehen kann. Abbildung 10 schließlich zeigt die Projektion einer Kleinschen Flasche, deren Kantenmodell in vier Dimensionen keine Selbstdurchdringung hat. Abb.10: Projektion einer Kleinschen Flasche Auch hier gilt wieder: Viele Aspekte des „Projektionsproblems“ lassen sich auch ohne Computernutzung und auch in einem Grundkurs verwirklichen. Wesentlich ist hier allein, dass authentische Probleme zum Ausgangspunkt der (Nach-) Erfindung von Mathematik werden. Die vorgestellten Beispiel haben zudem gezeigt, dass eine höhere Komplexität des Zugangs zur Analytischen Geometrie nicht unbedingt eine Erschweren des Lernens bedeuten müssen. Im Gegenteil: „Ganzheitliche Themen sind zwar (kleinschrittig) schwerer Raumgeometrie mit dem Computer — Schülerprojekte in 2 bis 5 Raumdimensionen zu lehren, aber (aktiv entdeckend) leichter zu lernen als portionierte Stoffangebote“ (Wittmann 2000). Literatur und Internet-Seiten Abbott, Edwin (1884 & 2001): Flatland. Princeton: Princeton University Press 1991 (Erstausgabe 1884). Deutsche Übersetzung in: Dionys Burger (2001): Silvestergespräche eines Sechsecks. Köln: Aulis Burlisch, Roland (1998): Virtuelle Welten aus dem Rechner. In: www-m2.ma.tum.de/ Veroeffentlichungen/VirtuelleWelten Freudenthal, Hans (1973). Mathematik als pädagogische Aufgabe. Bd. 2. Stuttgart: Klett Heiss, P. & A. Hermes (1995): 3D-Grafik. Stuttgart: Klett Istron (Hrsg.) (1990–2000): Materialien für einen realitätsbezogenen Mathematikunterricht. Bde. 1–6. Hildesheim: Franzbecker Meyer, Jörg (2000): Projektionen. In: Istron (2000). Bd. 6, 104–117 MSWWF (Ministerium für Schule, Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung) (Hrsg.) (1999): Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II — Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Frechen: Ritterbach Rock, Irvin (1998): Wahrnehmung — vom visuellen Reiz zum Sehen und Erkennen. Heidelberg & Berlin: Spektrum Scriba, Christoph J. & Peter Schreiber (2002): 5000 Jahre Geometrie. Berlin, Heidelberg & New York: Springer Wittmann, Erich Christian (2000): Aktiv-entdeckendes und soziales Lernen im Rechenunterricht. In: Gerhard Müller (Hrsg.) (2000): Mit Kindern rechnen. Frankfurt: Arbeitskreis Grundschule www.alympiade.de www.leuders.net/timo/schule www.schul-mathe.de 111 Lernumgebung zum Orientierungswissen „Hypothesentest“ z Eckhard Löbbert, Haltern am See – Sythen In den Richtlinien und Lehrplänen für die Sekundarstufe II Gymnasium/ Gesamtschule NRW ist die Möglichkeit vorgesehen, Kenntnisse in Stochastik als Orientierungswissen zu vermitteln. Die Lernumgebung möchte diesem Anspruch gerecht werden. Sie folgt dem Prinzip Learning by Doing, an einem Lösungsbeispiel werden die Phasen eines Hypothesentests vorgestellt und es wird in die Entscheidungslogik eingeführt. Nach dem Top Down Prinzip können bei Bedarf Begriffserklärungen und Begründungszusammenhänge abgerufen werden. Die mathematischen Hintergründe werden durch Visualisierungen nahegebracht und durch die problembezogene Einführung in unterschiedliche Werkzeuge (Excel, Derive oder TI-89) sollen die Schülerinnen und Schüler befähigt werden, einfachere Anwendungsaufgaben selbstständig zu lösen. 1 Einleitung In den Richtlinien in NRW gehört es zur Obligatorik, dass die Schülerinnen und Schüler in den Jahrgangsstufen 12 und 13 in den Gebieten Analysis, Lineare Algebra/ Geometrie und Stochastik mindestens ein Orientierungswissen erwerben. Bei der Vermittlung stochastischen Orientierungswissens ist anzustreben, diese Grundeinsichten anhand einfacher Beispiele plausibel zu machen. Es geht nicht primär darum, die entsprechenden mathematischen Theorien im Detail nachzuvollziehen, als vielmehr darum, im Prinzip zu verstehen (MSWWF 1999, 37). In der gymnasialen Oberstufe sind die Vorkenntnisse in der Stochastik, die Schülerinnen und Schüler aus der Mittelstufe mitbringen, diffus. Zwar ist Stochastik seit Jahrzehnten als verpflichtend in den Richtlinien der Sekundarstufe I vorgesehen, aber der nur 3-stündige Mathematikunterricht in den Jahrgangsstufen 9 und 10, sowie Unterrichtsprojekte, Betriebspraktika, Skifreizeiten etc. führen zwangsläufig zu inhaltlichen Kürzungen, die in der Regel zu Lasten der Stochastik gehen. Aus der Jahrgangsstufe 11 kann man Kenntnisse aus der beschreibenden Statistik (Kenngrößen, Ausgleichsgerade, Regression und Korrelation) voraussetzen. Die entwickelte Lernumgebung will die Mathematiklehrerin/ den Mathematiklehrer darin unterstützen, in einem zeitlich angemessenen Rahmen Orientierungswissen zum Hypothesentest zu vermitteln und Anwendungsaufgaben für die neu erworbenen Kenntnisse zur Verfügung zu stellen. 112 2 Zum Aufbau Die Lernumgebung ist für den Einsatz im Unterricht konzipiert, sie unterstützt weniger das Abb. 1 individuelle Lernen, sondern stärker das Lernen in Gruppen. Der Aufbau gliedert sich in 4 Phasen. In einer ersten Phase wird in die Entscheidungslogik eines Hypothesentests eingeführt (Abb. 1). Die Schülerinnen und Schüler bearbeiten in mehreren Schritten die grundliegenden Inhalte. Die Bearbeitungsschritte orientieren sich an den Phasen eines Hypothesentests: Problemstellung, Formulierung der Nullhypothese und Alternativhypothese, Wahrscheinlichkeitsverteilung, Annahme- und Ablehnungsbereich, Entscheidung aufgrund des Stichprobenergebnisses. An einem authentischen Untersuchungsergebnis aus der Medizin wird der Frage nachgegangen, ob ein Einsatz eines neuen Medikaments einer herkömmlichen Behandlungsmethode überlegen ist oder ob der Erfolg zufällig sein kann. Anhand dieses Beispiels Lernumgebung zum Orientierungswissen Hypothesentest wird in die typische Begriffsbildung und in die Entscheidungslogik des Hypothesentests eingeführt. Die Schülerinnen und Schüler sollen schrittweise die Argumentation nachvollziehen und dadurch lernen, ähnliche Fälle zu lösen. Sie werden aber auch dazu aufgefordert, mit Applets zu experimentieren, die Ergebnisse zu analysieren und aktive Selbsterklärungen vorzunehmen. Die Lernumgebung genügt damit der Forderung von Prof. Mandel, „Die Lernumgebung muss den Anwender zu einer selbstgesteuerten Auseinandersetzung herausfordern“ (Beuthner 2002). In einer zweiten Phase werden die neu erworbenen Kenntnisse selbstständig auf einfache Beispiele aus der Medizin angewandt. Das Lernen erfolgt hier dem Prinzip „Learning by Doing“. Die Schülerinnen und Schüler lösen die Aufgaben, indem sie die Schritte des Hypothesentests aus der Beispielaufgabe ausprobieren und nachmachen. Als Modell und Hilfe dient das Beispiel aus der ersten Phase. Das Lernen mit der Lernumgebung setzt auf eine Hybrid-Lernform. Es sieht nicht nur Phasen selbstgesteuerten Lernens durch die Schülerinnen und Schüler vor, sondern bezieht bewusst auch Phasen lehrergesteuerten Lernens mit ein. Zu jedem Applet, das zur Visualisierung der mathematischen Theorien dient, sind Arbeitsaufträge formuliert, die die Schülergruppen auf einem Arbeitsblatt zu bearbeiten haben. Außerdem werden die Schülerinnen und Schüler durch das Arbeitsblatt aufgefordert, gezielt Verständnisfragen zu formulieren. Die Lehrerin/ der Lehrer sichtet die Ergebnisse und sammelt die Fragen. Mit diesen Erkenntnissen kann der Unterrichtende die dritte Phase, die Vertiefungsphase, strukturieren und neue Schwerpunkte bilden. Die Organisation dieser Phase liegt in der Verantwortung der Lehrerin/ des Lehrers. Sie kann in einem Unterrichtsgespräch, aber auch in Partner- oder Gruppenarbeit erfolgen. Die Lernumgebung verfügt über unterschiedliche Vertiefungsangebote, die interessierte Schülerinnen und Schüler auch in der ersten Phase schon benutzen können. Ein Glossar bietet eine zusätzliche Orientierung. Den Abschluss bildet eine vierte Phase, in der das erworbene Wissen selbstständig auf verschiedene Anwendungsaufgaben angewandt wird, somit die Kenntnisse vertieft, geübt und nachhaltig verankert werden. Als Sozialform in dieser Phase sollte Gruppenarbeit, eventuell in Form eines Gruppenpuzzles gewählt werden. 3 Der Zugang über Simulation und Visualisierungen Abb. 2 Abb. 3 Von dem Benutzer der Lernumgebung werden keine speziellen Stochastikkenntnisse erwartet. Es wird versucht, ohne kombinatorische Grundkenntnisse zur Binomialverteilung zu kommen. Ausgehend von dem Anwendungsbeispiel wird das zugrundeliegende Urnenmodell entwickelt. Durch Java-Applets wird das Ziehen von Stichproben simuliert und ausgewertet (Abb. 2). Wiederholtes Ziehen von Stichproben führt zu einer Wahrscheinlichkeitsverteilung (Abb. 3), die der Binomialverteilung sehr nahe kommt. Mit den Applets kann experimentiert werden. Arbeitsaufträge zu den Applets lenken auf bestimmte Merkmale und Zusammenhänge, die entdeckt werden sollen. Weitere Applets als Experimentierumgebungen führen zu den Kenngrößen, zur Bedeutung der Sigma-Umgebung und zur Näherungsformel von Moivre-Laplace. 113 Eckhard Löbbert 4 Binomialverteilung, Erschließen nach dem Top-Down-Prinzip Nach der Simulationsphase stellt sich nun die Frage, ob die Wahrscheinlichkeitsverteilung auch berechnet werden kann. Es wird die Binomialverteilung für das zugrundeliegende Zufallsexperiment angegeben, und man kann die Ergebnisse mit den Simulationsergebnissen vergleichen und stellt nur geringe Unterschiede fest. Schrittweise kann man nun den Weg nachvollziehen, wie man zur Berechnung kommt. Durch ein Java-Applet (Abb. 4), wird dem Benutzer der rekursive Aufbau des zugehörigen Baumdiagramms für ein Bernoulliexperiment verdeutlicht. Der Binomialkoeffizient bk(n,k) wird eingeführt als die Anzahl der Wege in einem Baumdiagramm, die bei einem n-stufigen Experiment zu k Erfolgen führen. Eine genauere Analyse des Baumdiagramms führt zur rekursiven Berechnungsvorschrift bk(n,k) = bk(n–1,k–1) + bk(n–1,k) der Binomialkoeffzienten, dabei gibt bk(n–1,k–1) die Anzahl der Wege in dem oberen Teilbaum (Abb. 4) und bk(n–1,k) die Anzahl der Wege in dem unteren Teilbaum (Abb. 4) an. Wer jemals die rekursive Formel zur Berechnung der Binomialkoeffizienten programmiert hat, kennt die gravierenden Laufzeitprobleme. Daher wird auch die iterative Berechnungsregel vorgegeben und anhand eines kleinen Induktionsbeweises kann der Benutzer die Richtigkeit der iterativen Berechnungsregel nachvollziehen. Abb. 4 5 Vertiefungsangebote An verschiedenen Stellen gibt es unterschiedliche Vertiefungsangebote, die nach Interesse der Schülerinnen und Schüler, oder nach Aufforderung durch die Lehrerin/ den Lehrer bearbeitet werden können. In einem 114 ersten Durchgang sollen die Begriffe und neu erworbenen Methoden an Beispielen selbstständig angewandt werden. Anschließend sollen notwendige Begriffe und Zusammenhänge, die die Problemlösungen vereinfachen, noch ergänzt werden. Es gibt Vertiefungsangebote zum Hypothesenbegriff, zur Binomialverteilung, Erwartungswert/ Varianz/ Standardabweichung, Sigma-Umgebungen, Näherungsformel von de Moivre und Laplace und zum einseitigen Hypothesentest. 6 Anwendungsphasen Die Anwendungsphasen geben dem Benutzer die Rückmeldung, in wieweit die Entscheidungslogik des Hypothesentests verstanden worden ist, und bietet die Chance, Wissenslücken zu schließen. Anwendungsphasen sind nach der Einführungsphase (Phase 1) und nach der Vertiefungsphase (Phase 3) vorgesehen. In der ersten Anwendungsphase sollten die Beispielfälle von der Partnergruppe, die auch in der ersten Phase zusammengearbeitet hat, gelöst werden. Die Beispiele in der zweiten Anwendungsphase sollten von neu zusammengestellten Gruppen bearbeitet werden. Die Anwendungsphasen geben den Benutzern Rückmeldung, in wieweit das Verfahren verstanden worden ist. 7 Werkzeuge Die Java-Applets sind so konstruiert, dass nur die Problemstellung des Eingangsbeispiel (Phase 1) bearbeitet werden kann. Die Applets sind bewusst nicht als universale Werkzeuge programmiert worden. Die Schülerinnen und Schüler sollen dadurch aufgefordert werden, sich mindestens mit einem Werkzeug (Excel, Derive oder dem TI-89) vertraut zu machen, um unabhängig von der Lernumgebung Anwendungsaufgaben lösen zu können. Zu allen drei Werkzeugen werden problembezogene Einführungen und Hilfen in der Lernumgebung bereitgestellt. 8 Schlussbemerkung Die Lernumgebung wurde im Rahmen des BLK-Modellversuchs SelMa (Selbstlernen in der gymnasialen Oberstufe — Mathematik) vom Autorenteam des Albert-SchweitzerGymnasiums in Marl entwickelt. Das Ziel von Lernumgebung zum Orientierungswissen Hypothesentest SelMa ist es zu zeigen, wie Mathematikunterricht in der gymnasialen Oberstufe zu gestalten ist, wenn Eigentätigkeit und selbstständiges Arbeiten mit neuen Medien gefördert werden sollen. Man findet die Umgebung auf dem NRW-Bildungsserver learn:line unter der Adresse www.mathe-selma.de. Literatur Althoff, Heinz (1985): Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik. Stuttgart: Metzler Beuthner, Andreas (2002): Wissen lässt sich nicht mit dem Trichter einfüllen. In: Computer Zeitung 41/7, 22 Griesel, Heinz & Postel, Helmut (2000): Elemente der Mathematik Grundkurs 12/13. Hannover: Schroedel Keiser, Otto M. (1998): Leitprogramm Testen von Hypothesen. ETH Zürich: Department Mathematik http://www.educeth.ch/mathematik/leitprog/test en/ (15.10.2002) Krengel, Ulrich (2000): Einführung in die Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik. Braunschweig: Vieweg MSWWF des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.) (1999): Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II. Frechen: Ritterbach Strick, Klaus Heinz (1998): Einführung in die Beurteilende Statistik. Hannover: Schroedel 115 Ein Projekt zum Einsatz von Software für Dynamische Geometrie (DGS) in der Lehramts-Ausbildung: Ein Zwischenbericht z Dorothee Maczey, Paderborn In einem Forschungsprojekt wurden an der Universität Paderborn Studierende in Interviews zu ihren Erfahrungen mit dem Einsatz von DGS und zu ihren Vorstellungen über Geometrie und deren Veränderungen befragt. An Hand von drei Beispielen soll dieser Zwischenbericht Aufschluss über Inhalte und erste Ergebnisse des Projektes geben. 1 Das Projekt An der Universität Paderborn läuft unter der Leitung von Peter Bender vom 01.08.2001 bis zum 31.07.2003 das Projekt „Wirkung einer multimedialen Lernumgebung auf das Mathematiklernen“. Es wird gefördert vom MSWF im Rahmen des Innovationsprogramms „Wirksamkeitsforschung — Neue Medien in der Hochschullehre“. Unter Mitwirkung der Universitäten Dortmund (Henn) und Nürnberg (Weth) werden in verschiedenen Lehrveranstaltungen zur Geometrie, in eingeschränktem Maße auch zur Analysis und Stochastik, Studierende befragt. In diesem Bericht wird es um eine Geometrie-Vorlesung gehen, die für Erst-SemesterStudierende der Mathematik für das Lehramt der Sekundarstufe I und der Primarstufe im Wintersemesters 2001 von Hans-Dieter Rinkens gelesen wurde. In dieser Vorlesung werden bereits seit 6 Jahren multimedial aufbereitete Skripte verwendet: zunächst als Power-Point-Präsentationen zusammen mit Cabri Geomètre und seit 3 Jahren als Internet-Skript zusammen mit dem Internet-fähigen Cinderella. Es wird mit einem Beamer an die Wand projiziert, gleichzeitig verfügen die Studierenden über eine Papierversion. Bei der Bearbeitung der Übungen wird auch von den Studierenden Cinderella benutzt; die wöchentlichen Übungsblätter sind darauf zugeschnitten. Die Übungsstunden finden grundsätzlich im kommunikationsfördernd eingerichteten Poolraum statt (kreisförmige Anordnung der Rechner, abgesenkte Bildschirme, Pädagogisches Netzwerk). Im Rahmen des Projektes wurden außerdem 20 der 50 bis 60 Studierenden mit Laptops ausgestattet, so dass sie in der Vorlesung „mitziehen“ konnten, sowie zur Bearbeitung ihrer Übungen zu Hause. 116 2 Zu den Zielen des Projektes Den allgemeinen Rahmen bilden die folgenden Leitfragen: Wie verändert sich das Lernen von Mathematik in einer multimedialen Umgebung? Wie verändern sich die Auswahl der Inhalte und die mathematischen Begriffe selbst? Wie wird der Medieneinsatz an sich auf der intellektuellen, emotionalen und sozialen Ebene wahrgenommen? Konkret und auf die Geometrie bezogen heißt das, dass wir uns für das Verstehen geometrischer Sachverhalte bei den Lernenden interessieren und dass wir ihre Denkmuster und Vorstellungen über (insbesondere dynamische) Geometrie rekonstruieren wollen. Unsere konkreten Fragen lauten hier: • Zugmodus — Denken in Bewegungen: Wie beeinflusst Cinderella die Vorstellungen der Studierenden über geometrische Objekte und deren Abhängigkeiten? • Heuristik: Inwiefern wird das DGS von den Studierenden heuristisch genutzt? • Beweisen: Welche Rolle spielt Cinderella für die Studierenden beim Beweisen? Insbesondere zur ersten Frage gibt es Berührungspunkte zu einem übergeordneten Aspekt: dem „Funktionale Denken“, und zwar im Sinne der Meraner Reform, wie es von Katja Krüger in ihrer preisgekrönten Dissertation beschrieben wird. 3 Zum Untersuchungsdesign Wir erhielten unsere Daten hauptsächlich aus Interviews mit den Studierenden, die Ein Projekt zum Einsatz Dynamischer Geometrie-Software in der Lehramts-Ausbildung größtenteils im Januar 2002 stattfanden, nachdem mehr als die Hälfte des Semesters vergangen war. Die Interviews bestanden aus allgemeinen Fragen zum Medieneinsatz und aus Fragen zur Dynamischen Geometrie, z. B.: – Warum zieht man? – Glaubst du, dass durch die Beweglichkeit deine Vorstellungskraft gefördert wird, so dass du dir Bewegungen vorstellen kannst, ohne mit Cinderella zu ziehen? – Konstruktions- & Beweisaufgaben: — Was ist der Unterschied? — Welchen Beitrag kann Cinderella dabei jeweils leisten? – Was beweist Cinderella? Der dritte Teil der Interviews bestand aus drei Aufgaben, die die Probanden vor der Kamera lösen sollten. Um hier einen Dialog zu provozieren, wurden generell zwei Studierende gleichzeitig interviewt. Im Anschluss an die Aufgabenbearbeitung stellte der Interviewleiter noch einmal besondere Fragen, z.B.: Welche Rolle hat Cinderella jetzt beim Bearbeiten der Aufgabe für euch gespielt? Die Interviews verstehen sich als Fallstudien, und die Auswertung erfolgt qualitativ durch eine interpretative Analyse der Transkripte, wobei fachinhaltliche und didaktische Aspekte mit einbezogen werden. Angelehnt an Studien wie die von Hölzl (1999), vom Hofe (1998) etc. soll eine Brücke geschlagen werden zwischen qualitativ-empirischer Forschung und Stoffdidaktik. Das bedeutet insbesondere, bei der Rekonstruktion der Vorstellungen über (dynamische) Geometrie sowohl normative Aspekte aus der medienbezogenen Mathematikdidaktik, als auch sachanalytische und stoffdidaktische Aspekte ohne Medien-Bezug zu berücksichtigen. 4 Einblick in die aktuelle Projektarbeit Im Folgenden soll an drei Beispielen ein Einblick in die aktuelle Projektarbeit gegeben werden. 4.1 Simone: Komplexität Si Nur mit dem Zugmodus, ähm, ich weiß nicht, wenn man .. da steht man dann nachher noch wieder eher vorm Problem ab und zu find ich, weil . wenn man meinetwegen ’ne Zeichnung macht, und irgendwas versucht zu beweisen, dann sieht man im Moment erst mal nur einen Fall, meinetwegenSo, ist mir jedenfalls jetzt immer gegangen. Und wenn dann, dieser Zugmodus ist, und dann so (stöhnt:) hoa da bewegt sich ja alles, und was ist jetzt überhaupt noch fest und . oh Gott . also dasFür die Studentin Simone stellt der Zugmodus ein Problem dar. Obwohl die Bewegungskomponente offensichtlich wichtiger Bestandteil der Software ist, die in der Veranstaltung eingesetzt wird und über die ein ganzes Forschungsprojekt angestrengt wird, kann sie diesem wichtigen Element nichts abgewinnen. Im Gegenteil: die Komplexität der bewegten Konstruktion verwirrt und überfordert sie so sehr, dass sie im Gegensatz zum vertrauten statischen Einzelfall nichts mehr sieht und weiß. IL Seht ihr denn auch Vor- oder Nachteile in der Beweglichkeit, die jetzt in dem, in dem äh Cinderella\ Konstruktionsprogramm gegeben ist\ gegenüber den Papierzeichnungen\ Si (zieht die Augenbrauen zusammen) Voroder Nachteile von dieser Beweglichkeit/ IL Ja\ Si Ja, wie eben schon gesagt (zuckt die Schulter) manchmal verpfuscht’s wahrscheinlich irgendwelche Erkenntnisse weil’s zu viel Möglichkeiten gibt/ aber (zuckt die Schulter) es werden wahrscheinlich Möglichkei, also mehr Möglichkeiten auf einmal offensichtlich/ . als auf’m Papier\ Das ist mit viel mehr Aufwand verbunden vor allem dann\ Aber ansonsten\ (verzieht leicht den Mund) muss man dann wahrscheinlich eher erst in ner höheren Liga in Mathe spielen (lacht) um das dann auch wirklich zu verstehen sofort\ Die Beweglichkeit, d. h. der Zugmodus „verpfuscht“ sogar ihre Erkenntnisse, weil es ihr „zu viele Möglichkeiten gibt“, sie sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht. Gleich darauf beschwichtigt sie wieder (schließlich will sie uns lieber nette Sachen sagen): Es gibt wohl auch Vorteile in diesen Möglichkeiten, die man auf dem Papier nicht haben kann, weil es dort zuviel Aufwand kostet. Allerdings sind diese ihr nicht zugänglich, da sie nicht in der entsprechenden „Liga in Mathe“ spielt. Diese Komplexität kann in ihren Augen somit nur von solchen Personen bewältigt werden (und damit von Vorteil sein), die in Mathe sehr gut sind. Sie selbst liegt übrigens durchaus im „oberen Mittelfeld“. 117 Dorothee Maczey Kurz: Durch zu große Komplexität wird Simone am Lernen gehindert. Die Komplexität ist deshalb zu groß, weil Simone in Mathe nicht gut genug ist. Zur These verallgemeinert: Die Dynamik überfordert die ‚Schwachen’. DGS bringt nur den Leistungsstarken etwas. Auch Gawlick kommt bei seiner Untersuchung über die Wirkung des Einsatzes von DGS im Mathematikunterricht mehrerer siebter Klassen zu dem Ergebnis, dass (zumindest für die Jungen) der Unterricht ohne DGS „für Schlechtere effektiver“ ist als der Unterricht mit DGS, „und umgekehrt für Bessere“ (Gawlick 2001, 52). Unsere Beobachtungen zeigen ebenfalls, dass leistungsstarken Studierenden eine gewisse Komplexität in ihren Konstruktionen nichts ausmacht. Sie gehen damit bewusst um und sehen auch noch dann etwas, wenn der Bildschirm voll von Linien ist. Sie verfügen darüber hinaus über Strategien im Umgang mit der Komplexität des Zugmodus, z.B. bei der Suche nach Beweisargumenten: Sie ziehen langsam, schauen genau hin und suchen nach Spezialfällen, die ihnen weiterhelfen können. Sie betrachten dann diese verschiedenen statischen Einzelfälle eingehend, ohne viel zu ziehen und verschaffen sich so die Muße zum klaren Denken: „Thinking” statt „clicking“! (ein Begriffspaar von P. Davis, vgl. Danckwerts, Vogel & Maczey 2000, 345) Simone und ihre Interview-Partnerin dagegen finden bei der selben Aufgabe von sich aus keinen relevanten Sonderfall. Selbst nach massiver Einhilfe erkennen sie nicht einmal das Besondere daran: „Das ist ja fast das Gleiche“. Was lässt sich daraus folgern? Wie lässt sich Simones Problem, vor dem sie mit dem Zugmodus steht, lösen? Im Mathematikunterricht könnte man zunächst die Zusammenarbeit zwischen starken und schwachen Schülerinnen und Schülern vorantreiben, etwa im Sinne von Teamund Gruppenarbeit. Auf der inhaltlichen Ebene muss „das Sehen“ explizit Unterrichtsgegenstand sein. Das gezielte Beobachten und Analysieren von Abhängigkeiten (bewegliches Denken, vgl. Roth 2002) stellt sich als Fähigkeit im Allgemeinen nicht von allein ein. Es muss als sinnvoll und hilfreich erfahren und an Beispielen unterschiedlichen Komplexitätsgrades geübt werden. Dabei sollte offen über Vorgehensweisen und Strategien gesprochen werden, denn die heuristische Wirksamkeit von statischen Bildern ist eine 118 andere als die von dynamischen. So lassen sich mit statischen Einzelbildern eher Zusammenhänge zwischen mehreren geometrischen Konfigurationen oder Teilen einer Konfiguration erkennen. Dagegen eignet sich das flüchtige dynamische Bild z.B. zum Explorieren, um sich einen Überblick über die Gesamtsituation und mögliche Sonderfälle zu verschaffen, für den schnellen Test von Vermutungen oder für die Analyse von Bewegungsabläufen z.B. bei der Suche nach Beweisargumenten. All dies gilt nicht nur für den Mathematikunterricht in der Schule, sondern ebenso für die Universität: Sollen diese Tugenden in der Schule ‚ankommen’, so muss auch die Lehramtsausbildung die Möglichkeit bieten, genau diese Dinge zu erfahren, d.h. sie zu tun und zu reflektieren. Es lassen sich Tutorien oder Übungen in Kleingruppen mit dem Rechner organisieren, in denen der Umgang mit einfachen und komplexen Beispielen geübt und entsprechende Strategien thematisiert werden. Problematisch ist in jedem Fall die Einstellung, dass sich der kluge und effektive Umgang mit Dynamischer Geometrie als heuristisch wirksames Medium von selbst einstellt, wenn er nur implizit in Vorlesung oder Übung vorgelebt wird. Ohne weiteres geschieht dies nach unseren Erfahrungen nicht. Ein kleiner Nachtrag, Simone betreffend: Si Ja mir kommt das aber das ganze Programm sowieso vor/ wie wenn man damals am Computer meinetwegen ganz am Anfang irgendwelche solche Malsachen gehabt hat\ . Und so ungefähr find ich das auch\ Das bringt nicht viel/ man pfuscht da halt n bisschen, man macht n bisschen was und- kommt mal was schönes bei rum, mal nicht/ aber so richtig . dass ich jetzt sagen würde, boah ich bin total begeistert davon/ dass ist . nich\ Das einzige wo ich vielleicht sagen würde wirklich dass man, wenn man irgendwie ne Präsentation oder so was macht/ oder einfach Arbeitsblätter für, für Schüler oder so was/ dass man die Zeichnungen da dann aus m Computer machen kann und, oder auch dieses Arbeitsblatt da vielleicht, dass es dann saubere Zeichnungen sind\ Aber ansonsten/ . weiß ich nicht\ Simones Konsequenz aus ihrer Überforderung ist, das DGS auf ein Mal- und Präsentations-Programm im Stile Power-Points zu reduzieren. Sie spricht ihm so jeden mathematisch-inhaltlichen Sinn ab, d. h. sie lehnt die Ein Projekt zum Einsatz Dynamischer Geometrie-Software in der Lehramts-Ausbildung eigentliche Errungenschaft — das DGS als D-GS — ab. Wenn wir nicht wollen, dass unsere Lehrer auf diese Art mit unserer ‚kostbaren Dynamischen Geometrie’ umgehen, so müssen wir gerade im Hochschulbereich unsere Bemühungen im o.g. Sinne verstärken. 4.2 Ortslinie als Schiene oder Spur? Die Ortslinienfunktion ist neben dem Zugmodus das zweite charakteristische Merkmal einer DGS. Für die meisten Studierenden war das Thema Ortslinien völlig neu, sie hatten Linien oder Kurven bisher nicht als geometrischen Ort kennen gelernt. In der Veranstaltung wurde die Ortslinie einerseits statisch als Menge aller Punkte, die einer bestimmten Bedingung genügen, und andererseits dynamisch als Bahn eines sich bewegenden Punktes eingeführt. Die Interview-Frage an die Studierenden, was sie unter einer Ortslinie verstehen, ergab folgendes Bild: • So gut wie alle antworten mit einer dynamischen Beschreibung, etwa: „Wenn man einen Punkt bewegt...“ oder Sie ist die einzige, in der sich der allgemeine Charakter des Geometrischen Ortes ausdrückt. Es gibt darüber hinaus zwei verschiedene Sichtweisen, welche Art von Objekt die Ortslinie ist, ob sie • eher als Spur angesehen wird, die von einem Punkt erzeugt oder hinterlassen wird oder die dem sie verursachenden Punkt folgt, • oder als Schiene, die schon da ist und den Punkt nur aufnimmt, auf sich laufen lässt. Bei der „Spur-Sicht“ ist die Ortslinie abhängig vom Punkt, bei der „Schienen-Sicht“ ist es umgekehrt. Bei der „Spur-Sicht“ liegt der Blick auf der Genese, dem Prozess, bei der „SchienenSicht“ auf dem fertigen Produkt oder Objekt. Die Mehrheit der Studierenden betrachten die Ortslinie als Schiene, sie formulieren z.B: „Die Straße, auf der ein Punkt wandert“, „Straße, die ein Punkt verfolgt“, „Gerade, Kreis oder sonst irgendwas, worauf ein Punkt läuft“, „auf welcher Bahn die dann verlaufen“. Einige wenige haben die „Spur-Sicht“: „Wenn man eine Figur hat und zieht an einem Punkt...“ „und die Linie, die der Punkt zeichnet, ist die Ortslinie“, • Fast alle deuten eine zugrundeliegende Abhängigkeit an, z.B.: „die Ortslinie geht der Bewegung nach“, „die Bewegung nach beschreiben“. „Wenn ich den anderen Punkt bewege, bewegt dieser Punkt sich mit“, Mögliche Ursachen dieser unterschiedlichen Sichtweisen und des starken Überhanges in Richtung Schiene könnte z.B. darin liegen, dass Cinderella nur das Objekt Ortslinie liefert, und derzeit nicht über einen Spurmodus verfügt. Da uns dies bekannt war, wurde zur Einführung des Ortslinien-Kapitels in der Vorlesung einmal die Spur mit der Beta-Version der Software demonstriert. „wie der sich zu dem anderen verhält“, „wie sich die von den bewegbaren Punkten abhängigen Punkte bewegen“ • Die Beschreibungen sind unterschiedlich präzise und nicht alle vollständig, viele sind eher vage oder an konkrete Beispiele geknüpft. „da, wo der Punkt herverläuft, wenn man das z.B. Dreieck bewegt“ • eine Äußerung fällt aus dem Rahmen: „ne Ortslinie ist in ner gewissen Art und Weise ne Verallgemeinerung“ „jetzt nehm wa wieder den berühmten Schnittpunkt der Seitenhalbierenden/ . und .. diese Ortslinie gibt halt dann .. jeden einzelnen Fall an/ .. oder, gibt jeden einzelnen Punkt an/ auf den dieser Schnittpunkt fallen kann\ Wenn ich diesen Punkt C oben bewege\ Dagegen ist die Nomenklatur bei Cinderella aus der Spur-Sicht heraus verfasst: Die „Straße“ ist die Kurve, auf der sich der UrbildPunkt (nicht der Ortslinien-Punkt!), bewegt. Und der Benutzer wird beim Konstruieren der Ortslinie aufgefordert, den „zu verfolgenden Punkt“ (den Ortslinien-Punkt!) anzugeben. Die Studierenden benutzen die Begriffe „Straße“ und „Verfolgen“ genau umgekehrt! Weiterhin kann die Wortwahl der Lehrenden Einfluss gehabt haben: Eine „Bahn“ ist bereits vorhanden, und auch der mathematische Begriff „Ort“ drückt eine Präexistenz aus: ein Ort ist schon da, wenn ich hinkomme, Orte erzeugt man nicht. 119 Dorothee Maczey Die Unterscheidung in Schiene und Spur ist im Grunde eine philosophische, eine epistemologische Frage, nämlich, ob die Dinge der Erkenntnis schon vorhanden sind oder ob wir sie erfinden. Ihre konkrete Bedeutung für das Lernen von Geometrie ist nicht belegt. Sie wäre von Interesse, wenn sie für Probleme im Unterricht sorgen würde, z.B. wenn der Schüler in einer anderen Vorstellung argumentiert als die Lehrerin. 4.3 Stefan: Dynamische Visualisierung und Beweis Im dritten Beispiel geht es um die Frage, inwieweit eine dynamische Visualisierung einen Beweis unterstützen oder ersetzen kann. Stefan antwortet auf die Frage nach Veränderung seines Bildes von Geometrie durch Cinderella und bringt dabei ein Beispiel: Also, ich finde diese Veranschaulichkeit . suuper\ Also, man kann daran ziehen/ und dann sieht man, dass das eine Quadrat kleiner wird oder dann gegen Null strebt und das andere Quadrat genauso groß wird wie das der Hypotenuse\ . Und wenn man´s jetzt zeichnen sollte, ich wüsste nicht, wie man das jetzt ordentlich . hin kriegen . könnte\ Ein wenig später nimmt der Interviewleiter noch einmal Bezug auf dieses Beispiel und fragt, was für Stefan das Besondere daran gewesen sei. S Also, für mich war das . Besondere oder das Einleuchtende, dass halt . ähm wenn man jetzt ähm meinetwegen an dem oberen Punkt, an dem Schnittpunkt der Katheten, wenn man jetzt da dran zieht/ dass halt . auf der einen Seite das eine Kathetenquadrat kleiner wird/ je nachdem, und das andere Kathetenquadrat größer\, je nachdem in welche Richtung man geht\ .. und an irgendeinem Punkt/ wenn halt dieser . bestimmte Punkt, an dem man zieht, jetzt auf der Hypotenuse liegt, ähm . ist halt . ja, ist das Quadrat über der Hypotenuse genauso groß wie das Quadrat über den . ähm über den Katheten, wobei das eine Kathetenquadrat ja dann Null ist . oder sein sollte\ Und dass man halt das Verhältnis auch sieht, wie sich das eine Quadrat gegenüber dem anderen verändert\ An Stefans Beispiel ist problematisch, dass es — auch wenn er am Anfang vom „Beweis vom Satz des Pythagoras“ spricht — keine Beweiskraft hat. Abb. 1 S.: Also ich hab jetzt so diesen, diesen einen Beweis, Beweis vom Satz des Pythagoras zum Beispiel im Kopf, wo man das rechtwinklige Dreieck sieht/ und dann noch über der oder unter der Hypotenuse halt nen Quadrat hat/ . und die beiden ähm Kathetenquadrate/ . und kann man, also wenn man das jetzt zeichnen würde, dann ähm . oder, anders\ mit Cinderella könnte man jetzt einfach die beiden Katheten im Prinzip . ja auf die Hypotenuse legen, so dass oben halt genau so ein flächengleiches Quadrat entstehen würde wie jetzt das äh, Hypotenusenquadrat\ 120 Der von ihm als so „einleuchtend“ empfundene Spezialfall, in dem eine Kathete Null ist, sagt nichts über das Verhältnis der Größe der Kathetenquadrate aus. Es lässt sich daher auch nicht auf den Satz schließen. Jeder Bogen über der Hypotenuse würde diesen Grenzfall liefern: ein größerer Kreis ebenso wie ein Ellipsen-, Parabelbogen oder andere Kurven. Seine Betrachtung wäre nur dann aussagekräftig, wenn man vom Grenzfall auch auf andere Fälle schließen könnte, wenn man also bereits wüsste, dass die Summe der Kathetenquadrate konstant ist: doch das ist die Aussage des Satzes! Stefan behauptet außerdem, „dass man halt das Verhältnis auch sieht, wie sich das eine Quadrat gegenüber dem anderen verändert“, aber dazu lässt sich tatsächlich mit bloßem Auge keine konkrete Aussage machen. Auch die Veränderungen auf anderen Bögen sind teilweise so ähnlich, dass es beim Ziehen Ein Projekt zum Einsatz Dynamischer Geometrie-Software in der Lehramts-Ausbildung nicht möglich ist, mit dem bloßen Auge einen Unterschied auszumachen. Man kann die Konstanz der Summe nicht sehen! Stefan macht hier zwei Aussagen, wie Cinderella ihn überzeugt hat, die beide jedoch mathematisch nicht aussagekräftig sind. Also ist Cinderella hier vollkommen sinnlos? Für Stefan offensichtlich nicht. Und Stefan ist ein sehr guter Student, in seinem Studiengang Primarstufe weit überdurchschnittlich, was Mathematik anbelangt. Durch die Auswertung des Interviews wissen wir außerdem, dass er über ein differenziertes und elaboriertes Beweisverständnis verfügt. Trotzdem scheint er dieser dynamischen Visualisierung Beweiskraft zuzuschreiben. Er findet diese „Veranschaulichkeit“ „suuper“ und der Spezialfall ist für ihn das „Einleuchtende“. Er sieht etwas, die Variation im Zugmodus bringt ihm etwas, überzeugt ihn. Es ist zu erwarten, dass neben anderen Studierenden auch viele Schülerinnen und Schüler durch eine dynamische Visualisierung ähnliche Vorstellungen entwickeln, sie als Plausibilisierung oder gar als Beweis annehmen. Dies muss nicht unbedingt von Nachteil sein. Dynamische Visualisierungen oder, wie Bender (1989) formulierte: „stetige Bewegungen und Verformungen“, können in unterschiedlichem Ausmaß überzeugend wirken oder sein. Ich möchte zwei Fälle näher ausführen: Sie können • überzeugend, aber kein Beweis sein; • überzeugend und ein Beweis sein. Im ersten Fall können Vorstellungen wie die von Stefan im Mathematikunterricht einen willkommenen Anlass zur Analyse geben. Nachfragen wie z.B.: „Was genau sagt uns dieser Spezialfall? Überzeugt er euch? Was hat er mit dem Satz des Pythagoras zu tun? Du sagst, du kannst sehen, wie sich das Verhältnis der Quadrat-Größen verändert — wie siehst du das genau? Wie ist das Verhältnis?“ können als Hinführung zum vollständigen Argument dienen oder zumindest die Reichweite der Plausibilisierung klar machen. Durch sie lässt sich in jedem Fall eine tiefergehende mathematische Analyse anschließen, die von den Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler ausgeht und eine Kultur des kritischen Nachfragens und Argumentierens ins Leben rufen kann. Auch Gespräche über das Spannungsfeld von Beweis – Überzeugung – Plausibilisierung sind darüber hinaus möglich, z.B. mit dem Ziel, sich der Frage „Was ist ein Beweis?“ zu nähern. Die Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die Lehrperson eine Atmosphäre schafft, in der die Schülerinnen und Schüler ihre Vorstellungen unvoreingenommen äußern können und wollen. Außerdem muss sie das Problem in einer fehlerhaften Vorstellung erkennen und ggf. Kontrastierungsvorschläge machen. Dazu muss sie insbesondere elementar-geometrisch gut ausgebildet sein und Vielfalt (von Lösungsmöglichkeiten, im Beziehungsreichtum mathematischer Gegenstände etc.) als sinn- und wertvoll erfahren haben. Eine weitere Funktion dynamischer Visualisierungen ist die Verbreiterung der Erfahrungsbasis, indem zunächst auf einer phänomenologischen Ebene zahlreiche Fälle sichtbar werden und ggf. auch Folgerungen und Ursachen (was ist, wenn ...?) untersucht werden können. Dadurch wird jedoch möglicherweise das Beweisbedürfnis reduziert oder blockiert, wofür wir ebenfalls bereits Beispiele gefunden haben (Maczey 2002, 329). Andererseits würde kein Mathematiker einen Beweis anstrengen, wenn er nicht schon an den Sachverhalt glauben würde, d.h. durch empirische Befunde oder Plausibilisierungen von seiner Gültigkeit überzeugt wäre. Es steht und fällt damit, dass ein Beweis als mathematisches Charakteristikum eben mehr ist als nur ein Gültigkeitsnachweis, er dient neben der Verifikation ebenso der Erklärung und Systematisierung im Sinne des lokalen Ordnens, und das heißt: des Verstehens. Eine Möglichkeit, einen Beweis mit Hilfe der DGS nicht durch Zweifel an der Gültigkeit eines Satzes, sondern durch Neugier und Interesse an den Zusammenhängen zu motivieren, beschreibt Hölzl mit der Methode des Kontrastierens, bei der ein Sachverhalt „eingebettet in allgemeinere oder speziellere Fragestellungen, in seiner Besonderheit eher erkennbar wird“ (Hölzl 1999, 23): Die Rolle des Computers (..) liegt weniger im Erhärten einer bestimmten Vermutung — Lernenden reicht dazu oft nur ein einziges Beispiel —, sondern im Verfolgen einer Reihe von verallgemeinerten und spezialisierten Fragestellungen, um so die empirische Grundlage zu verbreitern, auf der sich dann Beweisaktivitäten, etwa im Sinne lokalen Ordnens, anstoßen lassen. (Hölzl 1999, 34) Für den Fall, dass die dynamische Visualisierung überzeugend und ein Beweis sein soll, muss zunächst das Beweisargument im Bild sichtbar sein, wie in einem Beispiel von Arn- 121 Dorothee Maczey heim zum Winkelsummensatz 1972, diskutiert bei Bender 1989). (Arnheim Abb. 2 (Arnheim 1972, 173) Obwohl es sich im streng mathematischen Sinne nicht um einen echten Beweis handelt, da der Satz in seiner Aussage „nur“ äquivalent zum Parallelenaxiom ist, wird er dennoch in so gut wie allen Schulbüchern der 7. Klasse als solcher ausgeführt und scheint mir als Beispiel an dieser Stelle durchaus geeignet. Arnheim führt aus, wie die Variabilität Plausibilität und Allgemeingültigkeit noch einsichtiger macht: Nach der Beweisüberlegung am statischen Bild lässt man einen Winkel fest und variiert die beiden anderen, deren Summe konstant bleibt. Und hier sieht man nun die Konstanz der Summe! „Nun ist es gewiß von praktischem Wert, die Gültigkeit eines Lehrsatzes zu beweisen; darüber hinaus kommt es für das Denken darauf an, daß der Bereich des Lehrsatzes ausdrücklich zu Bewußtsein kommt.“ „Der Lehrsatz ist nicht nur als allgemein gemeint, sondern nun auch als allgemein verstanden.“ (Arnheim 1972, 173f) Dieser Fall, in dem Visualisierung und Beweis eins sind, ist wohl der Idealfall für die Mathematikdidaktiker, denn der Beweis ist immer noch das, was die Mathematik so besonders, so kraftvoll und unabhängig macht. Beweisen ist eben nicht alles —, aber ganz ohne Beweisen ist alles nichts. Ausgehend von unserem Eingangsbeispiel: Stefan und Pythagoras können wir nun drei Folgerungen für drei Arbeitsgebiete der Mathematikdidaktik aufstellen: Dynamische Visualisierungen können bei den Studierenden (oder auch bei den Schülerinnen und Schülern) Vorstellungen hervorrufen, die von der Lehrperson nicht unbedingt intendiert waren, aber Anlass geben können zur Analyse mathematischer Sachverhalte und zum Gespräch über das Verhältnis Plausibilisierung – Beweis. Dazu muss die Lehrerin sensibel sein für mathematische Argumente wie für versteckte Schülervorstellungen und diese Sensibilität auch in ihrer Ausbildung erfahren und gelernt haben. — Das ist eine Aufgabe für die Lehre. Beispiele, in denen ein echtes Beweisargument mit der Überzeugungskraft durch Variation gepaart ist, sind für den Unterricht be- 122 sonders lohnend. Es gilt, sie zu finden und für die Schule aufzuarbeiten. — Das ist eine Aufgabe für die Stoffdidaktik. Außerdem geht es darum, Phänomene aus der Halbwelt zwischen DGS und Mathematik zu beobachten, zu strukturieren, zu beschreiben, unter Einbezug der stoffdidaktischen Seite zu analysieren und der fachdidaktischen Diskussion wie auch der unterrichtlichen Praxis zugänglich zu machen. — Das ist eine Aufgabe für die empirische Forschung. Literatur Arnheim, Rudolf (1972): Anschauliches Denken. Köln: DuMont-Schauberg Bender, Peter (1989): Anschauliches Beweisen im Geometrieunterricht — unter besonderer Berücksichtigung von (stetigen) Bewegungen bzw. Verformungen. In: Kautschitsch, Hermann & Metzler, Wolfgang (Hrsg.): Anschauliches Beweisen. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky & Stuttgart: Teubner, 95–145 Bender, Peter (2001): Dynamische-GeometrieSoftware (DGS) in der Lehramts-Ausbildung. In: Beiträge zum Mathematikunterricht 2001, 104–107 Danckwerts, Rainer, Vogel, Dankwart & Maczey, Dorothee (2000): Ein klassisches Problem — dynamisch visualisiert. In: Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht 53, 342– 346 Gawlick, Thomas (2001): Zum Erwerb geometrischer Grundbegriffe mit bzw. ohne DGS im regulären Mathematikunterricht. In: Herget, Wilfried & Sommer, Rolf (Hrsg.): Lernen im Mathematikunterricht mit Neuen Medien. Hildesheim: Franzbecker, 45–53 Hofe, Rudolf vom (1998): Computergestützte Lernumgebungen im Analysisunterricht. Fallstudien und Analysen. Habilitationsschrift Universität Augsburg Hölzl, Reinhard (1999): Qualitative Unterrichtsstudien zur Verwendung dynamischer GeometrieSoftware. Augsburg: Wißner Krüger, Katja (1999): Erziehung zum funktionalen Denken. Berlin: Logos Maczey, Dorothee (2002): Ein Projekt zum Einsatz Dynamischer Geometriesoftware in der Lehramts-Ausbildung. In: Beiträge zum Mathematikunterricht 2002, 327–330 Rinkens, Hans-Dieter (2001): Internet-Skript zur Vorlesung „Elemente der Geometrie“: http://math-www.uni-paderborn.de/~rinkens/ veranst/elgeo2001/index.html Roth, Jürgen (2002): Bewegliches Denken — ein wichtiges Prozessziel des Mathematikunterrichts. In: Beiträge zum Mathematikunterricht 2002, 423–426 z Feli-X: Ein Prototyp zur Integration von CAS und DGS Reinhard Oldenburg, Göttingen Das Beispiel der Parabelkonstruktion macht deutlich, dass die Alternative zwischen den Werkzeugen CAS und DGS unglücklich ist. Anhand eines Prototypen werden die Möglichkeiten eines integrierten CAS-DGS diskutiert. 1 Einleitung Computeralgebrasysteme (CAS) und dynamische Geometrieprogramme (DGS) gehören zur selbstverständlichen Werkzeugsammlung des modernen Mathematikunterrichts. Nun gibt es einen beachtlichen Bereich mathematischer Inhalte, die mit beiden Werkzeugen bearbeitet werden können. Mit einem Programm, das beide Fähigkeiten vereint, könnte man sich die Qual der Wahl ersparen und zudem neue didaktische Wege eröffnen. In diesem Aufsatz soll ein solches Programm vorgestellt werden, das das CAS Mathematica und ein selbst geschriebenes DGS integriert. Zunächst wird der didaktische Hintergrund beschrieben, aus dem sich die Zielsetzung einer solchen Integration ergeben hat. Dazu wird am Beispiel der Einführung von Parabeln die Alternative zwischen CAS und DGS herausgearbeitet. In der anschließenden Diskussion des Programms Feli-X wird dieses Beispiel wieder aufgenommen. Die hier vorgestellte Arbeit entspringt einem Bild von Mathematik und Mathematikunterricht, das mit den folgenden Schlagworten umrissen werden kann: • Mathematik ist eine ermächtigende Wissenschaft, und Schüler müssen den Zuwachs an eigner Macht erfahren können. • Mathematik ist ein Werkzeug und benutzt Werkzeuge. • Werkzeuge sind nicht passiv, sie prägen als Interaktionspartner die mathematischen Inhalte. • Die Wahl des richtigen Werkzeugs ist eine zu erwerbende Kompetenz. 2 Parabeln Es ist Konsens der Mathematikdidaktik, dass Parabeln als geometrische Objekte und nicht nur als Graphen quadratischer Funktionen behandelt werden sollten. Bei Parabeln ist ihre Brennpunkt- bzw. Leitlinieneigenschaft zentral für ihre technische Anwendung und bietet somit reiche Vernetzungsmöglichkeit. Eine Parabel in der Euklidischen Ebene E wird festgelegt durch einen Brennpunkt F und eine Leitgerade g (die F nicht enthält). Die zugehörige Parabel ist die Menge derjenigen Punkte, deren Abstand von g genauso groß ist wie ihr Abstand von F. Also: {P∈Ed(P,g)=d(P,F)}. Diese mathematische Definition gilt es unterrichtlich umzusetzen. Im folgenden werden Erfahrungen mit verschiedenen Ansätzen dazu berichtet. 3 Parabeln mit DGS Weitgehend dem Ansatz des innovativen Mathematikschulbuches Mathenetz folgend, habe ich zunächst andere, bekannte Abstandseigenschaften (Mittelsenkrechte, Kreis) wiederholt, um dann auf die Konstruktion der Parabel mittels Tangente (Abb. 1) zuzusteuern. Leider hat kein einziger meiner Schüler diese Vorlage der Mittelsenkrechten genutzt. Statt dessen kamen Schüler auf verschiedene Varianten der Idee, einen Kreis von variablem Radius um F zu schlagen und eine Parallele zu g im Abstand des Kreisradius zu konstruieren. Die Schnittpunkte von Kreis und Parabel liegen dann natürlich auf der Parabel (Abb. 2). Eine Analyse der kognitiven Anforderungen der beiden Wege fördert zu Tage, warum der zweite Weg einfacher ist: Er setzt nämlich die geforderte Eigenschaft geradliniger um. Von der geforderten Abstandseigenschaft der Parabelpunkte kann man durch gerichtete Argumentationsschritte unmittelbar die Richtigkeit der Konstruktion einsehen. Im ersten Fall 123 Reinhard Oldenburg dagegen, ist es einfacher, von der fertigen Konstruktion rückwärts zu argumentieren. Besonders interessant ist die, auch in Abb. 2 gezeigte und von mehreren Schülern parallel Abb. 1: Die Leitlinienkonstruktion der Parabel mit Tangente Abb. 2: Die Konstruktion der Parabel mit einem Schieberegler und Hilfskreisen 124 Feli-X: Ein Prototyp zur Integration von CAS und DGS entdeckte Variante, den gemeinsamen Radius und Parallelenabstand durch einen selbstgebauten Schieberegler vorzugeben, also eine algebraische Variable einzuführen. Dies legt den Schluss nahe, dass ein algebraischer Zugang angemessen sein könnte. 4 Parabeln mit CAS Da zum Zeitpunkt der Parabeleinführung der Satz des Pythagoras in der Regel zur Verfügung steht, kann die Definition der Parabel (bezogen auf ein Koordinatensystem) in Gleichungen übersetzt werden. Mit Derive kann das wie in Abb. 3 geschehen. Wenn man #2, #3 und #4 zeichnen lässt, erhält man das in Abb. 3 rechts gezeigte Bild. 5 CAS vs. DGS Die bisherige Diskussion sollte zeigen, wie das jeweils gewählte Werkzeug schon die Problemwahrnehmung und erst recht die Lösung verändert. Die Werkzeuge bestimmen damit maßgeblich die ablaufenden Denkprozesse. Es ist damit zu rechnen, dass der Umgang mit einem bestimmten Werkzeug zu charakteristischen Fixationen führt. Eine weitere bedenkenswerter Punkt ist die naheliegende Parallelität zwischen der DGS/CAS-Scheidung und der von Schwank (1996) vorgenommen Unterscheidung der Präferenz für funktionalen/prädikativen Denkstil. Es könnte sich schon von daher als geboten erweisen, verschiedenen Schülern verschiedene Zugangsmöglichkeiten zu eröff- Abb. 3: Die Parabel in Derive Bei diesem Zugang hatten einige Schüler Probleme, mit der abstrakten algebraischen Ausdrucksweise. Andererseits ermöglichte sie auch eine verhältnismäßig leichte Erweiterung auf die Abstandsdefinitionen anderer Kegelschnitte. Obwohl die Schüler diesen Vorteil sahen, erklärte in einer abschließenden Befragung die Mehrheit, die Veranschaulichung der Parabel mit Euklid sei schöner. Hauptargument war, dass das fertige Bild noch mit der Maus verändert werden konnte. nen. Da aber nach dieser Theorie der jeweils nicht präferierte Stil auch gefördert werden kann, scheint ein integratives Werkzeug auch aus diesem Blickwinkel sinnvoll zu sein. 6 CAS und DGS mit Feli-X Aus den oben dargestellten Überlegungen ergibt sich der Wunsch nach einem System, das CAS und DGS integriert. Mit dem Programm Feli-X steht ein Prototyp zur Verfü- 125 Reinhard Oldenburg gung, der als experimentelles System zwar noch nicht für Schüler geeignet ist, es aber erlaubt, erste Erfahrungen mit diesem Ansatz zu sammeln. Gegenwärtig ist Feli-X in Mathematica geschrieben, da dieses CAS derzeit das einzige ist, dessen Kern über dokumentierte Schnittstellen verfügt, die die benötigten Dienste bereitstellen. Da langfristig der Umstieg auf ein anderes CAS geplant ist, ist die gegenwärtige Phase bewusst experimentell gehalten. Sie dient vor allem der Exploration und Auswahl von Eigenschaften, die dann in solider Form in einem zweiten System implementiert werden sollen. • Ansatz möglichst allgemein, spätere Spezialisierung Die Programmierung von Feli-X erfolgt so, dass zunächst Möglichkeiten geschaffen werden, und erst in einer zweiten Runde ihr Nutzen bewertet wird. Bei sinnvollen Möglichkeiten stellt sich dann auch die Frage nach der Optimierung der Performance. • Kapselung verschiedener DGS-Kerne Dem experimentellen Ansatz folgend wurde versucht, durch möglichst viele verschiedene Strategien Dynamik in die Konstruktion zu bringen. In Kürze könnte man Feli-X durch die folgenden Eigenschaften umreißen: • Keine Unterscheidung von abhängigen • Kleines, offenes Mathematica/Java-Pro- Wenn man die Konstruktion mit Gleichungen beschreibt, wird klar, dass die strenge Unterscheidung von abhängigen und freien Punkten, wie sie die traditionelle DGS trifft, keine mathematische Notwendigkeit ist. Feli-X erlaubt deshalb auch das Ziehen an abhängigen Punkten. Diese Möglichkeit hat technische und didaktische Konsequenzen, über die noch zu sprechen sein wird. gramm Die Übersichtlichkeit des Quellcodes und die Offenheit soll es engagierten Anwendern erlauben, Feli-X als Bausteinkiste für eigene Lern- und Forschungsumgebungen zu verwenden. • Mathematica-Notebook und Grafikfenster parallel benutzbar und sich gegenseitig beeinflussend Dies ist die Kernidee der interaktiven Integration von CAS und DGS. • Mächtigkeit des CAS und seiner Sprache überall verfügbar, universelles Werkzeug, anpassbar Dem Paradigma des Werkzeugs folgend, soll Feli-X der Phantasie des Nutzers möglichst wenig Schranken auferlegen. • Gleichungen als zentrales Modellierungsmittel (teilweise mit Zusatzinformation) Eine Mindestforderung ist, dass sich die interaktiv oder via Programm erstellte Konstruktion nicht nur in Form einer Konstruktionsbeschreibung sondern auch in algebraischer Form ausgeben lässt. Vom technischen Standpunkt aus erlaubt dies die Ankopplung eines automatischen Beweissystems. Vom didaktischen Standpunkt aus dient dies der Vernetzung von Geometrie und Algebra und ermöglicht verschiedenste Untersuchungen der Konstruktion. In Feli-X ist aber auch die Ankopplung an das Gleichungssystem bidirektional, d.h. Änderungen des Gleichungssystems bewirken unmittelbar eine Änderung der geometrischen Konfiguration. 126 und unabhängigen Punkten Abbildung 4 zeigt die typische Situation für die Arbeit mit Feli-X. Auf der rechten Seite sieht man das Mathematica-Notebook, auf der linken Seite das Grafikfenster. Zusätzlich ist in diesem Beispiel ein Schieberegler für „myphi“ zu sehen. Mit diesem setzt der Benutzer den Wert der Mathematica-Variable myphi, und deren Veränderung bewirkt in der abgebildeten Situation eine Rotation des Dreiecks im linken Fenster. Diese Rotation wurde dabei über eine Rotationsmatrix gesteuert, die im Mathematica-Notebook definiert wurde. Die Bidirektionalität der Kommunikation beide Programmfenster ermöglicht es, geometrische Objekte auf zwei Arten zu verschieben (mit der Maus oder durch Angabe der neuen Koordinaten) und Variablen auf zwei Arten mit neunen Werten zu belegen (mit einer Mathematica-Zuweisung oder durch den Zugmodus der DGS). Die analoge Bidirektionalität zwischen geometrischer Konstruktion und Gleichungssystem fordert eine Doppelung der graphisch relevanten Variablen: In den Gleichungen werden Symbole wie xc[„P1“] für die x-Koordinate des Punktes P1 verwendet. Die aktuellen Werte dieser Variablen werden aber getrennt gespeichert und sind als XC[„P1“] verfügbar. Die Funktion InsertValues erlaubt, in einem Term einige oder alle Varia- Feli-X: Ein Prototyp zur Integration von CAS und DGS blen durch ihre aktuellen Werte zu ersetzen. Dies muss aber von Hand geschehen. er durch die nachfolgenden Gleichungen ohnehin umgelenkt wird. Abb. 4: Die Arbeitsumgebung von Feli-X Die folgende Sequenz von Feli-X/Mathematica-Befehlen konstruiert eine Dynagraph Anwendung (vgl. Elschenbroich 2003), bei der ein Punkt (hier P1, auf die x-Achse festgelegt) mit der Maus gezogen wird, und ein zweiter Punkt auf einer zweiten Achse (hier P2 auf der um 2 in y-Richtung verschobenen Parallelen) gemäß einer Funktionsvorschrift (hier x a x2) wandert. P1=addObject[„point“,0,0]; P2=addObject[„point“,1,1]; addEquation[yc[P1]==0]; addEquation[yc[P2]==2]; addEquation[xc[P1]^2==xc[P2]]; Die ursprünglich für P2 angegebenen Koordinaten sind vollkommen bedeutungslos, da Benutzeraktion In dieser Beschreibung wird nirgends verwendet, dass P1 unabhängig (ein Basispunkt) und P2 abhängig (ein konstruierter Punkt) ist. Folgerichtig erlaubt es Feli-X, an P2 zu ziehen, wobei sich dann P1 mitbewegt. Feli-X arbeitet also mit Gleichungen als Relationen. Herkömmliche DGS dagegen nehmen eine funktionale Modellierung dar. Dass dieser traditionelle Ansatz einengend wirkt, zeigt sich an den (allerdings sehr beschränkten) Möglichkeiten der Umdefinition von Punkten in Cabri und Euklid. Es sei allerdings nicht verschwiegen, dass die der relationale Ansatz eine Reihe von technischen und mathematischen Schwierigkeiten mit sich bringt. Einige davon bilden aber unmittelbar wichtige mathematischen EigenschafReaktion von Feli-X F=addObject[„point“,3,4]; g=addObject[„line“,1,-4,2]; P=addObject[„point“,5,5]; redrawDGS[]; Verschieben von P mit der Maus addEquation[dist[P,F]==dist[P,g]]; Verschieben von P mit der Maus Button „Lösungsmenge“, dann P anklicken Verschieben von F mit der Maus Es werden eine Gerade und zwei Punkte gezeichnet. P ist frei beweglich P springt (?!, nämlich auf die Parabel) P ist nur noch auf der (noch unsichtbaren) Parabel beweglich Es erscheint eine Parabel Die Parabel wird nachgezogen Tab. 1: Erzeugung einer Parabel mit Feli-X 127 Reinhard Oldenburg ten und Einschränkungen ab, die auch didaktisch interessant sind. Beispielsweise machen sich nicht-eindeutige Zuordnungen und Einschränkungen im Bildbereich bemerkbar. Wie gestaltet sich die oben beschriebene Einführung der Parabeln mit Feli-X? Tabelle 1 auf der Vorseite zeigt die Entwicklung. Form durch versuchsweises Verschieben von P ertastet werden. Der Nutzer zieht dabei an P als dem Punkt, der ihn interessiert, nicht an einem Basispunkt, der lediglich Hilfsmittel in einer Konstruktion ist. Einer der DGS-Kerne, die das oben beschriebene Ziehen an abhängigen Punkten erlaubt, heißt „FindMinimum“ nach der Abb. 5: Die Parabel in Feli-X Das Endstadium der Konstruktion ist in Abb. 5 zu sehen. Die grobe Rasterung der Parabel ist das Resultat einer programmtechnischen Notlösung, die ein Scheitern von Mathematicas ImplicitPlot gerade an diesem Beispiel kompensiert. Im Unterscheid zur Ortslinienfunktion klassischer DGS (die es in Feli-X auch gibt) gibt es hier keinen Basispunkt, an dem gezogen werden könnte, um die Parabel abzufahren. Dafür aber kann, noch bevor die Parabel gezeichnet wird, ihre 128 gleichnamigen Mathematica-Funktion, die er benutzt. Er leistet noch etwas erstaunliches: Wenn man in der Abbildung 6 den rechten Kreismittelpunkt (der an die Gerade gebunden ist) nach links verschiebt bewegt sich der Kreisschnittpunkt, auf den ein Vektor als Marker gesetzt ist, stetig. Dieses Beispiel wird im Handbuch von Cinderella verwendet, um Unstetigkeit in traditionellen DGS aufzuzeigen. Feli-X: Ein Prototyp zur Integration von CAS und DGS Abb. 6: Eine bekannte Stetigkeitsfalle für dynamische Geometrieprogramme im Fenster von Feli-X 7 Beispiel eines einfachen DGS-Kerns Die Aufgabe eines DGS-Kerns im hier beschriebenen Rahmens ist, aus einer gegebenen Lösung des Gleichungssystems (alte Konfiguration) eine neue Lösung zu finden, bei der ein Teil der Variablen die durch die Mausbewegung gegebenen neunen Koordi- naten hat. Dabei können die Bewegungen Einschränkungen unterliegen, beispielsweise kann ein an ein Objekt gebundener Punkt nicht an jede Stelle mit der Maus gezogen werden. Das legt nahe, das Finden der neunen Konfiguration als Optimierungsproblem aufzufassen. Die folgende Mathematica-Definition ist der vollständige Code des Kerns „FindMinimum“, der für die obigen Beispiele verwendet wurde, und der diese Idee realisiert: DGmoveF[name_,Calt_,Cneu_]:= Module[{eqs,sol,RV}, RV = Map[{#, InsertValues[#]}&,Vars]; eqs=Join[Equations,{xc[name]==Cneu[[1]], yc[name]==Cneu[[2]]}]; sol=Apply[FindMinimum, Append[Prepend[RV, Apply[Plus, Map[ (#[[1]] -#[[2]])^2 &, eqs]]], MaxIterations->200]]; UpdateFromRules[sol[[2]]]; ]; Tab. 2: DGS-Kern „FindMinimum“ 129 Reinhard Oldenburg Diese Funktion übernimmt den Namen des zu ziehenden Objekts (hier notwendig ein Punkt) sowie seine alten (hier gar nicht benötigt) und neuen Koordinaten. Zum aktuell gültigen Gleichungssystem werden die Bedingungen hinzugefügt, dass die neuen Koordinaten die vorgegeben Werte annehmen sollen (Variable eqs). Zu allen Variablen wird ihr aktueller Wert ergänzt (Variable RV) und aus beiden Bestandteilen wird ein FindMinimumBefehl geformt, der die eigentliche Berechnung vornimmt. 8 Phasenraum-Modell Schon der Begriff „Dynamisches Geometriesystem“ legt nahe, die Bewegungen im Zugmodus im Sinne dynamischer Systeme der Physik zu deuten. Dazu gehört zunächst, dass man neben dem Konfigurationsraum auch den Impulsraum der Objekte betrachtet. Das wirft ein interessantes Licht auf die von Kortenkamp & Richter-Gebert (2000) mit Cinderella bekannt gemachte Stetigkeitsproblematik. Betrachten wir als Beispiel die Konstruktion der Winkelhalbierenden mit Hilfe dreier Kreise gleichen Radius (Abb. 7). Wenn man A in Richtung S mit konstanter Geschwindigkeit bewegt, bewegt sich auch P Abb. 7 130 Richtung S mit konstanter Geschwindigkeit. Das traditionelle Euklid, und auch die neueren Versionen in der Einstellung des deterministischen Zugmodus, zeigen ein überraschendes Verhalten, wenn A schließlich durch S hindurch läuft. Dann zweigt P nämlich orthogonal ab, biegt also aus die zweite Winkelhalbierende ein. Eine durch S und P eingezeichnete Winkelhalbierende würde in diesem Moment also springen. Der Punkt P zeigt hier im Ortsraum nichtdifferenzierbares, im Geschwindigkeitsraum sogar unstetiges Verhalten. Dies ist allgemein typisch: In allen in der Cinderella-Diskussion untersuchten Beispielen geht eine Unstetigkeit im Ortsraum mit einer Nichtdifferenzierbarkeit im Impulsraum, und umgekehrt eine stetige, aber nicht glatte Stelle im Ortsraum mit einer Unstetigkeit im Impulsraum einher. Das legt den Verdacht nahe, dass die Einbeziehung des Impulsraums das Stetigkeitsproblem lösen könnte. Eine naheliegende physikalische Interpretation der geometrischen Objekte eines DGS ist es, die Punkte als Massepunkte zu betrachten, die durch Stangen und Räder verbunden sind. Man erhält so ein Hamiltonsches System mit vielen Zwangsbedingungen. Betrachten wir die Mathematik dazu: Feli-X: Ein Prototyp zur Integration von CAS und DGS Es seien qi, i=1...n die Koordinaten aller geometrischer Objekte (also z.B. auch die Radien von Kreisen usw.). Zwischen diesen Koordinaten bestehen aufgrund der Konstruktion Zwangsbedingungen (meistens algebraische Gleichungen): gj({qi})=0, j=1...k. Man hat nun die Wahl der Masse aller Objekte mi. Für die Bestimmung der Lagrangefunktion verzichten wir auf potentielle Energie, so dass sich als Lagrangefunktion ergibt: L= 1 n 2 ∑ mi q& i . Die Euler-Lagrange-Glei2 i =1 Die in Feli-X bis dato implementierte Version dieses Verfahrens ist leider sehr ineffizient, so dass nur die aller einfachsten Beispiel damit berechnet werden konnten. Je nach Wahl der Massen zeigt sich ein unterschiedliches Verhalten, das zum Teil gewöhnungsbedürftig ist. Beispielsweise kann man manchmal am Massenschwerpunkt die ganze Konstruktion translatieren, oder durch andere Züge rotieren lassen. Es muss sich noch zeigen, welche Varianten von Schülern als natürlich empfunden wird. chungen unter den Zwangsbedigungen lauten k ∂g d ∂ ∂ j − =∑ λ j für i=1...n. In dt ∂q& i ∂qi j =1 ∂q i unserem einfachen Fall ergibt sich also ein- &&i = fach: mi q k +2 ∂g j j =1 i ∑ ∂q λ j . Um zu einem Sys- tem erster Ordnung zu kommen, führt man Geschwindigkeiten vi ein und erhält als zu lösendes System: q&i = vi , i = 1...n 1 v&i = mi k +u ∑ ∂g j ({qi }) j =1 ∂qi 9 Didaktische Bewertung Das hier vorgestellte Programm kann einige Hoffnungen erfüllen: • Die Verbindung von algebraisch/abstrakter und dynamisch/visueller Sichtweise wird geschaffen. Feli-X trägt damit zur Vernetzung bei. Es ermöglicht, klassische Inhalte auf mehr Kanälen zu transportieren als nichthybride Werkzeuge. • Die Offenheit des Systems kann die Inforλj 0 = g j ({qi }, t ) Dieses Anfangswertproblem ist bei jeder Mausbewegung zu lösen. Die Anfangswerte der Koordinaten q sind die Werte in der alten Konfiguration. Alle Geschwindigkeiten haben den Anfangswert 0. Man kann in dieses System, wenn man will, auch Informationen über die Konstruktion (Abhängigkeitsgraph) eingeben, indem man für die Koordinaten, die von der Bewegung nicht betroffen sind, die konstanten Koordinaten von vorneherein eingibt. Für dieses algebraisch-differentielle Gleichungssystem kann man glücklicherweise auf eine ausgearbeitete Theorie (Hairer et al. 2002) zurückgreifen, die einem die Existenz einer eindeutigen Lösung garantiert, wenn die Jacobimatrix der Zwangsbedingungen maximalen Rang hat. Es hat noch keine systematische Untersuchung dieser Bedingung stattgefunden, aber einfache Beispiele zeigen, dass sie in der Regel erfüllt ist. Wenn dem so ist, hat man eine differenzierbare und damit sogar stetige Lösung auf dem Phasenraum. Diese Lösung der Stetigkeitsproblematik ist im Vergleich zu der von Cinderella zu sehen. Die in Cinderella vorgenommene Erweiterung auf komplexe Koordinaten steht in Analogie zur Erweiterung auf den Phasenraum im hier diskutierten Modell. mationsflüsse transparent machen. • Die Bedeutung der Gleichungen wird erfahrbar. • Feli-X ist ein Baukasten, mit dem Dyna- graph-Anwendungen schnell realisiert werden können. Es ermöglicht einen dynamischen Zugang zur Frage der Umkehrbarkeit einer Zuordnung. Neben technischen Fragen wie der derzeit noch zu geringen Arbeitsgeschwindigkeit und gelegentlichen Programmabstürzen sollten vor allem die folgenden didaktischen Fragen in Zukunft genauer untersucht werden: • Steht das Ziehen an beliebigen Punkten im Widerspruch zur didaktisch wertvollen Idee der geometrischen Konstruktion sukzessivem, also funktionalem Bauplan? • Können Schüler sinnvoll mit der Be- schreibung eines geometrischen Sachverhaltes durch ein (unübersichtliches?) Gleichungssystem umgehen? • Stellt die Unterscheidung von Variabler (z. B. xc[P]) und ihrem Wert (z.B. XC[„P“], was zum jeweils aktuellen Wert evaluiert) eine kognitive Hürde dar? Oder ist es die Chance das Variablenkonzept neuartig zu visualisieren? 131 Reinhard Oldenburg 10 Weitere Ziele Es sollen in Zukunft Schritte unternommen werden, um in absehbarer Zukunft Schüler mit einem solchen System arbeiten lassen zu können. Im einzelnen stehen an: • Ausbau – Integralkurven, Vektorrechnung, Tangenten etc... – Anknüpfung an Beweissystem – Algorithmische algebraische Geometrie – Dynamisch angekoppelte Tabellenkalkulation • Richtung Mathematik – Theorie des physikalischen Kerns (Stetigkeit, Eichtheorie, schneller numerischer Löser) – Homogene komplexe Koordinaten • Richtung Schüler – Auswahl und Reifung geeigneter Ker– – – – ne Neuimplementation in MuPAD oder Maple Verdeckte Linien, Farben, Makros,... Dokumentation Evaluation Wenn die technische Umsetzung dieses Plans gelingt, können auch die oben aufgeworfenen didaktischen Fragen experimentell untersucht werden. 132 Literatur Cukrowicz, Jutta & Zimmermann, Bernd (2001): MatheNetz 9. Braunschweig: Westermann Elschenbroich, Hans-Jürgen (2003): Funktionen dynamisch entdecken. In diesem Band Hairer, Ernst et al. (2002): Geometrical Numerical Integration. New York: Springer Kortenkamp, Ulrich & Richter-Gebert, Jürgen (2000): Cinderella. Berlin: Springer Schwank, Inge (1996): Zur Konzeption prädikativer versus funktionaler kognitiver Strukturen und ihrer Anwendung. In: Zeitschrift für Didaktik der Mathematik 28, 168–183 Wolfram, Stephen (2001): Mathematica. A system for doing Mathematics by Computer. Champaign: Wolfram Press z Zur Integration von Lehr- und Lernprogrammen in den Mathematikunterricht Andreas Pallack, Essen Lernprogramme zum Mathematikunterricht werden oft im heimischen Bereich eingesetzt. Die Auswahl der Software wird meist von den Eltern vorgenommen, womit hinreichende Adaptivität zum Unterricht nicht gesichert ist. Der Nutzen solcher Programme hängt jedoch recht unmittelbar mit der gewählten unterrichtlichen Integrationsmethode zusammen. Im Rahmen dieses Beitrags werden einige Praxiserfahrungen zusammengetragen und zu einer Kategorisierung von Integrationsmethoden verdichtet. Ziel dieses Vorgehens ist es Grundlagen zu schaffen, um Zusammenhänge zwischen dem unterrichtlichen Nutzen und der gewählten Integrationsmethode von Programmen aufzudecken und so Vor- und Nachmittagsmarkt stärker als bisher miteinander zu vernetzen. 1 Einleitung Rechnerbasierte Lehr- und Lernprogramme (LLP) haben mittlerweile eine recht bewegte Geschichte. Bereits für die ersten Heimrechner gab es einfache Programme wie Vokabeltrainer, die dem Lernenden Unterrichtsinhalte präsentierten und sein Wissen abfragten. Mittlerweile existiert eine schier unüberschaubare Vielzahl von Produkten für alle Fächer, die sich sowohl in ihrem Umfang, als auch in ihrer Qualität erheblich unterscheiden. Das Potenzial dieser Programme für den Unterricht nutzbar zu machen, ist, wie man beispielsweise an den letzten Tagungsbänden der GDM erkennt, ein zentrales Ziel der aktuellen mathematikdidaktischen Forschung. Spezielle Untersuchungen und Unterrichtskonzepte beschränken sich notwendigerweise auf einen kleinen Ausschnitt aus dem großen Spektrum der verfügbaren Programme. Um trotzdem eine Kategorisierung vornehmen zu können, teilt man häufig die Klasse der LLP in die Unterklassen Werkzeug, Medium und Tutor ein. Eine genaue Definition der einzelnen Begriffe scheint jedoch schwierig, was man nicht zuletzt daran festmachen kann, dass es keine einheitliche Definition gibt. Insofern scheint es notwendig, vorab zu klären, welche Typen von LLP im Rahmen dieser Arbeit behandelt werden. Ob und inwiefern ein Lernprogramm geeignet ist, um fachspezifisches Wissen zu vermitteln, ist nicht unmittelbar durch Betrachten und Beurteilen des Programms möglich. So kann es durchaus sein, dass recht schöne und aufwändige Programme den Lernenden nicht erreichen, da Inkompatiblitäten zum bereits vorhandenen Wissen auftreten oder die Programme keine hinreichende Adaptivität zur Integration in den Unterricht aufweisen. Zur erfolgreichen Integration von Lernsoftware muss also sowohl das Programm selbst, als auch seine Integrationsmethode in Bezug auf die Lernendengruppe beleuchtet und hinterfragt werden. Deswegen wird in einem nächsten Schritt ein Vorschlag zur Kategorisierung von Integrationsmethoden vorgestellt. Ich unterscheide dabei zwischen „LLP als Unterrichtsergänzung“, „Begleitender Einsatz von LLP“, „LLP Unterrichtsphasen“ und „LLP–Integration“. Praxiserfahrungen bzw. Vorschläge für die Unterrichtspraxis erläutern anschließend die vorgenommene Unterteilung. Ich möchte bereits an dieser Stelle vorwegnehmen, dass Erfahrungsberichte vorliegen, die zeigen, dass ein und das gleiche Programm unter verschiedenen Integrationsmethoden absolut abweichenden Erfolg und Akzeptanz bei Schülern erzeugte. Schließlich waren es auch solche Beobachtungen, welche die Schematisierung und Exaktifizierung von Integrationsmethoden anregte. Abschließend wird ein Ausblick dahingehend gewährt, wie verschiedene Programme des Nachmittagsmarktes auf die Lerngeschichte eines Lernenden bei sinnvoller Integration in den schulischen Unterricht positiv einwirken können und ihm die Möglichkeit geben, nicht verstandene oder vergessene Inhalte des Unterrichts selbstständig nachzuarbeiten. 2 Was sind eigentlich LLP? — Abgrenzung gegen Anwendungsprogramme Während Programme wie Computer-AlgebraSysteme (CAS), Tabellenkalkulationen und auch Software für Geometrie bereits vielfältig im Unterricht eingesetzt werden, führen Lern- 133 Andreas Pallack programme, die auch im Nachmittagsbereich eingesetzt werden, zur Zeit noch eher ein Schattendasein. Trotz großer Absatzzahlen und der damit verbundenen weiten Verbreitung berücksichtigt der Unterricht in den Sekundarstufen und der Grundschule eher selten die Möglichkeiten, die Programme besitzen. In dieser Arbeit werden ausschließlich LLP betrachtet, die beschränkte Teilgebiete des Unterrichts umfassen und Wissen sowohl präsentieren, als auch abfragen. Außen vor bleiben umfangreiche Anwendungen wie CAS, DGS oder Tabellenkalkulationsprogramme, aber auch elektronische Angebote, die lediglich Wissen präsentieren ohne einen hohen Grad an Interaktivität anzubieten. Um einen Einblick in Charakter und Aufbau der betrachteten Klasse von Programmen zu gewähren, werden nun die Programme Mathebits aus dem Westermann-Verlag, Termumformungen bzw. Bruchrechnen aus dem Klett-Verlag und das Ableitungsmodul des Matheprismas der Universität Wuppertal kurz vorgestellt. Die Programme unterscheiden sich erheblich und sollen keineswegs miteinander verglichen oder detailliert beurteilt werden. Vielmehr ist es das Ziel, die Breite des Spektrums der betrachteten LLP ansatzweise zu demonstrieren und eine Basis für die Texte im Praxisbericht dieser Arbeit zu schaffen. 2.1 Mathebits Das Programm Mathebits behandelt in erster Linie die Bruchrechnung. Der Einsatz der Software ist deswegen vor allem in der fünften bis siebten Klasse aller Schulformen sinnvoll. Schon kurz nach dem Start des Programms wird man von kleinen recht rundlichen Männchen freundlich begrüßt. Sie begleiten durch das gesamte Programm und sind auch für die Navigation des Schülers verantwortlich. Der Screenshot (Abb. 1) verschafft einen kleinen Eindruck von der dauerhaften Präsenz der Begleiter. Abb. 1 Die Themen der Bruchrechnung werden, durchaus mit üblichen Methoden vergleich- 134 bar, vorab anschaulich auf ikonischer Ebene mit Hilfe interaktiver Animationen eingeführt und anschließend systematisiert (vgl. Abb. 2). Die einzelnen notwendigen Rechen- Abb. 2 schritte zum Lösen einer Aufgabe werden in Rechenbausteinen festgehalten. In fortgeschritteneren Stadien des Programms soll der Lernende zu einer gegebenen Aufgabe die notwendigen Rechenbausteine zusammenstellen. Die Software beabsichtigt also die Systematisierung von Bruchrechenaufgaben. Der Schüler wird dazu angeleitet, gegebene Terme zu analysieren und die entsprechenden Rechenschritte nach und nach selbstständig zu kombinieren. Zum Ende jeder Lektion werden die üblichen abstrakten Aufgaben ohne Rückgriff auf die Anschauung präsentiert und sind ohne die zuvor angebotenen Hilfen zu lösen. Das Zurückgehen zur Arbeit mit Rechenschritten oder anschaulichen Beispielen ist dabei nicht nur möglich, sondern wird zum Teil auch durch das Programm gelenkt. Der Lernweg des Schülers muss nicht linear erfolgen. Es ist durchaus möglich, nur Teile von Lektionen zu bearbeiten oder einzelne Übungen zu überspringen. Das Programm hält für den Lernenden nachvollziehbar fest, welche Teile bereits erfolgreich bearbeitet und welche noch zu lösen sind. Mathebits besitzt keinen Formeleditor. Das heißt, dass jeweils die Struktur des Ergebnisterms vorgegeben wird. Vom freien Rechnen, wie auf Papier, kann also nicht gesprochen werden. Durch den vielfältigen Einsatz multimedialer Elemente wirkt das Programm freundlich. Reine Textseiten sind selten, die meisten Informationen werden durch Sprachausgabe an den Lernenden weitergegeben. Das Programm ist im WestermannVerlag z. Zt. für 36 € als Einzel- und für 119 € als Zehnerlizenz erhältlich. Zur Integration von Lehr- und Lernprogrammen in den Mathematikunterricht 2.2 Termumformungen und Bruchrechnen Das Programm Termumformungen aus dem Klett-Verlag gleicht in seinem Aufbau dem Programm Bruchrechnen aus dem gleichen Verlag stark. Ausführliche Beschreibungen zu Bruchrechnen finden sich in (Herden & Pallack 2001 und Pallack 2002). Ich beschränke mich deswegen an dieser Stelle auf einen kurzen Einblick in das Programm Termumformungen. Abb. 3 nach der Anmeldung erscheint ein Menü mit den Optionen Lernen, Üben und Testen. Der Lernende steuert so die einzelnen Programmteile an. Der Programmabschnitt Lernen umfasst, im Gegensatz zu den beiden anderen Teilen, außer Übungen zusätzlich Erläuterungen zu deren Inhalt. Aufteilung und Layout des Bildschirms bleiben stets erhalten (vgl. Abb. 3). Über Buttons kann der Nutzer auf eine Formelsammlung, einen Karteikasten, einen Taschenrechner, die Lernkontrolle und weitere Optionen des Programms zugreifen. In den Einführungen werden dem Schüler einzelne Bildschirmseiten präsentiert. Vor allem in den einführenden Programmteilen sind diese an die Anschauung angelehnt (vgl. Abb. 4). Innerhalb der Lektionen sind interaktive Elemente eingebaut, an denen der Schüler feststellen kann, ob er das bisher Erklärte verstanden hat. Nach Bearbeitung von Aufgaben wird dem Schüler eine Empfehlung zum weiteren Vorgehen im Programm gegeben. Wichtige Regeln werden innerhalb des Programms stets in einer Box dargestellt. Sie werden in den Texten besonders hervorgehoben und sind stets als wichtig erkennbar. Nach der Bearbeitung von Aufgaben gibt die Lernstandskontrolle Aufschluss über den Erfolg der einzelnen Sitzung und den Langzeiterfolg. Dass die Interaktion innerhalb der Lektionen lediglich auf das Klicken des Weiter-Buttons beschränkt ist, wirkt ermüdend. Das Programm ist im Wesentlichen linear aufgebaut. Lektionen, die meist aus Einführungen und Übungen bestehen, müssen strikt von Anfang bis Ende erfolgreich bearbeitet werden, um als erfolgreich abgearbeitet zu gelten. Das Programm wird in regelmäßigen Abständen mit einem neuen Cover versehen und z.Zt. für 34,90 € im Fachhandel verkauft. Abb. 4 Inhaltlich werden Erläuterungen und Übungen zu elementaren Termumformungen, wie sie vor allem in den Jahrgängen sieben bis zehn behandelt werden, angeboten. Kurz 135 Andreas Pallack 2.3 Ableitungsmodul des Matheprismas Abb. 5 Abb. 6 Vor der Beschreibung des Programms möchte ich auf zwei zentrale Unterschiede zu den vorhergehenden Programmen hinweisen. Zum einen ist es frei im Internet verfügbar (www.matheprisma.de) und insofern erheblich einfacher zu beschaffen. Zum anderen ist es strikt auf Internetseiten ausgerichtet 136 und kann deswegen von jedem Arbeitsplatz mit entsprechend eingerichtetem Browser gestartet und bearbeitet werden. Da Jeder Gelegenheit hat, sich die Seiten online anzuschauen, beschränke ich mich auch an dieser Stelle auf die Beschreibung einiger weniger Merkmale der Software. Das Ziel des Moduls beschreiben die Autoren wie folgt: „An zwei Beispielen — einem Kreis und einer Kurve — werden zunächst Tangenten motiviert. Der Übergang von Sekanten zu Tangenten wird geometrisch veranschaulicht. Entsprechend wird vom Differenzenquotienten zur Ableitung an einer Stelle und schließlich zur Ableitungsfunktion übergeleitet. Zum Schluss werden die Ableitungen von verschiedenen Funktionen vorgestellt.“ (Entnommen den Matheprisma Informationen zum Modul, vgl. Klein 2002). Am Beginn des Programms stehen Beispiele, die an das physikalische Grundverständnis der Schüler anknüpfen (vgl. Abb. 5). Die Abstraktion zum Kalkül erfolgt allmählich, aber vollständig. Nachdem der Schüler mit Seilen und Skates über Straßen geführt wurde, muss er zum Schluss mit den üblichen Schreibweisen und Rechnungen umgehen. Auf diesem Weg begleitet das Programm ihn Zur Integration von Lehr- und Lernprogrammen in den Mathematikunterricht durch viele interaktive Grafiken, welche die inhaltliche Bedeutung der Ableitung illustrieren (vgl. Abb. 6). Es ist geplant, weitere schultypische Themen in der nächsten Zeit zu implementieren und zur Verfügung zu stellen (mündliche Mitteilung 2002 von Frau Krivsky, einer der Hauptinitiatorinnen von Matheprisma). Wie bereits angekündigt, behandeln die hier vorgestellten Programme alle nur einen beschränkten Themenabschnitt des Mathematikunterrichts und sind im Allgemeinen nicht universell einsetzbar. Auch das zweite Kriterium der vorgenommenen Beschränkung, dass der Lernende mit dem Programm interagieren muss, ist im Fall der drei vorgestellten Produkte erfüllt. 3 Meinungen und Einstellungen gegenüber computergestützten Lernprogrammen Es ist kein Geheimnis, dass reine Übungsprogramme nach Ansicht vieler Verfechter von offenen Lernumgebungen mehr Zeit- und Geldverschwendung als sinnvolle Beschäftigung mit der Materie sind. Aus meiner Sicht wird dabei außer Acht gelassen, dass es durchaus sinnvolle Einsatzgebiete für diese Programme gibt. Hauptursache der öffentlichen plakativen Schwarzfärbung von Practice&Drill Software — oder eben Übungsprogrammen — ist die unmittelbare Verkettung des Charakters der Software mit deren Integration im Unterricht. Da die meisten Programme für den Heimbereich ausgelegt wurden, wird oft der Lernende als stummer Einzelkämpfer vor dem Rechner gesehen. Ich möchte betonen, dass ich ein solches Szenario ebenfalls für nicht erstrebenswert halte. Aber gerade deswegen ist es wichtig darüber nachzudenken, wie man diesen Umgang mit der Software verhindern kann. Lernsoftware wird in unseren Kinderzimmern oft unabhängig vom Unterricht eingesetzt. Insofern stehen wir zur Zeit am Beginn einer extrem ungünstigen Entwicklung. Übungsprogramme werden — in den meisten Fällen unkontrolliert — im Heimbereich genutzt. Zum einen fehlt vielen Lehrern zur kompetenten Beratung von Eltern der Überblick über die vorhandenen Produkte (wie soll man sich auch einen angemessenen Überblick verschaffen?), zum anderen möchten viele Eltern auch nicht damit hausieren, dass ihr Kind einen heimlichen Nachhilfelehrer benötigt oder in Anspruch nimmt. Es sind also zwei verschiedene Welten: Auf der einen Seite die Schule, die im Unterricht ihre Schüler mit neuen Methoden des Lernens und sogenannten Werkzeugen konfrontiert, auf der anderen Seite die heimische multimediale Welt mit all ihren Verführungen. Dieser Entwicklung muss entgegengewirkt werden. Das ist jedoch nur möglich, wenn öffentliche Wechselwirkungen und Schnittstellen zwischen der heimischen und schulischen Arbeit und Nacharbeit geschaffen werden und somit die Kommunikation über außerunterrichtliche Möglichkeiten der Nacharbeit geöffnet wird. Ganz nebenbei sei bemerkt, dass die ungeliebte Rolle des Drillinstructors gerade in kleinen Klassenstufen oft von den Eltern übernommen wird. Auch in diesem Bereich wird bei vielen innovativen Konzepten vergessen, dass im heimischen Bereich andere Gesetze gelten und es durchaus üblich ist, vor Klassenarbeiten und anderen Prüfungen schlicht zu pauken. Dass Lernsoftware diese Rolle gut substituiert, prägt wohl auch das recht positive Meinungsbild vieler Eltern. So wird dem Rechner die Rolle zugeschrieben, ein günstiger Nachhilfelehrer für ihre Kinder zu sein. Da es um schulische Inhalte geht, wird der Umgang mit Lernsoftware auch als positive und sinnvolle Beschäftigung mit dem Medium Computer angesehen, da das Kind selbstständig etwas für seine Zukunft tun kann. In diesem Sinne wird auch die Bedienung von Lernprogrammen mit dem Aufbau von Medienkompetenz und der Erlangung von guten Schulabschlüssen verwoben. Schüler selbst beurteilen Lernsoftware ebenfalls meist positiv (vgl. u.a. Pallack 2002, 179–183). Das ist vor allem der Fall, wenn noch eine zusätzliche Spielhandlung in das eigentliche Programm integriert wurde. Im Unterricht erscheinen sie als willkommene und kontrastreiche Abwechslung gegen die traditionellen Unterrichtseinheiten. Ich halte es für wichtig, dass Lernprogramme nicht losgelöst von deren Integrationsmethode im Lernprozess diskutiert werden. Das bedeutet natürlich auch, dass ohne empirische Untersuchung oder unterrichtspraktische Reflexion die Beurteilung von Programmen nur ansatzweise sinnvoll ist. Leider geben sowohl die Hersteller von Anwendungs-, als auch die Hersteller von Übungsprogrammen nur selten konkrete Informationen oder Tipps dazu ab, wie ihre Produkte den Unterricht bereichern sollen. Es bleibt die Aufgabe des Lehrers, auf der Basis seiner Erfahrungen und seines Wissens eine geeignete Methode zu wählen. 137 Andreas Pallack 4 Klassifizierung von Integrationsmethoden Der hier unterbreitete Vorschlag zur Abgrenzung verschiedener Integrationsmethoden ist sicher weder vollständig, noch bietet er eine vollends disjunkte Klassifikation. Vielmehr handelt es sich um eine Zusammenfassung aus Beobachtungen der schulischen Praxis. Die vorgenommene Klassifikation soll die Kommunikation über Lernsoftware und deren unterrichtliche Einbindung erleichtern und Begriffe schaffen, die die gezielte Kommunikation ermöglichen. Ich gehe bei der Einteilung davon aus, dass übliche Unterrichtseinheiten, die auf neue technische Möglichkeiten zurückgreifen, stets recht eindeutig einer der vorgestellten Methoden zugeordnet werden können. Insofern werden viele Leser ihren erlebten Unterricht einer der Kategorien zuordnen und auch beurteilen können, ob diese Methode wirklich das Optimum oder nur ein Kompromiss zur Integration neuer Medien war. Im Anschluss an die Vorstellung der einzelnen Methoden möchte ich auf die individuelle Lerngeschichte von Schülern zu sprechen kommen. Die Zeitachse spielt bei Lernprozessen immer eine zentrale Rolle. Zur Illustration wird nicht zuletzt aus diesem Grund für jede Methode eine Abbildung präsentiert, welche die Rolle von LLP im Unterrichtsprozess veranschaulicht. 4.1 LLP als Unterrichtergänzung Wie Schüler im Heimbereich Unterrichtsstoff nacharbeiten, hängt von vielen Faktoren ab. Jede gewollte Chancengleichheit im Rahmen schulischer Lehrgänge findet hinter der Haustür ihr Ende, da sowohl Ausbildung und Beruf, als auch Einkommen und Wertschätzung von Bildung seitens des Elternhauses unmittelbar auf das Lernverhalten unserer Schüler im Nachmittagsmarkt einwirken. Ergänzend zum Unterricht wird häufig Zusatzliteratur angeschafft, ein Nachhilfelehrer beauftragt oder auch Lernsoftware bereitgestellt. Das bedeutet, dass Schüler durch ihren Umgang mit LLP im Heimbereich unmit- 138 telbar auf das aktuelle Unterrichtsgeschehen einwirken. In günstigen Fällen werden Lernende durch ihre Lehrer angeleitet, im Heimbereich nicht verstandene oder vergessene Inhalte gezielt nachzuarbeiten, um dem anschließenden Unterricht wieder folgen zu können. Positive Wechselwirkungen von computergestützter heimischer Nacharbeit und Unterricht sind also durchaus möglich. An der Universität Essen wurde im Jahr 1999 eine Videostudie zum unterrichtsergänzenden Einsatz von Lernprogrammen durchgeführt. Ziel war es, Schülern der siebten Klasse von Gymnasien mit Defiziten im Bereich der Bruchrechnung die gezielte Nacharbeit mit dem Programm Bruchrechnen aus dem Klett-Verlag zu ermöglichen. In einem ersten Schritt wurden Probanden, die Defizite im Bereich der Addition und Subtraktion von Brüchen zeigten, durch eine Aufgabensammlung ausgewählt (vgl. Herden & Pallack 2000). Diese Schüler wurden dann mit dem Programm konfrontiert und anschließend nochmals in Bezug auf die Defizite getestet. Es konnte festgestellt werden, dass das beobachtete Defizit bei allen Probanden weitgehend behoben wurde. Das Meinungsbild der Lernenden war insofern positiv, als dass alle Schüler das Lernen mit dem Programm üblichen Lerneinheiten des Unterrichts vorziehen würden. Trotz dieses positiven Fazits soll nicht verschwiegen werden, dass die Schüler primär algorithmische Fähigkeiten erlangten. Elemente des Programms, die auf anschaulichen Erläuterungen basierten, wurden nicht von allen verstanden, bzw. nur bedingt beachtet (Weitere Details der Studie finden sich in Herden & Pallack 2001.) Festzuhalten bleibt, dass der Rechner seiner Rolle als Nachhilfelehrer gerecht werden konnte, da nun im Unterricht ein Rückgriff auf die erfolgreich wiederholten Fertigkeiten möglich war. Bei dem ergänzenden Einsatz von Lernsoftware ist es nicht notwendig, den Rechner im eigentlichen Unterricht einzusetzen. LLPs werden im Heimbereich genutzt, wobei der Impuls zur Nutzung sowohl vom Elternhaus, als auch von der Schule ausgehen kann. Der ergänzende Einsatz von Lernprogrammen ist mit Sicherheit die heute am häufigsten praktizierte Methode. Das wird noch deutlicher, wenn man sich nicht auf Programme zum Mathematikunterricht beschränkt. Im Bereich der Sprachen — vor allem für das Fach Englisch — sind Lernprogramme viel stärker auf die jeweiligen Schulbücher bezogen und werden in großen Auflagen verkauft und ergänzend genutzt. Zur Integration von Lehr- und Lernprogrammen in den Mathematikunterricht 4.2 Begleitender Einsatz von LLP Im Gegensatz zur Ergänzung erfolgt beim begleitenden Einsatz von Lernprogrammen sowohl die Softwarewahl, als auch der Zeitpunkt des Einsatzes gezielt und durch den Unterricht gesteuert. Der Lehrer gibt seinen Schülern in frühen Phasen einer Unterrichtssequenz Gelegenheit, eine bestimmte Software zu Hause — oder in Schulgebäuden — zu nutzen. Im eigentlichen Unterricht wird die Software nicht genutzt und nur bedingt thematisiert. Die Lernenden erhalten so Gelegenheit, Unterrichtsinhalte im individuellen Tempo nachzuarbeiten. Mit dem begleitenden Einsatz von Lernsoftware können verschiedene Motivationen zugrunde liegen. Ich selbst habe das Ableitungsmodul von Matheprisma zu Beginn eines neu einsetzenden Leistungskurses Mathematik im Jahrgang 12 genutzt, um alle Schüler auf einen gemeinsamen Stand zu bringen. Es ist klar, dass Schüler mit unterschiedlichen Lerngeschichten trotz verbindlicher Curricula auch unterschiedliche Fertigkeiten in neueinsetzende Kurse einbringen. Die Bearbeitung erfolgte ausschließlich im Heimbereich — was voraussetzte, dass alle Schüler einen entsprechenden Rechner hatten. Es zeigte sich jedoch, dass das der Fall war. Des Weiteren waren die meisten Inhalte den Schülern bereits bekannt. Es handelte sich somit um eine gezielte Wiederholung von bereits durchgenommenem Stoff. Der Unterricht wurde durch die Präsenz des Programms immens entlastet. Viele sonst notwendig erscheinende Wiederholungsphasen konnten verkürzt werden. Das kam dem Unterricht insofern zu Gute, als dass die herkömmlicher Weise zur Wiederholung notwendige Zeit bereits in weiterführende Aufgaben investiert werden konnte. Diese erste Phase der Homogenisierung von Schülerwissen schluckte immer einen großen Teil des ersten Halbjahres der Jahrgangsstufe 12. Doch nicht nur meine eigene Empfindung war im wesentlichen positiv. Nach Abschluss der Wiederholungsphase wurden die Schüler aufgefordert, ein Gutachten zum Ableitungs- modul zu erstellen. Stellvertretend für 26 Einzelgutachten stelle ich hier zwei vor, welche die Gesamtmeinung recht gut wiederspiegeln: „Zum Wiederholen und Üben von Ableitungen habe ich mir diese Internetseiten angeschaut und muss sagen, dass sie sehr übersichtlich dargestellt sind. Man erhält direkt auf der Startseite einen Überblick über die Inhalte, was ich sehr positiv finde. Des Weiteren kann ich sagen, dass das Quiz mit seinen Beispielen sehr anschaulich ist. Es gefällt mir gut, dass hier Mathematik mit alltäglichen Beispielen erklärt wird, so dass es auch für die anschaulich ist, deren Verständnis für Mathematik geringer ist. Im Gegensatz dazu ist es auf der „Beweise“-Seite sehr unübersichtlich geordnet und unzureichend erklärt. Mir fehlten genauere Erläuterungen zu den einzelnen Schritten. Mein Verbesserungsvorschlag hierzu wäre, vielleicht einen Fließtext oder ähnliches hinzuzufügen. Ansonsten würde ich mir wünschen, dass auch zu anderen Themen derartige Übersichtsseiten angeboten werden.“ (Anne-Kathrin S., Jgst. 12) „Alles in Allem finde ich das Programm „Matheprisma“ nicht schlecht. Die Bilder sind sehr übersichtlich und vor Allem die animierten Regelherleitungen finde ich besser als in irgendwelchen Fachbüchern. Nur die vielen Spielereien, wie z.B. das Anlegen von Tangenten usw. sind sehr unübersichtlich. Dies wäre eigentlich mein einziger Vorschlag zur Verbesserung.“ (Michael W., Jgst. 12) Der Wunsch, dass auch andere Unterrichtsinhalte in dieser Form aufbereitet werden, taucht immer wieder auf. Einige schrieben auch, dass sie erst jetzt verstanden hätten, um was es beim Ableiten eigentlich geht (Wir sprechen von einem 12er Leistungskurs!). Was sich ebenfalls in vielen Gutachten wiederfindet, ist das Argument der Übersichtlichkeit. Die kompakte Darstellung eines recht umfassenden Themas scheint aus Sicht der Schüler eine Neuerung zu sein, die ihnen bis dato in dieser Form noch nicht geboten wurde. Auch der Vergleich mit traditionellen Medien — wie dem Schulbuch — ist üblich beim Einsatz von Lernprogrammen und fällt auch in diesem Fall klar pro Lernprogramm aus. Der begleitende Einsatz von Lernprogrammen kann den Unterricht entlasten, wenn geeignete Programme bekannt sind und zur Verfügung stehen. Insofern halte ich die Möglichkeit auf Programme frei im Internet 139 Andreas Pallack zugreifen zu können, für ein lohnendes und attraktives Angebot. Dass jedoch trotzdem eine starke Dependenz von positiver Evaluation und Integrationsmethode besteht, wird der folgende Abschnitt zeigen. 4.3 LLP–Unterrichtsphasen Die Tradition, Rechner in Schulen in Computerräumen zu sammeln, ist wohl Ursache dafür, dass viele Unterrichtssequenzen den Rechnereinsatz phasenweise vornehmen. Aus Sicht der Schüler scheint es dann meist so, dass in diesen Stunden etwas ganz Besonderes geschehen soll. Positive Konsequenzen dieser Sicht wären Neugier und Anfangsmotivation — negative jedoch Ablehnung und Unverständnis. Der normale Unterricht, den Schüler in ihrer Vergangenheit erlebt haben (auch heute noch ist die dominierende Unterrichtsform der Frontalunterricht), trägt dazu bei, dass neuere Methoden sowohl von Kollegen, als auch von Schülern häufig nur belächelt und aufgrund ihrer Andersartigkeit als schlecht ausgewiesen werden. Dass Bemühungen der Lehreraus- und -fortbildung noch keine bemerkenswerten Früchte trugen, ist wohl bei einem Blick in die Schullandschaft unbestritten. Insofern scheint es vermessen zu sein, davon auszugehen, dass Schüler den Gang in den Rechnerraum plötzlich als ernst zu nehmende Methode bzw. Unterrichtsphase wahrnehmen. Trotzdem ist aufgrund der in Schulen gewachsenen Strukturen die phasenweise Integration von Lernprogrammen häufig die einzige Chance, Schülern die Möglichkeiten der neuen Medien im Unterricht nahezubringen oder zu demonstrieren. Ein Großteil computergestützter Lehrgänge wird sich deswegen dieser methodischen Sparte zuordnen lassen. Es liegen Erfahrungsberichte zur Integration des Ableitungsmoduls von Matheprisma in Grundkursen der Jahrgangsstufe 11 vor. Der Unterricht wurde so angelegt, dass die Schüler bestimmte Zusammenhänge mit Hilfe des Programms explorieren und im Anschluss an jede Explorationsphase die Ergebnisse im Plenum sammeln und sichern sollten. Es zeigte sich jedoch recht schnell, dass formale Unterschiede zu anderen Lernmaterialen Probleme mit sich brachten. Hierzu gehört beispielsweise, dass Differenzenquotienten 140 in anderer Form notiert wurden. Der Versuch des Programms, die Ableitung anschaulich einzuführen, hatte zur Konsequenz, dass Schüler die Erklärungen nicht ernst nahmen. Einige fühlten sich sogar veralbert und versuchten, unmittelbar mit den Abstraktionen aus späteren Kapiteln zu arbeiten. Gerade schwächere Schüler empfanden zwar die Einführung als positiv, schafften es jedoch später nur schwer, sich von den anschaulichen Definitionen zu lösen, was das Fortkommen dieser Schüler hemmte. Als besonders problematisch wurden die Schnittstellen zwischen den einzelnen Phasen wahrgenommen. Während einige Schüler bemüht waren, konstruktiv mit dem Dargebotenen umzugehen, schafften es andere nicht, den Verführungen des Internets zu widerstehen, und surften parallel auf Seiten, die für sie interessanter erschienen. Hauptursache hierfür schien das individuelle Lerntempo, dem das Programm natürlich gerecht wurde. Es war aus diesem Grund nicht zu verhindern, dass einige Schüler mit den Seiten recht schnell, andere erheblich langsamer zurechtkamen. In den Sammlungs- und Sicherungsphasen zeigte sich häufig, dass auch offensichtliche Lernangebote der Seiten nicht bemerkt oder nicht wahrgenommen wurden und den Schülern diese Erfahrungen und die notwendigen Kenntnisse fehlten. Dies ist eine durchaus übliche Erfahrung beim Umgang mit linear aufgebauten Lernprogrammen (vgl. die Ausführungen in Kap. 4.1). Auch das Meinungsbild der Schüler variierte recht stark. Dominant war jedoch die Ansicht, dass es sich bei dem Programm um eine Art Spielzeug bzw. lediglich um eine unabhängige Ergänzung zum Unterricht handelt. Gerade hier zeigt sich, dass die Integrationsmethode eines Programms seine Qualität und Nützlichkeit für den Unterricht erheblich beeinflussen kann. Die Problematik der Schnittstellen bei Berücksichtigung individueller Lerngeschwindigkeiten ist ein generelles Problem der phasenweisen Integration von Lernprogrammen, das wohl gelindert, aber nicht vermieden werden kann. Insofern nehme ich immer stärker Abstand davon, eng angelegte Programme zur Erarbeitung im schulischen Kontext zu nutzen oder deren Einsatz in diesen Phasen zu empfehlen. Das Gleiche gilt jedoch für den Einsatz von CAS, DGS oder Tabellenkalkulationsprogrammen, wenn versucht wird, die Schüler ohne Binnendifferenzierung im Gleichschritt zu halten. Ich möchte aus diesem Grund diesen Abschnitt mit der mittlerweile zwar recht abgegriffenen, aber immer noch gültigen Feststellung beenden, dass unsere traditionelle Vor- Zur Integration von Lehr- und Lernprogrammen in den Mathematikunterricht stellung von Unterricht und dessen Durchführung bei der Integration der neuen Medien nicht mehr haltbar und ineffizient ist. 4.4 LLP-Integration Der Mathematikunterricht nutzt viele verschiedene Medien. Hierzu gehört traditionell das Schulbuch mit seinen Aufgaben, die Tafel, Arbeitsblätter, aber auch kleine Lernspiele wie zum Beispiel die recht bekannten LÜKKästen. Der Einsatz dieser Medien hat sich etabliert und erfolgt integriert, was bedeutet, dass sie zum einen akzeptiert, zum anderen ziemlich gleichberechtigt zueinander sind. Der folgende Vorschlag versucht, das Programm Mathebits aus dem WestermannVerlag gleichberechtigt zu traditionellen Medien in den Unterricht der Sekundarstufe I zu integrieren. Es scheint aus den vorab genannten Gründen nicht sinnvoll zu sein, Schüler zu früh intensiv mit dem Lernprogramm in Kontakt zu bringen. Auch die Einbindung in Phasen mit und Phasen ohne Rechner bringt Probleme mit sich und scheint nicht optimal. Ich propagiere aus den genannten Gründen die Integration in einer abgeschlossenen Übungsphase, die sich an die Einführung der Grundrechenarten anschließt und deren Dauer 5–7 Stunden betragen sollte. Im Rahmen dieser Wiederholungs- und Übungsphase sollen den Schülern verschiedene Materialien zur Verfügung gestellt werden, mit denen sie erproben können, ob das Gelernte verstanden wurde und nunmehr beherrscht wird. Ich halte es für eine gesunde Mischung, wenn Lernmaterialien der folgenden Typen miteinander kombiniert werden: - Lernprogramm Mathebits, - Kommunikative Rechenspiele, - Traditionelles Aufgabenmaterial. Um verschiedenen Lerngeschwindigkeiten gerecht werden zu können, sollten 7–8 verschiedene Stationen mit den Materialien erstellt werden (Klassenstärke 25–35 Schüler). So bleiben die Lerngruppen recht klein und der Lehrer erhält Gelegenheit, sich um einzelne Schüler zu kümmern. Die Stationen müssen nacheinander durchlaufen werden, die Wahlfreiheit hängt deswegen stark von der Anzahl der vorhandenen Rechner und Vielzahl von Spielen und Aufgabenmaterialien ab. Das rechnergestützte Programm trägt dazu bei, dass die Schüler in Bezug auf ihre Fähigkeiten sensibilisiert werden. Sie lernen das Programm im Rahmen des Unterrichts kennen und erhalten so die Möglichkeit, in späteren Phasen auf die Software zurückzugreifen, um gezielt Vergessenes zu wiederholen, oder schlicht, um Lerninhalte aufzufrischen. Auch der Lehrer kann nach Einführung des Lernprogramms Schüler gezielt anweisen mit dem LLP einzelne Lektionen abzuarbeiten. Diese Möglichkeit bieten die traditionellen Medien nur bedingt, da sie im Gegensatz zur Lernsoftware keine unmittelbare Rückmeldungen liefern und die notwendig zeitversetzte Kontrolle das ohnehin knappe Zeitbudget der Lehrer belasten würde. Auch scheint es schwierig, die doch für Schüler dieser Jahrgangsstufe recht attraktiven Rechenspiele in nachfolgenden Unterrichtssequenzen wieder aufzugreifen. Vor allem kann man dem Einzelnen so nie gerecht werden, da ja nicht alle Lernenden den gleichen Nachholbedarf haben. Das Gleiche gilt für klassische Aufgabenmaterialien, die augenscheinlich keine besondere Attraktivität ausstrahlen. Das verwandte LLP wird so zur Stütze des nachfolgenden Unterrichts und trägt dazu bei, dass zum einen aufgrund der Versäumnisse einiger Schüler weniger gemeinsame Wiederholungsphasen notwendig sind, zum anderen aber auch dazu, dass diese Schüler jederzeit die Möglichkeit haben, auf ein Werkzeug zuzugreifen, das es ihnen erlaubt, Defizite selbstständig auszugleichen. Die folgende Abbildung visualisiert die neugewonnene Funktion von Lernsoftware: 5. Fazit und Ausblick Es ist klar, dass die verschiedenen Methoden zur Integration von Lernprogrammen nicht unmittelbar vergleichbar sind. Ebenfalls ist 141 Andreas Pallack nicht von der Hand zu weisen, dass die meisten angeführten Argumente und Erfahrungsbereichte aus der Kommunikation über Unterricht entstanden und weit davon entfernt sind, eine empirisch abgesicherte Basis zur Beurteilung darzustellen. Insofern liegt ein Ziel dieser Arbeit darin zu unterstreichen, dass Beurteilungen von Lernprogrammen unabhängig von Erfahrungen bezüglich verschiedener Integrationsmethoden im Unterricht nur sehr schwache bis keine Aussagen erlauben. Die Integrationsmethode scheint eine wichtige und nicht zu verachtende Rolle im Prozess der unterrichtlichen Nutzung zu spielen. Zentral ist also nicht nur die Frage, was ein Programm leisten soll, sondern auch, wie es das überhaupt schaffen kann und welche Vorteile es im Idealfall gegenüber traditionellen Methoden bietet. Ich wäre erfreut, wenn die Argumente und die Anregungen, die nach dem Vortrag über diese Arbeit auf der Herbsttagung des Arbeitskreises Mathematik und Informatik der GDM in Soest ausgetauscht wurden, fortgeführt würden und so durch das Zusammentragen von Erfahrungsberichten ein Katalog von Indizien entstünde, der dem Lehrer bei methodischen Entscheidungen zum Einsatz von Lern- und Lehrsoftware behilflich sein kann. Insofern möchte ich mit einem Ausblick schließen, der eine mögliche zukünftige Rolle von LLPs in der Lerngeschichte von Schülern beschreibt: Wenn man es schafft, einen Kanon von Lernprogrammen im Rahmen der Schullaufbahn eines Schülers zu integrieren, so stehen die einzelnen Programme im Anschluss an deren unterrichtliche Thematisierung zur Nacharbeit zur Verfügung. Rückgriffe — wie zum Beispiel die Wiederholung elementarer Termumformungen in der Oberstufe — scheinen auch Jahre später möglich. In dieses Gefüge von Programmen werden später auch Werk- 142 zeuge, wie zum Beispiel der TI89 oder Vergleichbares, ihren Platz finden und die Lerngeschichte von Schülern bereichern. Die Attraktivität von Lernsoftware zur Wiederholung und Rekonstruktion von nicht mehr vorhandenem Wissen liegt somit gerade in ihrer Beschränktheit auf bestimmte Abschnitte des Unterrichts, da nur so die ausschließliche Konzentration auf sie gewährleistet scheint und die gezielte Nacharbeit im beschränkten Zeitrahmen möglich wird. LLPs könnten dem Unterricht so etwas geben, dass er zur Umsetzung innovativer und neuer interessanter Konzepte unbedingt benötigt: Zeit. Literatur Herden, G. & Pallack, A. (2000): Zusammenhänge zwischen verschiedenen Fehlerstrategien in der Bruchrechnung. In: Journal für Mathematik-Didaktik 21, 259–279 Herden, G. & Pallack A. (2001): Vergleich von rechnergestützten Programmen zur Bruchrechnung — Nachhilfelehrer Computer. In: Journal für Mathematik-Didaktik 22, 5–28 Klein, G. (2002): Das Ableitungsmodul. In: www.matheprisma.de Pallack, A. (2002): Nachhilfelehrer Computer — Untersuchungen zum unterrichtsbegleitenden Rechnereinsatz im Bruchrechenunterricht. In: texte zur mathematischen forschung und lehre 16. Hildesheim: Franzbecker z Gestaltungs- und Bewertungskriterien zur Beurteilung von Mathematik-Software für die Grundschule — am Beispiel von Matheland Monika Schoy, Weingarten Der Einsatz neuer Medien hat auch im Mathematikunterricht der Grundschule längst seinen festen Platz. Alle denkbaren Arten von Lernprogrammen überfluten den Lehr- und Lernmittelmarkt. Die wenigsten halten, was sie versprechen, und sind aus pädagogischfachdidaktischen Gesichtspunkten sinnvoll. In diesem Vortrag sollen das Computerprogramm Matheland vorgestellt und Erfahrungen im Umgang mit dieser Software in der Grundschule dargelegt werden. Dabei sollen vor allem Gestaltungs- und Bewertungskriterien, die den Lernprozess und die Lernprozesssteuerung, die Motivation und die Selbstständigkeit betreffen, analysiert werden. Matheland ist „eigentlich“ eine schulbegleitende Lernumgebung, die für den Nachmittagsmarkt von Grundschülerinnen und -schülern vorgesehen ist. Leider gibt es (noch) keinen Softwaremarkt für den Mathematikunterricht der Grundschule, der seine Gestaltungsgrundsätze an dem Einsatz im Unterricht orientiert. Das heißt nicht, dass Lernsoftware per se nicht auch für den täglichen Unterricht in der Schule geeignet wäre. Das Mathematik-Softwareprogramm Matheland wurde im Sommersemester 2002 in einer zweiten Klasse eingesetzt. Die hohe Motivation der Kinder für Computerspiele wird hier unmittelbar mit konkreten lehrplan- und alltagsbezogenen Lerninhalten verbunden. Ein komplexes, leider pseudorealistisches Problem kann gelöst werden, indem es in viele kleine Subprobleme aufgegliedert wird. Im Programm enthalten sind auch dynamische Prozesse. 1 Softwarebeschreibung Der Eingangsbildschirm zeigt eine Dschungellandschaft mit einem aus Häusern bestehenden Dorf. Matheland war einst ein sehr reiches Land. Es besaß sogar einen Schatz. Leider wurde dieser Schatz gestohlen, und das Orakel, das das Land beschützen soll, verfällt mitten im Dschungel. Geier bewachen den Tempel, in dem Informationen über den Verbleib des Schatzes zu finden sind. Der Tempel befindet sich auf dem höchsten Berg im Dschungel. Etwas außerhalb des Dorfes wohnt Fredo, der Pizzabäcker. Im Dorf selbst gibt es ein Lagerhaus, einen Zirkus (nur in der Version für Kl. 1/2), einen Lebensmittelladen und eine Spielhölle. Um sich im Dorf bewegen zu können, benutzt man das Inseltaxi. Das jedoch kostet Geld. Geld verdienen kann man nur im Lagerhaus und im Kaufladen. Die Spielhölle ist dazu da, um gegen den Champion zu gewinnen. Hier verdient man kein Geld. Matheland in den Versionen Kl. 1/2 und Kl. 3/4 ist für Schüler der Kl. 1–5 geeignet. Die Programmversion für Kl. 3/4 baut inhaltlich und bedienungstechnisch stark auf der Version von Kl. 1/2 auf. Positiv zu erwähnen ist, dass in der Version von Kl. 1/2 ein Eingangstest durchgeführt wird, der das Vorwissen der Schüler erheben soll. Das Raketenmännchen hilft den Kindern im ersten und zweiten Schuljahr, sich im Programm zurecht zu finden. Alle geforderten Operationen werden im Eingangstest visuell am 100er-Feld gestützt. In der Version Kl. 3/4 wird (leider) auf einen solchen Eingangstest verzichtet. 2 Lerninhalte Die Aufgaben in Matheland sind quantitativ umfangreich und inhaltlich vielseitig. Sie reichen vom einfachen Kopfrechnen über die schriftlichen Grundrechenarten, das Rechnen mit den Größenbereichen Geld und Längen, Sachaufgaben, Schätzaufgaben, Aufgaben aus der Planimetrie und Raumgeometrie bis hin zum logisch-kombinatorischen Denken. Letzteres allerdings wird nur sehr wenig geschult, dann nämlich, wenn Einkaufswünsche 143 Monika Schoy dem zur Verfügung stehenden Geld angepasst werden müssen oder verschiedene Lösungsmöglichkeiten beim Arbeiten mit Wegenetzen zum richtigen Ergebnis führen können. Wer in Matheland den Schatz finden und den Spielhöllen-Champion bzw. die Geier schlagen will, muss über ein sicheres, anwendungsbreites Wissen verfügen und sich bei Fehlern zu helfen wissen. Wie aber können Lehr-Lern-Arrangements so gestaltet werden, dass auf der Seite der Lernenden auch in der Grundschule vermieden wird, lediglich mathematische Fertigkeiten statt mathematisches Verständnis zu fördern? Die Gefahr besteht nämlich darin, dass der Mathematikunterricht in der Grundschule meistens eben gerade mehr Wert auf mathematische Fertigkeiten statt auf mathematisches Verständnis legt und damit zu einem sogenannten „trägen“ Wissen (inert knowledge) führt. Die Handlungsmöglichkeiten, die ein Programm den Schülern bietet, geben Aufschluss über die Frage nach den im Programm geforderten und geförderten Kompetenzstufen. Hierauf soll im nächsten Abschnitt eingegangen werden. 3 (Interaktive) Handlungsmöglichkeiten Für den Einsatz von Lernsoftware in der Grundschule ist es in besonderem Maße wichtig, dass die Schüler möglichst wenig Vorwissen im Umgang mit dem Computer und der speziellen Software haben müssen. Bereits nach kurzer Zeit sollte es den Schülern möglich sein, die Arbeitsaufträge, die das Programm stellt, zu bearbeiten, ohne dass es sich dabei lediglich um ein Reiz-Reaktions-Lernen handelt. Matheland stellt viele interaktive Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Allen Lernstationen im Programm gemeinsam ist der sichtbare Wille der Programmierer, die Handlungen möglichst nahe an den enaktiven Erfahrungen der Grundschüler zu orientieren. So können an den verschiedensten Stellen im Programm Einkaufsbelege mit einem virtuellen Stempel versehen, falsche Ergebnisse mit einem Radiergummi ausradiert, Rechnungen mit einem Bleistift geschrieben, Beträge mit Geld bezahlt, Einkaufswaren ein- und ausgepackt werden etc. Weitere Handlungsmöglichkeiten sollen an dieser Stelle beispielhaft näher beschrieben werden: 144 • In der Lagerhalle In der Lagerhalle kann man Geld verdienen. Dazu muss man Aufgaben zum Umgang mit Würfelbauwerken bearbeiten. Es wird zunächst gefragt, wie viele Kartons in einem Kartonstapel fehlen (die Ansicht kann gedreht werden). Danach muss der Schüler erkennen, welches Bauteil in den Kartonstapel eingesetzt werden muss, um den Kartonstapel zu einem quaderförmigen Stapel zu ergänzen. Für die Lösung der Aufgabe gibt es hier eine Auswahl von vier Vorschlägen. Das Arbeiten mit Würfelbauwerken ist an dieser Stelle effektiver, als dies mit statischen Visualisierungen in einem Schulbuch geschehen kann. Visuelle Wahrnehmungsfähigkeiten wie visuomotorische Koordination, visuelle Gliederungsfähigkeit, Figur-Grund-Diskrimination, Wahrnehmungskonstanz und Formerfassung sowie visuelles Operieren, visuelles Speichern und visuelles Erinnern spielen bei der Bearbeitung der Aufgaben eine wesentliche Rolle. Leider findet sich das Erstellen und Interpretieren von Bauplänen, was als ein wesentlicher Zugang zur Raumgeometrie in der Grundschule anzusehen ist, in keinem Aufgabenmodul wieder. • Im Kaufladen Drei verschiedene operative Übungsformate im Umgang mit Sachsituationen zum Thema Geld finden sich im Kaufladen wieder. Zunächst einmal können Bestellungen via Einkaufslisten erledigt werden. Dazu werden die einzelnen Waren zusammengetragen, deren Preise ermittelt und addiert. Hier erweist sich die Handlungsorientierung oft als zu langatmig, nämlich dann, wenn man z. B. 9 Päckchen Gummibärchen einzeln in den Korb legen soll. Interessant dagegen ist es, dass das Geld nicht immer für die gesamte Bestellung reicht, und dadurch der Einkaufskorb in seiner Zusammenstellung optimiert werden soll. Das vorhandene Geld muss ausreichen und alle gewünschten Waren sollen im Einkaufskorb repräsentiert sein. Die Aufgaben sind offen gestellt und lassen mehrere Lösungsmöglichkeiten zu. Bei der Registrierkasse werden Kassenzettel durch die Kinder kontrolliert und gegebenenfalls korrigiert. Kinder machen das sehr gerne. Sie fühlen sich als Experten, die Fehler finden können und nicht immer selbst diejenigen sind, die Fehler verursachen. Gestaltungs- und Bewertungskriterien zur Beurteilung von Mathematik-Software Das Faxgerät druckt nicht alle Rechnungsbelege vollständig aus. Hier müssen die Kinder die fehlenden Zahlen eintragen. In geringem Maße wird beim Lesen der Einkaufszettel auch die Lesefähigkeit gefördert, wobei die Aufgaben auch über Symbole gelöst werden können. • Das Inseltaxi In Matheland gibt es ein Pferdetaxi, das jeden Mitspieler von einem Ort zum anderen bringt. Das kostet jedoch Geld, so dass der Schüler sanft gezwungen wird, sich sein Geld zunächst einmal im Lagerhaus oder Kaufladen zu verdienen, bevor er sich in der Spielhölle vergnügen oder den Weg zum Tempel wagen kann. Hat man sich sein Geld verdient, findet man dieses in seinem Geldbeutel wieder. Der Geldbetrag für das Taxi muss genau bezahlt werden. Ist kein passendes Kleingeld vorhanden, so muss man sein Geld mit der Geldwechselmaschine eintauschen. Wie man den Geldbetrag für die Taxifahrerin, oder besser: Taxireiterin, zusammenstellt, ist egal. Es gibt somit viele Lösungen. Man „öffnet“ per Mausklick den Geldbeutel, steckt Geld in den Geldwechsler und legt die Geldstücke einzeln in die Hand der Reiterin. Und schon reitet man los... • Spielhölle In der Spielhölle gilt es, den Champion an einem der vielen Spielautomaten oder bei dem Spiel „Vier gewinnt“ zu schlagen. Angeboten werden einfache und schwierige Aufgaben aus dem Bereich der vier Grundrechenarten. Auch Schätzaufgaben sind in dieses Modul eingebaut, zum Beispiel dann, wenn gefragt wird, welches Ergebnis dem eigentlichen Ergebnis am nächsten kommt. Es gibt Sachaufgaben, bei denen nicht das Ergebnis, sondern die durchzuführende Operation gesucht wird. Somit geht es an dieser Stelle nicht um die Durchführung dieser Operation, sondern um das Erfassen und Modellieren der Sachsituation. Schüler mit mangelnder Lesekompetenz können sich die Sachaufgaben im Programm auch vorlesen lassen. Der Schüler entscheidet selbst, wie lange er im Übungsmodus arbeitet, bevor er mit dem Champion der Spielhölle in einen Wettkampf tritt. • Beim Pizzabäcker Die Aufgaben beim Pizzabäcker Fredo sind für Grundschüler sehr komplex. Der Pizzabäcker hat ein großes Problem. Die Tiere im Dschungel wollen seine Pizzen fressen. Das erschwert die Auslieferung der Pizzen an die Kunden im Dschungel. Die Schüler erhalten einen Plan des Dschungels mit Häusern, Flüssen, Bergen, den Raubtieren etc. Sie müssen zunächst den jeweils kürzesten Weg zu den Häusern und die Zeit, die sie für diese Wege benötigen, ermitteln. Dabei kommt es aber auch darauf an, ob der Weg nur über Wiesen oder aber durch einen Fluss, ein Gestrüpp oder über die Berge führt. Diese Unwegsamkeiten benötigen mehr Zeit und die Pizzen müssen zu einem bestimmten Termin an den Häusern abgeliefert werden. Manchmal ist der kürzeste Weg also nicht zwangsläufig der schnellste. Man berechnet die Wegstrecke, die dafür benötigte Wegzeit und vergleicht diese Ergebnisse mit dem Auslieferungsplan für die Pizzen, wobei noch die Wege der Raubtiere zu berücksichtigen sind. Auch diese Aufgabe ist so offen gestellt, dass mehrere Lösungen richtig sein können. Zwar handelt es sich hier um eine sehr komplexe Aufgabe, aber leider lassen alle Aufgaben jeglichen Bezug zur Realität vermissen, denn wo fressen Krokodile die Pizzen eines Pizzabäckers? Außerdem kommt es zu Missverständnissen beim Lesen des Kartenmaterials. Die Schüler wissen beispielsweise nicht, ob eingetragene Hindernisse auf der Karte als eigenes Feld betrachtet werden müssen oder nicht. Positiv zu erwähnen ist dagegen, dass eine Beispielaufgabe vorgegeben wird, und man in kleinen und großen Schritten agieren und rechnen kann. Diese qualitative Differenzierung wird vom Schüler selbst gewählt. • Das Orakel Das Orakel widmet sich den Inhalten der Bildungspläne in Bezug auf die ebene Geometrie. Es müssen bereits bestehende Muster durch Drehen, Spiegeln, Färben von Musterbausteinen vervollständigt werden. Außerdem sollen Bruchstellen in der Orakelmauer repariert werden. Während bei den Aufgaben zum Vervollständigen von geometrischen Mustern unmissverständlich klar wird, was gemacht werden soll und wie die Aufgabe mit dem inhaltlichen Kontext des Orakels in Verbindung steht, suggeriert das zweite Aufgabenmodul den Eindruck, dass die Flächenberechnungen etwas mit den fehlenden Steinen in der Mauer zu tun haben. Dies provoziert bei den Schülern eine Vermengung der Begriffe Körper und Fläche; eine Schwierigkeit, die sich durch die gesamte Grundschule zieht. Die visuellen Darstellungen der Mauerschäden haben zudem keine rechteckigen, sondern unregelmäßige, vieleckige Grundflächen. Hier zeigt das Programm nach Meinung der 145 Monika Schoy Autorin Schwächen in Konsequenz und fachlicher Richtigkeit der Aufgabenstellungen bzw. der inhaltlichen Zuordnung von Aufgaben zu ihrem inhaltlichen Kontext. • Bei den Geiern Die Geier präsentieren sich ziemlich eingebildet und provozierend. Aussagen wie „du warst nicht schlecht, aber...“, „du wirst mich nie schlagen“, „auf Nimmerwiedersehen“ stehen hier auf der Tagesordnung. Die Kinder fühlen sich durch die Geier provoziert und möchten diese gerne schlagen. Aber die Geier sind ziemlich gut und deshalb schwer zu schlagen. Gerechnet werden hier Blitzrechenaufgaben verschiedenen Typs. Es geht nicht nur um Kopfrechenaufgaben zu den Grundrechenarten in der üblicher Form. Operative Variationen sind eingebaut. Operatorzeichen müssen eingesetzt, Schätzungen gemacht werden etc. Die für die Kinder motivierenden Gespräche können leider auch bei mehrmaligem Versuch, die Geier zu schlagen, nicht abgestellt werden. Dies ist ein Kritikpunkt, der sich durch das gesamte Programm zieht. Wiederholungen von Erklärungen, Anmerkungen etc. können in den seltensten Fällen abgestellt werden. Aus praktischer Sicht eine große Schwäche des Programms. Während in diesem Abschnitt das Prinzip der Interaktivität des Lernprogramms anhand von Beispielen erläutert wurde, gibt es noch eine Reihe weiterer didaktischer Prinzipien, die bei der Gestaltung von Matheland eine Rolle spielen. Didaktische Prinzipien 4 Matheland versucht, eine Reihe didaktischer Prinzipien umzusetzen. In diesem Abschnitt sollen die Prinzipien der Differenzierung, der Selbstständigkeit, des organisatorischen Hilfesystems und der inhaltlichen Fehleranalyse, der Offenheit und der Lernprozessrückmeldung näher beleuchtet werden. Auf den sehr wichtigen Punkt der Lernprozesssteuerung soll im Abschnitt der Bewertungskriterien nochmals explizit eingegangen werden. • Differenzierung Möglichkeiten der Differenzierung sind in einem erfolgreichen Unterricht unverzichtbar. Ein gutes Lernprogramm zeichnet sich dadurch aus, dass die Lehrperson nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ differenzieren kann. Eine qualitative Differenzierung 146 findet bei Matheland leider nur durch den Eingangstest in der Version Kl. 1/2 statt. Quantitative Differenzierungen bietet das Programm in beiden Versionen durch seine große Anzahl an Aufgaben. Jeder Schüler entscheidet selbst, wie lange er bestimmte Aufgabentypen bearbeitet. Darüber hinaus wird bei den Schülern auch die Durchhaltefähigkeit trainiert, denn wer zu früh aufgibt und dadurch kein Geld verdient, ist nur beschränkt handlungsfähig. Um bestimmten Aufgabenvorlieben entgegen zu wirken, kann man sein Geld nicht immer mit demselben Aufgabentyp verdienen. Es kann schon mal passieren, dass eine Stimme sagt: „Hier gibt es nichts mehr zu tun. Mach´ doch was anderes.“ Auf diese Art wird man sanft dazu gezwungen, möglichst viele verschiedene Aufgabentypen zu bearbeiten. Das Gesamtziel, den Schatz zu finden, kann man auch dann erreichen, wenn nicht sämtliche Aufgaben gelöst werden, so dass für jeden Schüler eine Auswahlmöglichkeit bei der Bearbeitung der Aufgaben besteht. Insgesamt sollten Aspekte der Differenzierung jedoch vor allem in der Version Kl. 3/4 mehr Berücksichtigung finden. • Selbstständigkeit Selbstständig erfolgreiches Lernen ist eines der höchsten Ziele unterrichtlichen Lehrens. Das Programm Matheland ermöglicht eine gewissen Selbstständigkeit und Selbststeuerung, wenngleich die Art der Selbstständigkeit recht kleinschrittig angelegt ist. Modellierungsprozesse kommen quasi überhaupt nicht vor. Lediglich beim Orakel wird versucht, den Schülern die Verknüpfung einer Situation mit einem mathematischen Ansatz nahe zu bringen. Man könnte dies als eine Art Informationssequenz betrachten. Allerdings wird der Modellierungsprozess hierbei nicht vom Schüler selbst durchgeführt. Vom Aufbau einer echten Problemlösekompetenz des Schülers ist das Programm sicherlich noch weit entfernt. Hingegen unterstützen das im Programm eingebaute Hilfesystem und der Versuch einer Fehleranalyse die Selbstständigkeit der Schüler zusätzlich positiv. • Das organisatorische Hilfesystem und die inhaltliche Fehleranalyse Matheland hat ein recht gutes Hilfesystem, und dennoch zeigen sich eine Reihe von Kritikpunkten und Verbesserungswünschen. Im Programm gibt es verbale Aufgabenbeschreibungen, die immer wieder erfragt werden können (und sich leider auch immer wieder identisch wiederholen). Allerdings wird Gestaltungs- und Bewertungskriterien zur Beurteilung von Mathematik-Software nur das Aufgabenverständnis im Hinblick auf die vorliegende Sachsituation und nicht das Verständnis der mathematischen Inhalte unterstützt. Neben den verbalen Aufgabenbeschreibungen gibt es auch ein inhaltlich gestuftes Hilfesystem: Rückmeldungen wie zum Beispiel „die einzelnen Preise stimmen noch nicht ganz. Rechne noch mal nach“, „du hast beim Addieren einen Fehler gemacht“, „das ist wohl ein bisschen zu viel“ treten an vielen Stellen im Programm in Erscheinung. Zunächst wird vom Programm festgestellt, dass das Ergebnis einer Aufgabe nicht korrekt ist, bevor im zweiten Schritt der Fehlerort näher spezifiziert wird. Dennoch werden Fehler nur aufgedeckt, nicht erklärt oder im Übungsprogramm weiter fortgeführt. Nach mehreren Fehlversuchen wird das richtige Ergebnis kommentarlos eingeblendet, und der durch Lösung der Aufgabe angestrebte finanzielle Verdienst für den Schüler ist gestrichen. Erklärungshilfen werden dem Schüler nicht geliefert. Die Möglichkeit, sich mit einem Fehler intensiver zu beschäftigen, wird dem Schüler nicht angeboten. Das Aufgabenmaterial wird nicht auf verschiedene Fehlertypen abgestimmt. Eng verbunden mit dieser Phase ist die Phase des Unterstützens und Ausblendens: Das Kind kann aktiv die Hilfe des Experten zu Rate ziehen. Mit zunehmender Kompetenz des Lernenden werden die Hilfen ausgeblendet, und der Schüler kann um so mehr Geld im Lagerhaus und im Kaufladen verdienen, je weniger Hilfen und Vorgaben er in Anspruch nimmt. • Offenheit Auch dem Prinzip der Offenheit versucht Matheland Rechnung zu tragen. Bedenkt man doch, dass es sich um Grundschüler handelt, und dass man bei der Umsetzung des Prinzips der Offenheit immer eine Gratwanderung zwischen zu viel und zu wenig Offenheit beschreitet. Matheland bietet den Schülern beispielsweise an, Aufgaben, die im Programm gestellt werden, auf dem Notizblock der Hilfsfigur Mac Mathe zu rechnen. Es stehen die Normschreibweisen der schriftlichen Rechenverfahren, aber auch einfache Hilfsrechnungen zur Verfügung. Ja, es ist sogar möglich, eigene Aufgaben zu den schriftlichen Grundrechenarten im Programm zu rechnen und kontrollieren zu lassen. Die Lehrerin kann dadurch das Schulbuch mit in die Übungssequenz integrieren und das Mathematikheft durch den Computer ersetzen. Das Prinzip der Offenheit zeigt sich immer auch dann, wenn Aufgaben mehrere Lösungswege zulassen. Auch diesen Aspekt versucht Matheland umzusetzen: der Pizzabäcker Fredo kann auf verschiedenen Wegen zu seinen Zielen kommen, das Inseltaxi kann auf unterschiedlichste Arten bezahlt werden, die Einkaufslisten lassen mehrere Optimierungsprozesse zu, wenn es darum geht, möglichst viel für das vorhandene Geld einzukaufen, ohne einen Artikel zu vernachlässigen. In Fällen wie diesen kann man sogar davon sprechen, dass Matheland Ansätze instruktionaler Strategie (vgl. Baumgartner 1995) zulässt und sogar provoziert. Aber was nützt das vermeintlich beste Lernprogramm, wenn die Nutzer dieses Programms negative Erfahrungen gemacht haben und nicht damit arbeiten wollen? Im nächsten Abschnitt werden Meinungen über Matheland zusammengetragen. Dabei wird darauf hingewiesen, dass es sich um sehr subjektive und punktuelle Bewertungen handelt. 5 Bewertungskriterien und Bewertungen Was aber halten nun die verschiedene Interessengruppen von Matheland? Wie bewerten Schüler, Lehrer und Fachdidaktiker das Programm? Zwar gibt es zur Beurteilung von Lernsoftware viele Kriterien-Kataloge. Diese sind jedoch meistens sehr allgemein gehalten und erzeugen beim Benutzer nur eingeschränkt ein objektives Urteil. Lehr- und lerntheoretische Aspekte, die Akzeptanz bei Lehrern, Schülern und Eltern bleiben meistens unberücksichtigt. Auch liegen keine empirischen Befunde über die Effektivität dieser Programme in der Grundschule vor. Im Zusammenhang mit dem Einsatz von Matheland in einer zweiten Klasse wurden Schüler und die die Klasse unterrichtende Lehrerin darüber befragt, was sie vom Einsatz von Matheland im Unterricht halten. Rückmeldungen von Eltern zu Matheland liegen der Autorin zur Zeit noch nicht vor. Es seien hier nun die Meinungsbilder tabellarisch zusammengestellt. 147 Monika Schoy 5.1 Schülermeinungen • „positiv“ – Es macht Spaß. – Die Aufgaben habe ich gut verstanden. – Den Zauberer zu fangen, fand ich witzig. – Die Zirkus-Künstler rechnen lustig. – Tempel: Das Orakelmuster ist cool. – Lagerhaus: Man kann Geld verdienen. – Ich kontrolliere den Kassenzettel selbst. – Es gibt schwierige Aufgaben. – Die Pizzabäckeraufgaben sind neuartig. • „negativ“ – Die Geier waren immer besser als ich. – Das Taxi fahren ist blöd. Ich laufe lieber. – Das Labyrinth bei Fredo ist manchmal unlogisch. 5.2 Lehrerinnenmeinung • „positiv“ – Hohe Motivation der Schüler. – Das Hilfesystem funktioniert. – Versuch einer Fehleranalyse. – Bearbeitung eigener Aufgaben. – Körperrotationen sind möglich. – Arbeitsprotokolle sind möglich. • „negativ“ – Die Sequenzen dauern zu lange. – Viele unnötige Animationen. – Sprechtexte kann man nicht ausschalten. – Bei Rechnen mit Größen werden die Einheiten vorgegeben. – Die Pausenaufforderung ist für den Unterricht ungeeignet. Sowohl bei den Schülern, als auch auf der Seite der Lehrerin überwiegen in deren Meinungsbildern die positiven Aspekte der Lernsoftware Matheland. — Im nächsten Abschnitt werden weitere didaktische Anmerkungen im Hinblick auf die Bewertung aufgezeigt. 5.3 Didaktische Gesichtspunkte einer Bewertung • Die Lernform des Programms ist relativ offen. Es gibt viele spielerische Elemente, vielfältige Wahlmöglichkeiten und sehr 148 viele unterschiedliche Übungsformen und Aufgabenformate. • Die Lernprozesssteuerung ist vorhanden, aber weiter verbesserungswürdig. Zwar gibt es eine individuelle Fehleranalyse, aber „intelligente“ Fehleranalysen und Hilfsfunktionen kann auch dieses Programm nicht bieten. Es fehlen eine Anpassung der Aufgaben an Fehlerquellen sowie Erklärungsmodelle oder Hilfsfunktionen für Fehlerquellen. Das Programm markiert falsche Endergebniszahlen und beschränkt sich auf den Hinweis, dass man einen Fehler gemacht hat. Im zweiten Schritt dann wird angegeben, an welcher Stelle in der Rechnung ein Fehler vorliegt. Wichtig wäre an dieser Stelle eine ausführlichere Rückmeldung an den Schüler, aber auch an die Lehrperson. Hinweise sowohl auf die Fehlerstelle als auch auf die Fehlerart sowie weitere Denk- und Arbeitsimpulse sollten zum Standard gehören. • Eng verbunden mit diesem Aspekt der Lernprozesssteuerung ist das Lernprotokoll für Schüler und Lehrperson. Zwar bietet das Programm die Möglichkeit, eigene Aufgaben zu schriftlichen Rechenverfahren zu bearbeiten und ausdrucken zu lassen, aber diese Funktion betrifft nicht alle Aufgabenmodule des Programms und kann inhaltlich nur als erster Schritt eines aussagenreichen Lernprotokolls gesehen werden. Wichtige Grundsätze für eine Verbesserung des Programms in dieser Hinsicht könnten folgende Aspekte sein: Auch bei vorzeitigem Ausstieg aus dem Programm sollte ein Lernprotokoll erstellt werden können. Die Speicherung eines solchen muss automatisch erfolgen. Im Lernprotokoll enthalten sein sollten vollständige biographische Angaben über den Schüler und eine umfassende Fehleranalyse seines Arbeitens. Dass eine individuelle Fehleranalyse und effektive Lernprozesssteuerung möglich sind, zeigen die Ausführungen von Hennecke (vgl. Hennecke 2002). • Die Flexibilität der Lernsoftware ist bezüglich der Handlungsmöglichkeiten, die den Schüler betreffen, recht hoch. In Bezug auf den Lehrer jedoch zeigen sich hier große Mängel des Programms für den Einsatz im Unterricht. Die Lehrperson hat keine Möglichkeit, die Lerneinheit, den Schwierigkeitsgrad, den Lernumfang, die Bearbeitungszeit, den Hilfegrad, die Hilfeart o. ä. zu beeinflussen. Das Programm bietet der Lehrperson nicht einmal einen Gestaltungs- und Bewertungskriterien zur Beurteilung von Mathematik-Software Überblick über die erreichbaren Leistungen und Lerninhalte des Programms. Es fehlt jegliche Transparenz für die Lehrperson. Dadurch stellt sich die Frage nach dem didaktischen Ort für den Einsatz des Programms im Rahmen des Unterrichts. Da das Programm mit wenigen Ausnahmen keine Informationssequenzen für die Schüler bereithält, müssen die Schüler eigentlich alle Inhalte bereits beherrschen, bevor sie mit dem Lernprogramm vertieft und gefestigt werden können. Ist Matheland dann eigentlich nur zum Ende des Schuljahres als „die etwas andere Übungsmethode“ einsetzbar? Solange sich das Programm in seiner jetzigen Form präsentiert, trifft diese Befürchtung zu. Die Integration des Computers in den alltäglichen Unterricht wird durch diese mangelnde Flexibilität und Interaktivität für die Lehrperson immens erschwert. • Die Lernverstärkung des Programms ist variantenreich und kindgerecht. Viele positive Rückmeldungen sprechen für einen Einsatz des Programms im Unterricht. Die negativen Rückmeldungen wirken dennoch ermunternd, wenngleich sich manche verbalen Elemente aus pädagogischer Sicht zunächst als denkwürdig darstellen (in Version Kl. 3/4). In der Praxis jedoch stellt sich heraus, dass Schüler dieser Altersstufe durch die teilweise entmutigenden, fast bösartigen Aussagen der Figuren im Programm eher provoziert und zur Leistung angestachelt werden. Oberstes Ziel wird es für die Schüler, diese Figuren zu schlagen. • Das Programm schafft es, viele Motivationselemente wie z. B. Farbgebung, Bilder, Grafiken, Ton, Spielformen, verbale und nonverbale Animationen etc. positiv umzusetzen. Bei den Schülern kommen diese Merkmale sehr positiv an. Aus didaktischer Sicht wäre hier allerdings weniger oft mehr. • Die technische Handhabung des Programms erweist sich als erfreulich praktikabel. Selten kommt es zu einem Programmabsturz. Die Schüler klicken sich per Maus-Steuerung problemlos durch das Programm. • Inhaltlich besticht das Programm durch seine Vielseitigkeit. Es werden viele Bereiche der Mathematikbildungspläne abgedeckt. Der geometrische Bereich „Bauen, Baupläne lesen und erstellen“ ist nicht im Programm umgesetzt. Wünschenswert wäre es auch, wenn zusätzlich Aufgaben zu Bereichen wie beispielsweise dem Ge- dächtnistraining, dem Konzentrationstraining, dem logischen Denken etc. angeboten werden würden. 6 Zusätzliche Verbesserungswünsche Weiterhin wünschenswert für die Gestaltung von Lernsoftware ist die Berücksichtigung folgender Aspekte: • In hochwertigen Softwareprogrammen müssen Aufgaben enthalten sein, die die Artikulation des Vorgehens bei der Bearbeitung der Schüler erfordern. Lern- und Problemlösestrategien sollen angeboten und explizit gemacht werden. Aufforderungen könnten sein: Begründe dein Vorgehen! Wie hast du gerechnet? Gibt es solche Ergebnisse im Alltag? Viel zu oft ist es doch auch so, dass Ergebnisse mathematisch zwar richtig sind, jedoch keinen Realitätsbezug aufweisen. • Wenn sich der Mathematikunterricht zum Ziel gesetzt hat, dass Schüler auf die Bewältigung des Alltags vorbereitet werden sollen, dann sollten die inhaltlichen Kontexte solcher Programme auch nahe am Alltag stehen. Dies verfolgen Konzepte wie das situationsorientierte Lernen (anchored instruction) (vgl. Vanderbilt 1990). Optimal ist es, wenn Schüler das Gelernte auf neue Situationen im Alltag anwenden. Dies ist aber durch die fiktive Geschichte in Matheland nicht möglich. Das bedeutet, dass die Kinder sich sogenanntes träges Wissen aneignen, das nicht auf alltägliche Probleme anwendbar ist. • Neben dem Konzept des situationsorientierten Lehrens spielt der CognitiveApprenticeship-Ansatz von Collins, Brown & Newmann (1989) in der zukünftigen Softwareentwicklung ein wichtige Rolle. Gemäß diesem Ansatz sollen die Lernenden im Rahmen eines spezifischen Methodenrepertoires bis hin zum selbstgesteuerten Lernen geführt werden. Das Methodenrepertoire umfasst 6 Stufen (deutsche Übersetzung): Modellieren, Begleiten, Unterstützen, Artikulieren, Reflektieren und Explorieren. Modellierungsprozesse jedoch kommen in Programmen für die Grundschule kaum vor. Auch in der Grundschule kann man dem Lernenden mathematische Fakten in einem Lehrteil erklären, so wie einige Programme aus der Sekundarstufe dies bereits versuchen. In der Grundschule könnte es so ausse- 149 Monika Schoy hen, dass ein Experte eine Problemlösung vormacht und sein Vorgehen verbalisiert. Hier wird der Modellierungsprozess zwar nicht vom Lernenden selbst vollzogen, aber es ist ein erster Schritt dahin, Modellierungsprozesse sichtbar zu machen. Matheland versucht dies bei der Berechnung von Flächeninhalten. Ein solches Vorgehen stellt eine Ausnahme im Programm dar. • Ein weiteres Qualitätsmerkmal für hochwertige Computerprogramme ist eine umfangreiche Interaktivität für Lernende und Lehrende. Die Lernenden sollen viel mehr zum Handeln, Ausprobieren, Experimentieren und systematischen Vorgehen angeregt werden. Sie sollen Sachverhalte dadurch besser verstehen, indem sie sich aktiv damit auseinander setzen. Lehrende benötigen mehr Handlungsspielräume und Steuerungsmöglichkeiten beim Einsatz des Programms im Unterricht. • Als letzter Punkt sei das soziale Lernen beim Lernen mit einer Software angesprochen. Kommunikation kann dann erfolgen, wenn Kinder die Aufgaben mindestens zu zweit bearbeiten. Aufgaben müssen so gestellt werden, dass sie kooperativ besser und schneller gelöst werden können, als wenn ein Schüler sich alleine an die Bearbeitung der Aufgaben macht. Nur dann ist die Forderung nach kooperativem Lernen sinnvoll. So ist das Programm aber nicht aufgebaut. Es stellt sich somit die Frage, wie der Übergang von virtueller zu realer Welt initiiert und erreicht werden kann. Zusammenfassung Der Einsatz von neuen Medien hat im Mathematikunterricht der Grundschule längst seinen festen Platz. Trotz großer Euphorie und Begeisterung beim Einsatz von Computerprogrammen in der Grundschule darf nicht vergessen werden, dass Computer nur in einem bestimmten (vom Autor ihnen zugewiesenen, d. h. einprogrammierten) Rahmen intelligent, flexibel und kreativ auf die Handlungen der Kinder reagieren können. Viel zu viele Programme sind ausschließlich auf der Basis des Reiz-Reaktions-Lernens aufgebaut und entsprechen damit nicht den aktuellen Erkenntnissen der Lerntheorie, die die behavioristische Sichtweise des Lernens für eher überholt sehen und die die konstruktivistischen Lerntheorien betonen. Lernprogramme, die diese neue Sichtweise des Lernens 150 betonen, sind in der GS eher selten. Die Lernsoftware Matheland macht erste Schritte, um über das reine Reiz-Reaktions-Lernen der Schüler hinaus zu gehen. Neben vielen positiven Aspekten des Programms gibt es leider auch sehr viele Schwachstellen, die einen Einsatz im täglichen Unterricht nur bedingt möglich machen. Literatur Baumgartner, P. (1995): Didaktische Anforderungen an (multimediale) Lernsoftware. In: Issing, L. J. & Klimsa, P. (Hrsg.): Information und Lernen mit Multimedia. Weinheim: Beltz, 241–252 Collins, A., Brown, J. S. & Newmann, S. E. (1989): Cognitive appprenticeship: Teaching the crafts of reading, writing, and mathematics. In: Resnick, L. B. (Hrsg.): Knowing, learning and instruction. Essays in the honour of Robert Glaser. Hillsdale, N. J.: Erlbaum, 453–494 Cognition and Technology Group at Vanderbilt (1990): Anchored instruction and its relationship to situated cognition. In: Educational Researcher 19 (6), 2–10 Cornelsen Verlag (2001): MATHELAND. Eine Lernsoftware für die Grundschule für die Klassen 1+2 und 3+4 Dörr, G. (2001): Spaß mit Mathe — eine multimediale Lernumgebung. In: Mathematik lehren 92, 14–16 Hennecke, M. (2002): Fehlerdiagnose in intelligenten Lehr-Lern-Systemen. In diesem Band Monnerjahn, R. (1995): Gestaltungsgrundsätze des Mathematikübungsprogramms FELIX für die Primarstufe. In: Beiträge zur Didaktik der Mathematik 3/1995, 75–86 Thomé, D. (1989): Kriterien zur Bewertung von Lernsoftware. Heidelberg: Huething Unterbruner, G. (2001): Interaktivität — ein wichtiges Kennzeichen guter Lernprogramme. In: Mathematik lehren 92, 43–45 z Modellierung in der Schule * Jens Weitendorf, Norderstedt Das Projekt hat zum einen das Ziel, Schülerinnen, Schüler und Lehramtstudierende an die Modellierung heran zu führen und die Relevanz von Mathematik in der realen Welt zu zeigen und auf der anderen Seite, den Dialog zwischen den universitären Fachbereichen Mathematik und Erziehungswissenschaft, der Schule und der Berufswelt zu fördern. Um obiges zu erreichen, werden Probleme aus der Realität von Leuten vorgestellt, die sich beruflich mit den Problemen befassen, und diese werden dann von den Schülerinnen und Schülern mit den Studierenden im Unterricht bearbeitet. Die Lösungen werden den Fachleuten vorgestellt und mit ihnen diskutiert. Das Projekt ist auf drei Jahre ausgelegt. Ich berichte über das zweite Jahr aus der Sicht eines der beteiligten Lehrer. Die beteiligten 8 Schülerinnen und 8 Schüler sind aus einem Mathematik Leistungskurs im 12. Jahrgang. Modellierung wird hier im klassischen Sinne verstanden, wie sie zum Beispiel in (Kaiser 1995) beschrieben ist. Ich stelle im folgenden zunächst die Probleme kurz vor und dokumentiere daran anschließend einige Lösungen der Schülerinnen und Schüler. 1 Das Hubschrauberproblem Den Schülerinnen und Schülern wurde eine Excel-Tabelle mit 109 Skiorten aus Südtirol gegeben. Zu jedem Ort war auch die Anzahl der Unfälle in einem Zeitraum gegeben. Daneben erhielten sie eine Karte und ein darunter gelegtes Koordinatensystem, in dem die Orte eingetragen waren. Die nächste Abbildung zeigt die Excel-Tabelle mit den entsprechenden Angaben. Abb. 1: Das Skigebiet mit Koordinatensystem und Orten 151 Jens Weitendorf O rt e A b te i A h rn t a l A ld e in A lg u n d A lt re i A n d ria n A uer B a rb ia n B ozen B ra n z o ll B re n n e r B rix e n B ru n e c k C o r va r a D e u t s c h n o fe n E n n e b e rg E ppan F e ld t h u rn s F r a n z e n s fe s t e F r e i e n fe l d G a is G a rg a z o n G lu rn s G ra u n G s ie s H a fl i n g In n i c h e n J e n e s ie n K a lt e rn K a rn e id K a s t e lb e ll K a s t e lru t h K ie n s K la u s e n K u rt a t s c h K u rt in ig Laas X 1 1 2 ,5 0 1 2 4 ,2 5 7 4 ,7 5 5 3 ,5 0 7 6 ,7 5 6 3 ,5 0 6 1 ,2 5 8 4 ,0 0 7 3 ,5 0 6 2 ,0 0 7 5 ,0 0 9 3 ,0 0 1 1 4 ,7 5 1 1 1 ,7 5 7 9 ,2 5 1 1 4 ,2 5 6 6 ,5 0 8 9 ,7 5 8 8 ,7 5 7 9 ,2 5 1 1 4 ,5 0 6 0 ,5 0 1 0 ,0 0 7 ,7 5 1 3 2 ,2 5 6 1 ,2 5 1 4 1 ,2 5 7 1 ,0 0 6 5 ,7 5 7 6 ,2 5 3 6 ,5 0 8 8 ,0 0 1 0 6 ,0 0 8 7 ,5 0 6 5 ,2 5 6 5 ,7 5 2 1 ,7 5 Y 5 3 ,5 0 9 8 ,2 5 2 2 ,7 5 5 6 ,7 5 1 3 ,2 5 3 8 ,5 0 1 9 ,7 5 5 0 ,2 5 3 6 ,7 5 2 6 ,0 0 8 5 ,7 5 6 3 ,5 0 7 5 ,0 0 4 6 ,0 0 2 8 ,5 0 6 3 ,7 5 3 1 ,2 5 5 8 ,2 5 7 0 ,5 0 7 8 ,7 5 7 8 ,7 5 4 4 ,7 5 4 9 ,7 5 6 4 ,5 0 7 4 ,0 0 5 2 ,2 5 7 0 ,7 5 4 0 ,5 0 2 6 ,2 5 3 7 ,0 0 4 7 ,7 5 4 6 ,7 5 7 5 ,7 5 5 4 ,2 5 1 5 ,0 0 1 0 ,0 0 4 5 ,5 0 N 53 26 12 3 4 2 15 8 96 4 10 81 78 62 53 19 7 8 3 4 2 5 2 19 5 21 13 20 30 12 3 76 5 22 4 1 1 O rt e L a je n Lana L a ts c h L a u re in L e i fe r s Lüsen M a ls M a rg re id M a rt e ll M e ra n M ö lt e n M o n ta n M oos M ü h lb a c h M ü h lw a ld N a ls N a t u rn s N a t z -S c h a b s N e u m a rk t O la n g P a rt s c h in s P fa l z e n P fa t t e n P fi t s c h P la u s P ra d P ra g s P re t t a u P r o ve i s R . -A n t h o lz R a t s c h in g s R it t e n R odeneck S a lu rn S and S a rn t a l X 8 7 ,7 5 5 6 ,5 0 3 4 ,0 0 5 1 ,7 5 7 3 ,0 0 1 0 1 ,5 0 8 ,5 0 6 4 ,2 5 2 8 ,2 5 5 6 ,0 0 6 4 ,2 5 7 1 ,2 5 5 4 ,7 5 9 3 ,5 0 1 0 6 ,5 0 6 0 ,7 5 4 5 ,0 0 9 3 ,7 5 6 9 ,0 0 1 2 1 ,2 5 4 9 ,7 5 1 0 9 ,5 0 7 0 ,5 0 7 6 ,5 0 4 7 ,5 0 1 4 ,2 5 1 3 0 ,2 5 1 2 3 ,5 0 4 7 ,7 5 1 2 2 ,2 5 7 0 ,5 0 8 0 ,7 5 9 5 ,2 5 6 6 ,0 0 1 1 3 ,7 5 7 1 ,7 5 Y 5 0 ,5 0 4 8 ,2 5 4 6 ,5 0 3 0 ,2 5 2 9 ,2 5 6 7 ,7 5 5 2 ,0 0 1 2 ,2 5 3 9 ,7 5 5 4 ,2 5 4 6 ,2 5 1 8 ,0 0 7 1 ,7 5 7 2 ,2 5 8 4 ,5 0 4 1 ,0 0 5 1 ,0 0 6 9 ,7 5 1 6 ,2 5 7 1 ,7 5 5 5 ,2 5 7 6 ,0 0 2 7 ,7 5 8 2 ,2 5 5 1 ,7 5 4 5 ,0 0 6 7 ,5 0 1 0 3 ,2 5 3 1 ,7 5 7 4 ,5 0 7 9 ,2 5 4 2 ,5 0 7 1 ,0 0 7 ,5 0 8 8 ,7 5 5 3 ,0 0 N 11 4 8 1 5 11 20 7 7 32 14 4 15 51 3 5 9 1 38 10 8 2 2 7 1 1 8 7 3 10 38 69 7 12 29 42 O rt e S c he n n a S c hla n d e rs S c hlu d e rn s S c hn a ls S e xte n S t . C h ris t in a S t . L e o n h a rd S t . L o re n z e n S t . M a rt in i, P . S t . M a rt in i, T . S t . P a n k ra z S t . U lric h S t erz in g S t i lfs T a u fe r s T e ren t e n T e r la n T i e rs T irol T ie s e n s T o bla c h T ra m in T ru de n U L F -S t . F e lix U lt en V a hrn V illan d e rs V illnö ß V int l V ö ls V ö ra n W aid b ru c k W els b e rg W e l s c h n o fe n W en g e n W olk e n s t e in X 5 8 ,5 0 2 7 ,5 0 1 2 ,5 0 3 7 ,0 0 1 4 6 ,5 0 1 0 0 ,5 0 6 1 ,0 0 1 1 1 ,0 0 6 0 ,2 5 1 1 1 ,7 5 5 1 ,7 5 9 6 ,7 5 7 4 ,0 0 1 0 ,5 0 4 ,0 0 1 0 0 ,7 5 6 4 ,7 5 8 6 ,2 5 5 6 ,0 0 5 8 ,2 5 1 3 6 ,2 5 6 6 ,2 5 7 5 ,2 5 5 5 ,0 0 4 6 ,0 0 9 1 ,5 0 8 6 ,2 5 9 6 ,0 0 9 7 ,2 5 8 4 ,2 5 6 2 ,7 5 8 5 ,2 5 1 2 7 ,5 0 8 8 ,0 0 1 1 4 ,5 0 1 0 3 ,0 0 Y 5 6 ,5 0 4 7 ,2 5 4 9 ,7 5 5 6 ,7 5 6 7 ,5 0 4 6 ,5 0 7 1 ,0 0 7 3 ,0 0 6 7 ,2 5 6 2 ,5 0 4 4 ,5 0 4 8 ,0 0 8 1 ,7 5 4 2 ,2 5 4 6 ,7 5 7 6 ,7 5 4 0 ,0 0 3 5 ,2 5 5 6 ,7 5 4 3 ,0 0 7 0 ,5 0 1 8 ,7 5 1 7 ,7 5 3 5 ,5 0 3 9 ,7 5 6 5 ,7 5 5 2 ,7 5 5 6 ,0 0 7 5 ,0 0 4 0 ,2 5 4 8 ,5 0 4 9 ,0 0 7 2 ,2 5 3 1 ,2 5 6 0 ,0 0 4 6 ,5 0 N 14 21 1 40 20 50 16 1 19 12 13 31 27 40 3 6 3 24 2 6 8 10 8 5 38 3 9 18 13 21 1 4 3 36 4 107 Abb. 2: Excel-Tabelle mit Ortskoordinaten und Unfallhäufigkeit Die Aufgabe der Schülerinnen und Schüler war es nun, eine optimale Position für die drei Hubschrauber zu finden. so einfach auf die Fragestellung bezüglich dreier Hubschrauber übertragen. So haben sie das Gebiet willkürlich in drei Teile geteilt und für jeden dieser Teile den Schwerpunkt unabhängig berechnet. 2 Die dritte Gruppe ist von folgender Fragestellung ausgegangen: Lösungen des Hubschrauberproblems Die Schülerinnen und Schüler haben im wesentlichen drei verschiedene Lösungen angeboten. Eine Gruppe hat sich zum Ziel gesetzt, dass ein Hubschrauber innerhalb von höchstens 20 Minuten am Ziel sein sollte. Sie haben durch Ausprobieren drei Kreise ermittelt, deren Flächen das Gebiet überdecken. Aus dem Internet wurde die zusätzliche Information gewonnen, dass die Geschwindigkeit von Hubschraubern ca. 150 – 200 km/h beträgt. Die Zeit ließ sich sogar auf 16 Minuten reduzieren. Nach eigenen Angaben haben die Schülerinnen und Schüler bei ihrer Lösung die topographischen Besonderheiten und die Unfallhäufigkeit vernachlässigt. Eine zweite Gruppe hat sich die Frage gestellt, wie man am besten die drei Hubschrauber im Verhältnis zur Anzahl der Verletzten und des Flugweges platziert. Sie haben das Problem zunächst auf einen Hubschrauber reduziert und den „Schwerpunkt“ berechnet. Diese Berechnung lässt sich nicht 152 „Wo müssen die drei Hubschrauber innerhalb Südtirols stationiert werden, damit die zurückzulegende Gesamtstrecke, wenn alle Skigebiete einmal angeflogen werden, minimiert wird. (Problem: die Anzahl der Verletzten ist nicht gleichmäßig auf die Skigebiete verteilt. Ein Skigebiet mit 100 Verletzten muss 100x so oft angeflogen werden wie ein Skigebiet mit einem Verletzten. Die Distanz zwischen der Helikopterbasis und dem Skigebiet mit 100 Verletzten müsste also erheblich kleiner sein als die Distanz zwischen der Helikopterbasis und dem Skigebiet mit einem Verletzten.) Ziel ist es also nicht nur die zurückzulegende Gesamtstrecke alleine zu minimieren, sondern die Anzahl der Verletzten in der Rechnung zu berücksichtigen. Hierfür muss die Summe der Produkte aus jeweils der Entfernung zum nächsten Helikopter multipliziert mit der Anzahl der Verletzten in diesem Skigebiet minimiert werden.“ (Original Schülerzitat) Modellierung in der Schule Die Gruppe hat sich zunächst auf einen Hubschrauber beschränkt und das Problem mit Hilfe eines Delphi-Programms gelöst. Sie haben dazu das Gebiet in Pixel aufgeteilt, wie sie durch die Abbildung 1 vorgegeben waren, und für jeden der 19200 Pixel die entsprechende Rechnung durchgeführt und mit den anderen verglichen. Diese Berechnungen können mit einem herkömmlichen PC leicht durchgeführt werden. Bei der Erweiterung auf drei Hubschrauber ergibt sich aber ein Problem. Die Anzahl der Rechnungen wächst auf 192003, was wiederum eine Rechenzeit von ca. 23 Jahren erforderlich machen würde. Dieses Problem wurde von der Gruppe dadurch gelöst, dass nicht mehr alle möglichen Punkte in Betracht gezogen wurden, sondern nur zufällig ausgewählte. Die Schüler konnten dabei eine gewisse Konvergenz erkennen, wie die folgende Abbildung zeigt. Bei den Lösungsversuchen der Schülerinnen und Schülern hat sich gezeigt, dass diese Problemstellung doch zu komplex war. Viele sind über die Formulierung der Fragestellung nicht hinaus gekommen. Andere haben versucht, eine Formel für die Strahlenbelastung auf zu stellen, doch diese Formeln wiesen zum Teil erhebliche Fehler auf. Mehreren Gruppen ist an diesem Beispiel bewusst geworden, dass man ohne Computerbenutzung nicht zu konkreten Lösungen kommen kann. Nur eine einzige Gruppe hat den Versuch einer konkreten Lösung unternommen. Sie haben folgende vereinfachende Annahmen gemacht: 1) Der Tumor ist punktförmig. 2) Das Problem wird nur 2-dimensional behandelt. 3) Man strahlt nur aus 8 symmetrisch verteilten Richtungen. 4) Die Strahlung aus jeder Richtung hinterlässt die gleiche Dosis im Körper, der als kreisförmig angenommen wird. Die exponentielle Abnahme der Strahlung wird berücksichtigt; die Streuung allerdings nicht. Abb. 3: Gesamtflugstrecke in Abhängigkeit von der Anzahl der zufälligen Berechnungen 4 3 Strahlentherapieplanung bei Krebskranken Für dieses Problem gibt es bisher keinen Algorithmus. Vor einer Therapie versucht ein Physiker experimentell durch eine Simulation eine optimale Bestrahlung zu bestimmen. Um eine Tumorzelle zu töten, wird eine Strahlendosis von ca. 70 Gray benötigt. Um eine Gefährdung gesunden Gewebes zu minimieren, muss aus mehreren Richtungen gestrahlt werden. Die Tumorzellen liegen dann in den Schnittpunkten der Strahlen, um so eine hinreichend große Dosis zu erhalten. Wenn sich in der Nähe des Tumors Risikogewebe befindet, ist darauf zu achten, dass dieses mit höchstens 2 – 3 Gray belastet wird. Zu den obigen Bedingungen haben die Schüler ein DelphiProgramm geschrieben, das den Strahlungsanteil jeder Richtung in Abhängigkeit der Lage des punktförmigen Tumors in dem Kreis berechnet. Ausrichtung und Vergleich von Molekülen Bei diesem Problem geht es darum, zwei ähnliche Moleküle zu vergleichen. Mit Hilfe des Programms ViewerLite ist die folgende Abbildung erzeugt worden, die auch den Schülerinnen und Schülern neben dem Programm vorlag. Die beiden unten dargestellten Moleküle zeigen eine gewisse Ähnlichkeit. Das Problem, das sich nun stellt, ist die Frage, wie ähnlich sind die beiden, oder anders ausgedrückt, lässt sich ein Maß für die Ähnlichkeit finden. Diese Frage hat für die chemische Industrie eine große Relevanz, da man oft nach Stoffen sucht, die verglichen mit einem vorgegebenen die gleiche Wirkung haben, für die nur ein Teil des Moleküls verantwortlich ist, aber preiswerter in der Herstellung oder verträglicher sind. 153 Jens Weitendorf mathematischen Gesichtspunkt aus betrachtet am weitesten bezüglich einer Lösung des gestellten Problems vorgedrungen. Besonders bei der einen Gruppe ist deutlich geworden, dass es beim Modellieren wichtig und meistens auch nötig ist, die Kreisläufe mehrmals zu durchlaufen. Dabei ist deutlich geworden, dass der RealiAbb. 4: Die zwei gegebenen Moleküle dargestellt mit ViewerLite tätsbereich und der Bereich der Mathematik Für dieses Problem war nur eine Schülerwahrscheinlich nicht so eindeutig getrennt gruppe zu begeistern. Sie haben aber auch werden können wie das im Modell in (Kaiser keine Lösung gefunden, sondern sich haupt1995) dargestellt ist. sächlich mit dem Programm vertraut gemacht. Ihnen ist bewusst geworden, dass Abbildungsmatrizen einen Lösungsansatz darstellen. Es ist ihnen aber nicht gelungen, ihren Ansatz im dreidimensionalen zu konkretisieren. Das konkrete Material und die Schülerlösungen inklusive der von den Schülern entwickelten Programmen findet man im Internet unter: www.math.uni-hamburg.de/home/ struckmeier/modellierung 5 Literatur und Abbildungen Schlussbemerkungen Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Schülerinnen und Schüler im Rahmen der oben dargestellten Projekte eigenständig mathematische Überlegungen anstellen, ohne dass eine starke Führung notwendig ist. Dies gilt in erster Linie für das Hubschrauberproblem. Die beiden anderen Probleme waren zu komplex, als dass die Schülerinnen und Schüler ohne eine große Hilfestellung von außen, sehr weit gekommen sind. Immerhin war es aber möglich, die Problematik zu erfassen und adäquate Fragestellungen zu entwickeln. Des weiteren hat sich gezeigt, dass man für die konkrete Lösung realitätsbezogener Probleme um einen Einsatz von Rechnern nicht umhin kommt. Als erfolgreich hat sich dabei erwiesen, dass einige Schüler neben der Kenntnis eines CAS auch Programmierkenntnisse hatten. Diese Schüler sind vom 154 Kaiser, Gabriele (1995): Realitätsbezüge im Mathematikunterricht — Ein Überblick über die aktuelle und historische Diskussion. In: Schriftenreihe der ISTRON-Gruppe. Bd. 2. Hildesheim: Franzbecker, 66–84 Abbildungen 1 und 2 wurden von Herrn Prof. Dr. Ortlieb, Hamburg, zur Verfügung gestellt. Abbildung 3 wurde von einer Schülergruppe mit Excel erzeugt. Abbildung 4 wurde von Herrn Mietzner, BASF Ludwigshafen, zur Verfügung gestellt. * Ein Projekt der Universität Hamburg in Zusammenarbeit mit Schulen in Hamburg und Schleswig-Holstein, gefördert durch die Volkswagenstiftung z Grundfragen der Evaluation multimedialen Lernens Gerald Wittmann, Würzburg Der Begriff „Evaluation“ wird im Kontext multimedialen Lernens vielfach verwendet, mit jeweils unterschiedlichen Bedeutungen. Eine einheitliche Begriffsfestlegung gibt es nicht. In diesem Beitrag werden deshalb Grundfragen der Evaluation multimedialen Lernens diskutiert, bezogen sowohl auf Lernsoftware für den Mathematikunterricht als auch auf Forschungsprojekte im Hochschulbereich. 1 Einführung und Begriffsklärung Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Publikationen zur Evaluation multimedialen Lernens, und zwar sowohl Untersuchungsberichte (seit den 80er Jahren) als auch methodologisch orientierte Aufsätze und Lehrbücher (seit den 90er Jahren). Drei Beispiele zeigen die Bandbreite von Konzepten auf, die jeweils hinter dem Terminus „Evaluation“ stehen: • Der Begriff wird einerseits mit einer sehr weiten Bedeutung für jegliche Form der Erhebung von Benutzerdaten verwendet. So sprechen Wottawa & Thierau (1998, 32) von einer „Kontextevaluation“ und meinen damit eine Befragung potentieller Anwender oder eine Erfassung von Rahmenbedingungen, die noch im Umfeld der Projektplanung angesiedelt ist und der eigentlichen Realisierung vorausläuft. • Baumgartner (1997, 132) hingegen hebt besonders die Bewertungsposition hervor und sieht gerade darin eine Abgrenzung der Evaluationsforschung von den klassischen Sozialwissenschaften, die dem Postulat der Wertfreiheit verpflichtet sind: „Entscheidend für Evaluationen ist der Prozeß der Bewertung, d. h. die Bestimmung des Wertes der untersuchten Sache.“ • Schulmeister (2002, 411) konstatiert die „Nicht-Evaluierbarkeit von Multimedia“ und fasst damit seine vernichtende Kritik an den Methoden und Ergebnissen zahlreicher Untersuchungen zur Evaluation multimedialen Lernens zusammen. Obwohl der Terminus „Evaluation“ mit höchst unterschiedlichen Bedeutungen belegt wird, lassen sich dennoch drei Kriterien ausmachen, die als allgemeine Kennzeichen wissenschaftlicher Evaluation angesehen wer- den können (vgl. Wottawa & Thierau 1998, 14): • Evaluation hat — wie schon in der Wortbedeutung von „Evaluation“ erkennbar ist — stets mit einer Bewertung zu tun: „Evaluation dient als Planungs- und Entscheidungshilfe und hat somit etwas mit der Bewertung von Handlungsalternativen zu tun.“ (ebd. 14) • „Evaluation ist ziel- und zweckorientiert. Sie hat primär das Ziel, praktische Maßnahmen zu überprüfen, zu verbessern oder über sie zu entscheiden.“ (ebd. 14) Hierin unterscheidet sie sich von sozialwissenschaftlicher Grundlagenforschung (vgl. Bortz & Döring 1995, 96ff). • Evaluation muss stets dem aktuellen Stand wissenschaftlicher Techniken und Forschungsmethoden genügen (vgl. Wottawa & Thierau 1998, 14). Auch der Begriff „Multimedia“ ist nicht eindeutig zu fassen (vgl. Klimsa 2002; Schulmeister 2002, 19ff). In der Literatur findet man • Definitionen, die sich ausschließlich auf den Medieneinsatz stützen (Multimedia als Zusammenspiel mehrer Medien, egal welcher Art), • Definitionen, die technische Aspekte in den Vordergrund rücken (Multimedia als Einsatz des Computers zur Integration von Text, Bild, Film und Ton), • Definitionen, die sich an den Besonderheiten des Lernprozesses orientieren (multimediales Lernen zeichnet sich durch die Möglichkeit zur Interaktivität und zu einer nicht-linearen Vorgehensweise aus). Auch wird nicht immer deutlich unterschieden, ob letztlich die Software oder das Lernen mit dieser Software evaluiert werden soll (für eine diesbezügliche Klärung vgl. Fricke 2002). 155 Gerald Wittmann 2 Prinzipielle Probleme der Evaluation multimedialen Lernens Die Evaluation multimedialen Lernens bringt einige prinzipielle Probleme mit sich, die bei der Erforschung anderer, „traditioneller“ LehrLern-Formen so nicht gegeben sind. Drei davon werden im Folgenden kurz skizziert: die rasche technische Entwicklung, die Interaktivität und die eingeschränkte Auskunftsfähigkeit von Versuchspersonen bei Befragungen. Rasche technische Entwicklung Die rasche technische Entwicklung im Multimediabereich — in Bezug sowohl auf die Hardware als auch die Software (und damit verbundene Benutzerkonzepte) — kann Probleme bereiten: Da Studien in der Regel unter aktuellen Bedingungen ablaufen, sind sie nach kurzer Zeit überholt. Dies betrifft nicht nur technische Voraussetzungen, sondern auch Vorkenntnisse und -erfahrungen der Testpersonen. Schulmeister (2002, 388) fordert deshalb, „heutige Entwicklungen im Bewußtsein historischer Prozesse, aber auch vor der Folie von Visionen zukünftiger Entwicklungen zu betrachten.“ Aufgrund der raschen technischen Entwicklung ist jegliche Evaluation multimedialen Lernens zudem in hohem Maße anfällig für Neuigkeitseffekte: Neue Hard- und Software sind den Probanden in der Regel nicht bekannt; die Möglichkeit, sie im Rahmen einer Studie kennen zu lernen, bringt häufig eine entsprechend hohe Motivation mit sich. Problematisch ist jedoch auch die Durchführung von Langzeitstudien, von denen man erwartet, dass sie Neuigkeitseffekte ausschalten könnten: Die Rahmenbedingungen ändern sich manchmal so schnell, dass diese Studien bei ihrem Abschluss bereits überholt sind. Interaktivität Als Interaktivität bezeichnet Baumgartner (1997, 133) „die Möglichkeit, daß Benutzer nicht bloß Rezipienten sind, sondern in den medial vermittelten Informations-, Kommunikations- und Lernprozeß gestaltend eingreifen. Dies betrifft sowohl die Gestaltung der Inhalte, ihre Reihenfolge als auch die Zeit, die mit einzelnen Phasen des Prozesses zugebracht wird.“ Das Vorhandensein dieser Interaktionsmöglichkeiten erweist sich als ein entscheidendes Kriterium zur Abgrenzung neuer Medien gegenüber herkömmlichen Medien, bei denen der Lernende nur inner- 156 halb einer linearen Informationsabfolge auswählen kann. Jegliche Form der Interaktivität bringt aber gleichzeitig auch eine Individualisierung von Lernwegen mit sich. Für die Evaluation einer multimedialen Lehr-Lern-Umgebung hat dies folgende Konsequenzen: • Baumgartner (1997, 138; Hervorhebung im Original) zufolge „geht es gerade nicht um die inhaltliche statische Qualität des Materials, sondern darum, wie weit es in der Lage ist, Lernprozesse durch Interaktion anzustoßen und zu unterstützen. Die abstrakte inhaltliche Analyse von Software ist daher wenig sinnvoll.“ Insofern haben auch übliche Kriterienkataloge ihre Grenzen (vgl. 4). • Zudem „ist es beim mediengestützten Lernen gerade wichtig, das Augenmerk der Evaluation nicht nur auf den Lerneffekt einer einzelnen Kurseinheit (Wissenstransfer) zu legen. Das würde bedeuten, im alten Paradigma der (sequentiellen) Vermittlung theoretischen Wissens zu bleiben.“ (ebd. 138). Da eine multimediale Lehr-Lern-Umgebung praktisch unbegrenzt viele Lerninhalte unstrukturiert anbieten kann, muss die Meta-Ebene der individuellen Lernorganisation ebenfalls mit in die Evaluation einbezogen werden. Noch in weitaus höherem Maße stellt sich diese Problematik bei multimedialen LehrLern-Umgebungen, die soziales Lernen ermöglichen oder gar fördern sollen. Auskunftsfähigkeit von Versuchspersonen Bei Befragungen jeglicher Art ist die Validität der Auskünfte, die Versuchspersonen geben, besonders zu prüfen. Wie eine von Schulmeister (2002, 398f) durchgeführte Reanalyse von Untersuchungsberichten zeigt, stimmen beispielsweise die benötigte Lernzeit und die gemessenen Lernerfolge nicht mit den Selbsteinschätzungen der Probanden überein. Mögliche Ursachen hierfür sind typische Neuigkeitseffekte im Bereich multimedialer Lehr-Lern-Umgebungen und eine mangelnde Reflexionsfähigkeit der Versuchspersonen in Bezug auf ihr Lernverhalten. Zudem ist häufig ungeklärt, welche der mittels einer Befragung erhobenen Einstellungen langfristig stabil sind, also nicht dem Einfluss der Versuchsanordnung unterliegen, und welche wirklich auf das Untersuchungsdesign zurückzuführen sind. Relevant sind nicht die Einstellungen als solche, sondern die Frage, inwiefern sie sich unter dem Einfluss der Grundfragen der Evaluation multimedialen Lernens Lehr-Lern-Umgebungen ändern (vgl. ebd. 400). unabhängig voneinander. In der Praxis zeigen sich aber häufig zwei Kombinationen: Akzeptanzstudien (Studien, die der Frage nachgehen, inwieweit Versuchspersonen mit einer bestimmten Lehr-Lern-Umgebung zurecht kommen und sie annehmen) dürfen generell nicht überbewertet werden (vgl. Baumgartner 1999, 205f). Die Akzeptanz einer Lehr-Lern-Umgebung durch die Lernenden ist zwar wichtig, kann jedoch nicht als alleiniger und entscheidender Faktor für deren Bewertung herangezogen werden. • Eine formative Evaluation in Form einer Selbstevaluation liegt vor, wenn Projektmitarbeiter eine von ihnen im Rahmen ihres Projekts entwickelte (und eventuell noch weiter zu entwickelnde) Lehr-LernUmgebung bereits in einem relativ frühen Stadium evaluieren, mit dem Ziel, neue Erkenntnisse für die weitere Entwicklung zu gewinnen. 3 Evaluationsmodelle Im Folgenden werden Kategorien der Evaluation multimedialen Lernens aufgezeigt. Grundsätzlich lassen sich — im Hinblick darauf, welche Rolle der Evaluation bei der Entwicklung einer Lehr-Lern-Umgebung zukommt — zwei verschiedene Evaluationsmodelle unterscheiden (vgl. Bortz & Döring 1995, 106ff; Wottawa & Thierau 1998, 31ff und 62ff): • Eine summative Evaluation oder Produktevaluation findet abschließend statt. Sie dient der Qualitätskontrolle und dem Erkenntnisgewinn. Gegenstand der Evaluation ist die fertiggestellte Lehr-Lern-Umgebung. Es wird verschiedentlich betont, dass eine Evaluation stets auch eine Bewertung der Projektergebnisse nach vorab festgelegten Bewertungskriterien einschließen muss (vgl. Baumgartner 1999, 199ff). • Eine formative Evaluation oder Prozessevaluation wird parallel zur Entwicklung einer Lehr-Lern-Umgebung durchgeführt, mit dem Ziel, diese zu verbessern. Sie dient der Qualitätssicherung, der Ermittlung von Schwachstellen und der Optimierung der Lehr-Lern-Umgebung. Die Ergebnisse der Evaluation fließen also in den noch laufenden Entwicklungsprozess ein. Deshalb wird hier auch von einer Evolution oder von Monitoring gesprochen. • Um eine summative Evaluation in Form einer Fremdevaluation handelt es sich, wenn das Lernen mit bereits auf dem Markt befindlichen Lehr-Lern-Umgebungen evaluiert wird. Ziel der Evaluation ist in der Regel eine Beschreibung und Bewertung des Produkts, eventuell in Verbindung mit einer Charakterisierung möglicher Einsatzgebiete. 4 Evaluationsmethoden Im Folgenden werden fünf Evaluationsmethoden vorgestellt, die in der Praxis nicht selten auch im Sinne einer Methodentriangulation miteinander kombiniert werden. Rezensionen Rezensionen sind subjektive, wenngleich fachlich fundierte Einschätzungen einzelner Personen (Expertenevaluation). Es wird weder ein genau messbares noch ein reproduzierbares Ergebnis erwartet: „Im Gegenteil: Gerade im Verarbeiten von subjektiven Erfahrungen und Einschätzungen besteht der eigentliche Sinn von Softwarerezensionen“ (Baumgartner 2002, 432). Rezensionen beruhen auf den Erfahrungen und dem Fachwissen des Testers. Es handelt sich hierbei stets um eine als Fremdevaluation durchgeführte summative Evaluation. Kriterienkataloge • eine Fremdevaluation „von außen“. Kriterienkataloge können sowohl im Rahmen einer Expertenevaluation (Beurteilung einer Lehr-Lern-Umgebung durch Experten, insbesondere bei der Vergabe von Awards oder Gütesiegeln) als auch bei einer Benutzerbefragung zum Einsatz gelangen. Kriterienkataloge eignen sich sowohl für eine summative, als auch für eine formative Evaluation und können in der Praxis insbesondere Anwendern Entscheidungskriterien für die Anschaffung von Software liefern. Die Frage, ob es sich um summative oder formative Evaluation handelt, und die Frage, wer die Evaluation durchführt, sind prinzipiell Die Vorzüge von Kriterienkatalogen liegen auf der Hand: Ihr Einsatz ist einfach zu organisieren sowie methodisch sauber und nach- Ferner lässt sich danach unterscheiden, wer die Evaluation durchführt, • eine Selbstevaluation wird von Projektmitarbeitern durchgeführt, die schon an der Entwicklung beteiligt sind oder waren, 157 Gerald Wittmann vollziehbar durchzuführen. Es gibt aber auch einige problematische Aspekte (vgl. Fricke 2000): • Experten sind sich häufig weder bei der Auswahl und Gewichtung von Kriterien noch bei der Frage, in welchem Maße diese Kriterien von einer bestimmten Lehr-Lern-Umgebung erfüllt werden, einig. • Da der Lernerfolg, der in einer Lehr-LernUmgebung erzielt wird, von einer Vielzahl von Kriterien und deren Wechselwirkung abhängt, ist die Bedeutung einzelner Kriterien für den Lernerfolg häufig gering (Unterschied von statistischer Signifikanz und praktischer Signifikanz). • In der Regel fehlen empirische Untersuchungen, die die Validität der Kriterien belegen. • Es können differenzielle Methodeneffekte auftreten: Die Effektivität einer Lehr-LernUmgebung ist von den jeweiligen Rahmenbedingungen (z. B. konkrete Lerninhalte, Lernstil der Versuchspersonen) abhängig. Hierdurch wird die Erwartung, dass stabile Zusammenhänge zwischen den von Kriterienkatalogen erfassten Merkmalen einer Lehr-Lern-Umgebung und dem Lernerfolg bestehen, zumindest teilweise zunichte gemacht. Methodenvergleich Im Zuge eines Vergleichs verschiedener Lehr-Lern-Methoden wird in der Regel der Lernerfolg in einer klassischen Versuchsanordnung gemessen (Vortest, Versuchsdurchführung mit Vergleichsgruppen, Nachtest). Der Lernerfolg lässt sich dabei aus der Differenz von Vortest und Nachtest ermitteln. Ein Methodenvergleich erfasst also mit dem Lernerfolg den Kern einer jeden Evaluation multimedialen Lernens, und der „Mehrwert“ multimedialer Lehr-Lern-Umgebungen sollte infolge des Methodenvergleichs klar zu Tage treten. Diese auf den ersten Blick bestechende Eigenschaft wird aber sowohl durch grundlegende forschungsmethodologische Einwände (die sich gegen jegliche Form des Methodenvergleichs richten) als auch durch in der Praxis nicht immer überzeugende, manchmal sogar trivial erscheinende Forschungsergebnisse getrübt (vgl. Schulmeister 2002, 393ff): • Der zu messende Effekt ist in jedem Fall lernzielabhängig: Je stärker die Lernziele ausdifferenziert werden, desto eher sind Unterschiede zwischen Vergleichsgruppen zu erwarten. Je besser ein vorab for- 158 muliertes Lernziel und eine bestimmte Lehr-Lern-Umgebung zusammen passen, desto eher wird diese im Methodenvergleich gut abschneiden. Ferner besteht die Gefahr, dass Zirkeleffekte auftreten: Die Formulierung von Lernzielen und Lernerfolgstests kann die Gestaltung der Lehr-Lern-Umgebung und die Untersuchungsmethodik beeinflussen. • Positive Ergebnisse von Vergleichsstudien sind häufig auf Konfundierungseffekte zurückzuführen: Dem zu untersuchenden Medium wird ein Effekt zugeschrieben, der eigentlich einer anderen, nicht kontrollierten Variablen (z. B. der zugrunde liegenden Methode) zukommt (Verwechslung von Medium und Methode; vgl. Schulmeister 2002, 394f und 402f). Typische nicht kontrollierte Variablen sind der Neuigkeitseffekt, das Engagement der Lehrpersonen oder/und der Vorbereitungsaufwand sowie die individuellen Lernstile der Versuchspersonen. • Als Ausweg erscheint eine Erhöhung der Anzahl der zu kontrollierenden Variablen und damit auch der Vergleichsgruppen. Eine vollständige Differenzierung wird jedoch niemals gelingen, selbst wenn noch so viele Variablen erfasst werden, und eine hochgradige Differenzierung im Variablenbereich nivelliert die zu messenden Effekte der einzelnen Variablen. Jede Erhöhung der Variablenanzahl hat zudem — eine maximale Anzahl von Testpersonen vorausgesetzt — eine Verkleinerung der Gruppengröße zur Folge. • Die Hereinnahme des Lernstils als unabhängiger Faktor hat häufig nicht die gewünschte Wirkung, weil Lernende nicht immer die für sie optimale Lernform wählen. Hier stößt eine Differenzierung nach Lernstilen an ihre Grenzen, insbesondere dann, wenn die Versuchsanordnung bereits eine Menge unterschiedlicher Lernstile unterhalb der kontrollierten Ebene zulässt. Befragung von Versuchspersonen In einer Befragung kommen die Versuchspersonen selbst zu Wort. Für die Durchführung einer Befragung gibt es prinzipiell zwei verschiedene Möglichkeiten: • Schriftliche Befragungen können sowohl in herkömmlicher Form „mit Papier und Bleistift“ als auch mittels Online-Formular erfolgen. Insbesondere letzteres erleichtert in der Praxis die Durchführung der Befragung erheblich. Grundfragen der Evaluation multimedialen Lernens • Interviews bieten im Unterschied zu schriftlichen Befragungen die Möglichkeit des Nachfragens und sind damit häufig tiefgründiger, aber in der Regel weniger standardisiert, was mit einem hohen Arbeitsaufwand bei der Auswertung erkauft wird. Generell liefern Befragungen keine Informationen über den Lernerfolg als solchen, können aber • im Sinne einer „Kontextevaluation“ (Wottawa & Thierau 1998, 32) helfen, die Rahmenbedingungen für ein Projekt abzustecken, in dem beispielsweise Vorkenntnisse und -erfahrungen der Versuchspersonen erhoben werden; • Aufschluss über das Verhalten von Versuchspersonen im Umgang mit der LehrLern-Umgebung geben, indem hierfür relevante Daten (z. B. Nutzungsdauer) abgefragt werden; • motivationale und andere affektive Faktoren des multimedialen Lernens aufzeigen, die in Beschreibungen und Erzählungen der Versuchspersonen zu Tage treten. Befragungen können unabhängig von der Art der Durchführung quantitativ oder qualitativ ausgewertet werden (für entsprechende Verfahren der quantitativen oder qualitativen Inhaltsanalyse bzw. Interpretation vgl. Bortz & Döring 1995). Zu beachten ist dabei, dass es sich um Selbstauskünfte der Versuchspersonen handelt, deren Validität zu prüfen ist (vgl. 2). Beobachtung von Versuchspersonen Um die Beobachtung von Versuchspersonen im Umgang mit der Lehr-Lern-Umgebung zu fixieren, zu archivieren und einer späteren Auswertung zugänglich zu machen, existieren prinzipiell zwei verschiedene Möglichkeiten, die häufig auch miteinander kombiniert werden: • Eine Videoaufzeichnung von Versuchspersonen vor dem Computer zeigt, wie eine oder mehrere Versuchspersonen mit der Lehr-Lern-Umgebung arbeiten. Einzelarbeit vor dem Bildschirm wird häufig mit der Methode des lauten Denkens kombiniert, während in Gruppenarbeitsphasen meist die Gespräche der Gruppenmitglieder aufgenommen werden. • Bildschirmprotokolle (z. B. mit Lotus Screencam) oder Log-Files (z. B. von Serverzugriffen) spiegeln sowohl die Vorgaben der Lehr-Lern-Umgebung als auch die darauf erfolgenden Reaktionen der Versuchspersonen wider. Beobachtungen von Versuchspersonen können • der Erhebung begleitender Daten dienen (Bildschirmprotokolle und Log-Files), • Benutzerkonzepte aufzeigen, • fallstudienartig Einblicke in Aspekte des eigentlichen Lernprozesses vor dem Computer geben (Videoaufzeichnungen). Jede Beobachtung von Versuchspersonen zieht eine aufwändige Auswertung nach sich: Es gilt, eine geeignete informationsreduzierende und -sortierende Form der Transkription oder Codierung zu finden, die eine Kategorienbildung ermöglicht. 5 Evaluation am Beispiel eines BMBF-Projekts Wie eine Evaluation multimedialen Lernens in der Praxis durchgeführt werden kann, welche Chancen sie in sich birgt und wo sie an Grenzen stößt, wird nun an einem konkreten Beispiel aufgezeigt. Projektbeschreibung Im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbundprojektes „Entwicklung einer dezentralen internetbasierten Lehr-Lern-Umgebung für das Lehramtsstudium Mathematik“ wird derzeit an der Universität Würzburg eine Wissensbasis zur Didaktik der Geometrie erarbeitet. Sie soll zur Ergänzung einer gleichnamigen Lehrveranstaltung eingesetzt werden und Studierenden das Nacharbeiten von Lehrveranstaltungen sowie das Selbststudium kleinerer Teil- oder Themenbereiche ermöglichen. Dabei sollen die Möglichkeiten des Mediums „Internet“ gezielt genutzt werden. Es geht deshalb nicht nur um die Erstellung der Wissensbasis, sondern auch darum, Wege aufzuzeigen, wie dieses Medium in der Lehrerausbildung sinnvoll genutzt werden kann (vgl. Ludwig & Wittmann 2001). Die Wissensbasis zur Didaktik der Geometrie ist in verschiedene Module gegliedert, die sich einerseits mit jahrgangsstufen- und inhaltsübergreifenden Leitlinien oder Aspekten des Geometrieunterrichts befassen (z. B. Beweisen und Argumentieren, Konstruieren), andererseits jahrgangsstufen- und inhaltsspezifisch einzelne Teilgebiete des Geometrieunterrichts behandeln (z. B. Raumgeometrie in Klasse 5/6). Die einzelnen Module können wiederum aus mehreren Teilmodulen bestehen. Jedes Mo- 159 Gerald Wittmann dul bzw. Teilmodul ist einheitlich strukturiert und enthält folgende Elemente: Eine kurze Übersicht, Theorie (zur Didaktik der Geometrie), Beispiele (mit Unterrichtsbezügen), Übungen und Aktivitäten für die Studierenden sowie Materialien zum Download, Literaturhinweise und Links. Einen besonderen Schwerpunkt bilden die Übungen und Aktivitäten, die ein breites Spektrum umfassen: Es gibt Arbeitsaufträge, • die interaktiv direkt am Computer bearbeitet werden können; • die nicht unmittelbar am Computer stattfindende Aktivitäten fordern (z. B. Anfertigen und Ausprobieren von Lernmitteln, Analysieren von Schülertexten); • die Impulse für Diskussionsbeiträge von Studierenden entweder im Rahmen traditioneller Seminare oder in virtuellen Diskussionsforen liefern (vgl. Weigand 2001). Evaluation Die im Rahmen des Projekts durchgeführte Evaluation folgt dem Modell der formativen Evaluation: Sie dient einerseits der Weiterentwicklung der Wissensbasis und anderseits der Konzeption entsprechender Lehrveranstaltungen, in denen die Wissensbasis eingesetzt werden kann — beide Aspekte stehen in engem Zusammenhang. Eine erste Akzeptanzstudie fand bereits statt (vgl. Ludwig & Wittmann 2001). Die Ergebnisse lassen sich in zwei Punkten zusammenfassen: • Die Gestaltung der Seiten und der Stil der Texte stießen durchweg auf sehr positive Resonanz. Das authentische Bildmaterial wird von den Studierenden aufgrund des Praxisbezugs geschätzt und wirkt — wie auch die Animationen — motivierend. • Die Frage, mit welchem Medium die Studierenden lieber arbeiten würden, wurde sehr differenziert beantwortet: Die Studierenden würden die Wissensbasis zur Einführung in ein Stoffgebiet u. a. wegen der medialen Vielfalt einem Skript vorziehen, zu einer intensiveren Arbeit und zur Prüfungsvorbereitung aber doch lieber mit einem traditionellen Skript oder einem Buch arbeiten. Etwaige Erwartungen (oder Befürchtungen) einer ungebremsten Euphorie unter den Studierenden in Bezug auf neue Medien treffen demnach nicht zu. Die Akzeptanzstudie lieferte einen wichtigen Beitrag für die weitere Ausgestaltung der Wissensbasis. Die internetgestützte Wissensbasis wird auch langfristig keineswegs Fachzeitschriften und Lehrbücher ersetzen, 160 sondern diese ergänzen. Ein Themenbereich muss und kann dort nicht erschöpfend abgehandelt werden, vielmehr steht ein motivierender und problemadäquater Zugang zur Didaktik der Geometrie im Vordergrund. Eine ausführlichere Praxisstudie startet demnächst. Die Wissensbasis wird im WS 2002/03 in die übliche Lehrveranstaltung „Didaktik der Geometrie“ integriert. Die Lehrveranstaltung ist aufgrund der Rahmenbedingungen gegliedert in Vorlesung und Übung (je 2-stündig). Diese Veranstaltungen bleiben im Wesentlichen erhalten und spielen die Rolle von Präsenzphasen. Die virtuellen Phasen beinhalten in erster Linie die individuelle Vor- und Nachbereitung von Lehrveranstaltungen. Einzelne Lehrveranstaltungen (insbesondere Übungen) können auch am Computer stattfinden; es bleibt im Einzelfall zu entscheiden, ob als Präsenzphase („Tutoring“) oder als virtuelle Arbeitsphase. Die Evaluation der Veranstaltung muss bei den Zielen der Veranstaltung ansetzen. Die Problematik für die Evaluation liegt nun gerade darin, dass diese nur teilweise „Wissensziele“ sind (z. B. „Kenntnis von Zielen, Inhalten und Methoden des Geometrieunterrichts“). Insbesondere diejenigen Lernziele, die sich am Einsatz der multimedialen Wissensbasis festmachen lassen, und die die Lehrveranstaltung von einer „üblichen“ Vorlesung mit Übung unterscheiden, beziehen sich primär auf Einstellungen (z. B. „Erwerb eines reflektierten Bildes von Geometrie und Geometrieunterricht“). Im Einzelnen werden folgende Evaluationsinstrumente herangezogen: • Die Diskussionsbeiträge von Studierenden im Online-Diskussionsforum werden ausgewertet im Hinblick darauf, wie die Studierenden argumentieren, ob ihre Argumentationen einen Bezug zu den in der Wissensbasis zur Verfügung gestellten Materialien (also den „Lernangeboten“) erkennen lassen und welchen Reflexionsgrad die Argumentation aufweist. • Ähnliches gilt für eine gegen Ende der Lehrveranstaltung stattfindende OnlineKlausur, die gleichzeitig eine wesentliche Grundlage für den Leistungsnachweis liefert. • Online-Fragebögen erfassen zeitnah das Lern- und Arbeitsverhalten der Studierenden und können sofortige Rückmeldungen über die Akzeptanz der Wissensbasis und ihrer Inhalte (etwa auch Umfang und Schwierigkeitsgrad der zu bearbeitenden Grundfragen der Evaluation multimedialen Lernens Aufgaben) sowie über eventuell damit auftretende Probleme geben. • Die Auswertung von Log-Files liefert begleitende Informationen über die Nutzung der Wissensbasis durch Studierende. Sie dient zum Teil auch der Validierung der Selbstauskünfte der Studierenden. • Mit den Studierenden geführte offene Interviews beziehen sich auf deren Lernerfahrungen. In Ergänzung zu den OnlineFragebögen erlauben sie ein Nachfragen bei individuellen Besonderheiten und können damit tiefer gehende und auf den Einzelfall bezogene Erkenntnisse liefern. Insbesondere können die Studierenden auch Aspekte ansprechen, die von den Entwicklern nicht antizipiert wurden. Die geplante Evaluation erfasst wichtige Aspekte davon, wie Studierende ihr eigenes Lernverhalten im Rahmen einer solchen Lehr-Lern-Umgebung beschreiben, wie es tatsächlich abläuft und worin Unterschiede zwischen Selbsteinschätzung und tatsächlichem Ablauf bestehen. Ein weiterhin offenes Problem bleibt allerdings die Erfassung von Lernerfolgen und deren Bewertung. Die internetgestützte Wissensbasis bildet nur einen Teil der Lerngelegenheiten im Rahmen der gesamten Lehrveranstaltung, und die Lehrveranstaltung ist wiederum ein Baustein im Studium der Mathematikdidaktik. Welche langfristigen Lernprozesse hier angestoßen werden, lässt sich — zumindest vorerst im Rahmen einer formativen Evaluation — nicht erheben. Literatur Baumgartner, P. (1997): Evaluation vernetzten Lernens: 4 Thesen. In: Simon, H. (Hrsg.) (1997): Virtueller Campus. Forschung und Entwicklung für neues Lehren und Lernen. Münster: Waxmann, 131–146 Baumgartner, P. (1999): 10 Todsünden in der Medienevaluation interaktiver Lehr- und Lernmedien. In: Lehmann, K. (Hrsg.) (1999): Studieren 2000. Alte Inhalte in neuen Medien? Münster: Waxmann, 199–220 Baumgartner, P. (2002): Pädagogische Anforderungen für die Bewertung und Auswahl von Lernsoftware. In: Issing & Klimsa (2002), 427– 442 Bortz, J. & Döring, N. (1995): Forschungsmethoden und Evaluation für Sozialwissenschaftler. Berlin, Heidelberg, New York: Springer Fricke, R. (2000): Qualitätsbeurteilung durch Kriterienkataloge. Auf der Suche nach validen Vorhersagemodellen. In: Schenkel, P., Tergan, S.O. & Lottmann, A. (Hrsg.) (2000): Qualitätsbeurteilung multimedialer Lern- und Informationssysteme. Nürnberg: BW Bildung und Wissen, 164–189 Fricke, R. (2002): Evaluation von Multimedia. In: Issing & Klimsa (2002), 445–463 Issing, L. J. & Klimsa, P. (Hrsg.) (2002): Information und Lernen mit Multimedia und Internet. Lehrbuch für Studium und Praxis. 3. Aufl. Weinheim: Beltz PVU, 427–442 Klimsa, P. (2002): Multimedianutzung aus psychologischer und didaktischer Sicht. In: Issing & Klimsa (2002), 5–17 Ludwig, M. & Wittmann, G. (2001): Eine internetgestützte Wissensbasis zur Didaktik der Geometrie. Entwicklung und Pilotstudie. In: mathematica didactica 24, 82–92 Schulmeister, R. (2002): Grundlagen hypermedialer Lernsysteme. Theorie – Didaktik – Design. 3. Aufl. München: Oldenbourg Weigand, H.-G. (2001): Internet-gestützte Kommunikation in der Lehramtsausbildung. In: Journal für Mathematik-Didaktik 22, 99–122 Wottawa, H. & Thierau, H. (1998): Lehrbuch Evaluation. 2. Aufl. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Verlag Hans Huber Dieser Beitrag entstammt dem Verbundprojekt „Entwicklung einer dezentralen internetbasierten Lehr-Lern-Umgebung für das Lehramtsstudium Mathematik“, das vom BMBF im Rahmen des Programms „Neue Medien in der Bildung“ gefördert wird. Am Verbundprojekt sind neben der Universität Würzburg (Projektleitung: Prof. Dr. HansGeorg Weigand) die Universitäten Münster und Erlangen-Nürnberg sowie die TU Braunschweig beteiligt. 161 Gruppentheorie — anschaulich mit dem Computer z Bert Zimmer, Karin Richter & Wilfried Herget, Halle a. d. Saale Die Erstellung von Lehrmaterialien für die universitäre Mathematikausbildung insgesamt und von Lehr- und Lernprogrammen im Besonderen stellt hohe Anforderungen an die Veranschaulichung der abstrakten Inhalte. Der Artikel diskutiert Konsequenzen für die Veranschaulichung, die sich aus mathematischen Sachverhalten einerseits und dem Einsatz neuer Medien andererseits ergeben. Es wird ein Lernmodul zur Molekülsymmetrie vorgestellt, mit dem grundlegende gruppentheoretische Inhalte speziell für das Internet aufbereitet und veranschaulicht werden. 1 Einleitung Zweifellos ist ein gruppentheoretisch orientierter, axiomatischer Aufbau für die Strukturierung in der Mathematik und in den Naturwissenschaften durchaus wertvoll — liefert er doch eine sichere, in sich schlüssige und elegante Ausgangsbasis für alle weiteren Überlegungen. Allerdings stehen die Studierenden bei der Erarbeitung der abstrakten Gruppenbegriffe vor großen Hindernissen. Bereits in seinen Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert schreibt Felix Klein in Bezug auf die abstrakte Definition der Gruppe über die Festlegung der Gruppenaxiome: „Andererseits wird die Sache für den Lernenden dadurch innerlich sehr erschwert, daß er vor etwas Abgeschlossenes gestellt wird und nicht weiß, wieso man überhaupt zu diesen Definitionen kommt, und daß er dabei sich absolut nichts vorstellen kann.“ (Klein 1926, 335) Die moderne universitäre Mathematikausbildung wird geprägt von dem Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Exaktheit, Anwendungsfähigkeit und Zugänglichkeit. Als erschwerend für das Verständnis erweist sich der abstrakte Charakter, der — von Ausnahmen abgesehen — in den mathematischen Inhalten der universitären Lehre dominiert. Die Erstellung von Lehrmaterialien und von Lehr- und Lernprogrammen für die universitäre Ausbildung birgt daher große Herausforderungen in sich. Einer dieser Herausforderungen, der Veranschaulichung abstrakt-mathematischer Inhalte, wird sich der Artikel im Folgenden zuwenden. Als Gegenstand der Veranschaulichung stehen dabei grundlegende gruppentheoretische Inhalte und die wissenschaftsstrukturierende Anwendung gruppentheoretischer Prinzipien im Blickpunkt. Der vorliegende Artikel besteht aus drei Teilen: Im ersten Teil wird der Begriff Veran- 162 schaulichung diskutiert und die schematische Veranschaulichung als besondere Form der Veranschaulichung abstrakt-mathematischer Inhalte untersucht. Der zweite Teil diskutiert Möglichkeiten und Grenzen des Veranschaulichens mit neuen Medien. Der dritte Teil stellt ein Internet-Lernmodul zur Symmetrie molekularer Strukturen vor, in dem grundlegende Inhalte der Gruppentheorie speziell für das Internet aufbereitet wurden. Neben der Diskussion des inhaltlichen Konzepts des Lernmoduls wird unter anderem beispielhaft erörtert, wie sich die Funktionalitäten des neuen Mediums Computer auf die Veranschaulichung abstrakt-mathematischer Inhalte auswirken. 2 Über die Veranschaulichung abstraktmathematischer Inhalte 2.1 Zum Begriff der Veranschaulichung Der Begriff Veranschaulichung unterliegt in der fachdidaktischen Diskussion verschiedenen Bedeutungszuweisungen. Eher lernpsychologische Begriffsauffassungen verknüpfen Veranschaulichung mit der Entwicklung mathematischer Anschauung und betrachten Veranschaulichung als individuellen inneren Prozess der lernenden Person, vgl. diesbezüglich etwa (Bauersfeld 1983) und (Profke 1994). Da es uns darum geht, Lehrmaterialien für das bessere Verständnis gruppentheoretischer Inhalte zu untersuchen, soll Veranschaulichung hier dagegen auf die Darstellung und Präsentation mathematischer Inhalte beschränkt werden. Diese Auffassung folgt dem umgangssprachlichen Tenor des Begriffes und findet sich auch in der Literatur. So bezeichnet Claus die „bildliche (ikonische) Gruppentheorie — anschaulich mit dem Computer Präsentation mathematischer Sachverhalte“ (Claus 1989, 46) als Veranschaulichung. Wille kennzeichnet das „Veranschaulichen bekannter mathematischer Sachverhalte oder Problemstellungen“ als einen der Aufgabenbereiche, in die „praktisch jedes anschaulich mathematische Arbeiten einzuordnen ist“, und setzt diesen Aufgabenbereich mit dem „Finden anschaulicher Darstellungen gegebener mathematischer Inhalte“ gleich (Wille 1982, 41). So gesehen stellt sich Veranschaulichung als Transfer eines mathematischen Sachverhaltes von der Inhaltsebene in die Darstellungsebene dar, wobei im Idealfall der abstrakte Charakter des mathematischen Sachverhaltes in einen anschaulichen Charakter wechselt. Veranschaulichung kann jedoch nicht losgelöst von den Lernenden erfolgen und lässt sich auch nicht allein auf einen Transferprozess beschränken. Grundsätzlich wird das Veranschaulichungsangebot an den vermutlichen Vorstellungen (Vorkenntnisse, Erwartungen und Erfahrungen) der Lernenden orientiert und entsprechend ausgerichtet (Abb. 1). ist. Dazu bezieht sie die ihr bekannten Vorkenntnisse und Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler ein, zugleich orientiert sie ihre Vorstellung (was anschaulich ist und was veranschaulichend wirkt) an den vermutlichen Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler und variiert ihre Veranschaulichung entsprechend (vgl. auch Profke 1994, 27). Im Unterricht agiert die Lehrkraft veranschaulichend unter Zuhilfenahme von verschiedenen Unterrichtsmedien. Die tatsächliche Reaktion der Lernenden auf die Veranschaulichung (Wirken oder Nichtwirken der Veranschaulichung) führt zu einer reagierenden Korrektur der Veranschaulichung, mit der spontan die Darstellung der Lerninhalte an den Vorstellungen der Lernenden genauer ausgerichtet wird. Es entsteht ein Anpassungsprozess, bei dem das Veranschaulichungsangebot sukzessive individuell (weiter-) entwickelt wird. Es lässt sich deshalb in diesem Zusammenhang von einer individualisierten Veranschaulichung sprechen (Abb. 2). Eine solche regulative Möglichkeit der Veranschaulichung steht bei der Veranschaulichung für das Lehren mit neuen Medien nicht ohne Weiteres und nur eingeschränkt zur Verfügung: Das Lehren mit neuen Medien beabsichtigt und ermöglicht, mathematische Inhalte für Lernende unterschiedlichster Voraussetzungen aufzubereiten. Daher kann die Lehrkraft die Veranschaulichung der mathematischen Inhalte nur ihren eigenen Erwartungen von den Vorstellungen der Lernenden entsprechend anpassen. Andererseits ist die unmittelbare individuelle Reaktion der Lernenden auf die Veranschaulichung nicht ohne Weiteres verAbb. 1: Veranschaulichung als Transfer von der Inhaltsebene auf die Darstelfügbar und geeignet auslungsebene, bei dem der abstrakte Charakter des mathematischen Sachverhalts einen anschaulichen Charakter annimmt, und Orientieren an den wertbar. Die Lehrmateriavermutlichen Vorstellungen der Lernenden. lien müssen also von vornherein ein breites SpekVeranschaulichung spielt zweifellos eine weSpektrum an Veranschaulichungsangeboten sentliche Rolle im Rahmen des Lehr- und offerieren, das der Vielschichtigkeit des Lernprozesses — sowohl bei der Erarbeitung menschlichen Lernens gerecht zu werden von Lehrmaterialien als auch in der einzelversucht. Mit anderen Worten: Die Lehrkraft nen, konkreten Unterrichtssituation. generalisiert ihre Orientierung an den verSo kann man davon ausgehen, dass eine mutlichen Vorstellungen der Lernenden, es Lehrkraft den mathematischen Inhalt so auffindet eine generalisierte Veranschaulichung bereitet, dass es nach ihrer Vorstellung für statt (Abb. 2). ihre Schülerinnen und Schüler anschaulich 163 Bert Zimmer & Karin Richter & Wilfried Herget Abb. 2: Individualisierte Veranschaulichung als individueller Anpassungsprozess des Veranschaulichungsangebots im Unterricht (linke Seite). Generalisierte Veranschaulichung beim Lernen (rechte Seite) sollte aus verschiedenen Veranschaulichungsangeboten bestehen, die den unterschiedlichen Formen des Lernens gerecht werden. 2.2 Gegenstand der Veranschaulichung „Das Lernen von Mathematik durch einen Menschen besteht neben der Entwicklung von Fertigkeiten ganz allgemein gesprochen darin, in immer vollständigerer Form und größerer Tiefe wie Breite mathematische Begriffe zu entwickeln …“ (Dörfler 1983, 44) Bei der nachfolgenden Betrachtung der mathematischen Inhalte als Gegenstand der Veranschaulichung steht die axiomatische Auffassung der Mathematik im Blickpunkt. Diese Fokussierung ergibt sich zwangsläufig aus der engeren Betrachtung gruppentheoretischer Inhalte und des axiomatischen Aufbaus der Gruppentheorie. Die Suche nach der Struktur mathematischer Inhalte führt zu den mathematischen Begriffen. Unabhängig von der fachdidaktischen Diskussion über die Wesensart mathematischer Begriffe — Claus z. B. stellt die Merkmale (Eigenschaften) des Begriffes in den Vordergrund (Claus 1989, 110), Dörfler dagegen hebt die mit dem Begriff verbunden Handlungen und Beziehungen als wesensbestimmend hervor (Dörfler 1983, 47f) — bilden mathematische Begriffe Bausteine der mathematischen Theorie. Begriffe stehen in Beziehungen zueinander, sie bilden eine vernetzte Begriffsstruktur. Die Beziehungen zwischen den Begriffen werden als mathematische Regeln verstanden. Regeln, das sind „Aussagen (Axiome und Sätze), Definitionen, Kalküle und Handlungsanweisungen“ (Claus 1989, 119). Die Gesamtheit der Begriffsstruktur und der sie durchdringenden Regeln bildet die ma- 164 thematische Theorie. Abkürzend lässt sich dieser Zusammenhang als ein Beziehungsgefüge Begriffe – Regeln – Strukturen – Theorie charakterisieren. Während in der Schulmathematik hauptsächlich die Veranschaulichung von Begriffen und von Regeln praktiziert wird, tritt spätestens in der Mathematik der universitären Lehre die Veranschaulichung der hierarchischen Begriffsstruktur und die Veranschaulichung einer ganzen Theorie hinzu. Begründet wird dieses aus dem Charakter der vermittelten Mathematik: In der Schule sind überwiegend empirische mathematische Inhalte vorherrschend; nur vereinzelt kommt es zur Darstellung mathematischer Theorien in der Komplexität, die den Lernenden während der universitären Mathematikausbildung begegnet. Aus diesem Grund besitzt die schematische Veranschaulichung für die universitäre Lehre einen besonders hohen Stellenwert. Die Struktur abstrakter Begriffe und der sie verbindenden Regeln (für die eine direkte Veranschaulichung kaum möglich erscheint) lässt sich durch eine Schematisierung bildhaft darstellen (s. Abb. 3) und somit veranschaulichen. Natürlich muss die bei einer Schematisierung i. d. R. erforderliche Vereinfachung auch kritisch hinterfragt werden. Mit der Schematisierung komplexer Begriffsstrukturen ist eine zweistufige Veranschaulichung verbunden. Zum einen werden die einzelnen Begriffe veranschaulicht durch die Darstellung und Einordnung ihrer Position in die Begriffshierarchie. Des Weiteren erfährt die inhaltliche Vernetzung der Begriffe eine Veranschaulichung durch die Darstellung als Beziehungsgefüge. Über das zusätzliche dy- Gruppentheorie — anschaulich mit dem Computer Abb. 3: Schematische Veranschaulichung der Struktur grundlegender gruppentheoretischer Begriffe. Die inhaltliche Strukturierung ergibt sich aus dem Kontext des Lehrmaterials zur Molekülsymmetrie, dem das Schema entstammt. Die farbige Abstufung kennzeichnet die mathematischen Inhalte, deren Kenntnis für das Verständnis des Symmetriekonzepts unerlässlich ist bzw. deren Kenntnis vertiefenden Charakter aufweist. Die dargestellten Beziehungen veranschaulichen systematisierende Zusammenhänge des Lehrmaterials (z. B. werden vertiefende Isomorphiebetrachtungen u. a. mit Hilfe von Verknüpfungstafeln vermittelt). namische Moment durch die Verwendung neuer Medien wird nachfolgend noch zu berichten sein. 3 Über die Veranschaulichung mit neuen Medien Der Begriff der neuen Medien wird in großem Maße von der technischen Entwicklung geprägt. War vor 20 Jahren der Mathematikfilm ein viel diskutiertes neues Medium, liegt der Blickpunkt heute eher auf dem Lehr- und Lernmedium Internet. Während die technische Entwicklung die Welt der Lernmedien regelmäßig mit einer ständig zunehmenden Funktionalität geradezu revolutioniert, gelingt es nur sehr schwer, die neuen Medien so zu nutzen, dass der Wissenserwerb für die Lernenden sowohl vereinfacht, als auch intensiviert wird. Bereits in (Zimmer 2002a) wurden dafür mehrere Gründe dargelegt: Der Umgang mit veränderten Medien erfordert auch die Veränderung bestehender didaktischer Konzepte. Ein abstrakt-mathematischer In- halt wird i. d. R. nicht bereits dadurch weniger abstrakt, dass er mit einem neuen Medium dargestellt wird. Es bedarf eines neuen didaktischen Konzepts, um die Spezifika der neuen Medien derart zu nutzen, dass der mathematische Inhalt eine innovative Form der Veranschaulichung erfährt. Regelmäßig erweist sich, dass auch bei dem Einsatz neuer Medien die konventionellen didaktischen Probleme bestehen (Zimmer 2002a). Für eine Diskussion über die Veranschaulichung mit neuen Medien empfiehlt sich daher sehr, zuvor die konventionellen Medien auf ihre Veranschaulichungsfunktion und Veranschaulichungsmöglichkeiten zu untersuchen, um anschließend die mit den neuen Medien verbundenen Fortschritte und Einschränkungen würdigen zu können. 3.1 Veranschaulichung mit konventionellen Medien Jede Veranschaulichung ist an die Sinnwahrnehmung der Lernenden gebunden. Aus der auditiven, visuellen und haptischen Wahrnehmung lässt sich ein Schema entwickeln (Abb. 4), das die hauptsächlich zur Veranschaulichung mathematischer Inhalte genutzten konventionellen Medien zuordnet. Die Bedeutung der einzelnen Medien für die jeweilige Veranschaulichung wird Abb. 4: Konventionelle Medien, mit deren Hilfe Mathematik veranschaulicht wird. 165 Bert Zimmer & Karin Richter & Wilfried Herget geprägt durch den mathematischen Gegenstand, der zu veranschaulichen ist. Eine umfänglichere Kategorisierung der Veranschaulichungsmedien findet sich u. a. bei (Peterssen 1994). 3.2 Erweiterte Möglichkeiten der Veranschaulichung Der Computer als Moderator der neuen Medien ist ebenso an die menschliche Sinneswahrnehmung und wohl auch an die gebräuchlichen Darstellungsmöglichkeiten gebunden. Deshalb lässt sich die Veranschaulichung mit neuen Medien grundsätzlich auf die Veranschaulichung mit konventionellen Medien zurückführen. Eine genaue Analyse der konventionellen und neuen Medien im Hinblick auf ihre veranschaulichende Wirkung offenbart daher keine qualitativ neue Darstellungsform. Dennoch erweitern die neuen Medien mit ihrer optimalen Ausnutzung und vernetzenden Organisation der konventionellen Medien die Möglichkeiten zur Veranschaulichung. Eine Veranschaulichung mit konventionellen Medien betont jeweils einen einzelnen Veranschaulichungsaspekt: Ein Bild veranschaulicht durch ikonische Darstellung, eine verbale Beschreibung eines Sachverhaltes veranschaulicht durch Sprache oder durch Schrift (Abb. 5, linke Seite). Veranschaulichungen mit konventionellen Medien sind eingeschränkt miteinander kombinierbar: In einem Lehrbuch kann die Veranschaulichung durch ein Bild gekoppelt werden mit der Veranschaulichung durch einen beschreibenden Text. Das heißt, mehrere Veranschaulichungsangebote treten gleichzeitig und parallel auf (Abb. 5, Mitte). Anders dagegen die Veranschaulichung mit neuen Medien: Eine Veranschaulichung mit neuen Medien kombiniert nicht nur mehrere konventionelle Medien in einem Veranschaulichungsangebot, sondern vernetzt diese zusätzlich untereinander (Abb. 5, rechte Seite). Bilder, Texte, Schemata usw. können miteinander in Wechselwirkung treten, wie später am Beispiel der so genannten dynamischen Medien-Korrelationen deutlich wird. Eine Veranschaulichung mit konventionellen oder mit neuen Medien hat unmittelbare Auswirkungen auf den in den Vorstellungen der Lernenden ablaufenden Lernprozess. Die Veranschaulichung mit konventionellen Medien trägt dabei vorwiegend monodirektionalen Charakter: Die Lernenden erfahren die Wirkung des Veranschaulichungsangebots und beziehen sie in ihren Lernprozess mit ein. Eine Rückwirkung auf die Veranschaulichung selbst ist eher gering: Ein Modell kann von verschiedenen Seiten betrachtet, ein Bild kann ausgemalt, ein Text kann laut und leise gelesen werden (Abb. 6, linke Seite). Ähnli- Abb. 5: Die Veranschaulichung mit konventionellen und neuen Medien. Bei der Veranschaulichung mit konventionellen Medien wird zumeist ein Veranschaulichungsaspekt betont (links). Veranschaulichungen mit konventionellen Medien sind eingeschränkt miteinander kombinierbar (Mitte). Bei der Veranschaulichung mit neuen Medien werden die konventionellen Medien vernetzt und treten in Wechselwirkung zueinander (rechts). Abb. 6: Die Wirkung und Rückwirkung der Veranschaulichung mit konventionellen und neuen Medien auf den Lernprozess 166 Gruppentheorie — anschaulich mit dem Computer ches tritt auch bei der Kombination mehrerer Veranschaulichungen mit konventionellen Medien zu Tage: Die Lernenden können zwar verschiedene Veranschaulichungsangebote in ihren Lernprozess integrieren (entweder ein Bild im Buch betrachten oder den beschreibenden Text verinnerlichen oder beides nacheinander), dennoch überwiegt die monodirektionale Wirkung der Veranschaulichungskombination auf den Lernprozess (Abb. 6, Mitte). Die Veranschaulichung mit neuen Medien besitzt dagegen einen bidirektionalen Charakter: Die Lernenden integrieren das Veranschaulichungsangebot in ihren Lernprozess; gleichzeitig aber können sie auf das Veranschaulichungsangebot einwirken und es ihren individuellen Vorstellungen entsprechend anpassen. Zusätzlich ermöglichen die neuen Medien eine individuelle Neuorganisation des der Veranschaulichung zugrunde liegenden Mediennetzes in Abhängigkeit von der jeweiligen Lernsituation (Abb. 6, rechte Seite). 3.3 Möglichkeiten und Grenzen der Veranschaulichung Sowohl die erweiterten Möglichkeiten, als auch die Grenzen der Veranschaulichung mit neuen Medien lassen sich verdeutlichen, wenn die neuen Medien in Verbindung zu solchen (Un-) Worten wie Interaktivität, Dynamisierung und Individualisierung gesetzt werden: • Lernende reagieren üblicherweise auf die jeweiligen Angebote der — herkömmlichen und neuen — Medien gleich: Wenn ich einen Satz im Buch nicht gleich verstehe, lese ich ihn noch einmal (oder lege das Buch vielleicht ganz zur Seite). Für die konventionellen Medien aber gilt, dass sie in der Regel nicht umgekehrt auch auf die Lernenden reagieren können. Dies ist bei neuen Medien in deutlich größerem Umfang möglich: Das Lernmedium kann (im Prinzip) auf die Rückmeldungen (das Verhalten) der Lernenden reagieren. Wille sprach bereits 1982 in Verbindung mit Computergrafik von einer „Rückgewinnung der Spontaneität … durch freies interaktives Arbeiten“ (Wille 1982, 70). Interaktivität ist dabei also bidirektional aufzufassen: Das Lernmedium reagiert auf die Lernenden. • Die Veranschaulichung mit allen — herkömmlichen und neuen — Medien kann dynamischen Charakter tragen. Mit den neuen Medien erwachsen jedoch zusätzliche Aspekte der Dynamisierung. Diese Dynamik kann in Form interaktiver Eingriffe der lernenden Person auftreten, aber auch ein konventionelles Medium kann in wechselseitige Beziehung mit anderen Medien der Veranschaulichung treten (z. B. in Form der später diskutierten dynamischen Medien-Korrelation). • Daraus ergibt sich ein deutlich stärkerer individueller Aspekt der Veranschaulichung mit neuen Medien: Computergestützte Lehr- und Lernprogramme können dem individuellen Lernverhalten Rechnung tragen und Veranschaulichung individualisieren. Die lernende Person kann aus einem umfänglichen Angebot die ihm zugängliche Veranschaulichung eigenständig auswählen und sie nach Bedarf verkürzen oder ausdehnen (vorausgesetzt, es gibt ein entsprechend breites Angebot). In der nachfolgenden Diskussion wird an konkreten Beispielen gezeigt, wie diese interaktiven und dynamischen Aspekte der neuen Medien in die Veranschaulichung gruppentheoretischer Inhalte integriert werden können. Neben diesen offensichtlich erweiterten und erweiternden Möglichkeiten der neuen Medien schränkt die Verwendung dieser Medien zugleich die Veranschaulichung auch ein bzw. stößt an altbekannte Grenzen: • So ist die fehlende haptische Komponente der medialen Darstellung anzumerken. Modelle werden zweidimensional dargestellt und virtuell dynamisiert (später wird dafür der Begriff der virtuell-dreidimensionalen Modelle gebraucht), doch es fehlt das Erlebnis des realen Begreifens. • Die Veranschaulichung mit neuen Medien kann — trotz der Möglichkeiten zur Interaktivität und Individualisierung — wegen der Distanz zwischen Lehrenden und Lernenden nur eine generalisierte Veranschaulichung sein; dies ist unabhängig davon, ob mathematische Inhalte für die Schule oder die universitäre Lehre veranschaulicht werden. Das erweist sich gerade für die Vermittlung abstrakt-mathematischer Inhalte als problematisch, da somit die Wirkung der Veranschaulichung nicht ohne Weiteres überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden kann. Damit wächst — wie auch beim Lernen mit dem herkömmlichen Lehrbuch — die Verantwortung der lernenden Person bezüglich ihrer Selbstkontrolle und Selbstregulation. • Die der Veranschaulichung zuträgliche Individualisierung des Lernens zeigt zu- 167 Bert Zimmer & Karin Richter & Wilfried Herget gleich Grenzen des Machbaren auf. Schon Plato beschreibt in seinem Höhlengleichnis den schweren Weg der Erkenntnis und des Wissenserwerbs, den die Lernenden nur unter Mühen und Selbstüberwindung bereit sind zu gehen, und benennt die Notwendigkeit der Führung und Begleitung der Lernenden. Mit einer Individualisierung des Lernens muss demzufolge eine verstärkte Selbstmotivation einhergehen, damit die Lernenden sich auch abstrakt-mathematischen Inhalten zuwenden und sich diese erfolgreich erarbeiten. Es ist durchaus fraglich, ob die erweiterten Funktionalitäten der neuen Medien derart motivierend wirken können. Der Einsatz eines neuen Lehr- und Lernmediums in einer Unterrichtssituation verändert in Abhängigkeit von der Gruppengröße den Wirkungscharakter des Mediums für die Veranschaulichung. Während bei der Partnerarbeit die Situation noch als unkritisch erscheinen mag, wird bei größerer Gruppenstärke die Distanz zwischen Medium und der einzelnen lernenden Person größer. Die veranschaulichende Wirkung des neuen Mediums erstreckt sich dann nur auf Teilbereiche: Die bidirektionale Interaktion kann nur noch monodirektional vom Medium auf die Lernenden stattfinden; Dynamik ist den Lernenden nur noch in Form von Wechselbeziehungen innerhalb des neuen Mediums (beispielsweise zwischen Bildern) zugänglich. Auch der individualisierende Aspekt des neuen Mediums geht verloren, die Veranschaulichung erhält schwerpunktmäßig nur mehr darbietenden Charakter. 4 Ein Internet-Lernmodul für gruppentheoretische Inhalte Im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Leitprojektes Vernetztes Studium Chemie (www.vs-c.de) entstand im Teilprojekt Anorganische Chemie ein Lernmodul Molekülsymmetrie. Mit diesem Internet-Lernmodul sollen sich Studierende der Fachrichtung Chemie im Hauptund Nebenfach die für das Studium der Chemie unerlässlichen Kenntnisse über das Symmetriekonzept der Moleküle aneignen. Die mathematische Grundlage für die Molekülsymmetrie bilden dabei Inhalte und Prinzipien der Gruppentheorie. Bereits früher wurde über das didaktische und mediale Konzept des Lernmoduls und 168 dessen Realisierung berichtet (Zimmer 2002a). Der Schwerpunkt der folgenden Diskussion liegt auf der Veranschaulichung der gruppentheoretischen Inhalte. Es stellt sich dabei heraus, dass eine Verbindung von Symmetriebetrachtungen mit den multimedialen Möglichkeiten des Internets die Veranschaulichung der abstrakt-mathematischen Sachverhalte deutlich bereichern kann. 4.1 Didaktische Überlegungen Der hier vorgestellte Lernmodul unterscheidet sich von bisherigen Darstellungen gruppentheoretischer Sachverhalte im Internet sowohl bezüglich des Umfangs der vermittelten Inhalte als auch in der Art ihrer Aufbereitung: Mathematischer Gegenstand des Lernmoduls sind hier nicht nur einzelne Begriffe, sondern umfangreiche inhaltliche Zusammenhänge der Gruppentheorie. Hinzu kommen die gezielte Ausrichtung und Aufarbeitung für das Medium Internet und eine Vielzahl implementierter multimedialer und interaktiver Darstellungselemente. Die Inhalte des Lernmoduls prägen die Methoden der Veranschaulichung. Die inhaltliche Struktur des Lernmoduls folgt einem Veranschaulichungsprinzip, das als Prinzip der indirekten Veranschaulichung bezeichnet werden soll: Die Molekülsymmetrie analysiert und klassifiziert Symmetrieeigenschaften von Molekülen. Aus den Symmetrieeigenschaften können dann chemische Eigenschaften der Moleküle abgeleitet werden. Das Instrumentarium der mathematischen Gruppentheorie bildet dabei die Grundlage für die molekülsymmetrische Ordnung und Klassifikation. Mit dem Studium der Molekülsymmetrie wird somit der zugehörige mathematische Kern von den Studierenden in seiner Anwendung erfahren und akzeptiert. Zusätzlich gewinnen die Studierenden mit der Anwendung einen anschaulichen Zugang zur abstrakten Gruppentheorie. Zusammengefasst ergibt sich hier also aus dem Studium einer naturwissenschaftlichen Theorie eine Veranschaulichung der zugrunde liegenden mathematischen Strukturen. Dieses Prinzip der indirekten Veranschaulichung, bei der die Vermittlung der mathematischen Inhalte vordergründig sekundären Charakter trägt, steht dem vertrauten Prinzip der direkten Veranschaulichung gegenüber, bei dem die Veranschaulichung und die Vermittlung des mathematischen Sachverhaltes primäres Anliegen ist (Profke 1994, 13, beschreibt es als Übertragung eines fremden Sachverhalts in einen vertrauten Be- Gruppentheorie — anschaulich mit dem Computer griff.) Über die direkte Veranschaulichung konkreter mathematischer Sachverhalte — Begriffe, Regeln, Begriffsstrukturen —, bei der die Besonderheiten der Veranschaulichung mit dem Medium Internet zur Geltung gelangen, wird im Weiteren noch ausführlich berichtet. Speziell die abstrakt-mathematischen Begriffe und Strukturen der Gruppentheorie erfordern besondere Formen der Veranschaulichung. Als eine dafür geeignete Veranschaulichungsmethode erweist sich die schematische Veranschaulichung der strukturellen Zusammenhänge und Beziehungen. Die schematische Veranschaulichung erhält im Lernmodul durch die mediale Funktionalität des Internets eine zusätzlich dynamische Komponente. In Form von dynamischen MedienKorrelationen eröffnen sich den Studierenden interaktive Zugänge zur schematischen Veranschaulichung: Die so genannte MouseOver-Funktionalität verwendend, wird beim Überstreichen von markierten Textstellen oder markierten Bildausschnitten in einem zugehörigen Bild oder Schema zusätzliche Information als Text oder Bild eingeblendet oder hervorgehoben. Hier wird also der abstrakte Gegenstand inhaltlich verknüpft mit der ikonischen oder symbolischen Erklärung, die visuell zugänglich ist. Eine tragende Funktion der modellhaften Veranschaulichung von abstrakt-mathematischen Inhalten stellen die virtuell-dreidimensionalen Modelle im Lernmodul dar. Diese Körper- und Molekülmodelle sind interaktiv frei drehbar und können die verschiedenen Symmetrieelemente und Symmetrieoperationen darstellen und animieren. Die Bezeichnung virtuell-dreidimensionales Modell beruht auf der scheinbaren Dreidimensionalität: Den Studierenden liegt ein zweidimensionales Bild in perspektivischer Darstellung vor, das sie selbst geeignet bewegen können. Auf diese Weise erzeugen sie schließlich in ihren Vorstellungen ein dreidimensionales Modell. 4.2 Das inhaltliche Konzept des Lernmoduls Das Lernmodul Molekülsymmetrie besteht aus sechs Kapiteln. Nach einer Einführung in den behandelten Gegenstand vermittelt das zweite Kapitel den Studierenden die Grundlagen molekülsymmetrischer Betrachtungen (Tab. 1). Dabei werden wesentliche mathematische Sachverhalte wie beispielsweise die Hintereinanderausführung von Operationen von den Studierenden in ihrer Anwendung erfahren (vgl. Tab. 1) und somit veran- schaulicht, noch bevor die eigentliche mathematische Definition erfolgt. Die Kapitel 3 (s. Tab. 1) und 6 (s. Tab. 3, nächste Seite) enthalten spezielle Programme, die die Fähigkeit der Studierenden trainieren sollen, in molekularen Strukturen Symmetrieelemente zu bestimmen und darKapitel 1: Einführung Wesentlicher Inhalt: • Einführung in das Symmetriekonzept in den Naturwissenschaften Kapitel 2: Symmetrieelemente und Symmetrieoperationen Wesentliche Inhalte: • Definition von Grundbegriffen (z. B. Symmetrieelement und -operation) • Einführung der Schoenflies-Nomenklatur • Symmetrieoperationen der Identität, Drehsymmetrie, Spiegelungssymmetrie, Inversionssymmetrie, Drehspiegelungssymmetrie Vermittelte mathematische Sachverhalte (Auswahl): • Hintereinanderausführung von Symmetrieoperationen • Potenzbildung von Symmetrieoperationen • Gerade und ungerade Symmetrieoperationen • Mengen von Symmetrieoperationen • Abgeschlossenheit von Mengen von Symmetrieoperationen • Restklassenbildung • Koexistierende Symmetrieelemente (Vorbereitung der Untergruppen) Kapitel 3: Symmetrietrainer (1) Wesentlicher Inhalt: • Interaktive Trainingsprogramme zur Symmetrieerkennung, Symmetriekonstruktion und Symmetrieanalyse Tab. 1: Inhaltliche Struktur des Lernmoduls Molekülsymmetrie – Kapitel 1–3 aus insbesondere die Punktsymmetrie des Moleküls ableiten zu können. Nach der anwendungsorientierten Vermittlung der Grundlagen der Molekülsymmetrie wird in Kapitel 4 (s. Tab. 2, nächste Seite) das gruppentheoretische Rüstzeug vermittelt. Der molekülsymmetrische Zugang ermöglicht für die abstrakt-mathematischen Inhalte einen anschaulichen Zugang: Die Studierenden erleben die Gruppentheorie unter dem Aspekt der Symmetrieklassifizierung und erkennen ihre Notwendigkeit. Die Klassifikation der molekularen Strukturen mit dem Instrumentarium der Punktsymmetriegruppen in Kapitel 5 (siehe Tab. 3) vermit- 169 Bert Zimmer & Karin Richter & Wilfried Herget Kapitel 4: Grundlagen der Gruppentheorie Wesentliche Inhalte: • Mengentheoretische Grundlagen • Gruppenaxiome • Beispiele für Gruppenstrukturen • Ordnung einer Gruppe, Ordnung eines Elements • Verknüpfungs- und Gruppentafeln • Untergruppen und Untergruppengraphen, Satz von Lagrange • Zyklische Gruppen, Erzeugung von Gruppen, Erzeugendensysteme • Isomorphie • Vertiefende Beispiele: Kleinsche Vierergruppe, Drehgruppe des Tetraeders Tab. 2: Inhaltliche Struktur des Lernmoduls Molekülsymmetrie – Kapitel 4 Kapitel 5: Punktsymmetriegruppen Wesentliche Inhalte: • Ableitung der Punktsymmetriegruppen in der Molekülsymmetrie • Klassifizierung der Moleküle durch die gruppentheoretische Einteilung • Algorithmisches Verfahren zur Bestimmung der Punktsymmetriegruppe eines Moleküls Kapitel 6: Symmetrietrainer (2) Wesentlicher Inhalt: • Interaktives Trainingsprogramm zur Bestimmung der Punktsymmetriegruppe von Molekülen Tab. 3: Inhaltliche Struktur des Lernmoduls Molekülsymmetrie – Kapitel 5 und 6 telt und veranschaulicht den Studierenden schließlich die Anwendung gruppentheoretischer Ordnungsprinzipien. 4.4 Die direkte Veranschaulichung im Lernmodul Im Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen stehen die exemplarische Darstellung und Veranschaulichung konkreter gruppentheoretischer Inhalte. Die Diskussion wird sich dabei auf solche Beispiele beschränken, in denen mit den medialen Möglichkeiten des Internets eine neue Form 170 der Veranschaulichung entsteht. Dies wird im Wesentlichen mit den bereits erwähnten dynamischen Medien-Korrelationen und den virtuell-dreidimensionalen Modellen erreicht. Schematische Veranschaulichung mit dynamischen Medien-Korrelationen Eine dynamische Medien-Korrelation wird im Lernmodul verwendet, um die schematische Darstellung eines Untergruppengraphen der Punktsymmetriegruppe C3v mit der zugehörigen Gruppentafel zu verbinden (Abb. 7). Der Untergruppengraph ordnet in einem Diagramm (Abb. 7, links) die Untergruppen der Punktsymmetriegruppe anhand der Gruppenordnung. Wird mit dem Mauszeiger auf eine Untergruppe im Graphen gezeigt, so werden in der Gruppentafel (rechts) die Elemente dieser Untergruppe farblich hervorgehoben. Es entsteht somit eine enaktiv-visuelle Wechselbeziehung zwischen dem Schema des Graphen und der Gruppentafel. Auf diese Weise wird zum Beispiel veranschaulicht, dass die Elemente der Untergruppen ebenfalls eine Untergruppentafel in der Gruppentafel bilden und dort auch direkt abgelesen werden können. Das Schema der grundlegenden gruppentheoretischen Begriffe (Abb. 3) ist im Lernmodul als dynamisierte schematische Veranschaulichung realisiert. Die schematische Darstellung systematisiert wesentliche Inhalte des Kapitels 4 des Lernmoduls (Tab. 2). Die Studierenden erfahren dabei die mit den Begriffen verbundenen Inhalte als Festigung, indem mittels dynamischer Medien-Korrelation der jeweilig (mit dem Mauszeiger) ausgewählte Begriffsgegenstand erläutert wird (Abb. 8). Zentrales Anliegen des Lernmoduls ist es, den Studierenden ein Verfahren zur Bestimmung der Punktsymmetriegruppe eines Moleküls zu vermitteln (Kapitel 5, Tab. 3). Abb. 7: Dynamische Medien-Korrelation zwischen Untergruppengraph und Gruppentafel der Punktsymmetriegruppe C3v Gruppentheorie — anschaulich mit dem Computer Abb. 8: Dynamisierte schematische Veranschaulichung der Beziehungsstruktur grundlegender gruppentheoretischer Begriffe. Mit Hilfe der Mouse-Over-Funktionalität können die Studierenden sich einzelne Inhalte des Schemas interaktiv anzeigen lassen (z. B. den Begriffsinhalt der Isomorphie). Abb. 9: Dynamisiertes Ablaufschema zur algorithmischen Bestimmung der Punktsymmetriegruppe eines Moleküls (Schema angelehnt an Steinborn 1993, 198). Dieses algorithmische Verfahren kann in Form eines Ablaufschemas veranschaulicht werden (Abb. 9), das allerdings sehr formalisiert erscheint. Im Lernmodul wird nun die Veranschaulichung des Verfahrens mittels dynamischer Medien-Korrelationen ergänzt: Die Studierenden können einen Pfad im Schema mit der Maus verfolgen und zu jeder Stufe des Algorithmus spezifische Erläuterungen angezeigt bekommen, die zusätzlich farbig unterlegt sind. Somit wird die stark formalistische Darstellungsweise durch farbig abgehobene, erklärende Textinformationen aufgebrochen, das Schema gestaltet sich für die Studierenden zugänglicher und nachvollziehbarer. Veranschaulichung mit virtuell-dreidimensionalen Modellen Mit dynamischen Medien-Korrelationen lässt sich der mathematische Gegenstand inhaltsorientiert und von unterschiedlichen Ansätzen her veranschaulichen. Dagegen führt der modellhafte Charakter der virtuell-dreidimen- 171 Bert Zimmer & Karin Richter & Wilfried Herget sionalen Modelle zu einer exemplarischen Veranschaulichung der gruppentheoretischen Inhalte. Dementsprechend werden im Lernmodul die zu vermittelnden mathematischen Sachverhalte inhaltlich formuliert und anschließend mit einem virtuell-dreidimensionalen Modell illustriert. Die Veranschaulichung der Potenzbildung von Symmetrieoperationen erfolgt mit einem Molekülmodell des Cyclopentadienylanions C5 H 5− . Die Studierenden können sich dazu verschiedene Potenzen von Symmetrieoperationen animiert darstellen lassen. Die Veränderung des Ausgangsmodells durch Hintereinanderausführung ein und derselben Symmetrieoperation lässt sich anhand eines Vergleichsmodells (rechte Seite) wahrnehmen (Abb. 10). Auf ähnliche Weise wird im Lernmodul veranschaulicht, dass die Hintereinanderausführung zweier verschiedener Symmetrieoperationen wieder einer Symmetrieoperation entspricht. Als Nebeneffekt eröffnet sich mit der Veranschaulichung der Potenzbildung von Symmetrieoperationen ein Zugang zur Äquivalenzklassenbildung. Abb. 10: Veranschaulichung der Potenzbildung von Symmetrieoperationen. Die Symmetrieoperationen und ihre Potenzen werden im linken Modell animiert dargestellt: Nach dem Betätigen eines Buttons führt das Molekülmodell eine Drehbewegung aus, die der gewählten Potenz entspricht. Anhand des rechten Vergleichsmodells lässt sich die Veränderung erfassen. (Zur besseren Vergleichbarkeit wird ein Wasserstoffatom dunkler eingefärbt.) Der Schritt von einer mengentheoretischen Auffassung der Gruppen als Menge von vertrauten Gruppenelementen (z. B. Zahlengruppen) hin zu einer abstrakten Gruppenauffassung (z. B. Gruppen von Operationen) stellt für viele Studierenden ein Problem dar (Dubinsky et al. 1994). Mit Hilfe eines virtuelldreidimensionalen Modells ist es möglich, in eindringlicher Weise die Gruppe der Drehsymmetrieoperationen des Prismamoleküls C6 H 6 zu veranschaulichen (Abb. 11). Die 172 Studierenden erhalten nicht nur eine Vorstellung von den abstrakten Gruppenelementen, sie können zusätzlich die Gruppenoperation (Hintereinanderausführung von Symmetrieoperationen) in ihrer Anwendung erfahren. Abb. 11: Veranschaulichung der Drehsymmetriegruppe des Prismamoleküls. Die abstrakten Gruppenelemente können animiert dargestellt werden: Die Symmetrieoperationen werden in ihrer Wirkung gezeigt (Drehbewegung um die entsprechende Symmetrieachse). Das Ausfüllen einer Gruppentafel wird mit dem Lernmodul am Beispiel der Drehsymmetriegruppe einer vierzähligen Symmetrieachse im Oktafluorotantalatanion [ TaF8 ] 3− veranschaulicht. Die Studierenden wählen die zu verknüpfenden Symmetrieoperationen in der Eingangszeile und in der Eingangsspalte, erfahren deren Wirkung am Ausgangsmodell und erkennen im Vergleichsmodell die resultierende Symmetrieoperation als Tafelelement (Abb. 12). Abb. 12: Veranschaulichung der Entstehung einer Gruppentafel. (Zur besseren Vergleichbarkeit wird ein Fluoratom rot eingefärbt.) 5 Abschluss Das Lernmodul Molekülsymmetrie wurde im Verlauf zweier Akzeptanzstudien von Studierenden erprobt. Über das Design und die Ergebnisse wurde in (Zimmer 2002a) und (Zimmer 2002b) ausführlich berichtet. Es überrascht kaum, dass bei einem Vergleich zwischen einer rein axiomatischen Vermittlung auf herkömmliche Weise und einer Vermitt- Gruppentheorie — anschaulich mit dem Computer lung mit der molekülsymmetrischen Anwendung nicht zuletzt die multimedialen Veranschaulichungen zu einem besseren Verständnis gruppentheoretischer Inhalte beitragen. „Mathematikunterricht und Informatik“. Hildesheim: Franzbecker, 62–71 Zimmer, B. (2002b): Über die Veranschaulichung grundlegender Inhalte der Gruppentheorie. In Vorbereitung Erkennbar ist, dass die Vermittlung mathematischer Inhalte mit neuen Medien neue und erweiterte Möglichkeiten der Veranschaulichung bietet. Das allerdings bedeutet zugleich, dass es gilt, darauf angepasste und dafür geeignete neue inhaltliche und neue didaktische Konzepte zu entwickelt werden. Literatur Bauersfeld, H. (1983): Subjektive Erfahrungsbereiche als Grundlage einer Interaktionstheorie des Mathematiklernens und -lehrens. In: Bauersfeld, H.; Bussmann H.; Krummheuer, G.; Lorenz, J.-H. & Voigt, J.: Lernen und Lehren von Mathematik. Köln: Aulis, 1–56 Claus, H. J. (1989): Einführung in die Didaktik der Mathematik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Dörfler, W. (1983): Qualität mathematischer Begriffe und Visualisierung. In: Kautschitsch, H. & Metzler, W. (Hrsg.): Anschauung als Anregung zum mathematischen Tun. 3. Workshop zur „Visualisierung in der Mathematik“. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky, 44–64 Dubinsky, E.; Dautermann, J.; Leron, U. & Zazkis, R. (1994): On learning fundamental concepts of group theory. In: Educational Studies in Mathematics 27, 267–305 Klein, F. (1926): Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert. Teil I. Berlin: Springer 1926. Nachdruck: Berlin, Heidelberg & New York: Springer 1979 Peterssen, W. H. (1994): Anschaulich unterrichten. München: Ehrenwirth Profke, L. (1994): VERANSCHAULICHUNGEN … nicht nur Visualisieren. In: Kautschitsch, H. & Metzler, W. (Hrsg.): Anschauliche und experimentelle Mathematik II. 11. und 12. Workshop zur „Visualisierung in der Mathematik“. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky, 13–30 Steinborn, D. (1993): Symmetrie und Struktur in der Chemie. Weinheim: VCH Wille, F. (1982): Die mathematische Anschauung: Ihre Ziele, Möglichkeiten und Techniken. In: Kautschitsch, H. & Metzler, W. (Hrsg.): Visualisierung in der Mathematik. 1. Workshop zur „Visualisierung in der Mathematik“. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky, 35–78 Zimmer, B.; Bruhn, C. & Steinborn, D. (2002a): Lernen mit dem Internet im Selbststudium: Symmetrie molekularer Strukturen — eine Lerneinheit und Erfahrungen. In: Herget, W.; Sommer, R.; Weigand, H.-G. & Weth, T. (Hrsg.): Medien verbreiten Mathematik. Bericht über die 19. Arbeitstagung des Arbeitskreises 173 Die Elektronische Kreide: Erfahrungen und Perspektiven Siegfried Zseby, Berlin Die „Elektronische Kreide“ ist ein an der FU Berlin entwickeltes Werkzeug, mit dem Informationen z. B. in Form von Schrift, Grafiken oder Bilddateien mit Hilfe eines Grafiktabletts präsentiert werden können. Dabei können unterschiedliche Präsentationsmodi gewählt werden: Die Informationen können direkt im Klassenraum erstellt und präsentiert werden (FrontalModus). Eine Unterrichtseinheit kann aufgezeichnet und später dynamisch (wie ein Film) oder statisch (als PDF-Datei) verwendet werden (Konserve-Modus). Aktuell erstellte Informationen können live über das Internet übertragen werden (Broadcast-Modus). Mit geringem Aufwand lassen sich damit effiziente Präsentationen realisieren. Es soll insbesondere demonstriert werden, welche Vorteile die Elektronische Kreide gegenüber PowerPoint hat. 1 Was ist E-Kreide? Die Elektronische Kreide (E-Kreide) ist ein an der FU Berlin entwickeltes Werkzeug, mit dem Informationen z. B. in Form von Schrift, Grafiken oder Bilddateien mit Hilfe eines Grafiktabletts präsentiert werden können. 2 Die verschiedenen Modi 2.1 Frontal-Modus Im Frontal-Modus kann mit einem Stift auf dem Grafiktablett ähnlich wie an der Tafel oder am Whiteboard geschrieben oder gezeichnet werden. Die Farbe des Hintergrundes kann ebenso wie die Schriftfarbe aus der Palette gewählt werden. Während als Voreinstellung ein schwarzer Hintergrund vorgegeben wird, der an die klassische Kreidetafel erinnert, erscheint mir ein weißer Hintergrund vorteilhafter. Abb. 2 Abb. 1 E-Kreide vereint die Vorteile der klassischen Kreidetafel mit den multimedialen Möglichkeiten eines Teleteaching-Systems. Abb. 3 Während der Präsentation lassen sich vorbereitete Grafiken einfügen. (Abb. 2). 174 Die elektronische Kreide: Erfahrungen und Perspektiven Außerdem kann man Vorlagen nutzen, die man dann während der Präsentation ergänzt (Abb. 3). tet, die mit den Servern kommunizieren. Zur Zeit benötigen die drei Datenströme ISDN mit Kanalbündelung (128 kbps). Hierzu gehören auch vorbereitete Koordinatensysteme oder geometrische Figuren. Das Videofenster kann geschlossen werden, wenn der Betrachter Bandbreite sparen will. Dann ist nur noch ein ISDN-Kanal (64 kbps) erforderlich. Wer nur das Audiosignal empfangen will, kommt sogar mit einem langsamen Modem (15 kbps) aus.“ 2.2 Konserve-Modus Der Konserve-Modus ist am ehesten einer PowerPoint-Präsentation vergleichbar. Bei der Produktion einer Konserve haben wir zwei Möglichkeiten, ähnlich der Aufzeichnung eines Konzerts: Natürlich können auch die im Konserve-Modus erstellten Dateien im Internet angeboten und somit dynamisch und statisch betrachtet werden. die Live-Aufzeichung, die Studio-Aufzeichnung. Die Live-Aufzeichnung des Boards (der Tafel) erfordert keinerlei Zusatzarbeit, da jede im Frontal-Modus erstellte Präsentation automatisch gespeichert wird. Darüber hinaus kann man Mikrofon und Videokamera zur Aufzeichnung verwenden. Die Studio-Aufzeichnung bietet erwartungsgemäß einige Vorteile, die man für eine professionelle Erstellung einer Unterrichtseinheit nutzen möchte, erfordert aber andererseits einen zeitlichen Aufwand, der nur durch hohe Motivation des Autors zu erbringen ist. Neben der Speicherung mitsamt der Dynamik, d. h. der zeitlichen Abfolge der Ereignisse wie im Film, lässt sich das „Tafelbild“ zusätzlich als PDF-Datei speichern. Dies ist eine recht nützliche Option, da sich der Nutzer eventuell nur die Ergebnisse (im Sinne einer Wiederholung) ansehen möchte. Wir können dann bei der Wiedergabe wählen zwischen dynamischer Wiedergabe der Ereignisse und statischer Wiedergabe des Tafelbildes (PDF). 2.3 Broadcast-Modus Im Broadcast-Modus wird eine Live-Präsentation über das Internet übertragen. Eine geeignete Ausrüstung dafür ist ein PC, der unter Linux als Webserver konfiguriert ist. Wie bei der Live-Aufzeichnung für den Konserve-Modus kann man auch hier Mikrofon und Videokamera verwenden. In der Programmbeschreibung erhält man folgende Hinweise: „Auf dem Vortragsrechner wird das Tafelprogramm von E-Kreide gestartet, das automatisch Tafel-, Audio- und Videoserver startet. Auf Empfängerseite werden über den Webbrowser entsprechende Java-Applets gestar- 3 Erfahrungen 3.1 Frontal-Modus Den Frontal-Modus habe ich an unserer Fachhochschule in zwei Lehrveranstaltungen eingesetzt: im Mathe-Vorkurs und in der Analysis. Dabei drängt sich der Vergleich mit der normalen Kreidetafel auf. Der einzige Vorteil der Kreidetafel scheint mir zu sein, dass der Lehrer an der Tafel mehr in Bewegung ist, was durchaus die Lebendigkeit des Frontalunterrichts steigern kann. Abgesehen davon ist die Elektronische Kreide jedoch in wesentlichen Punkten überlegen: Für eine normale Präsentation stehen die wesentlichen Werkzeuge zur Verfügung: Tastatur, Schreib- und Zeichengerät mit skalierbarer Strichstärke, Rücknahmeund Radierfunktion, Einfügen von Bildern und Vorlagen. Die Position des Lehrers am Notebook ermöglicht ihm, sowohl sein Tafelbild als auch die Schüler im Blick zu behalten. Die Elektronische Kreide ermöglicht eine sehr „hygienische“ Arbeit: Sie hinterlässt weder auf der Kleidung noch an den Fingern Spuren. Auch die üblichen KreideWasser-Wechselwirkungen entfallen. Im Gegensatz zur normalen Tafel hat man praktisch unbegrenzt viel Platz. Der Rückgriff auf das gesamte Tafelbild ist jederzeit möglich. Jede Präsentation wird automatisch gespeichert. Die dynamische Speicherung vermittelt einem das Gefühl, dass nichts verloren geht. Praktisch wird man sich jedoch kaum eine Präsentation ein zweites Mal dynamisch ansehen wollen. Demge- 175 Siegfried Zseby genüber ist die Speicherung als (statische) PDF-Datei von wesentlich größerem praktischem Nutzen. Eine Ausnahmesituation ergibt sich höchstens, wenn man am aufgenommenen Ton interessiert ist. Dann bleibt einem nichts anderes übrig, als auf die dynamische Aufnahme zurückzugreifen. 3.2 Konserve-Modus Den Konserve-Modus habe ich innerhalb der Finanzmathematik ausprobiert, die an unserer Fachhochschule innerhalb der Analysis oder zumindest in zeitlicher Nähe mit dieser behandelt wird. Ich habe dazu drei Unterrichtseinheiten erstellt, die die Themen Einmalige Zahlungen, Regelmäßige Zahlungen und Einmalige und regelmäßige Zahlungen behandeln. Der zeitliche Umfang jeder dieser Lektionen liegt zwischen 10 und 20 Minuten. Diese Art der Präsentation erinnert etwas an „Telekolleg“-Sendungen, allerdings habe ich dabei auf die Videomöglichkeit verzichtet und nur das Tafelbild und den Ton aufgezeichnet. Diese Unterrichtseinheiten habe ich für drei verschiedene Adressatengruppen verwendet: Tagesstudenten, Abendstudenten, normalerweise berufstätig, Bachelor-Studiengang in Kooperation mit Siemens. Die mehrfache Verwendung des Materials war für mich ein kleiner Trost für den enormen Aufwand, der bei der Erstellung der Unterrichtseinheiten erforderlich war. Die Tonqualität bleibt leider noch hinter meinen Wünschen zurück. Eine wesentliche Erfahrung war der Unterschied zwischen einer Präsentation im Frontal-Modus und einer vorbereiteten Konserve. Bei der Konserve erwarten die Teilnehmer nahezu Studioqualität. Insbesondere das Timing muss angemessen sein. Lange Pausen werden nicht toleriert. Die Aufmerksamkeit wird durch Anwesenheit und Körpersprache des Lehrers stark beeinflusst. Vor der Darbietung müssen eine entsprechende Ankündigung und eventuell einige Leitfragen die nötige Konzentration erzeugen, eine ausführliche Nachbereitung ist unerlässlich. Über die normale Finanzmathematik hinaus habe ich noch eine weitere Präsentation erstellt: „Finanzmathe Extra“, in der ich auf die 176 Zusammenhänge zwischen Zinseszinsrechnung und der musikalischen Tonleiter eingehe. Da unsere Fachhochschule auf ihre internationalen Kontakte sehr stolz ist, habe ich neben der deutschen Version auch jeweils eine in englischer, französischer, spanischer und italienischer Sprache aufgenommen. Die Ergebnisse findet man im Internet: http://www.lehre.fhw-berlin.de/echalk/ 3.3 Broadcast-Modus Der Broadcast-Modus wurde zunächst nur für Linux-Server bereitgestellt. Da ich an unserer Fachhochschule einen eigenen LinuxServer (mit Apache-Webserver) betreibe, war es mir möglich, auch diesen Modus auszuprobieren. Dabei habe ich von meinem Büro aus — allerdings ohne Video und ohne Ton — einige Minuten lang mit der Elektronischen Kreide ein Tafelbild erstellt und den Prozess live über das Internet in einen großen Hörsaal mit PC-Projektion für die ca. 100 Teilnehmer am Mathe-Vorkurs bzw. in einen PC-Raum mit 15 PCs übertragen. Inwieweit bei einer größeren Teilnehmerzahl Probleme mit der Bandbreite auftreten, habe ich nicht getestet, da es mir nur auf die prinzipielle Möglichkeit der Nutzung des Broadcast-Modus ankam. Auch hierbei wird die live erstellte Präsentation aufgezeichnet und kann später dynamisch oder als PDF-Datei angesehen werden. Da es sich beim Mathe-Vorkurs um Studienanfänger handelte, war dies für die Studierenden ein beeindruckender Start, der ihnen das Gefühl vermittelte, auf dem neuesten Stand der Technik und in guten Händen zu sein. 4 Perspektiven Die Entwickler der Elektronischen Kreide haben offenbar viel Feedback erhalten. Es gibt viel zu loben, aber wenn man sich damit intensiv beschäftigt, dann steigen natürlich auch die Ansprüche. Neben der stabilen Version für den normalen Anwender existiert immer auch eine „Forschungsversion“, in der zusätzliche Features ausprobiert werden. Einige Tendenzen sollen hier genannt werden. Handschrift Die Tendenz geht dahin, auch bei recht feiner Strichstärke, bei der die Schrift norma- Die elektronische Kreide: Erfahrungen und Perspektiven lerweise etwas „krakelig“ wirkt, eine Glättung vorzunehmen. Außerdem soll die Schrifterkennung, die ja bereits bei elementaren Rechenoperationen funktioniert, wesentlich erweitert werden. Insbesondere Formeln sollen dadurch einfacher einzugeben sein als etwa mit einem Formeleditor. Editor Die gesamte Präsentation, also die Erzeugung des Tafelbildes mit allen Tastaturtexten, Handschriften und eingefügten Bildern, wird jeweils im Unterverzeichnis „board“ in der Datei „events“ gespeichert. Diese Datei kann man — mit etwas Geschick — editieren und damit die Präsentation entweder zerstören oder verbessern. So habe ich beispielsweise für meine Finanzmathematik-Konserven Fehler bei der Aufzeichnung herausoperiert und mit Hilfe mühevoller Excel-Operationen die Geschwindigkeit korrigiert. Dies war eine Arbeit, die normalerweise nur PC-begeisterte Schüler oder Lehrer nach der Pensionierung freiwillig erledigen würden. Hierfür wird es demnächst Werkzeuge geben: Editoren, die die Nachbearbeitung des (dynamischen) Boards und des Tons ermöglichen, vergleichbar den Schneidegeräten bei sonstigen Bild- und Tonaufzeichnungen. Applets Da die gesamte Software auf Java basiert, soll die Einbeziehung von Applets in Zukunft erleichtert werden. Mathematica Die Zusammenarbeit mit Mathematica funktioniert bereits: Formeleingabe und Plotten der Funktionen, auch 3D, sind sehr eindrucksvoll. Zusammen mit der Handschrifterkennung soll dabei noch mehr Komfort erzielt werden. 5 Fazit Welchen Stellenwert hat nun die Elektronische Kreide im Spektrum alter und neuer Medien? Kann man von einem „Killer-Medium“ sprechen, oder wird sie vielleicht gar nicht akzeptiert werden? Nach meinen Erfahrungen denke ich, dass jeder, der sich einige Wochen lang auf dieses neue Medium eingelassen hat, es in seinen Präsentationswerkzeugkasten integrieren wird. Die Voraussetzungen sind verführerisch einfach: Notebook, PC-Projektor, Grafiktablett (40 Euro, anno 2001 an einer Tankstelle!), Software (ca. 100 Euro). Man muss ja nicht auf die bekannten Präsentationsmedien verzichten: Die gute alte Kreidetafel, die auch ein Whiteboard sein kann, ist in der Diskussion immer ein probates Mittel, um einen Gedankengang mit wenigen Strichen zu erläutern. Der OH-Projektor steht meistens irgendwo herum und hat gegenüber dem PC den Vorteil, dass er nicht so häufig abstürzt — die Lampen sind immer noch ein nicht zu unterschätzendes Risiko —, und Folien lassen sich vorbereiten und live ergänzen. PowerPoint ist inzwischen so weit verbreitet, dass man auf alle Fälle damit umgehen können sollte. Es hat sich als Standard etabliert und leistet für eine sequenzielle Präsentation von kurzen Texten und Grafiken gute Dienste. Und die Elektronische Kreide? Ich meine, sie hat als Option unter den Medien ihren Platz und kann in mancher Hinsicht zusätzlichen Komfort bieten. Die Speichermöglichkeit, insbesondere als PDF-Datei, ist recht nützlich; sie lässt sich mit einem Schnappschuss des Tafelbildes vergleichen. Die Bedienung ist verhältnismäßig einfach. Man wird darüber diskutieren, welche Grundfarbe die Tafel haben soll (Standard ist schwarz, wie die Kreidetafel; ich bevorzuge weiß, wie das Whiteboard), wie man generell die Farben einsetzen soll, wie ein E-Tafelbild aussehen soll und ob man Bild und Ton aufzeichnen sollte. Man kennt die „beliebten“ OH-Präsentationen mit kleiner Schreibmaschinenschrift oder unleserlicher Handschrift. Ebenso erfordert der angemessene Umgang mit der Elektronischen Kreide nicht nur technische Kenntnisse, sondern auch didaktische Professionalität. Mein Fazit: Die Elektronische Kreide ist weder notwendig noch hinreichend für eine gute Präsentation und für guten Unterricht, aber sie kann dabei helfen, gute Absichten besser zu realisieren. Sie ist einen Versuch wert. Referenzen http://www.ekreide.de/ http://www.lehre.fhw-berlin.de/echalk/ 177 Geometrie am Notebook in der 7. Jahrgangsstufe ∗ z Claudia Hagan, Veitshöchheim Am Gymnasium Veitshöchheim wurde im Schuljahr 2001/2002 mit einer 7. Klasse ein Notebook-Projekt gestartet. Sowohl auf technischer und organisatorischer Ebene, als auch auf der methodisch-didaktischen Ebene in den jeweiligen Fächern stellt dies eine große Herausforderung dar. Der Schwerpunkt des folgenden Artikels ist der Geometrieunterricht; es wurde viel mit DynaGeo gearbeitet. Dabei ergaben sich interessante Fragestellungen: Wie muss der Konstruktionsbegriff — der im Lehrplan der 7. Jahrgangsstufe im bayerischen Lehrplan eine zentrale Stellung einnimmt — modifiziert werden? Dynamik einzufordern, dennoch klassisch (ohne Makros) zu konstruieren, erweist sich dem mächtigen Werkzeug DGS nicht angemessen, ist methodisch-didaktisch nicht sinnvoll. Schulaufgaben und Prüfungen am Notebook stellen eine weitere Herausforderung dar, müssen ganz anders geplant und korrigiert werden; auch erhält das Medium „Notebook“ und der Unterricht hiermit einen ganz anderen Stellenwert — nämlich Alltagsunterricht mit Prüfungsrelevanz. Hieraus ergeben sich weitere Folgeaspekte... Zuerst stelle ich an Hand einer PowerpointPräsentation das Notebook-Projekt am Gymnasium Veitshöchheim vor. Es werden die Erfahrungen geschildert, die mit Schwerpunkt Mathematik im letzten Schuljahr in der ersten Notebook-Klasse gewonnen wurden. Auch wenn die technischen und organisatorischen Herausforderungen, die wir als Schule bewältigt haben, um das Projekt überhaupt in die Wege zu leiten, nicht zur methodisch-didaktischen Diskussion gehören, sollen diese nicht unerwähnt bleiben — nicht zuletzt deshalb, weil dabei den Teilnehmern und Lesern (um der leichteren Lesbarkeit willen wird im folgenden auf die explizite Nennung der weiblichen Form verzichtet) sicher auch klar wird, warum wir am Anfang des Projektes noch kein ausgereiftes methodisch-didaktisches Konzept hatten, sondern sich Vieles (Lösungen und offene Fragen) erst im Laufe des ersten Notebook-Jahres ergaben. Im Anschluss werden offene Fragen sowie Probleme fachlicher, methodischer und didaktischer Art in der Arbeitsgruppe gemeinsam diskutiert und teilweise gelöst. Präsentation des NotebookProjektes am Gymnasium Veitshöchheim Allgemeines zum Projekt Im Schuljahr 2001/2002 begann am Gymnasium Veitshöchheim eine 7. Jahrgangsstufe als Notebook-Klasse. Die Entscheidung, ob man in diese Klasse will, wurde etwa ein halbes Jahr vorher von den Eltern getroffen; finanzielle Unterstützung konnte nach Überprüfung der Situation gegeben werden; alle hatten die Möglichkeit ein zinsgünstiges Darlehen in Anspruch zu nehmen und monatlich zu zahlen. Die Notebooks selbst waren von den Eltern zu finanzieren, Software wurde weitgehend von Firmen gesponsert, die Einrichtung der Notebooks wurde von der Schule und einer externen Firma als Sponsoring übernommen, die Netzumstrukturierung und damit verbundene Baumaßnahmen übernahm der Sachaufwandsträger. Jeder Schüler hat sein eigenes Arbeitsgerät, die Software ist weitgehend lokal installiert, so dass auch zu Hause damit gearbeitet werden kann. Das Klassenzimmer ist im ersten Jahr über Funknetz an das LAN der Schule angebunden, inzwischen sind die Notebookzimmer fest verkabelt. Im Klassenzimmer ist ein Scanner, ein Smartboard sowie ein Laserdrucker, der über das Netzwerk ansprechbar ist. * Teilnehmende der AG „Geometrieunterricht am Notebook in der 7. Jahrgangsstufe“ unter der Leitung von Claudia Hagan: HansJürgen Elschenbroich, Frank Förster, Thomas Gawlick, Matthias Hofer, Eckhard Löbbert, Margit Schleyer 178 AG „Geometrie am Notebook in der 7. Jahrgangsstufe“ Das Notebook wird im Alltagsunterricht, nicht nur für spezielle Projektstunden verwendet — hier liegt wohl ein wesentlicher Unterschied zum sonst üblichen Computereinsatz in Schulen. Auch kann man durch die ständige Verfügbarkeit des Gerätes Hausaufgaben am Notebook einfordern. Es gibt das Konzept der Leitfächer; hier wurde Biologie, Erdkunde, Deutsch, Englisch und Mathematik ausgewählt. Der Begriff Leitfach wurde anfangs so verstanden, dass in diesen Fächern das Notebook sehr häufig / fast in jeder Unterrichtsstunde eingesetzt wird. Inzwischen konnte die Definition in die Richtung modifiziert werden, dass sich ein Leitfach nicht nur durch den Umfang des Notebook-Einsatzes auszeichnet, sondern dadurch, dass man sich als Leitfachlehrer verstärkt mit methodisch-didaktischen Fragen beschäftigt und evaluiert, in welcher Form der Notebook-Einsatz in der jeweiligen Fachdisziplin sinnvoll ist. Da in Biologie und Erdkunde, unabhängig davon, ob konventionell oder am Notebook unterrichtet wird, viele Arbeitsblätter verteilt werden, erklärt sich hieraus, dass das Notebook fast in allen Unterrichtstunden zum Einsatz kam — wenn nicht in Form von wirklich neuen Wegen wie Internet-Recherche, Nachschlagen in digitalen Atlanten oder Lexika, dann als Heftersatz (vorgefertigte Arbeitsblätter ausfüllen oder Textmitschrift in Word). Herkömmliche Folien oder Dias, die der Lehrer vorführt, wurden beispielsweise durch Powerpoint-Präsentationen ersetzt. Auch die Sprachen konnten dadurch, dass zusätzlich zu neuen Methoden (auf die hier nicht näher eingegangen wird) das Notebook statt Hefteinträge benutzt wird, einen hohen Einsatz verzeichnen. Da speziell in Algebra das Einüben von Rechenfertigkeit eine große Rolle spielt und dies weitgehend schriftlich an die Tafel und ins Heft erfolgt, lässt sich hieraus schon schließen, dass der Notebook-Einsatz in Mathematik maximal bei 60% liegen kann, und das nur, wenn Geometrie fast ausschließlich am Notebook erfolgt. Hierauf wird noch eingegangen. Weitere Herausforderungen an das Projekt zeigten sich im Laufe des Schuljahres: Eine vollständig vernetzte Schule, bei der die Geräte permanent im Einsatz sind, braucht ein noch besser strukturiertes, ausfallsichereres Netz und ein besseres Wartungskonzept; dies kann nicht mehr nebenbei von Lehrern erledigt werden. Auch wird, wenn Leistungserhebungen am Notebook stattfinden, eine Protokollierung nötig, damit Unterschleif rekonstruierbar ist. Aufrüstungen im Serverbereich und Baumaßnahmen sind nötig. Hier waren wir jetzt erfolgreich, nach einer jetzt noch zu bewältigenden Übergangszeit, wird im Laufe des nächsten Jahres verstärkt externe Unterstützung gewährleistet. Wenn der Unterricht weitgehend am Notebook stattfindet, muss man auch anstreben, dass Prüfungen am Notebook geschrieben werden dürfen. Der momentane Stand ist, dass diese am Notebook gehalten werden dürfen; die Einhaltung des Lehrplanes muss jedoch gewährleistet sein. Es wurden viele Kontakte geknüpft, einerseits um technische Rahmenbedingungen zu verbessern, um Sponsoren zu gewinnen bzw. zu erhalten. Andererseits bestehen in den einzelnen Fächern inzwischen Kontakte zu verschiedenen Universitäten, um nun stärker auf die methodisch-didaktischen Fragen einzugehen. Somit sind inzwischen die Rahmenbedingungen weitgehend geregelt, die Weiterführung des Projektes ist gewährleistet. Inzwischen gibt es eine weitere Notebook-Klasse; und insgesamt vier Klassenzimmer sind als Notebook-Zimmer vorbereitet, und zwar mit Computertischen und Festverkabelung. Während im ersten Jahr die organisatorischen und technischen Fragen einen großen Zeitrahmen in Anspruch nahmen, können wir uns jetzt verstärkt den methodischdidaktischen Fragen widmen und das Projekt weiter ausbauen. In jedem Falle haben die Schülerinnen und Schüler der 7. Jahrgangsstufe erreicht, dass sie sich Grundfertigkeiten am Computer im Laufe des ersten Schuljahres quasi nebenbei erworben haben. Sie sind in jedem Falle den Schülern der Parallelklassen in diesem Punkt weit voraus. Mathematikunterricht am Notebook Am Anfang war noch keineswegs klar, ob Prüfungen überhaupt am Notebook stattfinden dürfen; auch muss ein Schulwechsel oder ein Wechsel in eine Nicht-NotebookKlasse im laufenden Schuljahre ohne Nachteile für den Schüler möglich sein. Daher muss das Konzept so gewählt werden, dass wir trotz Beschreitung neuer Wege und Methoden uns an den Lernzielen des im Moment noch sehr eng gefassten bayerischen Lehrplanes orientieren und diesen einhalten. Aus diesem Grunde wird 179 Claudia Hagan Algebra weitgehend klassisch unterrichtet, da gerade die Unterrichtsinhalte der 7. Jahrgangsstufe Basiswissen für die weiteren Schuljahre darstellen. Ich erachte es als unverantwortlich, hier zu früh Derive einzusetzen. Da ich als Leitfachlehrerkraft mich um viel Notebook-Einsatz bemühen musste, fand Geometrie fast ausschließlich am Notebook statt. In den ersten sechs Wochen verwendete ich das Notebook als Ergänzung zum konventionellen Unterricht. Mir ist klar, dass es sich hier nicht um didaktischen Mehrwert handelt, sondern Ziel war, dass die Schüler schnell den Umgang mit dem Notebook und dem Schulnetz erlernen; außerdem musste ich diese Phase nutzen, um das Netz in meinem Fach auszutesten, damit man schnell merkt, wo Engpässe sind und Nachbesserungen nötig sind. So wurden Aufgabenblätter — statt diese konventionell zu kopieren — über das schulinterne Netz zur Verfügung gestellt. Teilweise wurden in Algebra-Einführungsstunden Word-Dokumente ausgeteilt, die zu ergänzen waren. Auch wurde in dieser Phase manchmal spontan der Taschenrechner auf dem Notebook genutzt sowie Mediothek, Internet oder Encarta als Nachschlagewerk benutzt. Von Anfang an fand in Mathematik die Zusammenarbeit mit der Mathematik-Didaktik der Uni Würzburg statt. Von Herrn Roth, der dort seine Doktorarbeit schreibt, bekam ich sowohl Materialien, als auch die Möglichkeit der fachdidaktischen Diskussion; ferner übernahm er einige Unterrichtsstunden bzw. nahm an einigen meiner Stunden teil. Aus Zeitgründen war es jedoch unmöglich, alle seine Anregungen im Unterricht gleich im ersten Jahr umzusetzen und auszutesten. Wesentlicher Punkt war die Dynamik sowohl in Algebra, z.B. beim Termverständnis oder beim Variablenverständnis, als auch in der Geometrie. Hier ging es dann um das dynamische Entdecken und Begründen im Zugmodus sowie um die Einhaltung der Dynamik beim Konstruieren. Auch war die Frage von Bedeutung, ob die Schüler, wenn sie ausschließlich am Notebook konstruiert haben, dann auch mit Zirkel und Lineal konstruieren können; dies konnte jedoch im letzten Schuljahr nicht mehr evaluiert werden. In Algebra wurde gelegentlich Excel eingesetzt, z.B. bei Termwertberechnungen —; hier zeigte sich jedoch, dass die Schüler damit noch überfordert waren. Es ging zuviel Unterrichtszeit verloren, so dass dieser Aspekt ins Computerpraktikum ausgelagert 180 wurde, damit sie erst mal mit dem Programm etwas vertrauter wurden. Das dynamische Termverständnis wurde an Hand von Arbeitsblättern von Herrn Roth über mehrere Unterrichtsstunden hinweg trainiert und geprüft. Die Unterrichtsform war hierbei Freiarbeit. Ferner wurden in Algebra gelegentlich Multiple-Choice Aufgaben aus dem Internet zum Einüben von binomischen Formeln und zum Faktorisieren von Termen genutzt. Dies war methodisch eher als eine Auflockerung in dieser doch recht langwierigen und manchmal langweiligen Übungsphase gedacht. Hier könnte man genauer untersuchen, ob es den schwächeren Schülern, die mit dem Faktorisieren noch nicht selbstständig klar kommen, beim Verständnis hilft, wenn sie den Zwischenschritt nehmen können, aus einer Auswahl von Antworten die richtige zu finden und erst in einer zweiten Phase selbstständig rechnen müssen. In Geometrie ist im derzeitig gültigen Lehrplan neben dem Entdecken vieler Gesetzmäßigkeit ein wesentliches Lernziel das Konstruieren, d.h. das handwerkliche Umgehen mit Zirkel und Lineal. Um diesem Lernziel, über das wir auch fachschaftsintern diskutierten, gerecht zu werden, habe ich die Schüler zwar nicht auf dem Papier, aber sehr viel am Notebook konstruieren lassen, d.h. ohne in DynaGeo Makros zu verwenden. Es war klar, dass Stegreifaufgaben in Geometrie am Notebook stattfinden. Die letzte Schulaufgabe durfte dann am Notebook gehalten werden, so dass wir beim Konstruieren in DynaGeo bleiben konnten. Das Kapitel „Grundbegriffe der Geometrie“ unterrichtete ich konventionell, parallel fand in dieser Phase im Computerpraktikum die Einführung in DynaGeo statt, so dass die Schüler mit dem Programm vertraut wurden. Die Sequenz „Winkelsätze am Dreieck, Viereck und n-Eck“ erfolgte unter Verwendung vorgefertigter Materialien von Herrn Roth ausschließlich dynamisch am Notebook, teilweise im Frontalunterricht (d.h. nur der Lehrer arbeitet am Notebook, die Schüler denken mit und füllen ihre Arbeitsblätter handschriftlich aus) und teilweise in Freiarbeit. Es handelt sich also um eine Sequenz, die wir auch in einer „NichtNotebook-Klasse“ durchführen können. Die Erfahrung zeigte jedoch, dass in der Notebook-Klasse, in der die Schüler mit dem Programm und dem Gerät vertraut sind und wo sich nicht zwei Schüler einen Rechner teilen müssen, viel effektiver und zügiger gearbeitet wird. AG „Geometrie am Notebook in der 7. Jahrgangsstufe“ Winkelübertragung und Parallelenkonstruktion erfolgte ausschließlich in DynaGeo. Hierbei stellte sich die didaktische Frage, ob man den Unterschied Zeichnen – Konstruieren begreifen kann, wenn man nie physikalisch einen Zirkel zum Konstruieren in der Hand gehabt hat; dies müsste man — sofern es überhaupt noch von Bedeutung ist im neuen Lehrplan — untersuchen. Es zeigt sich hier bereits, dass man mehr Zeit braucht und viel genauer arbeiten muss, wenn man in DynaGeo konstruiert, als mit Zirkel und Lineal (Vergleich mit der Parallelklasse). Über die Parallelenkonstruktion wurde eine Stegreifaufgabe am Notebook gehalten. Hier wurde dann auch das Konzept im Leitfachteam erarbeitet, worauf man achten muss bei Leistungserhebungen am Rechner (Einsammelvorgang, Austeilen, Datensicherung ...); hierauf kann jedoch jetzt nicht genauer eingegangen werden. Auch hier zeigte sich, dass das Korrigieren am Notebook aufwändig ist bzw. dass man auch hier noch Wege finden muss, dies professioneller zu bewältigen. Hier werden wir versuchen, weitere Erfahrungen zu gewinnen; langfristig muss dieses Thema sicher auch in die Lehrerausbildung im Seminar oder in die Lehrerfortbildung einfließen. Die Konstruktionen zur „Achsenspiegelung, Mehrfachspiegelungen, besondere Linien im Dreieck“ erfolgen ausschließlich in DynaGeo ohne Verwendung von Makros, um den Aspekt des Konstruierens zu betonen. Bei allen Konstruktionen wird weitgehend auf Dynamik geachtet. Manchmal ist es, um eine Überforderung der Schüler zu vermeiden, nötig, bei der ersten Konstruktion Abstriche bezüglich der Dynamik zu machen. Hierzu ein Beispiel: Bei der Konstruktion des Höhenschnittpunktes kann man den Fall, dass der Höhenschnittpunkt außerhalb des Dreiecks liegt und man daher mit Geraden statt mit Strecken arbeiten muss, zuerst außer Acht lassen und dann durch den Zugmodus die Schüler hierauf stoßen. Später kann man eine verbesserte Konstruktion mit den Schülern durchführen oder diesen eine austeilen und den Unterschied erkennen lassen. Bei der Konstruktion der Innenwinkelhalbierenden im Dreieck ist uns die Dynamik nicht in dem Maße gelungen; es traten Sprungstellen auf. Es fällt auf, dass die Schüler gezwungen sind, sehr genau zu arbeiten, und dass viel mehr Zeit für das Konstruieren benötigt wird als auf dem Papier. Auch hätte man von Anfang an stärker auf Konventionen achten müssen, etwa gegebene Größen in einer bestimmten Farbe, genaue Beschriftung aller Objekte, um mehr Übersichtlichkeit zu erlangen, Ausblenden oder Linien gestrichelt zeichnen... Dies ist besonders im Zusammenhang mit Leistungserhebungen von Bedeutung. Beim Thema „Punktspiegelung, Drehung etc.“ wählte ich den Weg über „die Verkettung von Spiegelungen“. Hier zeigte sich, dass viele Schüler beim Konstruieren am Notebook überfordert waren. Die Aufgabenstellung wurde meist analog einem Hefteintrag in einem Word-Dokument notiert oder als fertiges Arbeitsblatt ausgeteilt. Lösungsideen wurden meist umgangssprachlich in der Textbox in DynaGeo notiert. Auf die formale Konstruktionsbeschreibung wurde aus Zeitgründen in dieser Phase verzichtet. Die Idee, dass das Lesen des Konstruktionstextes, der in DynaGeo mitgeloggt wird, die Konstruktionsbeschreibung ersetzen könnte, erwies sich als Überforderung der Schüler; zumindest hätte man hierfür weitere Unterrichtszeit investieren und dies thematisieren und vertieft üben müssen. Angeregt durch ein Gespräch mit den Klassenelternsprechern, die besorgt waren, weil sie als Eltern nicht kontrollieren können, ob ihre Kinder klar kommen, bzw. wussten, dass ihre Kinder nicht so recht wissen, wie sie vorzugehen haben beim Konstruieren, habe ich dann einige Wochen vor der Schulaufgabe wesentliche Grundaufgaben nochmals mit Konstruktionshilfen und Hinweisen als Musterlösungen konzipiert und konstruiert, so dass die Schüler hier genügend üben konnten und mehr Sicherheit gewonnen haben. Die letzte Mathematikschulaufgabe enthielt eine Algebraaufgabe, die auf dem Papier zu lösen war; die drei Geometrieaufgaben waren mit DynaGeo zu bearbeiten. Durch die Wiederholungsaufgaben waren die Schüler auf eine der drei Geometrieaufgaben genau vorbereitet; es war bekannt, dass es eine Aufgabe geben wird, die einer dieser Wiederholungsaufgaben entspricht und abprüft, ob bereits genau Bekanntes umgesetzt werden kann. Da es sich um die erste Schulaufgabe in Mathematik am Notebook handelte, erfolgte die Aufgabenstellung und die Korrektur bei Grenzfällen eher wohlwollend. Es läuft noch keine Protokollierungssoftware, daher zwei Aufsichten, Doppelstunde, damit hinterher Zeit für die Datensicherung ist, vorher für das Austeilen der Aufgaben ... Beim Korrigieren von einer Schulaufgabe zeigte sich, was sich bei der Stegreifaufgabe bereits andeutete: 181 Claudia Hagan Es ist wesentlich aufwändiger als auf dem Papier. Auch traten ein paar Bugs im Programm auf, etwa dass das Log-File bei einer umständlichen Konstruktion nicht mehr da war. Ich stellte außerdem fest, dass sich ausgeblendete Linien nicht auf einmal wieder einblenden lassen, sondern man alle einzeln einblenden muss — ein erheblicher Zeitaufwand. Letzteres soll jedoch bei der nächsten Version von DynaGeo mit berücksichtigt werden. Lösungsansätze und Ideen Dass das Konstruieren mit einem DGS, wenn man wirklich jeden einzelnen Schritt genau wie auf dem Papier durchführt, wesentlich aufwändiger ist, wird von den Fachdidaktikern und Mathematikern bestätigt. So werden viel mehr Linien gezeichnet, etwa ganze Kreise und nicht nur ein Kreisbogen. Dadurch ist es unübersichtlicher, wenn man die Linien eingeblendet lässt. Blendet man sie aus, ist der Konstruktionsgang aus Schülersicht nicht so leicht nachvollziehbar; Werkzeuge wie Rückblende verlieren einen Teil ihrer Mächtigkeit. Daher ist es methodisch nicht sinnvoll, alles am Notebook zu konstruieren. Ferner ist es auch mathematisch nicht sinnvoll, den Anspruch auf Dynamik zu haben, aber ohne Makros zu konstruieren, hier sei etwa das Beispiel der springenden Winkelhalbierenden erwähnt. Achtet man bei allen Konstruktionen auf Dynamik, so betrachtet man nicht ein Objekt, sondern eine ganze Klasse von Objekten. Dies erfordert wesentlich mehr geistige Wendigkeit; der Schüler muss sich gleichzeitig in viel mehr Aspekte hineindenken. Zum einen wird er mit einem neuen Lerninhalt konfrontiert, oft auch mit neuen Begriffen, er kämpft mit der Durchführung der Konstruktion und muss noch abstrahieren, damit die Lösung auch dynamisch stimmt. Man sollte daher die Verwendung des DGS zum Entdecken von Sachverhalten auf dynamischer Basis trennen vom Konstruieren. Eine Weg ist, DynaGeo an Hand vorgefertigter Arbeitsblätter (z.B. die CDs von Herrn Elschenbroich) zu nutzen, um neue Lerninhalte zu erarbeiten und die Schüler entdeckend Ergebnisse gewinnen zu lassen; hierbei wird dynamisch gearbeitet. Konstruktionen können klassisch mit Zirkel und Lineal ausgeführt werden, die dynamische Sicht bei entdeckenden Aufgaben wirkt sich auch positiv auf das klassische Konstruieren aus. Das Notebook kann dabei exemplarisch eingesetzt werden; hierbei wird die 182 Genauigkeit geschult; der größere Zeitaufwand kann bei exemplarischem Einsatz akzeptiert werden und wirkt sich unter Umständen positiv auf das Verständnis aus. Es kann beim erstmaligen Konstruieren von der Dynamik Abstand genommen werden und die Konstruktion an einem Objekt mit bestimmten festdefinierten Maßen durchgeführt werden; auch ist es möglich, nur teilweise dynamisch zu arbeiten. Anschließend kann man durch Anwenden des Zugmodus auf das Problem eingehen, dass eine Konstruktion nicht dynamisch ist. Der Lehrer kann den Schülern eine verbesserte Konstruktion unter Verwendung von Makros vorlegen oder diese mit den Schülern durchführen. Hier ist dann die Dynamik erkennbar, und es lässt sich vielleicht sogar das Denken in Modulen schulen, wenn nicht mehr jeder einzelne Schritt durchzuführen ist. Das Log-File in DynaGeo ist dann auch für Schüler leichter zu lesen und der Gedankengang der Lösungsschritte erkennbar. Ferner bleibt zu hoffen, dass der neue Lehrplan mehr Freiraum lässt, so dass er sich einerseits einhalten lässt, andererseits sich aber auch Schwerpunkte geeignet setzen lassen und damit in Zukunft mehr Zeit bleibt, neue Lernformen auszuprobieren. Herr Gawlick hat sich die Mühe gemacht, die Aspekte, die für ihn am interessantesten waren, zusammen zu fassen. Dieses möchte ich nun zitieren: „C. Hagan berichtet über den GeometrieUnterricht auf Notebook-Basis in Klasse 7. Gemäß dem bayerischen Lehrplan stand dabei das Konstruieren von Figuren und Kongruenzabbildungen im Vordergrund. Dabei wurde aus Kompatibilitätsgründen darauf geachtet, dass die selben Aufgaben wie mit Papier und Bleistift behandelt werden. Gerade dadurch wurde aber deutlich, dass das dynamische Konstruieren nichtsdestoweniger seine eigenen Schwierigkeiten mit sich bringt: Während man etwa den Radius von Hilfskreisen auf dem Papier so wählen kann, dass er nach Augenmaß passt, ist es bei dynamischen Konstruktionen vonnöten, ihn so auf die Basiselemente der Konstruktion abzustimmen, dass die Konstruktion zugfest bleibt. Und auf Papier äquivalente Konstruktionen verhalten sich diesbezüglich beim Verziehen durchaus unterschiedlich: Wählt man etwa in der klassischen Dreikreiskonstruktion der Winkelhalbierenden alle Kreise gleich groß, springt diese Konstruktion bei deterministischen DGS, sobald der Winkel überstumpf wird. AG „Geometrie am Notebook in der 7. Jahrgangsstufe“ Wählt man dagegen den Radius des zweiten und dritten Kreises doppelt so groß, tritt dies erst ein, wenn es mathematisch unvermeidlich ist, nämlich sobald der Vollwinkel überschritten und wieder mit dem Nullwinkel begonnen wird. Darüber hinaus erweisen sich in der unterrichtlichen Behandlung des Standardstoffes auch einige der üblichen statischen Elementarisierungstechniken (wie etwas das Arbeiten mit Strahlen statt mit Geraden, um Schnittpunkte und Winkelfelder eindeutig zu machen) in der dynamischen Geometrie als nicht mehr tragfähig. Dass diese Phänomene in einem Unterricht gemäß der curricularen Vorgaben auftraten, zeigt, dass der Begriff der dynamischen Konstruktion präzisiert werden muss. Entsprechende Anpassungen von Lehrplänen und Schulbüchern sind notwendig, um die bei der Dynamisierung des Standardcurriculums auftretendenden Schwierigkeiten zu umschiffen.“ Schlussbemerkung Am Ende bleibt die Frage „Was war die Message?“ Hier lässt sich sagen, dass wir bei unserem Notebook-Projekt zwar anfangs noch kein ausgereiftes methodisch-didaktisches Konzept hatten (es noch immer nur in kleinen Ansätzen haben), da wir auf sehr vielen Ebenen parallel tätig waren, um das Projekt überhaupt starten und durchziehen zu können. Ich denke, es hat sich gelohnt! Man kann andere Schulen nur ermutigen, sich in Neuland zu wagen, neue Wege zu beschreiten, ohne darauf zu warten, bis alles schon komplett durchdacht und überlegt ist; eine gewisse Spontaneität, Kreativität und Flexibilität im Unterricht ist für alle Beteiligten eine Bereicherung. Bei der technischen Realisierung empfehle ich, in der ersten Phase gewisse Abstriche ähnlich wie bei der methodisch-didaktischen Konzeption zu machen; hier hatten wir uns arbeitsmäßig zu viel aufgebürdet. Den technischen Bereich sehe ich als den problematischsten; langfristig werden derartige Projekte und sinnvoller Computereinsatz im Unterricht im großen Rahmen nur möglich sein, wenn im technischen Sektor ein Outsourcing stattfindet. Wir hoffen, durch unser Engagement mit dahin gewirkt zu haben, dass sich diese Erkenntnis bei den Entscheidungsträgern durchsetzt. Die Gespräche in der Arbeitsgruppe sowie zahlreiche informelle Unterhaltungen haben gezeigt, wie wichtig und bereichernd es sein kann, wenn Leute unterschiedlicher Richtung zusammenarbeiten — ohne Überheblichkeit, sondern offen und ehrlich. Lehrer stehen im Alltag, für methodisch-didaktische Überlegungen bleibt meist nur in exemplarisch vorbereiteten Unterrichtsstunden Zeit. Will man aber die gesamte Unterrichtsmethode umstellen, etwa auf mehr Computereinsatz, so ist es unmöglich, jede Stunde selber zu planen und zu durchdenken. Hier bedarf es — wie sich in der Arbeitsgruppe gezeigt hat — Hilfestellungen sowohl von Didaktikern, als auch von Programm- und Medien-Entwicklern. Umgekehrt bin ich überzeugt, dass auch die Anregungen aus der Praxis positiv in die Universitäten, die ja die zukünftigen Lehrer ausbilden, einfließen werden. 183 PISA und Neue Technologien ∗ z Anselm Lambert, Saarbrücken Klar ist: der heutige Mathematikunterricht, aufgepeppt mit Neuen Technologien, ist nicht die Lösung der uns und allen von der PISA-Studie vor Augen geführten Probleme. Dennoch können Neue Technologien einen wertvollen Beitrag leisten, die uns gestellten Aufgaben zu meistern. Kurzfristig wirkende Lösungen sind nicht zu erwarten. In Variation über ein bekanntes Zitat lässt sich gerade im Zusammenhang mit Neuen Technologien sehr gut beginnen mit: „PISA zwingt uns zum Nachdenken über Dinge, über die wir auch ohne PISA schon längst hätten nachdenken müssen“, und wir können ergänzen: „und auch nachgedacht haben“. So ist der vorliegende Beitrag der AG „PISA und Neue Technologien“ zu verstehen gemäß eines Spiralprinzips didaktischen Mahnens: wiederholen, vertiefen, weiterentwickeln. Das meiste des hier Gebotenen ist weit bekannt, was es aber leider nicht überflüssig macht, erneut darauf hinzuweisen. Im internationalen PISA-Test schnitten die deutschen Schülerinnen und Schüler bekanntlich knapp unter mittelmäßig ab. Sie waren auf die ihnen dort gestellten Probleme nicht hinreichend durch ihren alltäglichen Mathematikunterricht und die von ihnen dort zu bearbeitenden Aufgaben vorbereitet. Die in den internationalen PISA-Aufgaben abgebildete Aufgabenkultur zeichnet eben gerade kein Bild der deutschen Aufgabenkulturpraxis, auch wenn diese PISAAufgaben ein treffendes Bild eines von Vielen mitgeträumten Aufgabenkulturwunsches abgeben und die in der PISA-Studie formulierten Ziele mathematischer Grundbildung sicher von den meisten Lehrkräften bereitwillig und mit innerer Überzeugung unterschrieben würden. Eines der dort formulierten Ziele ist das auf Freudenthal zurückgehende „Mathematik als Sprache zur Beschreibung der Phänomene in unserer Wirklichkeit“ einsetzen zu können. Was heißt das für den Mathematikunterricht, der darauf vorbereiten soll? Das heißt: Es müssen bewusst vollständige Modellbildungsprozesse ( ||: Modellieren, Mathematisieren, Kalkulieren, Interpretieren, Validieren :|| ) durchlaufen werden; wir müssen weg von einer Betonung der Kalküle und ihres Einschleifens. Sicher tragen Kalkülfertigkeiten und die daraus resultierenden Fähigkeiten ihren Teil zu gelingenden mathematischen Prozessen bei: Kalküle befreien zum Denken. Aber das Rattern von Tonleitern und das sequenzielle Abarbeiten kleiner Fingerübungen machen noch keinen Pianisten. Mathematiker sagen hier: Es ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Neue Technologien begünstigen komplexe, wirklichkeitsnähere, weniger reduktionistische Aufgaben: Computeralgebrasysteme ermöglichen Kalkulationen, die händisch unüberschaubar wären; Tabellenkalkulationen ermöglichen strukturiertes Verarbeiten sonst zu großer Datenmengen. So können auch anwendungsbezogene Aufgaben mit wirklichkeitsnäherem Material durchgeführt werden. Wirklichkeitsnähe heißt auch, dass die Wahl des geeigneten Werkzeugs mit zur Modellierung und Mathematisierung gehört. Wir dürfen hier nicht in die gleiche Schubladenpraxis verfallen, die wir im klassisch fehllaufenden Mathematikunterricht bedauern. Also nicht: jetzt machen wir Tabellenkalkulation und dann ein paar Aufgaben damit, ein andermal Computeralgebrasysteme und dann einige Aufgaben damit usw. usf. Eben gerade nicht „usw. usf.“ Wir sollten bekanntlich aus Fehlern lernen, um uns empor zu irren. So wie Schülerinnen und Schüler in unserer Zielvorstellung, verwirklicht durch ein Spiralprinzip, die ihnen nahegebrachte Mathematik im Ganzen nutzen, also die geeigneten mathematischen Methoden selbst bestimmen, sollten sie die Neuen Werkzeuge im Ganzen nutzen, als Teil der Modellbildung das geeignete Werkzeug selbst bestimmen. ∗ Teilnehmende der AG „PISA und Neue Technologien“ unter der Leitung von Rolf Neveling: Andreas Büchter, Heinz Laakmann, Anselm Lambert, Holger Lang, Timo Leuders, Dorothee Maczey, Rolf Neveling, Mareike Oberthür, Reinhard Oldenburg, Uwe Peters, Michael Schneider, Hans-Dieter Stenten-Langenbach, Jens Weitendorf 184 AG „PISA und Neue Technologien“ Neue Technologien als integriertes Werkzeug begünstigen offene Aufgaben. Offene Aufgaben gerade auch mit Neuen Technologien vergrößern die Unterrichtsformenvielfalt: expositorischer Frontalunterricht, dessen Dominanz im Alltag ein echtes Defizit ist, ist nicht mehr so leicht möglich. Im Unterricht sind alle Beteiligten zu mehr Kommunikation, zu Verständigung und Kooperation (ein wichtiges Ziel von Allgemeinbildung) gezwungen, einerseits unter den Schülerinnen und Schülern, andererseits zwischen Lernenden und Lehrkraft. Aber auch für die Kommunikation unter Lehrerinnen und Lehrern bergen die Neuen Technologien das Potenzial zum Aufbrechen verkrusteter Strukturen. Die Veränderung des Mathematikunterrichts vollzieht sich unter dem Eindruck Neuer Technologien so schnell, dass einzelkämpferische Selbstfortbildung schnell an natürliche Grenzen stößt. Hier müssen die einzelnen Lehrkräfte sich im Alltag im Erfahrung-Sammeln und -Auswerten gegenseitig unterstützen und ergänzen. Darüber hinaus benötigen sie eine substanzielle Unterstützung von außen durch Fortbildungsmaßnahmen als Reflexionsebenen. Diese Fortbildungen sollten vor Ort in den Schulen stattfinden. Wir sollten uns immer wieder das Spiralprinzip als tragfähiges Grundgerüst didaktischen Handelns in Erinnerung rufen, als Hilfe gegen Schubladisierung und Vergessen. Die Mathematik der Sekundarstufe I ist zu sehr auf die Vorbereitung der Mathematik in Sekundarstufe II fixiert, die wiederum zur Uni schielt. Wir müssen den eigenen unabhängigen Wert der zu vermittelnden Inhalte (wieder) weiter herausstellen. „Spiralprinzip“ sollte ja gerade nicht heißen, dass wir jetzt etwas machen, weil wir es später mal brauchen, sondern dass wir jetzt etwas Fundamentales machen, das wir später erneut aufgreifen und weiter vertiefen. So dürfen wir etwa Termumformungen nicht deshalb unterrichten, weil wir sie ein paar Jahre später in den Kurvendiskussionen benötigen, sondern weil sie von eigenem Wert sein können. Welchem eigentlich in Anbetracht von CAS? Erinnern wir uns also auch an die nach wie vor unbeantwortete und heute mehr denn je drängende Frage danach, wie viel Termumformung der Mensch den eigentlich benötige? Die verstärkte Wiederbesinnung auf das Spiralprinzip benötigt keine Veränderung der Lehrpläne oder Rahmenrichtlinien, es müssen nur die Schwerpunkte wieder zurechtgerückt werden. Schulbücher sind eine wichtige Stütze im Alltag. Mit Freude ist festzustellen, dass aus einigen Werken vom breiten Einzug offener Aufgaben zu berichten ist. So können Schulbücher als täglicher Anreiz zum Umdenken dienen. Neue Technologien sollten stärker im Verbund mit konkreten Unterrichtsmaterialien zur Verfügung stehen. Schulbücher sollten als wichtige Logistikzentrale der tagtäglichen Unterrichtsgestaltung konkrete Beispiele sinnvollen Einsatzes Neuer Technologien bereithalten. Wegen der Schnelllebigkeit der Entwicklung ist dies auf ständig aktualisierten Ergänzungsseiten zum Schulbuch im Internet wünschenswert. Ein wichtiges Resultat der PISA-Studie ist die Feststellung, dass es deutschen Schülerinnen und Schülern häufig an der Fähigkeit (an innerer Bereitschaft, an fachlicher Kompetenz und an Kreativität) fehlt, sich ihnen unbekannten Problemen zu stellen. Mit der Antarktisaufgabe aus PISA können wir leicht die Beobachtung machen, dass sie von Schülerinnen und Schülern eines sechsten Schuljahres bereitwilliger angegangen wird, als von Schülerinnen und Schülern eines neunten Schuljahres, die nicht mehr so recht wissen, welches der in der Schule gelehrten Verfahren sie denn hier nun abrufen und abrechnen sollen. Dies ist ein Problem, das wir nicht allein mit Neuen Technologien lösen, sondern nur mit einer insgesamt veränderten Unterrichtsund speziell Aufgabenkultur, zu der dann allerdings Neue Technologien wie oben skizziert ihren spezifischen Beitrag leisten können. LLP können zur Behebung individueller Defizite und somit zur Absicherung von Standards sinnvoll eingesetzt werden, ebenso zur inneren Differenzierung in einzelnen Unterrichtsphasen, aber sie können nicht generell den Unterricht ersetzen. Neue Technologien können — richtig eingesetzt — ihren Beitrag zu einer Verbesserung des Mathematikunterrichts leisten; sie sind aber (ebenso wenig wie ein Wildwuchs zentraler Prüfungen) nicht die Lösung all unserer von PISA aufgezeigten Probleme. Ziel einer allgemeinbildenden Schule und damit auch ihres Mathematikunterrichts ist (um eine häufig in Vergessenheit zu geraten drohende Trivialität zu bemühen) Allgemeinbildung. Mathematik als sachliche Sprache ist allgemeinbildend. Mathematik ist ein wichtiger und unverzichtbarer Schlüssel zum Verständnis der Welt. Die 185 Anselm Lambert Sprache „Mathematik“ beschreibt Welt und schreibt uns Welt vor. Mathematik tritt in den in ihr formulierten Modellen deskriptiv und normativ zu Tage. Auch das müssen die Schülerinnen und Schüler erfahren und erleben. Dort, wo Neue Technologien dieses unterstützen, leisten sie ihren Beitrag zu unserem allgemeinbildenden Unterricht. So können heute auch Inhalte wie Bevölkerungsentwicklung und Zuwanderung oder Häuserkauf und Bankkredite oder Steuersätze und Staatsschulden im Mathematikunterricht thematisiert werden. Solche Themen waren früher zu komplex, da sie die Möglichkeiten händischer Bearbeitung weit überschritten. Solche Themen sind aber in der Lage, die Bedeutung von Mathematik 186 als sachlicher Sprache in deskriptiven Modellen zum Diskutieren wichtiger Probleme oder die Bedeutung von Mathematik als Wirklichkeitserzeuger mittels normativer Modelle klar zu machen. Wir können auf diesem Wege im Mathematikunterricht zur Mündigkeit erziehen und den Lernenden den Weg zur gestaltenden, konstruktiven, engagierten und reflektierenden Teilnahme und Teilhabe an der Gesellschaft eröffnen. Ein wichtiges Ziel eines allgemeinbildenden Mathematikunterrichts ist, seinen Beitrag zum „Verstehen der Welt“ zu leisten. Die Erinnerung an Mathematik, als der nicht enden wollende Versuch, Vernunft in die Welt zu bringen, lässt diesen Beitrag in Variation über ein bekanntes Zitat enden. z Computerunterstützter Mathematikunterricht in der Lehreraus- und -fortbildung ∗ Hubert Weller, Lahnau Wer mit der Ausbildung von jungen Lehrern zu tun hat, weiß, dass diese zunächst einmal das Skript von Unterricht fortführen, das sie selbst erlebt haben. Das ist in der Regel lehrerzentrierter Frontalunterricht mit vielen Papier-und-Bleistift-Aktivitäten. Der Einsatz von Computerprogrammen wird häufig wegen organisatorischer Probleme, oder weil das für Schüler „zu schwer“ ist, überhaupt nicht in Betracht gezogen. Auf der anderen Seite wissen wir, dass der angemessene Einsatz von Computern im Mathematikunterricht ein Katalysator für einen schüleraktiven Unterricht sein kann. Wie können wir den jungen Lehrern eigene Erfahrungen im Einsatz von Computern im Unterricht vermitteln? 1 Unterstützung durch die Kultusministerien Von offizieller Seite wird die Integration der Medien in den Unterricht inzwischen nicht nur unterstützt, sondern sogar ausdrücklich gefordert. Beispiele für diese Initiativen sind e-nitiative in Nordrhein-Westfalen, n21 in Niedersachsen oder schule@zukunft in Hessen. Dabei ist zu beobachten, dass in den Schulen nicht nur die Einrichtung von PC-Räumen gefördert wird, die vielleicht sporadisch im Unterricht genutzt werden können, sondern „in weiterführenden Schulen sind für die Aufgaben der Medienerziehung Computer und ein Internetzugang auch in den einzelnen Klassenräumen sinnvoll.“ Die Entwicklung wird also in Zukunft dahin gehen, dass die neuen Technologien in jedem Klassenraum ständig verfügbar sein werden. Die Lehrerinnen und Lehrer müssen Kompetenzen erwerben, die einen sinnvollen Einsatz im Unterricht ermöglichen. „Diese Kenntnisse können aber nur dann im Unterricht wirksam werden, wenn sie Bestandteil der didaktischen Kompetenz der Lehrerinnen und Lehrer im Fachunterricht werden.“ Aber welche Kompetenzen müssen von den Lehrenden entwickelt werden? Diese Frage lässt sich nur beantworten im Zusammenhang mit der Frage: „Welche grundlegenden Inhalte lernen Schüler in der Zukunft mit Hilfe welcher Medien in welchen Organisationsformen?“ 2 Die Arbeit in der Schule Wenn Schülerinnen und Schüler angeboten wird, mit neuen Werkzeugen zu arbeiten, dann nehmen sie das in der Regel gut an. Insbesondere müssen sie die Möglichkeit haben, selbst zu entscheiden, welches Werkzeug sie für eine bestimmte Problemstellung nutzen wollen. Eine anfangs beobachtbare Neugier („was kann ich denn alles noch so machen?“) weicht bald einer sachlichen zielgerichteten Nutzung des Werkzeugs zur Bearbeitung eines Problems. Der Unterricht wird in der Regel anspruchsvoller („früher haben wir mehr gerechnet, heute reden wir mehr über Mathematik“), die Phasen lehrerzentrierten Unterrichts müssen zugunsten von selbstständigem Arbeiten der Schülerinnen und Schüler reduziert werden. Kalkülfertigkeiten verlieren an Bedeutung, Grundlagen werden wichtiger, insbesondere die Möglichkeit des Experimentierens und realitätsorientierte Fragestellungen machen den Unterricht interessanter. Ein wichtiger Punkt ist aber die ständige Verfügbarkeit der Werkzeuge: die Schülerinnen und Schüler müssen bei der Arbeit in der Schule und zu Hause, bei Klassenarbeiten und auch im Abitur das Werkzeug zur Verfügung haben. Hier ist ein wesentlicher Punkt: jeder Lehrer kennt die organisatorischen Schwierigkeiten, wenn der schuleigene PC-Raum genutzt werden soll! Ist der Raum auch frei? Wenn ich ihn dann nutzen kann, dann sollen die Rechner aber auch intensiv, d.h. die ganze Stunde einge- ∗ Teilnehmende der AG „Computerunterstützter Mathematikunterricht in der Lehreraus- und -fortbildung“ unter der Leitung von H. Weller: D. Aßmus, A. Filler, D. Haftendorn, G. Heintz, P. Kirsche, I. Lehmann, E. Malitte, H. Müller-Sommer, K. Richter, G. v. Saint-George, W. Schulz, S. Stachniss-Carp, K. Tschacher, P. Ullrich, K. P. Wolff 187 Hubert Weller setzt werden. Oft steht die Einrichtung der PC-Räume einem Unterricht ohne PC-Einsatz entgegen. Welcher Lehrer hat schon die Möglichkeit, seinen gesamten Mathematikunterricht in einem Raum mit PCs zu organisieren? So kann man auch verstehen, warum bei Lehrern die Zustimmung zu neuen Medien nicht zwangsläufig die persönliche Bereitschaft zur intensiven Nutzung nach sich zieht. hältnissen in der Ausbildungsschule in hohem Maße abhängig. Wird der Einsatz neuer Technologie von der MathematikFachkonferenz unterstützt, dann sind die Voraussetzungen erheblich besser als an einer Schule, in der ein Referendar als „Einzelkämpfer“ den Unterricht mit neuen Technologien organisieren möchte. 4 3 Lehrerausbildung Es ist schon erstaunlich, wie viele Lehramtstudenten in den ersten Semestern noch nie etwas von Computer-Algebra-Systemen und Dynamische-Geometrie-Software gehört haben. Diese Studenten müssen die Gelegenheit haben, eigene Erfahrungen mit diesen Programmen zu sammeln. Diese darf natürlich nicht beschränkt sein auf das Erlernen der Bedienung, sondern muss von Anfang an orientiert sein an der Bearbeitung interessanter mathematischer Problemstellungen. Je mehr Werkzeuge zur Verfügung stehen, desto differenzierter kann ein Problem auf unterschiedlichen Ebenen bearbeitet werden. Hier ist es sicher wünschenswert, dass in der Lehrerausbildung an der Hochschule verstärkt mit neuen Werkzeugen gearbeitet wird. Darüber hinaus habe ich die Erfahrung gemacht, dass Studenten einem Einsatz in der Schule zunächst sehr skeptisch gegenüber stehen, auch wenn sie selber gerne damit gearbeitet haben. Erst wenn sie z.B. während eines Schulpraktikums erfahren konnten, wie ein Unterricht mit dem Einsatz von CAS organisiert werden kann und wie die Schüler selbstständig mit diesen Werkzeugen umgehen, sind sie überzeugt von der Sinnhaftigkeit eines solchen Unterrichts. Im Referendariat sind momentan die Verhältnisse ähnlich: die meisten Referendare haben noch nie mit CAS oder DGS selbst gearbeitet; einen Unterricht, in dem Schüler neue Werkzeuge nutzen konnten, haben sie in den seltensten Fällen „live“ erlebt. Die Forderung nach Integration der neuen Medien in die Seminararbeit wird jetzt allmählich umgesetzt. Hier ist aber der zeitliche Rahmen sehr eng, die didaktisch-methodische Vorbereitung der Unterrichtstätigkeit steht im Zentrum der Ausbildung. Bei der Umsetzung von Unterrichtsideen, die neue Werkzeuge nutzen, ist aber jede Referendarin und jeder Referendar von den Ver- 188 Lehrerfortbildung Wer engagiert in der Lehrerfortbildung arbeitet, weiß, dass Veränderungen nur sehr mühsam erreicht werden können, so dass man manchmal tatsächlich das Gefühl haben kann, dass die Wirkung der Fortbildung die gleiche ist wie die eines Tropfens auf einen heißen Stein. Erfreulich ist aber die Tatsache, dass zunehmend ganze Fachkonferenzen Fortbildungsbedarf anmelden. Ein landesweites Konzept, wie es etwa im SINUS-Programm oder bei Methodenfortbildung umgesetzt wird, ist für die Nutzung neuer Werkzeuge im Mathematikunterricht jedoch — zumindest in Hessen — nicht in Sicht. „Da von den neuen Lehr- und Lernmedien nur geringe eigene Innovationskräfte erwartet werden, wird deren curriculare Verankerung gewünscht.“ Vielleicht kann auf diese Art und Weise „die Fortbildungsbereitschaft der Lehrerinnen und Lehrer stimuliert werden“, wie es derzeit in BadenWürttemberg oder Sachsen der Fall ist. Dort wird die Nutzung eines graphikfähigen Taschenrechners verbindlich vorgeschrieben. 5 Fazit In den Diskussionen in der Arbeitsgruppe wurden die folgenden Anregungen, Forderungen bzw. Fragen festgehalten: • Eine eigene Veranstaltung „Computer im Mathematikunterricht“, wie sie an verschiedenen Hochschulen angeboten wird, muss langfristig überflüssig werden. Wünschenswert ist die Nutzung und die Reflexion des Einsatzes der neuen Werkzeuge in den üblichen Didaktik-Veranstaltungen (oder auch Fach-Veranstaltungen) zu integrieren. • Wenn möglich, sollten Vorlesungen und Übungen integriert angeboten werden. • Die Vermittlung mathematischer Inhalte und die Diskussion der didaktischen AG „Computerunterstützter Mathematikunterricht in der Lehreraus- und -fortbildung“ Konzepte muss im Vordergrund stehen (keine Veranstaltung zum reinen „Handling“ einer Software). Es darf keine Technikdiskussion geführt werden. An einfachen Beispielen sollten die Studenten die Mächtigkeit der Werkzeuge entdecken. • Die Grenzen des Computereinsatzes im Unterricht müssen immer im Auge behalten werden. • Können interaktive Lernprogramme für die Lehrerausbildung an den Hochschulen genutzt werden? • Welche Lernprogramme sind für den Unterricht in der Hauptschule sinnvoll? • Die Medienkompetenz der Lehrerinnen und Lehrer im Schuldienst muss gefördert werden. Inzwischen werden immer mehr Fortbildungen für ganze Fachkonferenzen nachgefragt. Literatur Borneleit, P. u. a. (2001): Expertise zum Mathematikunterricht in der gymnasialen Oberstufe. In: Journal für Mathematik-Didaktik 22, 73–90 Vollstädt, W. (2002): Zukünftige Entwicklung von Lehr- und Lernmedien. Studie der Cornelsen-Stiftung „Lehren und Lernen“. Berlin: Cornelsen Weller, H. (2002): Computeralgebra in der Schule — „Wie ein Tropfen auf den heißen Stein...“. In: Computeralgebra Rundbrief 31, 12–15 189 Tagungsprogramm Freitag, 27. 09. 2002 Vormittags Anreise im Landesinstitut für Schule (LfS), Paradieser Weg 64, 59494 Soest, Tel. 02921-6831, Fax 02921-683-228 Mittagessen im LfS 12.30 13.30 Eröffnung Hauptvortrag 13.45 – 14.45 Horst Hischer, Saarbrücken Mathematikunterricht und Neue Medien – oder: Bildung ist das Paradies! Sektionsvorträge (30 min Vortrag + 15 min Diskussion) D011 Raum 24/25 15.00 – 15.45 Zseby, Siegfried Die elektronische Kreide 15.50 – 16.35 Heintz, Gaby Zimmer, Bert Einsatz von DGS am Beispiel von Cinderel- Gruppentheorie mit dem Computer la 16.35 – 17.05 17.05 – 17.50 17.55 – 18.40 Löbbert, Eckhard Lernumgebung zum Orientierungswissen Hypothesentest Kaffee- bzw. Teepause Leuders, Timo Raumgeometrie mit dem Computer — Schülerprojekte in 2 bis 5 Raumdimensionen Gawlick, Thomas DGS als Trägermedium für interaktive Arbeitsblätter zur Differenzialrechnung 18.45 Hartmann, Mutfried Formen multimedialen Lehrens - ein Vergleich Pallack, Andreas Zur Integration von LLP in den Mathematikunterricht Abendessen Sektionsvorträge (30 min Vortrag + 15 min Diskussion, 5 min Wechsel) D011 20.00 – 20.45 20.45 – ... 190 Raum 24/25 Heske, Henning & Wesker, Heinz Weitendorf, Jens Stationen lernen mit neuen Medien im Ma- Modellierung thematikunterricht der Sek. II Gemütlicher Ausklang im „rostigen Kegel“ und im „Kaminzimmer“, handgemachte Musik, ... Samstag, 28. 09. 2002 08.00 Frühstück Hauptvortrag Martin Hennecke, Hildesheim 09.00 – 10.00 Fehlerdiagnose in intelligenten Lehr-Lern-Systemen Sektionsvorträge (30 min Vortrag + 15 min Diskussion, 5 min Wechsel) D011 Raum 24/25 Oldenburg, Reinhard Wittmann, Gerald Ein Prototyp zur Integration von CAS und Grundfragen der Evaluation multiDGS medialen Lernens 10.05 – 11.50 10.50 – 11.10 Kaffee- bzw. Teepause Elschenbroich, Hans-Jürgen Dynamisch Funktionen entdecken 11.10 – 11.55 11.55 – 12.40 12.40 Schoy, Monika Gestaltungs- und Bewertungskriterien von Mathematik-Software für die Grundschule am Beispiel von "Matheland" Krivsky, Stefanie Motivationsmöglichkeiten von Lehr- und Lernprogrammen Mittagessen Sektionsvorträge (30 min Vortrag + 15 min Diskussion, 5 min Wechsel) D011 Raum 24/25 14.00 – 14.45 Maczey, Dorothee Lambert, Anselm Über die Wirkung von DGS in der Lehr- Begriffsbildung im Mathematikunterricht amts-Ausbildung 15.00 Arbeitsgruppen mit einer geeigneten Einführung Thema Leitung 1 Geometrieunterricht am Notebook in der 7. Jahrgangsstufe Hagan, Claudia 2 Computerunterstützter Mathematikunterricht in der Lehreraus- und -fortbildung Weller, Hubert 3 PISA und Neue Technologien – Konsequenzen und konstrukti- Neveling, Rolf ve Vorschläge 18.30 Abendessen 19.30 – 20.15 Fortsetzung der Arbeitsgruppen 20.30 ... Abendprogramm: zu Fuß (ca. 15 min) Ausflug in das „Brauhaus Christ“ in der Soester Altstadt ...danach ... Ausklang im LfS 191 Sonntag, 29. 09. 2002 08.00 Frühstück, Zimmerräumen Hauptvortrag 09.00 10.00 – Wolfgang Fraunholz, Koblenz Möglichkeiten und Grenzen problemorientierten Arbeitens beim computergestützten Lernen, dargestellt an einer Lernumgebung zur Linearen Algebra Sektionsvorträge (30 min Vortrag + 15 min Diskussion, 5 min Wechsel) D011 Raum 24/25 10.05 10.50 Sorgatz, Andreas – Lehmann, Eberhard Mathematiklernen durch Erstellen von A- Das Computeralgebra-System "MuPAD nimationen Pro 2.5" 10.50 11.15 – 11.15 12.15 – Kaffee- bzw. Teepause Ergebnisse der Arbeitsgruppen, Tagungsbilanz, Abschlussdiskussion 12.15 13.30 Mittagessen, Kaffee bzw. Tee Tagungsende Teilnehmerinnen- und Teilnehmerliste Aßmus, Daniela [email protected] [email protected] Barzel, Bärbel [email protected] Bender, Peter Büchter, Andreas [email protected] [email protected] Christmann, Norbert [email protected] Dachtler, Margrit [email protected] Daubert, Kurt [email protected] Detering, Eike A. [email protected] Duffner, Martin [email protected] Eichler, Andreas [email protected] Elschenbroich, Hans-Jürgen [email protected] Fankhänel, Kristine [email protected] Altmann, Rainer 192 Filler, Andreas [email protected] Flick, Eva [email protected] Förster, Frank [email protected] Fraunholz, Wolfgang [email protected] Friebe, Wolfgang [email protected] Frisch, Wolfgang Gawlick, Thomas [email protected] Griebel, Stephan [email protected] Günther, Klaus [email protected] Hafenbrak, Bernd [email protected] Hagan, Claudia [email protected] Hartmann, Mutfried [email protected] Heintz, Gaby [email protected] Hennecke, Martin [email protected] Herget, Wilfried [email protected] Heske, Henning [email protected] Hischer, Horst [email protected] Hofer, Matthias Hoja, Gerold [email protected] [email protected] Junek, Heinz [email protected] Kirsche, Peter [email protected] Klaner, Kurt M. [email protected] Klöppner, Göde [email protected] Krivsky, Stefanie [email protected] Kronfellner, Manfred [email protected] Kunze, Antje [email protected] Laakmann, Heinz [email protected] Lambert, Anselm Lang, Holger [email protected] [email protected] Lehmann, Eberhard [email protected] Lehmann, Ingmar Lessor, Mark [email protected] Leuders, Timo [email protected] Löbbert, Eckhard [email protected] Maczey, Dorothee [email protected] Malitte, Elvira [email protected] Manthey, Hasso B. [email protected] Merkel, Caroline [email protected] Meyer, Jörg [email protected] Müller-Sommer, Hartmut [email protected] [email protected] 193 194 Neveling, Rolf [email protected] Oberthür, Mareike [email protected] Oldenburg, Reinhard [email protected] Pallack, Andreas Peters, Uwe [email protected] [email protected] Richter, Karin [email protected] Schleyer, Margit Schneider, Michael [email protected] Schoy, Monika [email protected] Schulz, Wolfgang [email protected] Schwarze, Monika [email protected] Schwill, Andreas Sigusch, Nadine [email protected] [email protected] Sommer, Rolf [email protected] Sorgatz, Andreas [email protected] Stauff, Heinrich Stachniss-Carp, Sibylle [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] Stenten-Langenbach, Hans-Dieter Sudhoff, Werner [email protected] Thies, Silke [email protected] Tschacher, Karel [email protected] Ullrich ,Peter [email protected] Von Saint-George, Guido [email protected] Weber, Wolfgang [email protected] Weigand, Hans-Georg [email protected] Weigel, Wolfgang [email protected] Weitendorf, Jens [email protected] Weller, Hubert [email protected] Wesker, Heinz [email protected] Weth, Thomas [email protected] Wittmann, Gerald [email protected] Wolff, Klaus P. [email protected] Ziller, Jörg [email protected] Zimmer, Bert [email protected] Zseby, Siegfried [email protected]