Lehr- und Lernprogramme für den Mathematikunterricht

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Lehr- und Lernprogramme für den Mathematikunterricht
proceedings
Peter Bender; Wilfried Herget; Hans-Georg Weigand; Thomas Weth
(Hrsg.)
Lehr- und Lernprogramme für
den Mathematikunterricht
Bericht über die
20. Arbeitstagung des Arbeitskreises
„Mathematikunterricht und Informatik“ in der
Gesellschaft für Didaktik der Mathematik e. V.
vom 27. bis 29. September 2002 in Soest
diverlag
franzbecker
proceedings
Peter Bender; Wilfried Herget; Hans-Georg Weigand; Thomas Weth
(Hrsg.)
Lehr- und Lernprogramme für
den Mathematikunterricht
Bericht über die
20. Arbeitstagung des Arbeitskreises
„Mathematikunterricht und Informatik“ in der
Gesellschaft für Didaktik der Mathematik e. V.
vom 27. bis 29. September 2002 in Soest
diverlag
franzbecker
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Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
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Peter Bender; Wilfried Herget; Hans-Georg Weigand; Thomas Weth
(Hrsg.)
Lehr- und Lernprogramme für den Mathematikunterricht
Bericht über die 20. Arbeitstagung des Arbeitskreises „Mathematikunterricht und Informatik“ in der Gesellschaft für Didaktik
der Mathematik e. V. vom 27. bis 29. September 2002 in Soest
ISBN 3-88120-351-6
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anderes Verfahren als auch für die Übertragung auf Filme, Bänder,
Platten, Transparente, Disketten und andere Medien.
© 2003 by Verlag Franzbecker, Hildesheim, Berlin
Inhalt
Lehr- und Lernprogramme für den Mathematikunterricht
5
Peter Bender, Paderborn & Wilfried Herget, Halle a. d. Saale & HansGeorg Weigand, Würzburg & Thomas Weth, Nürnberg-Erlangen
z
Hauptvorträge
Möglichkeiten und Grenzen problemorientierten Arbeitens beim computergestützten Lernen — dargestellt an einer Lernumgebung zur Linearen Algebra
7
Wolfgang Fraunholz, Koblenz
Fehlerdiagnose in intelligenten Lehr-Lern-Systemen
16
Martin Hennecke, Hildesheim
Mathematikunterricht und Neue Medien — oder: Bildung ist das Paradies!
24
Horst Hischer, Saarbrücken
z
Sektionsvorträge
Funktionen dynamisch entdecken
43
Hans-Jürgen Elschenbroich, Neuss
DGS als Trägermedium für interaktive Arbeitsblätter in der Differentialrechnung
54
Thomas Gawlick, Landau
Formen multimedialen Lehrens — ein Vergleich
67
Mutfried Hartmann, Nürnberg
Einsatz von DGS am Beispiel von Cinderella
71
Gaby Heintz, Neuss
Stationenlernen mit neuen Medien im Mathematikunterricht der Sek. II
79
Henning Heske & Heinz Wesker, Dinslaken
Motivationsmöglichkeiten von Lehr- und Lernprogrammen
85
Stefanie Krivsky, Wuppertal
Begriffsbildung im Mathematikunterricht
91
Anselm Lambert, Saarbrücken
Raumgeometrie mit dem Computer —
Schülerprojekte in 2 bis 5 Raumdimensionen
105
Timo Leuders, Dortmund
Lernumgebung zum Orientierungswissen „Hypothesentest“
112
Eckhard Löbbert, Haltern am See – Sythen
3
Ein Projekt zum Einsatz von Software für Dynamische Geometrie
(DGS) in derLehramts-Ausbildung: Ein Zwischenbericht
116
Dorothee Maczey, Paderborn
Feli-X: Ein Prototyp zur Integration von CAS und DGS
123
Reinhard Oldenburg, Göttingen
Zur Integration von Lehr- und Lernprogrammen in den Mathematikunterricht
133
Andreas Pallack, Essen
Gestaltungs- und Bewertungskriterien zur Beurteilung von MathematikSoftware für die Grundschule — am Beispiel von Matheland
143
Monika Schoy, Weingarten
Modellierung in der Schule
151
Jens Weitendorf, Norderstedt
Grundfragen der Evaluation multimedialen Lernens
155
Gerald Wittmann, Würzburg
Gruppentheorie — anschaulich mit dem Computer
162
Bert Zimmer, Karin Richter & Wilfried Herget, Halle a. d. Saale
Die Elektronische Kreide: Erfahrungen und Perspektiven
174
Siegfried Zseby, Berlin
z
Arbeitsgruppen
Geometrie am Notebook in der 7. Jahrgangsstufe
178
Claudia Hagan, Veitshöchheim
PISA und Neue Technologien
184
Anselm Lambert, Saarbrücken
Computerunterstützter Mathematikunterricht in der Lehreraus- und -fortbildung
187
Hubert Weller, Lahnau
z
Anhang
Tagungsprogramm
190
Teilnehmerinnen- und Teilnehmerliste
192
Titelgrafik: Rolf Sommer, Halle a. d. Saale, aus Abbildungen im Tagungsband mit Microsoft Office
4
z
Lehr- und Lernprogramme
für den Mathematikunterricht
Peter Bender, Paderborn
Wilfried Herget, Halle a. d. Saale
Hans-Georg Weigand, Würzburg
Thomas Weth, Nürnberg-Erlangen
Die 20. Herbsttagung unseres Arbeitskreises
„Mathematikunterricht und Informatik“ in der
Gesellschaft für Didaktik der Mathematik
(GDM) vom 27. bis 29. September 2002
stand unter dem Thema „Lehr- und Lernprogramme (LLP) für den Mathematikunterricht“.
Natürlich kann man dies sehr weit fassen:
Bei großzügiger Auslegung fällt jedes elektronische Medium unter diesen Begriff, wenn
es nur in didaktischer Absicht eingesetzt wird
—, ja sogar, wenn es ohne eine solche Absicht zum Lehren und/oder Lernen benutzt
wird. Selbstverständlich müssen Medien, die
als LLP in Frage kommen, nicht in elektronischer Form vorliegen: Wir brauchen dazu nur
an das gute alte Buch zu denken. Darüber
hinaus kann man sich sogar LLP vorstellen,
die überhaupt nicht in einem Medium manifestiert sind.
Allerdings legen Name und Tradition des Arbeitskreises sowie die Interessen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer nahe, dass
vornehmlich elektronische LLP und ihr Umfeld auf verschiedenen Ebenen betrachtet
werden. In der Tat boten die Vorträge, die
Arbeitskreise und die Diskussionen zwar ein
sehr breites Spektrum von Themen, aber
immer spielten die elektronischen Medien eine wesentliche Rolle. Hier wurde Mathematikdidaktik, und zwar unterrichtspraxisbezogene, im besten Sinne getrieben. Der Computer wurde nicht um seiner selbst, sondern
um seiner Möglichkeiten willen analysiert,
das Lehren und Lernen von Mathematik zu
befördern, — als ein Instrument in einem
ganzen Konzert von Mitteln, die den Mathematikunterricht unterstützen können bzw. ihn
beeinflussen.
Diese Tendenz ist bei den Jahrestagungen
unseres Arbeitskreises schon seit einiger Zeit
zu beobachten: dass die Teilnehmerinnen
und Teilnehmer sich wieder stärker auf die
mathematikdidaktische Substanz besinnen
und informatische Fragen etwas in den Hintergrund geraten. Das heißt nun aber nicht,
dass die Informatik und ihre Didaktik keine
Rolle mehr spielen würden. Vielmehr muss
man mit allem Nachdruck feststellen, dass
der jetzige Stand der Diskussion kräftige informatische Wurzeln hat und dass, jedenfalls
nach der herrschenden Meinung im Arbeitskreis, das Profil eines modernen Mathematikunterrichts von der Informatik mit geprägt
bzw. mit zu prägen ist. Wir wissen, dass die
Realität in den Schulen in Deutschland und
anderswo noch weit entfernt ist von einem
guten Mathematikunterricht mit der selbstverständlichen Nutzung informatischer Kenntnisse. Aber Praxisbezug heißt nicht nur (a)
„reale Lehr-Lern-Prozesse beschreiben und
anlysieren“, sondern (b), sehr wohl unter Beachtung der realen Möglichkeiten, „ideale
Lehr-Lern-Prozesse entwerfen“ und (c) „diese erproben“. Hier hat der Arbeitskreis immer, und auch diesmal, eine ausgewogene
Mischung zwischen stärker praxis- und stärker theoriegeleiteten Beiträgen aufzuweisen.
Mit dem Thema „LLP“ (verstanden im engeren und im weiteren Sinn) ist der Arbeitskreis
mitten in der aktuellen Diskussion. „Virtuelles
Lernen“, „E-Learning“, „Edutainment“ usw. sind
die Schlagworte der jüngsten Zeit. Schulbuchverlage wenden sich verstärkt dem Nachmittagsmarkt der „Selbstlernprogramme“ für die
Schülerinnen und Schüler zu. Zugleich werden umfangreiche Forschungs- und Entwicklungsprojekte für eine „virtuelle Universität“
vorangetrieben, bei deren Paradigmen und
Ergebnissen natürlich immer auch zu fragen
ist, wie weit sie auf die Schule übertragbar
sind und dort Visionen vom „virtuellen Klassenzimmer“ in die Reichweite konkreter Umsetzungen rücken lassen.
Pädagogische, didaktische, methodische und praktische Aspekte
Hier sind allerdings — und zwar, nach allen
unseren einschlägigen Erfahrungen, auch
(bzw. erst recht) bei beliebig starker Beteili-
5
Peter Bender & Wilfried Herget & Hans-Georg Weigand & Thomas Weth
gung menschlicher Lehrkräfte — z. T. ganz
einfache Fragen zu stellen wie:
Macht Lehr- und Lernsoftware das Lehren
und Lernen wirklich leicht und unterhaltsam?
„Die meiste Unterrichts-Software verhält sich
wie die alte Belehrungsschule, von der wir
uns seit hundert Jahren zu lösen versuchen:
Sie lenkt uns.“ — In wie weit ist diese Kritik
von Hartmut von Hentig (Forschungsdienst
Lesen und Medien Nr. 16, 2001) heute und in
Zukunft wohl noch zutreffend?
• Welche Erfahrungsberichte gibt es über
den Einsatz von LLP und über die Wirkung auf das Lehren und Lernen von Mathematik?
• Welche Möglichkeiten und Chancen, aber
auch Probleme und Schwierigkeiten für
das Lehren und Lernen bringen LLP mit
sich?
• Wie ist gerade angesichts der TIMSSund PISA-Diskussion die Rolle der LLP
einzuschätzen, wenn es weniger um das
Üben schlichter Fertigkeiten geht, sondern um eher anspruchsvollere Fähigkeiten und Grundverständnis?
• Wie können die Inhalte so aufbereitet und
dargestellt werden, dass die neuen Möglichkeiten wirklich genutzt werden?
• Welche aktuellen Entwicklungen hin zu
einer „intelligenten“, an dem Verhalten der
jeweiligen Lernenden orientierten Rückmeldung durch das LLP gibt es?
Diese Fragen wurden in den Vorträgen, Arbeitsgruppen und Diskussionen aufgenommen und in den Beiträgen in diesem Band
weiter behandelt und ausgeschärft. Wir wissen jetzt erheblich mehr als vor der Tagung.
Hauptvorträge
Abweichend von der bisherigen Tagungsstruktur haben wir die Hauptvorträge diesmal
nicht alle an den Anfang gestellt, sondern
zwecks Entzerrung über die drei Tage verteilt. Bereits in ihnen wird die Vielschichtigkeit
des Themas deutlich:
Als einer der erfahrensten Experten für Neue
Medien und speziell LLP im Mathematikunterricht berichtete Prof. Dr. Wolfgang Fraunholz, Emeritus an der Universität Koblenz,
über seine Erfahrungen bei der Entwicklung
einer Computer-Lernumgebung zur Linearen
Algebra, die inzwischen so gut wie „serienreif“ ist. Dabei ging es ihm einerseits darum,
die Möglichkeiten selbstständigen, problemorientierten Arbeitens mit einer solchen Lern-
6
umgebung zu demonstrieren, andererseits
wies er mit Nachdruck auch auf die Grenzen
hin, die nicht zuletzt im immensen Programmieraufwand begründet sind, der erforderlich
wäre, um den Lernenden ein wirklich freies
Arbeitens zu ermöglichen.
Auch im Vortrag von Dr. Martin Hennecke,
Universität Hildesheim spielte der zu vermeidende Aufwand — hier: von Speicherplatz
und Rechenzeit eines LLP — ein Rolle.
Hennecke stellte ein Programm (und dessen
Konstruktionsprinzipien) vor, das systematische Fehler, die Schülerinnen und Schüler
bei der Bruchrechnung machen, erkennt und
adaptiv Rückmeldungen gibt und das in seiner Leistungsfähigkeit weit über Produkte mit
vergleichbarem Anliegen hinausgeht.
Unser langjähriger AK-Leiter Prof. Dr. Horst
Hischer, Universität Saarbrücken, hingegen
ist das Thema fundamental angegangen, hat
einerseits einen weiten Bogen der historischen Entwicklung von unterrichtlich nutzbaren Medien von der babylonischen Keilschrift
bis hin zu den sog. Neuen Medien gespannt,
andererseits den Begriff der LLP sehr weit
gefasst und ihn in eine grundsätzliche pädagogisch-didaktische Diskussion eingebettet
und diese mit konkreten, überzeugenden
Beispielen vielfältig an die Praxis der Medien
gebunden.
Sektionsvorträge
und Arbeitsgruppen
Diese ausgesprochen breite Auseinandersetzung mit dem vielschichtigen Tagungsthema wurde in den insgesamt 19 Sektionsvorträgen und vier Arbeitsgruppen lebhaft
und kritisch-konstruktiv vertieft. Das meiste
davon findet sich in dem vorliegenden Tagungsband, teilweise noch aktualisiert und
ergänzt.
Dank
nicht zuletzt Herrn Dr. Rolf Sommer von der
Universität Halle-Wittenberg für seine umfassende und kompetente Beratung bei der Erstellung des Tagungsbands und insbesondere für die Schaffung der Titelseite.
Juli 2003
Peter Bender
Wilfried Herget
Hans-Georg Weigand
Thomas Weth
z
Möglichkeiten und Grenzen problemorientierten
Arbeitens beim computergestützten Lernen —
dargestellt an einer Lernumgebung zur Linearen
Algebra
Wolfgang Fraunholz, Koblenz
Die Kritik an Lernprogrammen, sie reproduzierten die alte Lernschule, da nur Wissen
vermittelt werde und die Selbstständigkeit des Lernens nicht gegeben sei, ist sicher zum
Teil berechtigt. Andererseits erheben aber Lernprogramme nicht den Anspruch, das
problemorientierte Arbeiten in Lerngruppen ersetzen zu wollen. Das Problem liegt darin,
dass die Reaktion eines Computerprogramms auf absolut freies Arbeiten von Lernenden
an einer Fragestellung — soweit sie überhaupt möglich ist — einen immensen Programmieraufwand bedeutet. Natürlich gibt es heute Methoden der Artificial Intelligence und
Datenbanksysteme, mit denen man auf der einen Seite sogenannte „Schülerprofile“ oder
auch „Gruppenprofile“ entwickeln und auf der anderen Seite immense Datenmengen zur
Verfügung stellen kann, aber solche Entwicklungen können nur mit öffentlichen Mitteln in
der Regel im Rahmen von Forschungsprojekten durchgeführt werden. Müssen die Entwicklungskosten — wie bei Verlagen selbstverständlich — durch den Verkauf der Produkte hereingeholt werden, bleiben diese Programme für Schulen unerschwinglich und
für Privatpersonen (Nachmittagsmarkt) uninteressant.
In der Tat sind die meisten auf dem Markt
befindlichen Lernprogramme zumindest
nicht in erster Linie für den Klassenunterricht entwickelt worden, sondern zur Unterstützung von Lernenden im Sinne einer
„Nachhilfe“. Die Aussage von Verlagen,
dass ein Lernprogramm sich nur dann
halbwegs kostendeckend vertreiben lässt,
wenn es auf dem „Nachmittagsmarkt“ gut
verkäuflich ist, zeigt diese Situation ganz
deutlich.
Man müsste daher von vornherein unterscheiden zwischen
— Programmen für Einzellerner,
— Programmen für eine Gruppenarbeit,
— Programmen für den Klassenunterricht.
Der Unterschied zwischen dem zweiten und
dritten Typ ist vermutlich unerheblich. Beide
setzen voraus, dass man nicht zu jeder Aufgabe die Antwortbestätigung oder auch die
Lösung erhält und dass eine relativ große
Anzahl von zusätzlichen Daten und Experimentierfeldern zur Verfügung gestellt
wird. Entdeckendes Lernen bedeutet ja
immer auch, dass man seine Entdeckung
testen und kontrollieren kann. Dies schließt
auch den Zugang zu einer Fachperson ein,
die der forschenden Gruppe „auf die
Sprünge“ helfen kann. Programme für den
Gruppen- oder Klassenunterricht sind also
mehr tools als Lernprogramme im engeren
Sinne. Ein weiterer Schritt wäre dann die
Entwicklung von tools durch die Lernenden.
Dazu haben wir in einigen Vorträgen Beispiele gesehen.
Spricht man nicht mehr von Lernprogrammen oder von tools als getrennt vorliegende
Möglichkeiten, Lernvorgänge mit einem
Computer zu unterstützen, ist man bei der
sogenannten Computer-Lernumgebung angekommen. Die Möglichkeiten einer Computer-Lernumgebung liegen darin, dass auf
der einen Seite man sich „belehren“ lassen
kann, dass aber andererseits Probleme
dargestellt und Interaktionen sowie Werkzeuge angeboten werden, die die Lernenden immer wieder zu eigenen Entscheidungen herausfordern. Diese Entscheidungen
werden direkt überprüft und mit einer
Rückmeldung versehen. Für eine Gruppenarbeit würde es sich vielleicht empfehlen,
das direkte feedback auszuschalten.
Die Computer-Lernumgebung zur Linearen
Algebra, die in der Arbeitsgruppe Computerlernumgebungen an der Universität in
Koblenz in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe MuPAD an der Universität in
Paderborn und dem Cornelsen Verlag entwickelt wird, stellt als Werkzeuge ein CalcControl und ein Graph-Control zur Verfügung, in deren Hintergrund das ComputerAlgebra-System MuPAD läuft.
Zwar werden den Lernenden die mathematischen Fakten in einem Lehrteil erklärt,
7
Wolfgang Fraunholz
aber stets in Verbindung mit Interaktionen
verdeutlicht. So lassen sich zum Beispiel
mit dem Graph-Control eine Vorstellung der
Vektoralgebra im Dreidimensionalen entwickeln, der Begriff der linearen Abhängigkeit
bzw. Unabhängigkeit durch parallele Rechnungen und Graphiken festigen und mit
dem Calc-Control verschiedene Methoden
zur Lösung von Aufgaben anbieten bis hin
zur freien Verwendung des ComputerAlgebra-Systems (mit einem eingeschränkten Befehlsvorrat).
Die Darstellung von Problemen wie des
Verteilungsproblems oder der Teileverflechtung lässt die Nützlichkeit der MatrixSchreibweise bei der Problemlösung erkennen; die Bedeutung der Fehlstellen bei
einer Permutation kann spielerisch am
Puzzle von Sam Lloyd eingesehen werden.
Der Begriff des Fixvektors bzw. der Eigenvektoren einer linearen Abbildung wird von
den Lernenden in eigener Aktivität in einem
Graphikfenster erarbeitet.
Eine Reihe von Beispielen soll solche Möglichkeiten verdeutlichen:
1. Die Untersuchung
von Pfeilen auf Vektorgleichheit im dreidimensionalen Raum
dient nicht nur der
Festigung des Begriffs der Vektorgleichheit, sondern auch
der Einübung in die
dreidimensionale
Raumanschauung.
Durch die Möglichkeit, den Blickpunkt
zu verändern, erkennt
man dessen Bedeutung. In drei Dimensionen kann die Welt
anders
aussehen.
(Abb. 1)
2. Die Darstellung,
wie zwei Schlepper
ein Boot ziehen, stellt
die Verbindung zur
Anwendung der Vektoraddition in der
Physik her. Vektoren
können der Beschreibung realer Vorgänge
dienen. Häufig bieten
gerade diese die Motivation für bestimmte
Definitionen. Darstellungen wie diese sind
Anlass, nach weiteren „vektoriellen“ Vorgängen zu suchen.
(Abb. 2)
Abb. 1
3. Vektoraddition und
-subtraktion werden
in der Ebene und im
Abb. 2
Raum durchgeführt.
In der Ebene ist das Erkennen des richtigen Summenvektors einfach. Die Interaktivität, das Anklicken des richtigen Vektors, erhöht die Aufmerksamkeit und verstärkt das Behalten des Sachverhalts. Die Wiederholungsmöglichkeiten lassen die Lernenden selbstständig ihr Verständnis
überprüfen. (Abb. 3)
8
Problemorientiertes Arbeiten in einer Lernumgebung zur Linearen Algebra
4. Vektoradditionen
im dreidimensionalen
Raum
auszuführen
verlangt das Sich-Zurechtfinden. Um deutlich zu machen, dass
die Verschiebung eines Vektors stets in
einer festen Ebene
geschieht, wird diese
Ebene eingeblendet
(durch zwei Vektoren
im Raum wird ja eine
Ebenenrichtung festgelegt). Ein Problem
ist es, die beste Festlegung des Blickpunktes
vorzunehmen. (Abb. 4)
5. In einer Aktivität
werden im zweidimensionalen Raum
Linearkombinationen
von linear unabhängigen Vektoren hergestellt. Diese Übung
dient der Erkenntnis,
dass jeder Vektor in
der Ebene durch eine
Vielfachsumme zweier nicht paralleler
Vektoren dargestellt
werden
kann.
(Abb. 5)
6. Zur Vertiefung des
Verständnisses der
linearen Unabhängigkeit bzw. Abhängigkeit werden Übungen
angeboten, bei denen
man aus vorgegebenen parallelen Vektoren einen zu diesen
nicht parallelen Vektor darstellen soll. Bei
linear
abhängigen
Vektoren ergibt sich,
dass eine solche Darstellung nicht möglich
ist. Das problemorientierte Arbeiten geschieht durch die
Entscheidung, welche
Operationen
man
ausführen soll: Verschieben,
Strecken
oder
Umdrehen.
Auch bei dieser Aufgabe sind viele Wiederholungen möglich.
Abb. 3
Abb. 4
Abb. 5
9
Wolfgang Fraunholz
Wie schon vorher
wird das spielerische Umgehen mit
den Pfeilen als
Repräsentanten
von Vektoren ermöglicht. (Abb. 6)
7. Der Begriff der
Matrix und der
Umgang mit Matrizen kann in vielfältiger Weise gelernt
werden. Die Übungen dienen der
Festigung der wesentlichen Angaben für eine Matrix:
Zeilenzahl, Spaltenzahl und Angabe
eines
Matrixelementes. Neben diesen Übungen zu den Grundtatsachen
einer
Matrix werden die
Matrizenaddition,
-subtraktion
und
-multiplikation (einschließlich der Entscheidung, ob die
gegebenen Matrizen multiplizierbar
sind)
geübt.
(Abb. 7)
8. Eine etwas außerhalb der üblichen Matrizen-Algebra
liegende
Verwendung von
Matrizen (mit einem
speziellen
Kalkül, der ungarischen
Methode)
zeigt das Zuteilungsproblem, bei
dem
gleichzeitig
der Begriff der Permutation vorbereitet wird. Die Wahl
der
günstigsten
Zuteilung macht es
notwendig,
bestimmte
Umformungen der Angebotsmatrix durchzuführen und — in
den einfachen Fällen — alle Permutationen durchzuprobieren. (Abb. 8)
10
Abb. 6
Abb. 7
Abb. 8
Problemorientiertes Arbeiten in einer Lernumgebung zur Linearen Algebra
Bei einer speziellen
Fragestellung, nämlich wenn mehr Bewerber als zu vergebende Positionen vorhanden sind, ergibt
sich die Notwendigkeit, eine Matrix um
eine Spalte (um Spalten) zu erweitern.
Dies geschieht etwa
dann, wenn sich für
vier Leitungsposten
fünf Damen bewerben.
Abbildung 9
zeigt, wie dann zu
verfahren ist, damit
man wieder zu einer
quadratischen Matrix
gelangt. (Abb. 9)
Abb. 9
9. Übungen zur Matrizenmultiplikation
können in vielfältiger
Weise durchgeführt
werden. Verschiedene
Aufgabentypen
zeigen
schließlich
nochmals das Arbeiten mit Matrizen.
(Abb. 10, 11)
10. Durch die parallele Verwendung von
algebraischen
und
geometrischen Darstellungen
lassen
sich besonders viele
problemorientierte
Aufgabenstellungen
bearbeiten. Ein erstes
Beispiel ist die Spiegelung in der Ebene
an unterschiedlichen
Spiegelachsen. Dabei
wird geprüft, welche
Koordinaten sich für
die Bildpunkte ergeben. Damit wird das
Aufsuchen der Abbildungsgleichungen
vorbereitet. (Abb. 12)
11. Eine weitere Abbildung stellt die Projektion auf eine Achse dar. Auch hier
kann wieder untersucht werden, welche
Koordinaten für die
Bildpunkte maßgeblich sind.
Abb. 10
Abb. 11
11
Wolfgang Fraunholz
Gleichzeitig wird verdeutlicht, dass es
auch
Abbildungen
aus dem zweidimensionalen Raum in den
eindimensionalen geben kann. Eine gedankliche Weiterführung weist auf Abbildungen aus dem
dreidimensionalen in
den zweidimensionalen Raum hin. (Abb.
13)
12. Die zentrische
Streckung bietet ein
Beispiel für eine nicht
kongruente
Abbildung. Damit soll ein
weiterer Schritt zu
den allgemeinen Abbildungen getan werden. Es handelt sich
hier um eine Vorübung zur Bestimmung
der
Abbildungsgleichungen.
Eine Vielzahl von unterschiedlichen Abbildungen erlaubt ein
Experimentieren, das
für den Lernprozess
von Bedeutung ist.
(Abb. 14)
13. Der Zusammenhang der Darstellungsmatrix einer Abbildung mit den Bildern der Einheitsvektoren muss erkannt
und
durchgeprüft
werden. Wieder bietet
es sich an zu experimentieren. Das Ergebnis dieser Experimente soll die Darstellungsmöglichkeit
einer linearen Abbildung durch eine Matrix sein, wobei die
Bilder der Einheitsvektoren die Spalten
der Matrix darstellen.
(Abb. 15)
Abb. 12
Abb. 13
14. Auf einer ExperiAbb. 14
mentierseite lassen
sich vielfältige Zusammenhänge erarbeiten. Eine Liste von Standardabbildungen ist zur Auswahl vorgegeben, so dass man diese der Reihe nach untersuchen kann. Die Matrix lässt sich
12
Problemorientiertes Arbeiten in einer Lernumgebung zur Linearen Algebra
aber auch nach Belieben festlegen, damit das Bild des vorgegebenen Dreiecks
für jede lineare Abbildung erzeugt wird,
was eine Fülle von
Experimentiermöglichkeiten
darstellt.
(Abb. 16)
15. Ein wichtiger Begriff ist die Linearität
einer Abbildung. Verschiedene
Funktionen lassen sich auf
Linearität überprüfen.
Dies geschieht hier
allerdings zunächst
nur für Abbildungen
von IR in IR (in der
Abbildung ist die
Überprüfung der Additivität
dargestellt:
Verändert man die
Argumente x1 und x2,
so lässt sich erkennen, an welchen Stellen
die
Werte
f(x1)+f(x2) und f(x1+x2)
liegen). Es lassen
sich beliebige Funktionsterme eingeben.
(Abb. 17)
16. Besonders bedeutsam ist die Erweiterung des Abbildungsbegriffs auf höhere
Dimensionen.
Auch im Dreidimensionalen kann man den
Zusammenhang zwischen
Abbildungsmatrix und geometrischer Abbildung untersuchen. Wie schon
vorher im Zweidimensionalen steht eine Reihe von Standardabbildungen zur
Verfügung, aber es
können auch beliebige Matrizen eingegeben werden. (Abb.
18)
Abb. 15
Abb. 16
17. Ein (zweidimensionales) Experimentierfeld gestattet es,
Abbildungen auf Fixvektoren, und EigenAbb. 17
13
Wolfgang Fraunholz
vektoren zu untersuchen. Die Auswahlmöglichkeiten
sind
wie in Abb. 16. Wenn
die Berechnung der
Eigenwerte bekannt
ist (die hier nach der
Einführung der Determinanten durchgeführt werden kann),
lässt sich zeigen,
dass die Eigenwerte
durch die Diagonalelemente einer Diagonalmatrix
festgelegt sind. (Abb. 19)
18. Bei der Definition
der
Determinante
spielen die Permutationen eine bedeutende Rolle und für
die Vorzeichenfeststellung die Anzahl
der Fehlstände in einer Permutation. Um
den Begriff der Fehlstelle und gleichzeitig
eine Anwendung davon zu verdeutlichen,
bietet das Puzzle von
Sam Lloyd spielerische Möglichkeiten.
Die Unlösbarkeit des
Puzzle-Problems
lässt sich durch Betrachtung der Fehlstände in der Reihe
mit dem leeren Feld
zeigen. (Abb. 20)
Im Programm stehen
zur
jederzeitigen
Verwendung ein Matrixrechner und ein
Grafikfenster zur Verfügung. Mit dem Matrixrechner lassen sich
die im Rahmen des
Programms notwendigen Matrizenoperationen durchführen.
Zum Beispiel kann
man sich den Rang
einer Matrix, ihre Determinante, das charakteristische
Polynom und die Eigenwerte ausgeben lassen. Weiterhin sind
die Multiplikation von
Matrizen und die Be-
14
Abb. 18
Abb. 19
Abb. 20
Problemorientiertes Arbeiten in einer Lernumgebung zur Linearen Algebra
stimmung von Vektorprodukt und Skalarprodukt
möglich.
Dies zeigen die folgenden Abbildungen.
(Abb. 21, 22, 23)
Das
Grafikfenster
kann benutzt werden,
um Geraden und Ebenen zu zeichnen,
also beispielsweise
um die Lage von Gerade und Ebene zueinander zu studieren, oder auch Zylinder und Kegel zu
konstruieren, so dass
man
Kegelschnitte
erzeugen kann. Auch
hierfür zwei Beispiele:
(Abb. 24, 25)
Abb. 21
Beispiele wie die gezeigten und auch der
Matrixrechner sowie
das Grafikfenster lassen sich natürlich zu
einem freien problemorientierten Arbeiten
verwenden,
müssten jedoch für
eine soziale Lernphase in eine andere
Darbietungsform gebracht werden, als sie
jetzt im Programm
.
festgelegt ist. Die
Abb. 22
Abb. 23
Computer-Lernumgebung ist zum Gebrauch neben dem Unterricht bzw. neben Vorlesungen entwickelt worden. Es ist aber gut vorstellbar, dass sie auch im Klassenunterricht oder in Übungen, insbesondere im Gruppenlernen,
verwendet werden kann, wenn die Lehrenden spezielle Seiten auswählen und Problemstellungen angeben, die etwa mit Hilfe der Experimentierseiten gelöst werden können.
Abb. 24
Abb. 25
15
Fehlerdiagnose in intelligenten Lehr-Lern-Systemen
z
Martin Hennecke, Hildesheim
Wer nach Lernsoftware für den Mathematikunterricht sucht, der wird schnell fündig. Mit
so manchem multimedial aufgepeppten Lernprogramm versuchen die verschiedenen
Anbieter zurzeit vornehmlich den „Nachmittagsmarkt“ zu erobern. Doch was als Ersatz
für privaten Nachhilfeunterricht daherkommt, kann nicht einmal angemessen mit den einfachsten Rechenfehlern umgehen – dabei gilt die Diagnose von systematischen Fehlern
als eine der wichtigsten Ansätze zur Behebung von Fehlvorstellungen.
Anhand eines Lehr-Lern-Systems zur Bruchrechnung wird beschrieben, wie Lernprogramme systematische Fehler in Schülerrechnungen erkennen und adaptiv Rückmeldungen geben können. Schülerinnen und Schüler können damit viel gezielter gefördert
werden – und die Lehrkräfte können mit dem zugehörigen Lehrerprogramm Rückschlüsse über verbreitete Probleme in ihrer Klasse gewinnen. Die Frage ist dabei weniger:
„Wird das Schulbuch durch die Software abgelöst?“, sondern mehr: „Wie kann Software
die bekannten Medien sinnvoll unterstützen?“
1
Einführung
Der kommerzielle Lernsoftware-Markt bietet
inzwischen eine breite Auswahl verschiedener Lernprogramme für den Mathematikunterricht: Kaum ein schulrelevantes Gebiet, für
das nicht irgendein Verlag eine passende
Software verkaufen möchte. Die meisten Angebote richten sich jedoch auf den im Vergleich zu den Schulen finanzkräftigen Nachmittagsmarkt. Multimedial aufbereitete Rahmengeschichten sollen dabei für eine ausreichende extrinsische Motivation sorgen, damit
sich Schülerinnen und Schüler in ihrer Freizeit mit Mathematik beschäftigen. Eine Integration dieser Programme in den Schulunterricht ist i. Allg. schwierig.
Doch was Eltern gern als Ersatz für private
Nachhilfe einkaufen, ist von unterschiedlicher
didaktischer Qualität. Neben kleineren Problemen, die sich durch einen unterschiedlichen Sprachgebrauch in der Lernsoftware
auf der einen Seite und dem Unterricht bzw.
dem Schulbuch auf der anderen Seite ergeben, sind insbesondere viele übersetzte
Lernprogramme nur unzureichend an das
Schulcurriculum angepasst. Nur wenige
Lernprogramme sind in der Lage auf Fehler
der Lernenden adaptiv zu reagieren und
mehr als nur „falsch“ als Feedback anzubieten. Dies ist besonders vor dem Hintergrund,
dass gerade die Beseitigung von Fehlvorstellungen eine der wichtigsten Aufgaben klassischer Nachhilfe ist, zu kritisieren.
Seit einiger Zeit arbeitet das Institut für Mathematik und Angewandte Informatik der
Universität Hildesheim daher an Möglichkei-
16
ten eine computergestützte Erkennung von
fehlerhaften Rechenstrategien innerhalb von
Lernsoftware zu ermöglichen. Die gesetzten
Rahmenbedingungen waren dabei, dass
trotz der diagnostischen Komponente die
Schülerinnen und Schüler ihre Rechenwege
frei wählen können (anstatt in ein festes
Schrittraster gepresst zu werden), dass Fehlerstrategien auch erkannt werden können,
wenn mehrere Fehlerstrategien miteinander
kombiniert werden und dass die Diagnoseergebnisse so schnell zur Verfügung stehen,
dass ein unmittelbares adaptives Feedback
möglich ist.
Auf dieser Basis wurde inzwischen in enger
Kooperation mit dem Schroedel-Verlag ein
diagnostisches Lehr-Lern-System entwickelt,
mit dem Schülerinnen und Schüler ihre Rechenfertigkeiten trainieren, während sich ihre
Lehrkräfte ohne großen Aufwand über die
auftretenden Fehlerstrategien informieren
können. Die Anlehnung an konkrete Schulbücher soll dabei die Integration in den Unterricht verbessern helfen und insbesondere
Probleme mit unterschiedlichem Sprachgebrauch und unterschiedlichen Curricula vermeiden.
2
Fehlerdiagnose
Wenn Schülerinnen und Schüler fehlerhaft
rechnen, kann dies viele Ursachen haben.
Von besonderem Interesse für die unterrichtenden Lehrkräfte sind hierbei jedoch Fehler,
die systematisch auftreten und auf Fehlvorstellungen oder falsch erlernte bzw. falsch
angewendete Rechenkalküle schließen las-
Fehlerdiagnose in intelligenten Lehr-Lern-Systemen
sen. Für derartige Fehler lassen sich i. Allg.
Maßnahmen finden, die den Schülerinnen
und Schülern beim Erkennen ihrer etwaigen
Fehlvorstellung und damit beim Erlernen der
richtigen Rechenstrategie helfen.
So gut das in der Theorie klingt, so problematisch kann sich die Fehlerdiagnose in der
Praxis gestalten. Zwar fällt es mit ein wenig
Unterrichtspraxis nicht weiter schwer, häufig
auftretende Fehlerstrategien (vgl. Abb. 1) zu
erkennen, jedoch beginnt die Diagnose ungemein schwierig zu werden, wenn mehrere
Fehler kombiniert werden und/oder statistisch selten auftretende Fehlerstrategien zu
erkennen sind. Wer erkennt schon ad hoc,
welche Fehler hinter der Rechnung in Abb. 2
stecken?
5 6 11
+ =
4 2 6
5 6 15
+ =
4 2
2
Abb. 1
Abb. 2
Tritt eine derartige Situation im Unterrichtsgespräch ein, lässt sich das Diagnoseproblem häufig durch eine entsprechende Rückfrage klären — vorausgesetzt, die Schülerinnen und Schüler verfügen über die entsprechenden metakognitiven Fähigkeiten und
können überhaupt erklären, was sie gerechnet haben.
Eine systematische Untersuchung einer ganzen Klasse auf fehlerhafte Rechenstrategien
ist mit derartigen Zufallstreffern jedoch nur
sehr eingeschränkt möglich. Lehrerinnen und
Lehrer treiben daher zum Teil einen bewundernswerten Aufwand, um Hausaufgaben ihrer Schülerinnen und Schüler unter entsprechenden diagnostischen Gesichtspunkten zu
korrigieren. Ein weit verbreiteter pragmatischer Ansatz ist die Fehlerdiagnose in Verbindung mit der Korrektur von Klassenarbeiten. Auch wenn dies sicherlich bei der weiteren Gestaltung des Unterrichts helfen mag,
für die betroffenen Schülerinnen und Schüler
kommt diese Fehlerdiagnose zu spät. Die in
der didaktischen Fachliteratur immer wieder
mal veröffentlichten diagnostischen Tests
(vgl. z. B. die bekannten Arbeiten von Gerster, Padberg oder Radatz) haben vermutlich
eher ihren Wert für wissenschaftliche Untersuchungen als für den täglichen Einsatz im
Unterricht.
Um noch einmal zu verdeutlichen, wie versteckt fehlerhafte Rechenstrategien auftreten
können, zeigt Abb. 3 eine mögliche Erklärung
für den Fehler aus Abb. 2: Nachdem zuerst
als Übergeneralisierung der Multiplikation
fehlerhaft „über Kreuz“ gekürzt wurde, werden danach bei gemeinsamen Nennern die
Zähler multipliziert.
5 6
5
6 : 2 5 3 5 ⋅ 3 15
+ =
+
= + =
=
4 2 4:2
2
2 2
2
2
Abb. 3
Leider sind nur auf Grundlage der Aufgabenstellung und der fehlerhaften Schülerlösung
die verwendeten Fehlerstrategien nicht immer eindeutig erkennbar. So zeigt Abb. 4 eine alternative Möglichkeit, den Fehler aus
Abb. 2 zu erklären: Nach einer Übergeneralisierung der Multiplikationsregel für die Addition wird fehlerhaft gekürzt, indem die Kürzungszahl in den Nenner eingesetzt wird.
5 6 5 ⋅ 6 30 30 : 2 15
+ =
=
=
=
4 2 4⋅2
8
2
2
Abb. 4
Festzuhalten bleibt: Eine systematische Fehlerdiagnose ist für eine ganze Klasse manuell
nur mit extrem hohem Aufwand adäquat zu
leisten. Insbesondere bei statistisch seltenen
Fehlerstrategien oder Kombinationen mehrerer Fehlerstrategien kommt die manuelle
Fehlerdiagnose schnell an ihre Grenzen. Im
Einzelfall kann nur aufgrund von Aufgabenstellung und Schülerlösung nicht immer sicher auf die verwendeten Rechenstrategien
geschlossen werden.
3
Lehr-Lern-Systeme
Ähnlich wie der Begriff „Multimedia“ geben
auch die Begrifflichkeiten rund um „Lehr- und
Lernprogramme“ Grund zur Diskussion, da
unterschiedliche Autoren unterschiedliche
Vorstellungen von der jeweiligen Bedeutung
haben. Bereits beim Begriff „Lernsoftware“
scheiden sich die Geister: so definieren z. B.
Issing & Klimsa (2002) im Glossar:
„Software, die speziell für Lehr- und Lernzwecke konzipiert und programmiert wurde. Die didaktische Komponente liegt vor
allem im Produkt, d. h. in der Software
selbst und zeigt sich im Programmdesign,
in der Gestaltung und Gliederung der Benutzeroberfläche, den vorgesehenen
Feedback-Mechanismen und der Interaktionsmöglichkeiten der Benutzer.“
Dieser Definitionsansatz ist vielen jedoch zu
eng. So schließt er z. B. das Internet als solches oder viele konstruktivistisch geprägte
Werkzeuge (als die z. B. eine Tabellenkalkulation, eine Textverarbeitung oder ein Computer-Algebra-System verstanden werden
können) aus, da diese i. Allg. nicht speziell
für Lernzwecke konzipiert wurden.
17
Martin Hennecke
Ein
diagnostisches
Lehr-Lern-System
besteht auf der einen
Seite
aus
einem
Lernprogramm,
mit
dem
Schülerinnen
und Schüler einen
ausgewählten thematischen Bereich üben
bzw. vertiefen können. Treten fehlerhafte Rechnungen auf,
diagnostiziert
das
Lernprogramm
die
verwendeten Fehlerstrategien und bietet
der Situation angeAbb. 5: Lernprogramm „Mathematik heute“
passte
HilfestellunWenn der Begriff „Lernsoftware“ schon disgen wie in Abb. 5 an. Auf der anderen Seite
kussionswürdig ist, so ist es der Begriff
steht eine Lehrsoftware, mit der Lehrerinnen
„Lehrsoftware“ erst recht — der Sprachund Lehrer zeitgleich oder zeitnah die Lerngebrauch erinnert teilweise an die alte Diserfolge ihrer Schülerinnen und Schüler beobkussion um Lehr- oder Lernziele. Einige Auachten und die Fehlerdiagnose für ihre Zwetoren nutzen den Begriff als inhaltliche Abcke auswerten können (vgl. Abb. 6).
grenzung, und gelegentlich findet sich auch
ein synonymer Einsatz beider Begriffe.
Der Autor möchte beide Begriffe — vielleicht
etwas unorthodox — im Folgenden zielgruppenorientiert bzw. einsatzorientiert verstanden wissen, d. h. Lernsoftware ist vom Lernenden zum Lernen genutzte Software, Lehrsoftware ist vom Lehrenden zur Vorbereitung, Durchführung oder Nachbereitung von
Lehre genutzte Software.
Als Lehrsoftware in diesem Sinn könnte z. B.
eine Aufgabenwerkstatt, eine computergestützte Materialsammlung oder ein Programm zur Stundenplanung aufgefasst werden. Aber auch Programme wie Powerpoint
oder Software zur Übertragung von Lehre
zwischen verschiedenen Standorten (Stichwort: virtueller Campus) lassen sich mit dieser Begriffsauffassung als Lehrsoftware bezeichnen.
Ein Lehr-Lern-System ist dann eine mindestens aus zwei Komponenten (oder Modi)
bestehende Software, von der mind. eine als
Lernsoftware und mind. eine als Lehrsoftware genutzt wird und sich aus der Interaktion der Komponenten ein spezifischer Zusatznutzen ergibt. Ein Dynamisches-Geometrie-System kann in diesem Sinn als LehrLern-System genutzt werden, wenn z. B. von
der Lehrerin oder vom Lehrer erstellte Konstruktionen von den Schülerinnen und Schülern im Zugmodus untersucht werden. Im
weiteren Sinne stellen Autorensysteme, mit
deren Hilfe Lehrende Lernprogramme erstellen können, ein weiteres Beispiel dar.
18
Abb. 6: Lehr(er)software zu „Mathematik heute“
Im Vergleich zu den i. Allg. als Selbstlernprogramm ausgelegten klassischen Lernprogrammen ist ein derartiges Lehr-Lern-System
anders im Lernprozess positioniert. Abb. 7
zeigt eine stark vereinfachte „Lernkurve“:
Nachdem eine anfängliche Verwirrung überwunden wurde, beginnt der Lernende, im Unterricht immer mehr zu lernen, bis schließlich
nach Ende der Unterrichtseinheit einiges wieder vergessen wird. Während ein Einsatz
klassischer Lernsoftware für den Nachmittagsmarkt weitestgehend parallel zum Unter-
Fehlerdiagnose in intelligenten Lehr-Lern-Systemen
richt denkbar ist, wird ein diagnostisches
Lehr-Lern-System sicherlich erst später im
Lernprozess einzusetzen sein —, kann dafür
aber auch noch sinnvoll länger genutzt werden. So kann das für die Bruchrechnung
(und damit für die 6. Klasse) konzipierte Programm auch sinnvoll zu Beginn der 7. Klasse
eingesetzt werden, um mit geringem Aufwand einen etwaigen Wiederholungsbedarf
genau ermitteln zu können.
tem IDEBUGGY („i“ für interaktiv) zu integrieren, war nicht zufriedenstellend realisierbar.
Ein alternativer Modellierungsansatz von
Sleemann & Smith (1981) nutzte Ersetzungssysteme zur Simulation von Schülerrechnungen.
Das von der Hildesheimer Gruppe entwickelte Diagnosemodul BUGFIX (vgl. Hennecke
1999) arbeitet intern ebenfalls mit einem Ersetzungssystem, um genau zu sein, mit einem Termersetzungssystem, wie es z. B.
auch als Grundlage für Computer-AlgebraSysteme verwendet wird (vgl. Abb. 8).
z1 z 2
z + z2
+
→ 1
n1 n 2
n1 + n 2
Abb. 8: Ersetzungsregel
Abb. 7: Systemvergleich
4
Computergestützte
Fehlerdiagnose
Die Idee, fehlerhafte Schülerrechnungen mit
dem Computer zu simulieren, wird i. Allg. auf
Brown & Burton (1978) zurückgeführt. Aufbauend auf einer empirischen Studie (vgl.
Brown et al. 1975) wurde beobachtet, dass
alle für die Lösung der Aufgaben notwendigen Teilfertigkeiten unabhängig voneinander
durch fehlerhafte Verhaltensweisen ersetzt
werden können. Für ihr Programm BUGGY
modellierten sie die verschiedenen korrekten
und fehlerhaften Teilfertigkeiten und erhielten
ein System, mit dem sich korrekte und fehlerhafte Schülerrechnungen im Bereich der
Subtraktion natürlicher Zahlen simulieren ließen. BUGGY wurde als Lernprogramm für
Lehramtsstudierende eingesetzt.
Die eigentliche Diagnose von Fehlvorstellungen wurde erst mit DEBUGGY (vgl. Burton
1982) realisiert. DEBUGGY generiert Hypothesen über die Fehlvorstellung des Lernenden und testet sie mit Hilfe von BUGGY. Dabei ist DEBUGGY aus Komplexitätsgründen
als Offline-Diagnose konzipiert worden, d. h.
die eigentliche Diagnose wird von der Lehrersoftware durchgeführt und steht einem
möglichen Lernprogramm nicht zur Verfügung. So profitiert zwar die Lehrerin bzw. der
Lehrer von den Ergebnissen, nicht aber die
Schülerinnen und Schüler. Der Versuch, eine
Online-Diagnose in das interaktive Lernsys-
Anders als Computer-Algebra-Systeme, die
ausschließlich Regeln mit besonders günstigen Eigenschaften nutzten und daher sehr
effizient arbeiten können, muss BUGFIX mit
Regeln umgehen, die den korrekten bzw.
fehlerhaften menschlichen Rechenschritten
entsprechen. Während es bei einem Computer-Algebra-System i. Allg. ausreicht, mittels
Ersetzungen nachzuweisen, dass zwei Terme ineinander überführbar sind, muss für die
Diagnose die Menge aller Ableitungen zwischen einem Term (der Aufgabenstellung)
und einem anderen (der Schülerlösung) ermittelt werden. Beides, die ungünstigen Eigenschaften des Ersetzungssystems und die
veränderte Aufgabenstellung führen letztendlich zu Algorithmen, die eine erschöpfende
Suche durchführen. Bei dem für die Bruchrechnung implementierten Diagnosesystem
läuft das schon bei einfachen Aufgabenstellungen schnell auf mehrere Milliarden verschiedene Simulationen hinaus.
Um diese kombinatorische Explosion in den
Griff zu bekommen, nutzt BUGFIX eine Reihe diverser Strategien, deren detaillierte Erläuterung diesen Rahmen sprengen würde.
Zwei Kernideen seien im Folgenden jedoch
kurz skizziert: „Zeitmanagement“ und „Dynamische Programmierung“.
Zielstellung des Algorithmus war, innerhalb
eines Lernsystems bereits unmittelbar nach
Eingabe einer fehlerhaften Schülerrechnung
eine Diagnose liefern zu können. Selbst
wenn man für diesen Prozess eine Sekunde
Zeit spendieren würde, reicht diese Zeit nicht
aus, um die Vielzahl der möglichen Schülerrechnungen zu simulieren. Dafür gibt es zwischen Aufgabenstellung und Fertigstellung
der Schülereingabe vergleichsweise viel bisher ungenutzte Zeit. Die zur Eingabe der
Schülerlösung vom Editor benötigt Rechen-
19
Martin Hennecke
leistung kann hierbei ignoriert werden. Während dieser Eingabezeit können jedoch in einer ersten Phase der Fehlerdiagnose mögliche Schülerrechnungen simuliert werden, so
dass nach der Eingabe der Schülerlösung
„nur“ noch die richtigen Simulationen ausgewählt werden müssen.
Wer schon einmal mit Informatik zu tun hatte,
kennt die Fibonacci-Zahlen (vgl. Abb. 9), weil
sie auf der einen Seite ein schönes Beispiel
für rekursive Programmierung sind — aber
auf der anderen Seite auch sehr deutlich die
Grenzen der Rekursion aufzeigen, da bereits
bei relativ kleinem n die Laufzeit nicht mehr
akzeptabel ist. Der Aufrufgraph in Abb. 10
verdeutlicht das Problem.
fib : IN → IN
fib(0) = fib(1) = 1
fib(n ) = fib(n − 1) + fib(n − 2)
n >1
Abb. 9: Fibonacci-Zahlen
fib(3)
fib( 4)
fib(2)
fib(5)
fib(6)
fib(3)
fib(3)
fib( 4)
fib(2)
fib(2)
fib(1)
fib(2)
fib(1)
fib(1)
fib(2)
fib(1)
fib(1)
1)
z1 z 2
z + z2
+
→ 1
n1 n 2
n1 + n 2
2)
z1 z 2
z ⋅z
+
→ 1 2
n1 n 2
n1 ⋅ n 2
3)
z1 z 2
z ⋅z
+
→ 1 2
n1 n 2
n1 + n 2
4)
a+b→c
c := a + b
5)
a+b→c
c := a + b − 1
6)
a⋅b → c
c := a ⋅ b
7)
1⋅ b → 1
fib(1)
fib(0)
fib(0)
fib(1)
fib(0)
fib(1)
fib(0)
fib(0)
Abb. 10: Aufrufgraph bei der Fibonnacci-Berechnung
Bereits im Informatik-Unterricht der Schule
wird man dieses Problem durch dynamische
Programmierung lösen können. Die Grundidee ist, jedes einmal berechnete Ergebnis
zu speichern und bei Bedarf einfach wieder
zu verwenden, anstatt es neu zu berechnen.
Für den in Abb. 10 gezeigten Aufrufgraph fallen so die grau hinterlegten Funktionsaufrufe
weg.
BUGFIX arbeitet bei der Berechnung der Ableitungen im Prinzip analog. Anstatt berechnete Funktionsergebnisse zu speichern, verweist BUGFIX jedoch auf die bereits simulierte Schülerrechnungen. Ohne in Details einsteigen zu wollen, soll anhand eines Beispiels die Arbeitsweise verdeutlicht werden:
20
Abb. 11 zeigt ein einfaches Diagnosesystem
aus sieben Regeln. Die ersten drei Regeln
stellen fehlerhafte Rechenstrategien bei der
Addition von Brüchen dar, die so auch in der
Praxis häufig auftreten. Die restlichen vier
Regeln dienen zur korrekten bzw. fehlerhaften Addition bzw. Multiplikation natürlicher
Zahlen — dabei ist, zugegeben, die statistische Häufigkeit von Regel fünf eher gering.
Abb. 11: Beispiel-Regeln
In Abb. 14 werden für eine konkrete Aufgabenstellung die von BUGFIX bis zum Eintreffen der Schülerlösung simulierten möglichen
Rechnungen angezeigt. Anders als in der
Abbildung angedeutet, speichert BUGFIX jedoch nur eine einzige Instanz jedes Terms,
d. h. der Term 1+3 z. B. existiert lediglich einmal. Wenn BUGFIX also einmalig 1+3 → 4
und 1+3 → 3 berechnet hat, steht diese Information allen Instanzen zur Verfügung. In
dem Beispiel aus Abb. 14 muss in der Tat
nur neunmal eine der Regeln angewendet
werden (fett dargestellt). Dennoch werden
auf diese Weise bereits 33 mögliche Schülerrechnungen simuliert.
In dem realisierten Diagnosesystem zur
Bruchrechnung kommen ungefähr 350 Regeln zum Einsatz. Diese basieren auf der einen Seite aus der Aufbereitung bekannter
empirischer Untersuchungen (insbesondere
Gerster & Grevsmühl, 1983, Hasemann,
1985, Lörcher, 1982, und Padberg, 1995,
waren sehr hilfreich) und auf der anderen
Seite auf einer eigenen Auswertung von über
1000 diagnostischen Rechentests mit knapp
6000 Einzelfehlern.
Da sich auch bei diesem realistischen Diagnosesystem viele Regeln ähnlich sind (vgl.
die ersten drei Regeln aus Abb. 11), liefert
der Algorithmus sehr überzeugende Ergebnisse. Die folgenden Abbildungen verdeutlichen dies: Abb. 12 zeigt die Entwicklung der
durch BUGFIX simulierten korrekten bzw.
Fehlerdiagnose in intelligenten Lehr-Lern-Systemen
fehlerhaften
Rechenschritte (linke Y-Achse)
und die dadurch dargestellten möglichen Diagnosen (rechte Y-Achse).
Zu sehen ist, dass bei ca.
3 Sekunden (der Wert variiert bei unterschiedlichen
Aufgabenstellungen) nur
noch selten weitere Rechenschritte
gefunden
werden, gleichzeitig aber
die Anzahl der dargestellten
Schülerrechnungen
regelrecht explodiert.
1 3
+
2 4
1⋅ 3
2⋅4
1+ 3
2+4
4
3 1+ 3 1+ 3 3
5 2⋅4
2+4 2+4 6
1⋅ 3
2+4
1 1⋅ 3
2⋅4 8
1
2+4
1⋅ 3
6
1⋅ 3
5
4 4 3 3
3
1
1
1
Ein grundsätzliches Pro6 5 6 5
8
8
6
5
blem der dynamischen
Programmierung ist der
Abb. 14: Nachfolger-Graph
hohe Speicherbedarf für
werden. Mittels Hashing-Techniken ist dies
die Speicherung der berechneten Teilergebmit relativ geringem Aufwand realisierbar.
nisse. Durch Verwendung der bereits skizAbb. 15 zeigt als Fortsetzung des eingeführzierten maximalen Strukturteilung ist dieses
ten Beispiels Diagnosen für zwei mögliche
Problem bei BUGFIX weitestgehend unter
Schülerlösungen (vgl. Abb. 14).
Kontrolle. Meist reichen 3 MByte Hauptspeicher, um die gewünschten Resultate zu erhalten. Das Ergebnis klingt zudem leicht paDiagnosen für 64 :
radox, da durchschnittlich pro gespeicherter
1 3
1+ 3
4
4
Schülerrechnung weniger als ein Bit Spei+ →
→
→
A1
cher benötigt wird (vgl. Abb. 13).
2 4
2+4
2+4
6
44 12
12
+
+
1
3
1
3
1
3
4
22 ++
Nachfolger
Nachfolger und
und Diagnosen
Diagnosen
12
12 44
+ →
→
→
A2
A1
2 4
2+4
6
6
6.000.000.000
25000
25000
6.000.000.000
4.000.000.000
4.000.000.000
15000
15000
3.000.000.000
3.000.000.000
10000
10000
2.000.000.000
2.000.000.000
5000
5000
Anzahlder
der
Anzahl
Diagnosen
Diagnosen
Anzahlder
der
Anzahl
Nachfolger
Nachfolger
Diagnosen für
5.000.000.000
5.000.000.000
20000
20000
B1
1.000.000.000
1.000.000.000
00
00
1000
1000
2000
2000
3000
3000 4000
4000
Zeit
Zeit[ms]
[ms]
Nachfolger
Nachfolger
5000
5000
B2
00
6000
6000
B3
Diagnosen
Diagnosen
Abb. 12: Nachfolger und Diagnosen
B4
Speicherbelegung
Speicherbelegung
3.000.000
3.000.000
100
100
2.500.000
2.500.000
10
10
2.000.000
2.000.000
11
1.500.000
1.500.000
0,1
0,1
1.000.000
1.000.000
0,01
0,01
500.000
500.000
00
0,001
0,001
00
1000
1000
2000
2000
3000
3000
Zeit
Zeit
Gesamt
Gesamt
4000
4000
5000
5000
Speicherpro
proDiagnose
Diagnose
Speicher
[Byte]
[Byte]
Speicher[Byte]
[Byte]
Speicher
4 12
22 4 ++ 12
12
12 44
0,0001
0,0001
6000
6000
pro
proDiagnose
Diagnose
Abb. 13: Speicherbedarf
Nach der Eingabe der Schülerlösung lässt
sich nun die gesuchte Diagnose — oder genauer: die Menge der möglichen Diagnosen
— finden, indem alle Pfade zwischen Aufgabenstellung und Schülerlösung bestimmt
1
2
1
2
1
2
1
2
3
4
3
+
4
3
+
4
3
+
4
+
3
6
:
1+ 3
2+4
1+ 3
→
2+4
1⋅ 3
→
2+4
1⋅ 3
→
2+4
→
3
3
→
2+4
6
1+ 3
3
→
→
6
6
3
3
→
→
2+4
6
1⋅ 3
3
→
→
6
6
→
B1
B3
Abb. 15: Mögliche Diagnosen
Die Diagnosen A1 und A2 unterscheiden sich
inhaltlich nur in der Reihenfolge der Berechnung der Additionsschritte. BUGFIX erkennt
derartige „Permutationen“ und wählt automatisch einen Repräsentanten aus. Im zweiten
Beispiel sind B2 und B4 ebenfalls nur Permutationen — die Diagnosen B1 und B3 erklären sich jedoch durch unterschiedliche Fehlerstrategien (Regel 1 bzw. 3 aus Abb. 11).
Nur aufgrund der Schülerlösung ist daher
keine sichere Diagnose möglich.
BUGFIX begegnet diesem Problem mit drei
verschiedenen Strategien. Aufbauend auf
statistischen Informationen über die Häufig-
21
Martin Hennecke
keit von Fehlern berechnet BUGFIX so etwas
wie eine „Wahrscheinlichkeit“ für die jeweiligen Diagnosen. Spricht diese sehr deutlich
für eine Diagnose, z. B. weil eine Diagnose
mit einem häufig auftretenden Fehler gegen
eine Diagnose mit einer Kombination aus
drei seltenen Fehlern konkurriert, wählt BUGFIX die wahrscheinlichere Diagnose. Die statistischen Informationen über das Auftreten
von Fehlern werden von BUGFIX kontinuierlich an den aktuellen Benutzer angepasst,
d. h.: wurde ein bestimmter systematischer
Fehler bereits bei einer Schülerin bzw. einem
Schüler diagnostiziert, adaptiert BUGFIX die
Wahrscheinlichkeitsberechnung
entsprechend. Während diese beiden Strategien erst
zum Zuge kommen, wenn das Kind in den
sprichwörtlichen Brunnen gefallen ist, lässt
sich durch geeignete Auswahl der Testaufgaben die Wahrscheinlichkeit von diagnostischer Unsicherheit im Voraus reduzieren.
5
Aufgabenauswahl
Betrachtet man die Rechnungen in Abb. 16,
so fällt auf, dass sie unter didaktischen
Aspekten gleichwertig sind, d. h. vergleichbare Schwierigkeitsfaktoren aufweisen: Addition
echter Brüche, Hauptnenner ist durch kgV zu
bestimmen, es muss gekürzt werden, und
schließlich ist das Ergebnis ein unechter
Bruch. Was man den beiden Rechnungen jedoch nicht ansieht, ist, dass das Diagnosesystem für die erste Rechnung 56 mögliche
Diagnosen findet, für die zweite Rechnung
jedoch nur 6 (beide Angaben bereits ohne
Permutationen).
a)
b)
1
6 10 54
+
=
=1
2
9 12 36
4
8 7 52
+ =
=1
9
12 9 36
Abb. 16
Um jedoch sagen zu können, welche der
beiden Aufgabenstellungen wirklich besser
für die Diagnose geeignet, d. h. trennschärfer
ist, muss für alle simulierbaren Schülerlösungen die Anzahl der möglichen Diagnosen untersucht werden. Zu diesem Zweck wurde ein
Maß entwickelt, das Aufgaben gut (nahe 1)
bewertet, wenn viele verschiedene Rechenstrategien zu unterschiedlichen Ergebnissen
führen, und Aufgaben schlecht (nahe 0) bewertet, wenn viele verschiedene Rechenstrategien zu gleichen Ergebnissen führen.
Für das Lehr-Lern-System zur Bruchrechnung kamen ca. 1 Million Aufgaben aufgrund
der Größenordnung der in der Aufgabenstellung auftretenden Zahlen in die engere Wahl
(große Zahlen stellen unnötige Schwierigkeitsfaktoren dar). Die Aufgaben wurden entsprechend
ihren
domänen-inhärenten
Schwierigkeitsfaktoren (Art der Operanden,
Verhältnis der Nenner zueinander, Kürzbarkeit, Art des Ergebnisses) partitioniert und
mit dem Gütemaß bewertet. Für diese extrem aufwendige Berechnung musste ein aus
20 Rechnern bestehender Cluster gut zwei
Wochen rechnen. Das Ergebnis sind für jede
Partition Bewertungen, wie die in Abb. 17
gezeigte. Auffällig dabei ist, dass eigentlich
keine trennscharfen Aufgaben existieren. Sofern sinnvoll, wurden danach Aufgaben eliminiert, die aufgrund domänen-fremder
Schwierigkeitsfaktoren (etwa schwierige Multiplikationen) ungeeignet sind, und schließlich
die Aufgaben mit der besten Güte gewählt.
Von den gut 1 Million Aufgaben haben es auf
diese Weise nur 44.000 in das Lehr-LernSystem geschafft.
6
Fazit und Ausblick
Soweit dem Autor bekannt ist, ist es mit dem
Lehr-Lern-System „Mathematik heute“ erstmals gelungen, eine Software mit derart ausgeprägter Fehlerdiagnostik bis zur Marktreife
zu entwickeln. Alternative am Markt verfügbare Produkte mit diagnostischen Fähigkeiten erkennen i. Allg. nur sehr wenige wichtige
Fehlerstrategien (vgl. z. B. Alfons Diagnostikprogramm; Bauer et al. 1996), haben Pro-
Abb. 17: Güteverteilung (Division gem. Zahlen, Kürzen, Umwandlung)
22
Fehlerdiagnose in intelligenten Lehr-Lern-Systemen
bleme mit der Erkennung von Kombinationen
verschiedener Fehlerstrategie und/oder zwingen Schülerinnen und Schülern feste Rechenwege durch „Kästchenrechnen“ auf (vgl.
z. B. Mathebits; Sack 1999). Anders als die
für den Nachmittagsmarkt konzipierte Software ist „Mathematik heute“ an Curriculum
und Terminologie des gleichnamigen Schulbuchs angelehnt (Adaptionen für „Maßstab“
und „Welt der Zahl“ sind in Vorbereitung).
Wie in der Kurzfassung bereits angerissen,
stellt sich weniger die in der Tagungsankündigung gestellte Frage „Wird das Schulbuch
durch die Software abgelöst?“, sondern vielmehr „Wie kann Software die bekannten Medien sinnvoll unterstützen?“. Geht man davon
aus, dass die Fehlerdiagnose aufgrund ihres
hohen Aufwands in der Praxis viel zu kurz
kommt, kann ein Lehr-Lern-System eine derartige sinnvolle Ergänzung zu den bekannten
Medien sein. Dabei ist klar, dass die reine
Fehlerdiagnose zuerst einmal nur zusätzliche
Informationen in die Hand der Lehrerinnen
und Lehrern gibt — die Umsetzung von korrigierenden Maßnahmen bleibt Aufgabe der
Schule. So sieht die Arbeitsgruppe dann
auch dem Feedback aus der Praxis und einer Evaluation mit Spannung entgegen.
Die Bruchrechnung stellt durch die vielen
Möglichkeiten (fehlerhaft) zu kürzen aus
Sicht der Fehlerdiagnose eine sehr komplexe
Domäne dar. Dies lässt hoffen, dass es mit
dem gewähltem Ansatz möglich sein wird,
auch andere Domänen erfolgreich zu modellieren. Die Wahl des Termersetzungsansatzes zeigt sich dabei zumindest für mathematische Domänen als tragfähiges Modellierungskonzept, wie sich u. a. bei der Entwicklung des z. Zt. in Arbeit befindlichen Diagnosesystems zur Dezimalbruchrechnung zeigt.
Dennoch ist sicherlich nicht davon auszugehen, dass diagnostische Lehr-Lern-Systeme
deshalb zum Standard werden, da der Aufwand für die Erstellung der Diagnosesysteme
zwar realisierbar, aber dennoch beträchtlich
ist. Ansätze, wie sie z. B. in Mathebits realisiert sind, zeigen jedoch, dass auch für den
Nachmittagsmarkt mehr als nur „leider
falsch“ realisierbar und wirtschaftlich vertretbar ist.
Literatur
Bauer, G., Francich, W., Schönweiss, F. & Wagenhäuser, R. (1996): Alfons Diagnostikprogramm Mathematik. Schuljahr 1–4. Hannover:
Schroedel Schulbuchverlag
Brown, J. S. et al. (1975): Steps toward a theoretical foundation for complex knowledge-based
CAI. BBN Report 3135 (ICAI Report 2). Cambridge, Mass.: Bolt Beranek & Newman
Brown, J. S. & Burton, R. R. (1978): Diagnostic
Models for Procedural Bugs in Basic Mathematical Skills. In: Cognitive Science 2, 155–
192
Burton, R. R. (1982): Diagnosing bugs in simple
procedural skills. In: Sleemann, D. H. & Brown,
J. S. (Hrsg): Intelligent Tutoring Systems.
Chapter 8. London: Academic Press, 157–183
Gerster, H. D. & Grevsmühl, U. (1983): Diagnose
individueller Schülerfehler beim Rechnen mit
Brüchen. In: Pädagogische Welt 1983, 654–
660
Hasemann, K. (1985): Die Beschreibung von
Schülerfehlern mit kognitionstheoretischen
Modellen. In: Der Mathematikunterricht 31 (6),
6–15
Hennecke, M. (1999): Online Diagnose in intelligenten mathematischen Lehr-Lern-Systemen.
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23
Mathematikunterricht und Neue Medien — oder:
Bildung ist das Paradies!
Horst Hischer, Saarbrücken
Technikeinsatz im Unterricht ist kein didaktischer Selbstzweck, der bereits allein durch
die Technikverfügbarkeit legitimiert ist, sondern vielmehr gilt mit Walther Ch. Zimmerli:
„Bildung ist das Paradies!“ So kann und darf es nicht allein darum gehen, leistungsfähige
neue Geräte und Software als methodischen Kristallisationskeim für neuartige Aufgaben
zu entwickeln, sondern die Neuen Medien sind auch inhaltlich unter dem Aspekt der Allgemeinbildung zu sehen: Zwar werden die Neuen Medien sicherlich im künftigen Mathematikunterricht unter dem Werkzeugaspekt eine wichtige (und wohl auch selbstverständliche!) Rolle spielen (insbesondere Computeralgebrasysteme und Dynamische Geometriesysteme), ferner werden sie sich zu einem selbstverständlichen Werkzeug bei der Informationsbeschaffung und -darstellung mittels Internet entwickeln — und die künftige
Bedeutung „intelligenter Lernprogramme“ bleibt abzuwarten. Allerdings wäre eine ausschließlich bezüglich solcher Einsatzmöglichkeiten der Neuen Medien geführte didaktische Diskussion einseitig, weil diese nur die Mediendidaktik beträfe und zugleich andere
wichtige medienpädagogische Aspekte unberücksichtigt blieben!
Stattdessen ist in einem umfassenderen Ansatz eine Integrative Medienpädagogik angebracht: Bei diesem normativen Begriff hat das Attribut „integrativ“ eine zweifache Qualität:
Zum einen sind alle drei Aspekte der Medienpädagogik — nämlich Mediendidaktik, Medienerziehung und Medienkunde — bei Planung, Durchführung und Evaluation von Unterricht nicht losgelöst voneinander zu berücksichtigen. Und zum anderen kann eine so
verstandene Medienpädagogik (bei Bezug auf die Neuen Medien) wegen der Komplexität
des Gegenstandes nicht von einem Unterrichtsfach allein übernommen werden, auch
nicht vom Fach Informatik; — vielmehr sind im Prinzip alle Unterrichtsfächer mit je spezifischen Ansätzen gefordert. Und in einem so verstandenen Konzept integrativer Medienpädagogik kann und muss auch der Mathematikunterricht Bildungsaufgaben zu jedem
dieser drei Teilbereiche der Medienpädagogik wahrnehmen. Dieses soll am Beispiel des
Funktionsbegriffs demonstriert werden.
1
Vorbemerkung
„Lehr- und Lernprogramme für den Mathematikunterricht“ ist das Tagungsthema. Doch
was ist damit gemeint? Zwar ist dies bisher
kein wissenschaftlich verbindlicher Terminus,
jedoch gibt der Tagungsaufruf eine Interpretationshilfe, denn dort finden wir, dass es um
das „Lernen mit den neuen, computerbasierten Medien“ geht.
So verbindet sich mit der Bezeichnung „Lehrund Lernprogramme“ ein weiter und offener
Begriff — keinesfalls sind darunter also nur
„Programme“ im Sinne der Kybernetischen
Pädagogik der 1960er Jahre zu verstehen,
wie sie uns nunmehr über die Intelligenten
Tutoriellen Systeme wieder begegnen, die
sich ja u. a. dadurch auszeichnen, dass sie
die Kontrolle über den Lernprozess ihrer Benutzer übernehmen (sollen!).
Vielmehr zählt im vorliegenden Kontext zu
den „Lehr- und Lernprogrammen“ jegliche
24
Software, die bei den Prozessen des Lehrens und Lernens verwendet wird bzw. prinzipiell verwendet werden könnte — also auch
fachübergreifende Anwendersoftware wie
z. B. Tabellenkalkulation oder fachspezifische Anwendersoftware wie z. B. Computeralgebrasysteme, bei denen die Kontrolle über
den Lernprozess (noch?) bei den Benutzern
selber liegt!
Fachdidaktische Beiträge, Vorschläge und
Untersuchungen bezüglich derartiger Lehrund Lernprogramme betreffen nun in aller
Regel methodische Fragen des computergestützten oder computerbegleiteten Lehrens
und Lernens — sie beziehen sich also auf
die „Neuen Medien“ als Unterrichtsmittel.
Demgegenüber bzw. weiterführend vertrete
ich nun die These, dass dies eine zu enge
Sichtweise ist und dass Neue Medien auch
zum Unterrichtsinhalt werden müssen. Dies
ist dann eine fächerübergreifende Aufgabe,
und es entstehen spezifische Aufgaben für
den Mathematikunterricht.
Mathematikunterricht und Neue Medien — oder: Bildung ist das Paradies!
2
Mathematikunterricht
und Medienpädagogik
2.1 Zur Situation
Blicken wir in die mathematikdidaktische Literatur, so können wir feststellen, dass es bei
dem Thema „Computer“ bzw. „Neue Medien“
im wesentlichen um die Möglichkeiten des
Einsatzes von Computern und Taschenrechnern im Mathematikunterricht geht, in letzter
Zeit auch unter Hinzunahme des Internets zur
Informationsbeschaffung. Taschenrechner,
Computer und Internet werden also bezüglich ihrer Möglichkeiten als neuartige Werkzeuge oder Hilfsmittel zur methodisch besseren Gestaltung von Unterricht gesehen.
Es gibt aber in letzter Zeit erneut Stimmen,
die eindringlich fordern, dass die Begegnung
von Schule mit den Neuen Medien sich nicht
in deren Einsatz erschöpfen darf — „erneut“
deshalb, weil dieses bereits im Herbst 1983
auf einer Expertentagung in Loccum gefordert wurde 1 — zum Thema „Neue Technologien und Schule“ —, die Zeit damals aber
wohl noch nicht reif war für eine nachhaltige
Umsetzung im Unterricht.
Pädagoge ermutigt zum Nachdenken über
die Neuen Medien“. 5
Nimmt man sowohl Stolls als auch von Hentigs Kritik ernst, so wird plausibel, dass es in
der didaktischen Forschung und auch bei der
Gestaltung von Unterricht nicht nur um den
Einsatz solch neuartiger Medien gehen sollte, sondern dass man auch untersuchen
müsste, berücksichtigen müsste, welche Wirkungen hierdurch bei den Schülerinnen und
Schülern hervorgerufen werden!
Und wir müssen noch einen Schritt weiter gehen und fragen, welche Rolle denn die Neuen Medien im Rahmen von Bildung und Allgemeinbildung spielen sollen. Ist etwa nur
„Benutzungskompetenz“ das Ziel?
Der Philosoph Walter Ch. Zimmerli schreibt
hierzu mit Bezug auf das Internet u. a.: 6
Aber Bildung bedeutet nicht nur InternetBenutzungskompetenz, sondern auch Persönlichkeitsbildung. Deren Ziele bestehen
nicht in Karrieremustern oder Kognitionsfertigkeiten, sondern in einer Schärfung der
Urteilskraft, der Erringung transkultureller
Kompetenz sowie der Stärkung geistiger
Orientierung. [...]
Wenn wir uns klarmachen, dass auch eine
große Bibliothek ein externer Wissensspeicher ist, dessen Inhalt selbst gebildete
Menschen nicht ständig vor sich haben,
dann leuchtet ein, dass auch das Internet
strukturell nichts anderes bereitstellt, als
eine große Bibliothek, für die wir allerdings
keinen Gesamtkatalog haben. Über Bildung zu verfügen hieße daher, so viel zu
wissen, dass man sich in den externen
Wissensspeichern zurechtfindet — oder in
den Worten von Georg Simmel: „Gebildet
ist, wer weiß, wo er findet, was er nicht
weiß.“
Besondere Bekanntheit erreichte in diesem
Zusammenhang im Jahre 2001 der Amerikaner Clifford Stoll mit seinem Buch „LogOut —
Warum Computer nichts im Klassenzimmer
zu suchen haben und andere High-TechKetzereien“. 2 Dieses auf den ersten Blick
unterhaltsam und amüsant geschriebene
Buch verfolgt (leider?) — wie sich schon im
Untertitel „... Ketzereien ...“ andeutet — nicht
das Ziel objektiver (Auf-)Klärung, sondern es
bezieht einseitig und ablehnend Stellung. Bill
Gates bezeichnete Clifford Stoll auch bereits
als den „Advocatus Diaboli des Internet“. 3
Es geht also darum, im Nichtwissen intelligent navigieren zu können. Voraussetzung
dafür ist ein Wissen um die Grenzen der
eigenen Kompetenz und zugleich zu wissen, wie und mit welcher technischen Hilfe
man sucht, was man noch nicht weiß, was
aber als latentes Wissen im Netz stehen
könnte, [...] Nach wie vor trifft zu, dass Bildung im Sinne dessen, was man einmal
gelernt hat, eine ähnliche Bedeutung hat,
wie Jean Paul sie der Erinnerung zuschrieb: das Paradies zu sein, aus dem wir
nicht vertrieben werden können.
Beachtenswert ist auch das kürzlich erschienene Buch von Hartmut von Hentig: „Der
technischen Zivilisation gewachsen bleiben
— Nachdenken über die Neuen Medien und
das gar nicht mehr allmähliche Verschwinden
der Wirklichkeit“. 4
Mit diesem neuen Werk, das abwägend und
vor allem mahnend geschrieben ist, greift
von Hentig sein bekanntes Buch ähnlichen
Titels von 1984 vertiefend auf: „Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit — Ein
1
Auf einer Experten-Grundsatztagung in der Evangelischen Akademie in Loccum; vgl. (Ermert 1983).
2
(Stoll 2001)
Wenn also gemäß Zimmerli künftig als gebildet nur noch jemand gelten kann, der sich
das Wissen der Welt im Internet erschließen
kann und dessen Urteilskraft geschärft ist, so
sollten wir über das Internet hinaus weisend
bedenken:
3
gefunden mit http://google.de am 23.10.2001 unter „Clifford Stoll“
5
(von Hentig 1984)
(von Hentig 2002)
6
(Zimmerli 2002, 22); Hervorhebung nicht im Original.
4
25
Horst Hischer
Offenbar genügt es nicht, Neue Medien im
Unterricht nur einzusetzen, sondern sie müssen auch bezüglich ihrer Möglichkeiten kritisch reflektiert werden — und zwar sowohl
bezüglich ihrer Chancen als auch ihrer Risiken! Und das macht dann erst Bildung aus!
Zugleich haben wir damit andeutungsweise
erfahren, worum es in der Medienpädagogik
gehen könnte.
Insbesondere sind hierbei die Teilbereiche
Mediendidaktik, Medienkunde und Medienerziehung hervorzuheben. In Abb. 1 werden
sowohl diese Teilbereiche als auch deren Zusammenhang dargestellt.
Mediendidaktik befasst sich 9
mit den Funktionen und Wirkungen von
Medien in Lehr- und Lernprozessen, d. h.
also mit medienvermitteltem Lernen [...]. Ihr
Ziel ist die Förderung des Lernens durch
eine didaktisch geeignete Gestaltung und
methodisch wirksame Verwendung von
Medien. Die Auswahl und der Einsatz von
Medien soll dabei in Abstimmung mit den
Unterrichtszielen, den Unterrichtsinhalten
und den Unterrichtsmethoden erfolgen.
2.2 Medien und Funktionen
Was sind „Medien“, bzw. was wollen oder
können wir darunter verstehen? Das kann
hier nur angerissen werden. 7 Im Lateinischen finden wir zwei Wurzeln:
• „medius“
in der Mitte befindlich, dazwischen liegend,
Mittelding, vermittelnd, auch: störend
• „medium“
Mitte, Mittelpunkt, aber auch: Öffentlichkeit, Gemeinwohl, Gemeingut
Die „Neuen Medien“ bilden somit offensichtlich einen wichtigen Untersuchungsgegenstand der Mediendidaktik.
Bei der Medienkunde geht es um die 10
Vermittlung von Kenntnissen über Medien,
z. B. über die historische Entwicklung der
Medien, über Medieninstitutionen und ihre
Organisation, über Mediengesetzgebung,
Produktionsprozesse, Technik und Gestaltung von Medien; auch die Vermittlung von
Erfahrungen in der Bedienung und praktischen Handhabung von Medien zählt zu
den Aufgaben der Medienkunde
Demgemäß treten uns Medien im pädagogischen Kontext in zwei etymologisch bedingten Grundbedeutungen gegenüber:
Medien vermitteln Kultur, und
Medien sind dargestellte Kultur.
Hierin zeigt sich uns eine Doppelgesichtigkeit
von Medien. Und mit Blick auf den letzten
Teil meiner Ausführungen sei bereits jetzt
darauf hingewiesen, dass sich Funktionen in
diesem Sinne als Medien erweisen, und das
führt uns dann zu der Aussage:
Hier liegt ein weiterer pädagogischer Aspekt
vor, der auch die „Neuen Medien“ betrifft.
Die „Medienerziehung“ befasst sich 11
vorwiegend mit den Massenmedien, aber
auch mit Unterrichtsmedien. Sie hat das
Ziel, zu einem bewußten, reflektierten, kritischen, d. h. sozial erwünschten Umgang
mit Medien zu erziehen.
Funktionen vermitteln Kultur, und
Funktionen sind dargestellte Kultur.
2.3 Medienpädagogik
Ich komme nun zu einer Charakterisierung
der Medienpädagogik nach Issing: 8
Für die Behandlung pädagogischer Fragen
theoretischer und praktischer Art im Zusammenhang mit Medien wird in der Literatur am häufigsten der Begriff Medienpädagogik verwendet [...]. Er umfaßt alle Bereiche, in denen Medien für die Entwicklung des Menschen, für die Erziehung,
für die Aus- und Weiterbildung sowie für
die Erwachsenenbildung pädagogische
Relevanz haben. Es erscheint deshalb
sinnvoll, den Begriff „Medienpädagogik“ als
übergeordnete Bezeichnung für alle pädagogisch orientierten Beschäftigungen mit
Medien in Theorie und Praxis zu verstehen
und einzelne Aspekte der Medienpädagogik näher zu spezifizieren.
Damit sind pädagogische Untersuchungen
der „Neuen Medien“ insbesondere auch der
Medienerziehung verpflichtet!
2.4 Integrative Medienpädagogik
Auf dem Bisherigen aufbauend postuliere ich
nun eine Integrative Medienpädagogik als
normativen Begriff, bei dem „integrativ“ eine
zweifache Qualität hat:
1. Alle drei Aspekte der Medienpädagogik —
Mediendidaktik, Medienerziehung und
Medienkunde — sind bei Planung, Durchführung und Evaluation von Unterricht in
ihrer Ganzheit (integrativ!) und nicht losgelöst voneinander zu berücksichtigen.
9
7
Vgl. (Hischer 2002, 48 ff).
8
(Issing 1987, 24); vgl. auch (Kron 2000, 331).
26
(Issing 1987, 25); zitiert auch bei (Kron 2000, 331).
10 (Issing 1987, 26)
11 (Issing 1987, 25)
Mathematikunterricht und Neue Medien — oder: Bildung ist das Paradies!
Eine so verstandene Medienpädagogik kann bei Bezug auf die
„Neuen Medien“ wegen der
Komplexität des Gegenstandes nicht von einem
Unterrichtsfach
allein
übernommen werden,
auch nicht vom Fach
Informatik — vielmehr
sind im Prinzip alle
Unterrichtsfächer gemeinsam (integrativ!)
mit je spezifischen Ansätzen (!) gefordert.
Eine integrative Medienpädagogik kommt somit also stets
in ihrem doppelten Sinn zum Tragen: alle drei Aspekte der MedienpäAbb. 1: Integrative Medienpädagogik
dagogik und (im Prinzip) alle Unterals eine Bildungsaufgabe der Schule
richtsfächer! Und hinsichtlich der drei
Aspekte der Medienpädagogik — MeFür die didaktische Forschung ergibt sich
diendidaktik, Medienerziehung, Medienkunde
nun die Aufgabe, praktikable Unterrichtsbei— gilt dann:
spiele zu entwickeln, die den drei in Abb. 1
dargestellten Aspekten der Medienpädagogik
• Mediendidaktik: Computer und Internet
(mit ggf. je unterschiedlicher Akzentuierung)
werden eine immer wichtigere Rolle im
gerecht werden.
Rahmen von Lehr- und Lernprozessen
spielen, und zwar als ein neuartiges techThese:
nisches Medium (Hilfsmittel oder WerkDer Mathematikunterricht kann und muss zu
zeug) bei der Aneignung von und Teilhabe
allen drei Aspekten der Medienpädagogik
an Kultur, also beim Enkulturationsprozess.
Gewichtiges beitragen!
Lehrkräfte, Didaktiker, Bildungsplaner und
Diese These möchte ich in meinen AusfühSchulbuchverlage stehen hier vor großen
rungen exemplarisch untermauern.
Herausforderungen.
• Medienkunde: Voraussetzung für eine
sinnvolle Nutzung solcher Medien ist eine
solide Kompetenz im Umgang mit ihnen.
Dazu gehören auch Kenntnisse über Aufbau und Funktionsweise solcher Medien,
die als grundlegend und allgemeinbildend
zu bestimmen sind.
• Medienerziehung: Unverzichtbar zur Persönlichkeitsbildung ist eine Anleitung zum
bewussten, reflektierten und kritischen Umgang mit solchen Medien, und zwar im
Rahmen eines Allgemeinbildungskonzepts.
Die Umsetzung dieser Aspekte ist eine Bildungsaufgabe für Schule insgesamt und damit prinzipiell für alle Unterrichtsfächer mit je
spezifischer Ausrichtung. Dies wurde bereits
in Abb. 1 veranschaulicht.
Zugleich vertritt diese Graphik den pädagogischen Anspruch, dass auch das sog. „multimediale Lernen“ nicht nur einseitig in instrumenteller Anwendung der Neuen Medien bezüglich Effektivierung der Lernvorgänge zu
sehen ist, sondern dass auch hier die skizzierten medienpädagogischen Aspekte beachtet werden sollten.
3
„Neue Medien“ —
Was ist das eigentlich?
Bisher hatten wir die Bezeichnung „Neue Medien“ einfach für die neuen, computerbasierten Medien genommen, also als Zusammenfassung für „Computer und Internet“, wobei
die sog. „Multimediacomputer“ und graphikfähige Taschenrechner und Taschencomputer
ebenfalls dazu gehören. Warum nun aber die
Bezeichnung „Neue Medien“, noch dazu in
der Großschreibung? Dies kann hier nur
skizziert werden. 12
Es hängt mit der Entwicklung von Technik
zusammen: Die Geschichte der Entwicklung
der Technik ist aus anthropologischer Sicht
zugleich eine Geschichte der „Auslagerung“
mechanischer Fähigkeiten des Menschen auf
Geräte und Maschinen, angefangen beim
Faustkeil über Waffen und Werkzeuge bis
hin zu heutigen geradezu monumentalen
Baumaschinen.
12 Details dazu in (Hischer 2002, 60 ff).
27
Horst Hischer
Die Maschine „Computer“ ist nun insofern revolutionär, als hier erstmals nicht wie bei früheren Maschinen mechanische Fähigkeiten
des Menschen „ausgelagert“ werden, 13 sondern ein neuer Maschinentypus Fähigkeiten
übernimmt, die bisher den menschlichen
Geistesleistungen zuzurechnen waren.
Wir brauchen nur an das Schachspiel zu
denken, dessen souveräne Beherrschung
stets als Kennzeichen besonderer Intelligenz
galt. Und nunmehr treten Großmeister gegen
Schachautomaten an, und als „normaler“
Schachspieler hat man ohnehin Schwierigkeiten, gegen gute Schachcomputer, die es
ja bereits für den PC gibt, zu gewinnen. Und
insbesondere gibt es heute „Schachprogramme“, die man im Internet spielen kann,
und zwar entweder gegen einen „menschlichen Gegner“ oder gegen einen „virtuellen
Gegner“, d. h. gegen einen Algorithmus in
Verbindung mit einer Datenbank.
Aber wenn man nicht weiß, welche „GegnerWahl“ getroffen wurde, weiß man letztlich
nicht, gegen wen man spielt: Spielt man gerade gegen einen wirklichen Menschen oder
(nur!?) gegen ein von Menschen erdachtes
Programm? Bedeutet das nun, dass die Fähigkeit zum Schachspielen gar nichts oder
nur wenig mit Denkvermögen und Intelligenz
zu tun hat, oder bedeutet das, dass Schachcomputer denken können und damit in gewissem Sinn intelligent sind? 14
Allein diese Frage zu stellen, heißt doch,
dass hier von Menschen geschaffene Maschinen das bisherige Menschenbild in Frage
stellen — ich will noch nicht sagen: bedrohen! Immerhin wird nun in diesem Sinn —
mit aller gebotenen Vorsicht formuliert —
„Denkfähigkeit“ auf den Computer ausgelagert — mag uns dies nun passen oder nicht!
Und das begründet die herausragende Stellung der auf der Mikroelektronik beruhenden
Informations- (und der Kommunikations-)
techniken und somit ihre „Neuheit“, was zu
folgender Charakterisierung führt:
Neue Techniken sind die datenprozessierenden Informationstechniken, sie sind
sog. „Querschnittstechniken“ — denn: Der
Computer erweist sich in nahezu allen
Wissenschaften und Anwendungen als
ein nützliches Werkzeug, ja gar als ein
unverzichtbares Werkzeug!
Neue Medien sind dann solche technischen Medien, die auf diesen Neuen
Techniken beruhen.
13 Vgl. (Fischer & Malle 1985, 257 – 258).
14 Vgl. hierzu u. a. (Penrose 1991, 12).
28
Und der Besonderheit dieser grundsätzlichen
„Neuheit“ dieser Techniken und Medien trägt
man oft dadurch Rechnung, dass man das
Attribut „neu“ groß schreibt.
4
Unterrichtsmittel vs.
Unterrichtsinhalt,
Werkzeug vs. Hilfsmittel 15
Gemäß Abb. 1 können wir Neue Medien unter drei pädagogischen Aspekten betrachten:
Mediendidaktik, Medienkunde und Medienerziehung. Diese drei Aspekte zählen methodologisch zur sog. Bereichsdidaktik.
Während es bei den mediendidaktischen Aspekten Neuer Medien vorrangig um ihren
fachdidaktisch begründeten Einsatz im Unterricht und damit um den Umgang mit ihnen
geht, werden die Neuen Medien sowohl unter
medienkundlichen als auch unter medienerzieherischen Aspekten im Unterricht untersucht, sie werden damit zum Unterrichtsinhalt, und sie dienen dabei der Aufklärung und
der Vermittlung von Haltungen und Einstellungen.
Da sowohl dieser Umgang mit den Neuen
Medien als auch deren Erörterung jeweils in
Unterrichtsfächern erfolgt, müssen wir Neue
Medien im pädagogischen Kontext in der
doppelten Rolle als Unterrichtsmittel und als
Unterrichtsinhalt betrachten.
Und damit haben wir folgende Perspektiven
gefunden, unter denen wir die Neuen Medien
betrachten können:
• fachdidaktische Funktion Neuer Medien:
o als Unterrichtsmittel
(d. h. als Werkzeug oder Hilfsmittel)
o als Unterrichtsinhalt
(d. h. als Gegenstand des Unterrichts)
• bereichsdidaktische Sicht Neuer Medien:
o mediendidaktisch
o medienkundlich
o medienerzieherisch
Diese zweifache Sichtweise Neuer Medien
können wir dann in einer Perspektivenmatrix
darstellen (Abb. 2). Diese Darstellung soll
deutlich machen, dass die beiden Kategorien
„Unterrichtsmittel“ und „Unterrichtsinhalt“ der
Perspektivenmatrix nicht trennscharf sind:
dass also einerseits zum Unterrichtsmittel,
dem „Instrument“, stets auch der Unterrichtsinhalt, das „Thema“ bzw. der „Gegenstand“,
gehört und umgekehrt; dass jedoch andererseits „Mediendidaktik“, „Medienkunde“ und
15 Bezüglich einer Vertiefung vgl. (Hischer 2002, 232 ff).
Mathematikunterricht und Neue Medien — oder: Bildung ist das Paradies!
„Medienerziehung“ zwar jeweils Schwerpunkte unterrichtlichen Handelns beschreiben, aber dennoch nicht voneinander zu
trennen sind.
Wenn sie „offen“ konzipiert sind, für nicht eng
umgrenzte Gebiete anwendbar sind (wie
z. B. Computeralgebrasysteme, Programmiersprachen, Tabellenkalkulationsprogramme, aber auch viele Funktionenplotter), sind
sie „mächtig“, sonst sind sie nur Hilfsmittel.
„Bildung als Paradies“ braucht aber
„Offenheit“!
Ich betrachte im Folgenden nur Werkzeuge
in diesem Sinn.
5
Abb. 2: Perspektivenmatrix Neuer Medien —
bereichsdidaktische Sicht (links) und
fachdidaktische Funktion (oben)
Oben getroffene, noch nicht spezifizierte Unterscheidung der Unterrichtsmittel in Werkzeug und Hilfsmittel mag irritieren, weil sie
nicht selbstredend (und ebenfalls nicht trennscharf!) ist. Sie zielt jedoch akzentuierend auf
idealtypisch grundsätzliche Unterschiede im
Anwendungsbereich solcher Medien ab:
o Ein Werkzeug in diesem Sinne ist dadurch gekennzeichnet, dass es — zumindest in einem bestimmten Bereich —
recht vielseitig verwendbar ist.
o Ein Hilfsmittel dagegen ist (nach diesem
Verständnis) weniger vielseitig, sondern
es kann im Prinzip für nur einen Zweck
konstruiert worden sein.
So wird ein Korkenzieher in der Regel nur ein
Hilfsmittel sein und nur in extremen Notsituationen als Werkzeug verwendet werden
(wenn anderes nicht verfügbar ist). Ein
Werkzeug hingegen verleiht seinem Benutzer — im Gegensatz zum Hilfsmittel —
Macht im Sinne von Carl Friedrich von Weizsäcker: 16
Macht nenne ich die Bereitstellung von
Mitteln für offengehaltene Zwecke.
So ist beispielsweise ein Computeralgebrasystem als (vielseitiges!) „Macht verleihendes“ Werkzeug anzusehen, hingegen wäre
ein „kastrierter“ Funktionenplotter, der nur die
Veranschaulichung und Konstantenvariation
fest implementierter Funktionsterme erlaubt,
ein geradezu „ohnmächtiges“ Hilfsmittel, das
nur für vom „Autor“ vorgegebene Zwecke
verwendet werden kann.
Diese Betrachtungen können generell auf
jegliche sog. „Lehr- und Lernprogramme“
ausgedehnt werden:
16 (von Weizsäcker 1992, 19); Hervorhebung nicht im Ori-
ginal. In (von Weizsäcker 1989, 1054) schreibt er: „Ich
definiere Macht als (...) Bereitstellung von Mitteln für
freigehaltene Zwecke.“
Neue Medien als
Unterrichtsmittel —
grundlegende Werkzeuge
5.1 Übersicht
Folgende Werkzeuge, die auf Neuen Medien
basieren, sind derzeit und in naher Zukunft
für den Mathematikunterricht bedeutsam.
Die Gruppierung der ersten vier Werkzeugtypen ist keinesfalls trennscharf, denn das Anwendungsspektrum der einzelnen Systeme
nimmt zu, und die ursprünglich unterschiedlichen, für spezielle Anwendungen konzipierten Systeme wachsen zusammen — eine
Tendenz, die wir bei den sog. „Anwendungsprogrammen“ wie etwa zur Textverarbeitung
oder zur Graphikbearbeitung ebenfalls seit
langem beobachten können.
Wenn wir also die oben genannten Bezeichnungen für vornehmlich mathematikorientierte Anwendersoftware benutzen, dann soll
dies eine idealtypische Verwendung sein, mit
der wir die ursprünglich intendierten Anwendungsrichtungen ansprechen.
Diese Werkzeugtypen seien kurz exemplarisch vorgestellt.
5.2 Funktionenplotter
„Plotter“ bedeutet „Planzeichner“, und man
kennt sie in der Datenverarbeitung als analoge Tuscheplotter bereits seit etwa 1960, und
lange zuvor kannte man sie in der Physik als
x-y-Schreiber bzw. als t-y-Schreiber für „Endlospapier“.
Mit dem Aufkommen der ersten Arbeitsplatzcomputer Ende der 1970er Jahre, verbunden
mit der (völlig neuen!) Verfügbarkeit individueller (Nadel-)Drucker, wuchs der Wunsch der
Anwender zur Erzeugung von Funktionsgraphen mit dem eigenen System, und so entstanden die ersten sog. Funktionenplotter —
auch schon für den Mathematikunterricht.
Die Ergebnisse waren zwar einerseits für die
normalen Anwender sehr eindrucksvoll, weil
29
Horst Hischer
sie bis auf die eigenhändig skizzierten Funktionsgraphen nichts anderes kannten, und
andererseits waren die Ergebnisse schlicht
miserabel, gemessen an dem Qualitätsstandard, der schon rund 20 Jahre vorher mit den
Tuscheplottern üblich war. Dennoch waren
diese Ende der 1980er Jahre entwickelten
ersten Funktionenplotter mediendidaktisch
durchaus interessant, weil durch sie „offen
sichtlich“ wurde, dass die Funktionsgraphen
nur aus diskreten Punkten bestehen. Immerhin waren sie in der Auflösung den um die
Jahrtausendwende herum üblichen graphikfähigen Taschencomputern deutlich überlegen. Ein grundsätzlicher methodischer Vorteil
gegenüber dem herkömmlichen Verfahren
des Zeichnens von Funktionsgraphen per
Hand über Wertetabellen war jedoch kaum
erkennbar, zumal ohnehin nicht alle Schülerinnen und Schüler einen eigenen Rechner
zur Verfügung hatten.
Allerdings waren zwei neue Aspekte methodisch sehr interessant:
• Der Trace-Modus, der schon 1991 beim
Taschencomputer TI-81 verfügbar war und
heute für alle TC wie CASIO oder TI und
z. B. auch für das Computeralgebrasystem
Derive selbstverständlich ist. (Mit diesem
Modus kann man ein frei bewegliches
Cursor-Fadenkreuz an einen Funktionsgraphen binden, also auf einen Freiheitsgrad einschränken, und damit z. B. interaktiv Schnittpunktkoordinaten approximieren.)
• Die quasi-kontinuierliche Konstantenvariation (oft auch „Parametervariation“ genannt), wie sie leider auch heute noch
nicht bei allen Funktionenplottern selbstverständlich ist. (Bei Verfügbarkeit dieser
Option lässt sich der Einfluss von „Formvariablen“ auf Lage und Gestalt der Funktionsgraphen interaktiv untersuchen.)
Besonders interessant bezüglich der Konstantenvariation sind hier die folgenden beiden aktuellen Neuentwicklungen: DynaPlot
und ParaPlot:
DynaPlot ist eine Excel-Anwendung mit
Schiebereglern. 17 Dieses Programm ist besonders unter medienkundlichen Aspekten
interessant, wenn man nämlich versucht,
seine Funktionsweise zu verstehen und es
„nachzubauen“. Diese Aufgabe ist aber sehr
anspruchsvoll und scheidet wohl in aller Regel für den normalen Mathematikunterricht
aus.
17 Herunterladbar unter
http://www.staatliche-bos-nuernberg.de.
Entwickelt von Ulrich Würfl (mit Robert Triftshäuser).
30
Anders dagegen ist das in VisualBasic entwickelte Programm ParaPlot 18 nur eine „Black
Box“, dafür aber eine sehr leistungsfähige,
die kurz vorgestellt sei (Abb. 3): Es eignet
sich zur gleichzeitigen Darstellung von bis zu
drei Funktionsgraphen oder bis zu zwei Kurven in Parameterdarstellung, wobei beliebig
viele Konstanten als Formvariable mit frei
wählbaren Namen verwendbar sind. Die
Funktionsterme, die Kurventerme und die Belegungen der Formvariablen lassen sich eingeben, und alle Fenster (Graph, Schieberegler, Termeingabe) sind in Größe und Position
frei veränderbar.
Abb. 3: Dynamischer Funktionenplotter ParaPlot
Es gibt eine Fülle von eigenständigen Funktionenplottern wie ParaPlot auf dem Markt,
wenngleich leider nur wenige über die wichtigen Schieberegler zur Konstantenvariation
verfügen. Mittlerweile sind auch Dynamische
Geometriesysteme wie Euklid DynaGeo in
eigentlich systemwidriger Weise als Funktionenplotter verwendbar, weil sich hier vorzüglich Schieberegler realisieren lassen — und
zwar von den Schülerinnen und Schüler selber! Abb. 4 zeigt ein „eingefrorenes“ Beispiel.
Abb. 4: Euklid DynaGeo als Funktionenplotter
18 Herunterladbar unter
http://www.staatliche-bos-nuernberg.de und
http://hischer.de/mathematik/didaktik/neuemedien/.
Entwickelt von Robert Triftshäuser. Es ist nicht zu verwechseln mit einem über zehn Jahre alten gleichnamigen, auf heutigen Rechnern nicht mehr lauffähigen DOSProgramm.
Mathematikunterricht und Neue Medien — oder: Bildung ist das Paradies!
Hervorhebenswert ist ferner der Funktionenplotter DPGraph von David Parker, mit dem
sich u. a. zeitabhängige Animationen erstellen lassen und der insbesondere für 3D-Darstellungen impliziter Funktionen gedacht und
geeignet ist. 19
Bemerkenswert ist auch die implementierte
einfache Programmiersprache, die man verwenden muss, um diesen Plotter benutzen
zu können. Dies ist gerade unter medienkundlichen Aspekten interessant, zumal diese elementare Programmiersprache für
Schülerinnen und Schüler leicht erlernbar ist,
— hier kommen die in den 1980er Jahren
von Heinz Griesel propagierten 10-ZeilenProgramme wieder zurück in den Mathematikunterricht!
Abb. 5 zeigt als Beispiel
die Darstellung eines
„Huts“ mit Hilfe von
DPGraph. Hieran wird
offen sichtlich, dass man
mit diesem Programm
Abb. 5: „Hut“,
rein spielerisch und erzeugt mit DPGraph
völlig „nutzlos“ schöne
Flächen und Kurven erzeugen kann — ein
sehr wichtiger Aspekt der Mathematik und
des Mathematikunterrichts!
Der Programmkern ist hier (Modellierung eines Torus!):
graph3d(x^2+y^2+z^2^+a^2-b^2
= 2*a*sqrt(x^2+y^2))
5.3 Tabellenkalkulation
Das erste Tabellenkalkulationsprogramm war
das legendäre VisiCalc („sichtbare Berechnungen“), das 1979 von Dan Bricklin erfunden und von Bob Frankston programmiert
wurde, und zwar als „eine elektronische Tafel
und eine elektronische Kreide im Klassenraum“. 20 Tabellenkalkulation gehört zwar zur
sog. Bürosoftware, aber sie ist auch für den
Mathematikunterricht ein sehr mächtiges
Werkzeug, das noch längst nicht die dort
mögliche Rolle spielt!
In Erweiterung der ursprünglichen Möglichkeiten verfügen solche Programme heute alle
über einen Graphikteil zur Datenpräsentation, und damit sind sie auch als Funktionenplotter geeignet, indem einfach eine Wertetabelle durch Punkte dargestellt wird, ggf. in
linearer Interpolation, wobei man vorteilhaft
rekursive Programmierung in relativer Adressierung verwendet (Abb. 6).
19 http://dpgraph.com
20 http://dssresources.com/history/sshistory.html, gültig am
17.07.2002.
Abb. 6: Tabellenkalkulation als Funktionenplotter
Der Mathematikunterricht bietet ein großes
Potenzial zur Entschlüsselung von Tabellenkalkulation im medienkundlichen Sinn und
zur Reflexion ihrer Verwendungsmöglichkeiten und -probleme außerhalb der Mathematik
im medienerzieherischen Sinn. So ist Tabellenkalkulation heute neben Textverarbeitung
die wichtigste Anwendersoftware in Wirtschaft und Verwaltung. Die hierbei wichtigen
Prinzipien relativer und absoluter Adressierung einerseits und die der Datenpräsentation andererseits können im Mathematikunterricht durchsichtig gemacht werden. Zugleich
können die Schülerinnen und Schüler hierbei
Tabellen und deren Präsentationsformen als
Funktionen erfahren.
5.4 Computeralgebrasysteme
Um Computeralgebrasysteme (CAS) ist es in
der didaktischen Diskussion ruhig geworden.
Sind sie etwa innerhalb der letzten zehn Jahre schon zu einem selbstverständlichen
Werkzeug im Mathematikunterricht geworden? Dabei sollten auch sie im Mathematikunterricht nicht nur eingesetzt, sondern kritisch eingesetzt werden, also auch bezüglich
ihrer Möglichkeiten und Fallstricke im medienkundlichen und medienerzieherischen
Sinn kritisch erkundet und reflektiert werden.
Und auch der Aspekt der „Trivialisierung“
mathematischer Gebiete durch Computeralgebrasysteme sollte im Unterricht bewusst
gemacht werden. 21
5.5 „Dynamische
Geometriesysyteme“
Die sog. Dynamischen Geometriesysteme
(DGS) sind mittlerweile als neues mächtiges
Werkzeug im Sinne der Mediendidaktik hinlänglich bekannt.
21 Vgl. (Hischer 2002, 102 f, 189), ausführliche Betrachtun-
gen in (Hischer 2002, 262 ff).
31
Horst Hischer
Aber ist diese Bezeichnung sinnvoll? Ist denn
das System dynamisch? Allenfalls doch wohl
die damit betriebene Geometrie! Und die
neue alternative Lesart „Dynamische Geometriesoftware“ ist kaum besser, weil ja auch
die Software nicht „dynamisch“ ist. Aber auch
die sich auf diese Systeme gründenden Geometrien sind im Sinne der ursprünglichen
Wortbedeutung von „innere Kraft besitzend“
oder „lebendig“ oder „wirksam“ keinesfalls
„dynamisch“! Und in der Physik unterscheidet
man sorgfältig zwischen „Dynamik“ als der
Lehre von den Kräften und „Kinematik“ als
der Lehre von den Bewegungen. Und wir gehen ja auch ins „Kino“ und nicht ins „Dyno“!
Also warum sagt man nicht „Kinematische
Geometrie“ oder einfach „Bewegliche Geometrie“? Oder sollte sich „dynamisch“ im
Sinne von „wirksam“ z. B. auf die Erzeugung
von Ortslinien beziehen? Dann wäre allerdings das System dynamisch! Hat man das
bei der Namensgebung gemeint?
Aber sei ’s drum: Wenn wir „Dynamische
Geometriesysteme“ lesen oder sagen, sind
wir zugleich auch in der Lage, unseren hoffentlich kritischen Schülerinnen und Schülern
diese Bezeichnung jederzeit zu erläutern ...
Dynamische Geometriesysteme sind bekanntlich wichtige Werkzeuge beim Entdecken mathematischer Sachverhalte und Zusammenhänge, insbesondere von Invarianten im Sinne des Geometriekonzepts von Felix Klein. Aber hierbei ist Vorsicht geboten,
und dazu sei ein Beispiel skizziert, das sich
medienerzieherisch eignet:
Beispiel: Inversion am Kreis
Neue Medien als Verführer —
Nachdenken ist weiterhin nötig!
Manche DGS (z. B. Euklid DynaGeo 22) bieten auch fest implementierte geometrische
Abbildungen wie Kongruenz- und Ähnlichkeitsabbildungen. Im medienkundlichen Sinn
wird man es nicht versäumen, im Unterricht
diese Abbildungen auch „von Hand“ mit Hilfe
von Makros nachbauen zu lassen! Ohnehin
sind nicht alle interessierenden Abbildungen
bereits „eingebaut“, so etwa weder Scherungen noch schiefe Achsenspiegelungen.
Bei Euklid DynaGeo reizt eine weitere Abbildung zum spielerischen Erproben, nämlich:
„Punkt an einem Kreis spiegeln“. Auch ohne
vorherige Kenntnis gelingt es bald, ihre Eigenschaften „zu entdecken“: Punkt und Bildpunkt liegen stets auf einer Geraden durch
den Kreismittelpunkt, und das Produkt ihrer
Abstände vom Kreismittelpunkt ist konstant
22 Herunterladbar unter http://dynageo.de.
32
(nämlich = ?). Das führt dann zur Namensgebung „Inversion am Kreis“.
Und wie erhalten wir das Bild eines Dreiecks? Bei den anderen Abbildungen ging das
einfach: Man erzeugte ein Dreieck als Objekt
und wendete die Abbildung auf dieses Objekt
an. Fertig! Leider geht das bei dieser Kreisinversion nicht. Ärgerlich! Aber wir helfen uns,
indem wir die Inversion „von Hand“ nachbauen: Bilder der
drei Eckpunkte
konstruieren und
diese verbinden
(Abb. 7). Na also!
Oder?
Wenn z. B. eine
Abb. 7: Bild eines Dreiecks bei
OriginaldreiecksInversion am Kreis?
seite den Kreis
tangiert, müssten
Berührpunkt und
Bildpunkt übereinstimmen. Das
ist aber nicht der
Fall! Wir haben
uns also von
dem System vor- Abb. 8: Bild eines Dreiecks bei
Inversion am Kreis!
eilig
verführen
lassen. Erst eine Konstruktion über Ortslinien
bringt die richtige Lösung (Abb. 8). 23
Nachdenken ist also (gerade!) bei Neuen
Medien weiterhin angesagt! Oder anders: Wir
können somit diesen mächtigen Werkzeugen
keinesfalls unkritisch vertrauen! Das werden
wir in Abschnitt 6 noch vertiefen.
5.6 Werkzeuge zur Visualisierung
In der Mathematik wissen wir seit langem,
wie problematisch die subjektive Anschauung als Mittel der Erkenntnissicherung ist.
Andererseits geht auf Felix Klein folgende
Aussage zurück: 24
Was der Geometer an seiner Wissenschaft
schätzt, ist, daß er sieht, was er denkt.
Dazu ein Beispiel:
Auf Archytas von Tarent geht eine Lösung
des Delischen Problems zurück, 25 bei der
der Satz von der Konstanz der Sehnenabschnittsprodukte sich schneidender Sehnen
in einem Kreis benötigt wird. Diesen kann
man zwar mit Hilfe eines DGS empirisch
leicht bestätigen, aber dies ist weder ein mathematisch akzeptabler Beweis noch eine
Begründung dafür, warum das denn gilt!
23 Dies konnte tatsächlich in einem Computerpraktikum zu
DGS festgestellt werden!
24 Brieskorn im Vorwort von (Brieskorn & Knörrer 1981, vi).
25 Vgl. (Hischer 2003 b).
Mathematikunterricht und Neue Medien — oder: Bildung ist das Paradies!
und zugleich zu wissen, wie und mit welDie in Abb. 9 wiedercher technischen Hilfe man das sucht, was
gegebene Folie zeigt
man noch nicht weiß, das aber z. B. als laeinen wortlosen Betentes Wissen in lokalen oder globalen Daweis im Sinne von Fetenbanken, wie dem Internet, stehen könnlix Klein (s. o.), der mit
te.
Hilfe Neuer Medien er• Anleitung zum bewussten, reflektierten und
stellt wurde: DPGraph
kritischen Umgang mit Neuen Medien, und
zur Erzeugung des
zwar zur Persönlichkeitsbildung im Rahmen
3D-Grundkörpers und
eines Allgemeinbildungskonzepts.
ein VektorgraphikproHat
das etwa auch etwas mit dem Magramm mit Bézierkurthematikunterricht zu tun? Dazu ein
ven-Tool (hier CorelDRAW ™) zur NachBeispiel:
bearbeitung — sehr
Stellen wir uns vor, wir hätten im Unmächtige Werkzeuge
terricht das Delische Problem vielseitig
zur
Visualisierung!
behandelt und dann mitgeteilt (oder
Abb. 9: Sehnenabschnittsprodukt
Und wir können bevon einer Schülerin oder einem Schükanntlich sogar unmögliche dreidimensionale
ler gehört), dass es zu den drei berühmten
Sachverhalte visualieren, etwa das Firmenklassischen Problemen der Antike gehört.
logo von Renault, oder man denke an etliche
Sofort entsteht die Frage, welches denn die
Bilder von Escher.
anderen beiden Probleme seien, und schon
liefern die Suchmaschinen „Dreiteilung eines
Winkels“ und „Quadratur des Kreises“. Einige
5.7 Internet
Schülerinnen und Schüler suchen nach „Quadratur des Kreises“ und finden Diverses,
Das Internet ist nicht nur zum Herunu. a. Abb. 10. Was
terladen von Programmen und Gerädavon ist seriös?
tetreibern hilfreich und nützlich, sonWorum geht es indern es stellt eine außerordentlich
haltlich
überbreit gefächerte Informationsquelle
haupt?
So
wird
dar, wie jede und jeder schnell erfährt,
deutlich,
dass
dem
wenn sie oder er mit einer sog.
Mathematikunter„Suchmaschine“
ernsthaft
etwas
richt hieraus eine
sucht. Ist das Internet gar ein Werk(neue?) Bildungszeug?
aufgabe erwächst.
Dazu seien zunächst im Sinne von
Welchem Fach
Walther Ch. Zimmerli folgende Bildenn hierbei
dungsaspekte betont:
sonst?
• Bildung bedeutet nicht nur Benutzungskompetenz für Neue Medien, sondern
auch Persönlichkeitsbildung. Deren Ziele
bestehen in einer Schärfung der Urteilskraft, der Erringung transkultureller Kompetenz sowie der Stärkung geistiger Orientierung.
• In einer Situation ständiger Überforderung
und Überflutung durch noch nicht zum
Wissen gewordene Informationen kann Bildung auch eine kognitive Funktion haben,
denn sie hat doppelten Wert: nicht nur als Charaktererziehung, sondern auch als Wissen. Aber als
Wissen in einem anderen Sinne: Über Bildung zu
verfügen heißt dann, so viel zu wissen, dass man
sich in den (externen oder internen) Wissensspeichern zurechtfindet — oder in modifizierten Worten
in Anlehnung an Georg Simmel: „Gebildet ist, wer
weiß, wie er findet, wo er findet, was er nicht weiß.“
• Es geht also darum, im Nichtwissen intelligent navigieren zu können. Voraussetzung dafür ist ein
Wissen um die Grenzen der eigenen Kompetenz
Und was schreibt
die MNU hierzu in
ihren „Empfehlungen zum Computer-Einsatz ...“ 26?
Abb. 10: Suchergebnis zu
„Quadratur des Kreises“
Weiterhin
bestand
Einigkeit
darüber,
dass das Recherchieren im Internet
[...] noch von untergeordneter Bedeutung ist [...].
Hier hat man also weiterhin nur mediendidaktische Aspekte im Blick, sieht andere heraufziehende Bildungsaufgaben möglicherweise (noch) gar nicht.
26 Beilage: „Empfehlungen zum Computer-Einsatz im ma-
thematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht in
allgemein bildenden Schulen.“ In: Der mathematische
und naturwissenschaftliche Unterricht 55 (5) (2002).
33
Horst Hischer
6
Neue Medien als
Unterrichtsinhalt —
zum Beispiel:
Funktionenplotter
6.1 Stroboskopeffekt — Aliasing
Der bereits in 5.5 und 5.7 erwähnte „Vertrauensaspekt“ bezüglich der Neuen Medien soll
nun eingehender beleuchtet werden, und
zwar anhand eines elementaren, eindrucksvollen und dennoch zugleich im Mathematikunterricht behandelbaren Beispiels:
Wir nehmen z. B. den Taschencomputer
TI 92+ von Texas Instruments und lassen
den Graphen von sin(x) in einem Fenster
zeichnen, das für x von 0 bis π und für
sin(x) von –1 bis +1 definiert ist. Wenn wir
in demselben Fenster beispielsweise den
Graphen von sin(239x) zeichnen lassen, erhalten wir keinen neuen Graphen (Abb. 11):
Beide Graphen sind identisch!!!
Abb. 11: sin(x) ≡ sin (239x) beim TI 92+
Verwundert reibt man sich die Augen, wenn
man so etwas zum ersten Mal sieht. Wie
kann uns die Firma TI so etwas anbieten?
Wir greifen hoffnungsvoll zum FX 2.0 von
CASIO und stellen bei denselben Fenstereinstellungen fest: Nunmehr sind die Graphen von sin(x) und sin(127x) identisch!
Also können wir den Taschencomputern
doch nicht so recht trauen, wenn sie uns so
massiv täuschen!?
Die Hoffnung, dass es die für den PC konzipierten Funktionenplotter besser machen, erweist sich leider als trügerisch.
Dieses katastrophale Ergebnis wurde bereits
1991 von Bernard Winkelmann als sog.
„Stroboskopeffekt“ erwähnt. 27 In der Numerik
ist dieser Effekt wohl bekannt, und er gehört
dort zu dem Phänomen „Aliasing“. Die Bezeichnung „Stroboskopeffekt“ soll auch an
die sich scheinbar rückwärts drehenden Kutschenräder bei Western-Filmen erinnern.
27 (Winkelmann 1992, 42)
34
Das kann in diesem Rahmen leider nicht vertieft werden, ich verweise auf die Literatur. 28
Allerdings sei hier so viel erwähnt: Dieser
Stroboskopeffekt ist typisch für alle mathematischen Funktionenplotter, und er tritt bei
der Darstellung von periodischen und fastperiodischen Funktionen auf. In der Numerik
wird dieser Effekt innerhalb der Theorie der
sog. Moiré-Phänomene behandelt.
Wir halten das wie folgt plakativ fest:
• Neue Medien können uns als
„Täuscher“ begegnen!
Für den Mathematikunterricht ergibt sich nun
hieraus die Aufgabe, diesen Effekt im medienkundlichen Sinn zu entschlüsseln und im
medienerzieherischen Sinn eine kritische und
wachsame Haltung gegenüber den Ergebnissen zu entwickeln, die uns die Neuen Medien liefern. Und also sehen wir erneut:
Bildung ist das Paradies!
6.2 Funktionsplot als Simulation
Zunächst ist anzumerken, dass die graphische Darstellung einer termdefinierten reellen Funktion auf einem Bildschirm oder einem Drucker als Simulation des Funktionsgraphen anzusehen ist! Auch hierauf wies
Bernard Winkelmann bereits 1991 hin. Insofern können wir die Darstellungen mit dem
TI 92+ oder dem CASIO FX 2.0 als Fehlsimulationen deuten! 29
In Konsequenz davon müssen wir im Nachhinein auch die klassisch von Hand gezeichneten Funktionsgraphen bei Kurvendiskussionen als Simulationen bzw. Fehlsimulationen
des Funktionsgraphen ansehen und zugleich
fragen, was denn eigentlich der Graph bzw.
die Funktion selbst ist! Dies führt zu einer Unterscheidung zwischen dem Begriff und dessen konkreter Darstellung durch ein Objekt.
Das, was uns ein Funktionenplotter auf dem
Bildschirm oder als Ausdruck liefert, nennen
wir einen Funktionsplot, und somit ist der
Funktionsplot stets eine Simulation des (abstrakten) Funktionsgraphen oder — wenn
man so will — der (abstrakten) Funktion. 30
Keinesfalls aber haben diese Fehlsimulationen etwas mit „optischen Täuschungen“ zu
tun, denn die hier beobachteten „Täuschungen“ sind ja objektiv vorhanden, während optische Täuschungen subjektive, physiologische Wahrnehmungsstörungen sind!
28 (Hischer 2002, 295 ff)
29 Bzgl. „(Fehl-)Simulation“ siehe auch (Hischer 2003 a).
30 Man beachte die differenzierenden Namensgebungen:
Funktionenplotter, aber Funktionsplot!
Mathematikunterricht und Neue Medien — oder: Bildung ist das Paradies!
6.3 Experimente zum Aliasing mit
Derive und ParaPlot
Abb. 12 zeigt die Simulation von sin(x) und
sin(ax) für ein passendes a mit Derive, wobei nur die Fensterbreite variiert wurde.
Das linke Bild zeigt die Übereinstimmung beider Simulationen, rechts sind die Simulationen verschieden, und dennoch liegen in beiden Fällen Fehlsimulationen von sin(ax) vor.
Wir nehmen zur Kenntnis, dass die Fehlsimulation abhängig von der Fenstergröße
ist.
Abb. 12: Simulation von sin(x) und sin(ax) (mit a = ?)
mittels Derive, nur die Fenstergröße wurde variiert.
Führen wir das Experiment analog mit ParaPlot durch, so stellen wir verwundert
fest, dass die Fehlsimulationen unabhängig von der Fenstergröße sind!
Wie können wir das
erklären?
Welcher
Funktionenplotter ist
„besser“? Wie verhalten sich hier andere
Funktionenplotter?
Testen Sie Ihren eigenen!
Wir untersuchen die
Einstellmöglichkeiten
von ParaPlot genauer und stellen fest:
Hier kann man die
Anzahl der Stützstellen frei wählen, d. h.
in „klassischer Ausdrucksweise“:
Man
kann
selbstständig
entscheiden, wie viele Stützpunkte die
Wertetabelle enthalten soll, die zum
„Zeichnen“ des Graphen verwendet werden. Bei Derive hingegen suchen wir eine solche Option
vergebens.
Also können wir vermuten, dass Derive eine
eingebaute Stützstellenautomatik besitzt, mit
der die Stützstellenanzahl an die aktuelle
Fensterbreite und möglicherweise auch an
die aktuelle Bildschirmauflösung angepasst
wird. Das gibt dann auch erste Hinweise zur
Deutung des unterschiedlichen Simulationsverhaltens der beiden Programme.
Allerdings wissen wir damit noch immer nicht,
warum es überhaupt zu solchen Fehlsimulationen kommt und ob es dazu kommen
muss! Die Lösung bzw. Erklärung liegt im
Shannonschen Abtasttheorem, das u. a. in
der Audiotechnik von großer Bedeutung ist.
Das Programm ParaPlot erlaubt nun eine zugleich elementare und elegante Demonstration dieses Abtastvorgangs und damit auch
ein Grundverständnis für das Aliasing. Sehr
hilfreich ist dafür die vom Programmautor auf
meinen Wunsch hin eingebaute Option, die
Stützstellenanzahl für die einzelnen Funktionsterme unabhängig voneinander festlegen
zu können. Abb. 13 zeigt die Abtastung von
sin(x), sin(2x), ... , sin(9x) .
Abb. 13: Aliasing-Graphen (dunkel) von sin(x), sin(2x), ... , sin(9x)
(der Reihe nach von links oben nach rechts unten)
bei einer Abtastrate von 8 Intervallen in linearer Interpolation
35
Horst Hischer
Abgetastet wird jeweils mit 8 Intervallen. Die
ersten drei Simulationen ähneln der „richtigen“ (hellen, im Hintergrund) noch recht gut,
dieses in Übereinstimmung mit dem Abtasttheorem, das besagt: Die Abtastfrequenz
muss mindestens doppelt so groß wie die abzutastende Frequenz sein. Hier ist die Abtastfrequenz, die auch „Samplingfrequenz“
heißt, stets 8 , und die drei ersten Abtastfrequenzen sind 1, 2 und 3 . (Übrigens würden in der Audiotechnik diese drei abzutastenden Kurven exakt rekonstruiert werden!)
Sind die abzutastenden Frequenzen größer
als 4 , ergeben sich erkennbar Fehlsimulationen. Die Sonderfälle 4 und 8 , bei denen
sich nur die horizontale Achse als Simulation
ergibt, möge man selber erforschen!
ParaPlot erweist sich damit nicht nur als
Werkzeug, sondern darüber hinaus als
selbstreferentielles Werkzeug, das also zur
Untersuchung seiner selbst geeignet ist und
auf diese Weise in besonderem Maße medienkundlichen und — bei entsprechender
reflektierender Vertiefung im Unterricht —
auch medienerzieherischen Unterrichtszielen
dienen kann.
6.4 Die Hauptsätze für
Funktionenplotter
Diese seien abschließend nur genannt und
mögen zum Nachdenken anregen. 31
Erster Hauptsatz für Funktionenplotter:
Jeder Funktionsplot ist stetig.
Anders: Jede durch einen Funktionenplotter
dargestellte Funktion zeigt in ihrer Simulation
eine stetige Funktion.
Der Satz ist trivial, weil bei einem Funktionsplot (aufgefasst als reelle Funktion) die Definitionsmenge endlich ist und diese also nur
aus isolierten Stelle besteht. Das bedeutet
insbesondere, dass man Unstetigkeiten mit
einem Funktionenplotter eigentlich gar nicht
darstellen bzw. simulieren kann. Darüber hat
man bisher vielleicht noch nicht nachgedacht, aber nun ist es klar!
Wenn es denn einen ersten Hauptsatz gibt,
so doch wohl auch einen zweiten. Voilà:
tersucht werden!) Gemeint ist etwas anderes:
Wenn man z. B. x a sin(ax ) plotten will
und dabei eine stochastisch erzeugte Belegung für a verwendet, dann wird sich in der
„in der Regel“ ein falscher Plot ergeben.
7
Von der Keilschrift zum
Computer:
Funktionen und Medien
7.1 Übersicht
In 6.2 gelangten wir zur Frage, was denn eigentlich eine Funktion sei. Das führt auf einen wichtigen Zusammenhang mit Medien,
dieser sei zum Schluss skizziert. 32
Wann tauchte zum ersten Mal der Funktionsbegriff auf? Und in welchem Zusammenhang?
Will man dieser Frage nachgehen, so ist zu
untersuchen, wie uns heute der Funktionsbegriff begegnet — und das ist keinesfalls
einheitlich, auch nicht in der Mathematik,
denn „Funktionen haben viele Gesichter“. 33
Und so können wir heute folgende Vielfalt
beobachten:
• eindeutige Zuordnung,
• Abhängigkeit einer Größe von einer anderen,
insbesondere zeitabhängige Größe,
• Tabelle, (empirische) Wertetabelle,
• „Kurve“, Graph, Datendiagramm, Funktionsplot,
• Formel.
Zwar lassen sich alle diese Erscheinungen
von Funktionen zusammenfassend und formal als „rechtseindeutige Relation“ beschreiben, jedoch geht dabei das jeweils
Eigentümliche und Inhaltliche verloren.
Durchforstet man daraufhin die historische,
auch außermathematische, Literatur, so
entdeckt man folgende
Meilensteine bei der Entwicklung des
Funktionsbegriffs:
19. Jh. v. Chr.
Babylonier
(Tabellierung von Funktionen, „Formeln“)
5. Jh. v. Chr. ff
griech. Antike
(Kurven in kinematischer Darstellung)
10.-14. Jh. n. Chr. Mittelalter
Arezzo: Erfindung der Notenschrift gegen
1000 n. Chr.
Oresme: graphische Darstellung
zeitabhängiger Größen
Zweiter Hauptsatz für Funktionenplotter:
Der Funktionsplot einer trigonometrischen
Funktion ist meist falsch.
Das ist nicht statistisch bezüglich der Benutzer gemeint. Gemeint ist also nicht, dass
man als Anwender meistens eine falsche Simulation erhält. (Das müsste empirisch un-
17. Jh.
31 Mehr dazu bei (Hischer 2002, 307 ff).
33 (Herget et. al. 2000)
Newton (Fluxionen, Fluenten)
Leibniz, Jakob I Bernoulli
(zuerst das Wort „Funktion“)
32 Ausführlich in (Hischer 2002, 319 ff), ferner im Preprint:
http://www.math.uni-sb.de/PREPRINTS/preprint54.pdf
36
Mathematikunterricht und Neue Medien — oder: Bildung ist das Paradies!
18. Jh.
Johann I Bernoulli (erstmalige Definition von
„Funktion“)
Euler (Funktion als „analytischer Ausdruck“,
d. h. als „Term“, ferner:
Funktion als freihändig gezeichnete Kurve)
Lambert (empirische Zusammenhänge)
19. Jh.
Fourier, Dirichlet
(Funktion als eindeutige Zuordnung)
Peano, Peirce, Schröder
(Funktion als Relation)
Anfang 20. Jh.
Hausdorff
(Funktion als
zweistellige rechtseindeutige Relation)
7.2 Babylonier: Plimpton 322
Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
wurden im heutigen Irak, dem früheren Mesopotamien, etwa eine halbe Million babylonischer Keilschrifttafeln ausgegraben bzw. in
Bibliotheken gefunden. Dieses kulturelle Erbe hat nahezu 4000 Jahre bis zu seiner Entdeckung überdauert.
Unter diesen Tafeln befinden sich etwa vierhundert, die mathematische Probleme oder
mathematische Tabellen enthalten. Besondere Berühmtheit hat für die Mathematik u. a.
„Plimpton 322“ erlangt. Das ist die Tafel Nr.
322 in der Sammlung von G. A. Plimpton in
der Universität von Columbia. Sie wurde in
den 1920er Jahren gefunden und gelangte
für wenige Dollar in den Besitz von Plimpton.
Diese etwa handflächengroße Tontafel von
ca. 2 cm Dicke zeigt eine Tabelle, bestehend
aus 15 Zeilen und 4 Spalten (vgl. Abb. 14).
Abb. 15: Aktuelle Transkription von Plimpton 322
kennen: Beachten wir, dass in diesem Kulturkreis von rechts nach links geschrieben wurde, so erkennen wir die erste Spalte ganz
rechts einfach als Zeilennummerierung (wie
bei einer Tabellenkalkulation), und wir haben
somit 3 Spalten und 15 Zeilen, deren Inhalt
zu interpretieren ist. Die oberste Zeile in den
Abbildungen 14 und 15 enthält sogar Spaltenköpfe mit informierendem Text.
1;59,0,15
(1.9834) 1,59
1;56,56,58,14,50,6,15
(1.9492) 56,7
1;55,7,41,15,33,45
1;53,10,29,32,52,16
1;48,54,1,40
1;47,6,41,40
(1.9188)
(1.8862)
(1.8150)
(1.7852)
1;43,11,56,28,26,40
(1.7200) 38,11
1;41,33,45,14,3,45
(1.6927)
1;38,33,36,36
(1.6427)
1;35,10,2,28,27,24,26,40 (1.5861)
1;33,45
(1.5625)
(119) 2,49
(169) 1
(3367) 1,20,25 *(4825) 2
1,16,41 (4601)
3,31,49 (12709)
1,5
(65)
5,19
(319)
1,50,49 (6649)
5,9,1 (18541)
1,37
(97)
8,1
(481)
(2291) 59,1
13,19
(799) 20,49
8,1
*(481) 12,49
1,22,41 (4961) 2,16,1
45,0
(45) 1,15,0
3
4
5
6
(3541) 7
(1249)
(769)
(8161)
(75)
8
9
10
11
1;29,21,54,2,15
(1.4894) 27,59
(1679) 48,49
(2929) 12
1;27,0,3,45
1;25,48,51,35,6,40
1;23,13,46,40
(1.4500) 2,41
(1.4302) 29,31
(1.3872) 56
*(161) 4,49
(1771) 53,49
(56) 1,46
(289) 13
(3229) 14
*(106) 15
Abb. 16: Transliteration von Plimpton 322 — jeweils in
Klammern sind auch die dezimalen Werte angegeben
(Zahlenangaben mit * waren im Original falsch, sie sind
hier korrigiert angegeben).
Sie ist zwar links oben und rechts in der Mitte
beschädigt, konnte jedoch inhaltlich rekonstruiert werden. 1945 wurde sie erstmals dechiffriert. 2002 publizierte Eleanor Robson mit
Abb. 15 die neueste Transkription und mit
Abb. 16 eine zugehörige Transliteration vom
babylonischen Sexagesimalsystem in unsere
dezimale Notation. 34 Es handelt sich hierbei
um eine numerische Tabelle, wie wir sie heute von Tabellenkalkulationsprogrammen ken-
Es sei an dieser Stelle nur Folgendes mitgeteilt: 35 In beiden mittleren Spalten stehen jeweils zwei Zahlen eines pythagoreischen Tripels, und zwar Hypotenuse und eine Kathete, die Zeilen sind nach abnehmendem Winkel geordnet, und ganz links steht das Quadrat des Sekans dieses Winkels. Es liegt hier
also eine tabellierte Funktion vor!
Aufgrund der im Februar 2002 publizierten
Forschungsergebnisse von Robson ist nun
Plimpton 322 nicht mehr — wie bisher — als
Dokument zahlentheoretischer Forschung
anzusehen, sondern diese
Tafel diente Lehrenden zur Vorbereitung
ihrer Übungsaufgaben.
34 (Robson 2002), Eleanor Robson ist Mathematikerin und
35 Mehr dazu in (Hischer 2002, 328 ff) und im Preprint:
Abb. 14: Keilschrifttafel „Plimpton 322“
Orientalistin. Vgl. auch (Hischer 2002, 327 ff).
http://www.math.uni-sb.de/PREPRINTS/preprint54.pdf
37
Horst Hischer
Man kann also davon ausgehen, dass die
Tafel entsprechend mehrfach für diesen Gebrauch kopiert wurde. Die Entstehungszeit
dieser Tafel konnte Robson auf ca. 1800 v.
Chr. bestimmen. Damit liegt nicht nur eine
tabellierte Funktion vor, sondern ein nahezu
viertausend Jahre altes Unterrichtsmittel: Mit
der Keilschrifttafel als Medium wird eine
Funktion dargestellt bzw. „simuliert“, aber die
Funktion ihrerseits ist ein Medium zur
Vermittlung
eines
kulturellen
Zusammenhangs — ganz im Sinne der Begriffsdefinition von „Medium“ in Abschnitt 2.2.
Es wird eine spannende Aufgabe im Mathematikunterricht sein, Plimpton 322 unter Hinzuziehung der Transliteration und einer noch
zu erbringenden Keilschriftdeutung zumindest teilweise selbstständig zu transkribieren,
die Sexagesimalzahlen dezimal umzuwandeln, alles mit einer Tabellenkalkulation zu
erfassen und nachzudeuten: Dies liefert einen wichtigen Zusammenhang zwischen
Neuen Medien und alten Medien und damit
dann auch zum Begriffsverständnis. 36
7.3 Mittelalter: Zeitachsen
Von Aristoteles wissen wir, dass er sich in
seiner „Physica“ u. a. auch mit der Zeit befasste und diese mit einer nach rechts
verlaufenden Linie verglich! Diese Vorstellung hat sich als maßgeblich bis in unsere
Zeit erwiesen, und zwar in Verbindung mit
der graphischen Darstellung zeitabhängiger
Daten. Insbesondere ist offenbar die zeitachsenorientierte Darstellung die außerhalb der
Mathematik am meisten genutzte Methode
zur Visualisierung von Daten. Dies ist das
Ergebnis einer viel beachteten Langzeitstudie von 1983: ca. 75 % der in den wichtigsten
Zeitungen und Magazinen verwendeten Graphiken sind zeitachsenorientiert! 37
Die historische Forschung dokumentiert zeitachsenorientierte Darstellungen erstmals für
das Mittelalter um die Jahrtausendwende:
Vermutlich von 950 n. Chr., evtl. auch aus
dem 11. Jhdt., stammt die in Abb. 17 wiedergegebene Zeichnung, die im 19. Jhdt. von
Sigmund Günther als Teil eines Manuskripts
entdeckt wurde, das der Bayerischen Nationalbibliothek in München gehört. Er publizierte seine Entdeckung 1877. 38
Abb. 17: Zodiac — Planetenbahnen im Tierkreis
über einer horizontalen Zeitachse, ca. 950 n. Chr.
Es handelt sich bei dieser zeitachsenorientierten Darstellung um eine Veranschaulichung der Inklination der Planetenbahnen
von Venus, Merkur, Saturn, Mars und Jupiter
und der Bahnen von Mond und Sonne, also
des Zodiac, d. h., des Tierkreises. Und diese
Zeichnung wurde für die Verwendung in
Klosterschulen erstellt. So können wir festhalten: Diese graphische Darstellung ist ein
Medium, und sie stellt eine zeitabhängige
Funktion dar, diese Funktion wiederum stellt
einen wichtigen kulturellen Zusammenhang
über die Erkenntnis der Planetenbewegungen im Tierkreis dar, sie ist also ein Medium.
Und dieses Medium wurde in einer Klosterschule erstellt bzw. benutzt, es ist also darüber hinaus ein Unterrichtsmittel.
Etwa zur selben Zeit tauchte im europäischen Mittelalter eine andere zeitachsenorientierte Darstellung auf, nämlich die Notenschrift, Anfang des 11. Jahrhunderts von Guido von Arezzo erfunden. Die Zeitachse verläuft auch hier (und wie bei Aristoteles) von
links nach rechts, und vertikal werden die
Ton- und Notenwerte abgetragen. Wir können also nachträglich die Notenschrift im Sinne des entstehenden funktionalen Denkens
verstehen. Und genau dieses geschieht ja
heute bei der digitalen Darstellung der Notenschrift in einer sog. MIDI-Datei. 39
7.4 Neuzeit:
empirische Funktionen
Auf die bekannten Schritte zur Entwicklung
des mathematischen Funktionsbegriffs durch
Leibniz, Bernoulli, Euler, Fourier und Dirichlet
gehe ich hier nicht ein. 40
Stattdessen skizziere ich einige in der Mathematik weniger bekannte Beispiele.
36 Vgl. als weiteres Beispiel (Hischer 2002), Kapitel 14:
Darstellung und Untersuchung Platonischer Körper „haptisch-händisch“ mit Hilfe von „Klickies“ bzw. „virtuell“ mit
Hilfe eines 3D-Programms.
37 Edward Tufte, dargestellt in (Hischer 2002, 335).
38 Dargestellt in (Hischer 2002, 336 ff).
38
39 Vgl. hierzu (Hischer 2002, 339 f, 370).
40 Mehr dazu in (Hischer 2002, 319 ff) und im Preprint:
http://www.math.uni-sb.de/PREPRINTS/preprint54.pdf
Mathematikunterricht und Neue Medien — oder: Bildung ist das Paradies!
durch der Charakter periodischer Funktionen offenbart wird. Lambert knüpft damit
an die 800 Jahre zurück liegende mittelalterliche Methode zeitachsenorientierter
Darstellungen an, was vor ihm rund 100
Jahre vorher Huygens gemacht hatte
(Abb. 18). Heutige Messergebnisse differieren trotz größerer Datenbasis nur wenig
vom Lamberts Messungen!
1669: Christiaan
Huygens
stellt
aufgrund empirischer Sterbetabellen seine Berechnungen zur
Lebenserwartung
dar (Abb. 18).
1686: Edmond
Wir erkennen hieran, dass parallel zur EntHalley, bekannt
wicklung des mathematischen Funktionsdurch den nach
begriffs (aus den Bedürfnissen der Analysis
ihm benannten
Kometen,
be- Abb. 18: Lebenserwartungskurve von heraus!) empirische Funktionen eine immer
Huygens
stärkere Bedeutung erlangten.
richtete über BeDas
machen die folgenden Beispiele um so
obachtungen, die er mit einem Barometer in
verschiedenen Höhen gemacht hatte. Dabei
mehr deutlich: So werden ja Statistische Dainterpretierte er seine Messwertpaare aus
ten zunächst in Tabellen erfasst und nicht
Höhe und Luftdruck als Punkte, die auf einer
nur mit numerischen
Hyperbel liegen (Abb. 19). Hier erscheint alMethoden analysiert,
so eine Hyperbel nicht mehr wie bisher im
sondern auch grageometrischen Zusammenhang, sondern als
phisch
visualisiert,
Funktionsgraph. Die Punkte auf einer Hyperwie wir das gerade
bel anzunehmen, war zwar eine Fehldeubei der Bundestagstung; aber konnte er wissen, dass es eigentwahl wieder erlebt
lich eine Exponentialfunktion ist?
haben. Die wichtigsten hierfür noch
heute verwendeten
Visualisierungsformen wie z. B. Balkengraphik,
Liniendiagramm und Kreisdiagramm bzw. Tortendiagramm gehen alle Abb. 21: Liniendiagramm
von Playfaire
auf den Engländer
Abb. 19: Luftdruckkurve von Halley
1760: Johann Heinrich Lambert erfindet
Ausgleichskurven zur Interpolation empirischer Daten.
Er führte auch
Langzeitmessungen der Veränderung
der
Erdbodentemperatur durch und
stellt die Ergebnisse in einer
zeitachsenorientierten Graphik
dar
(Abb. 20,
1779 posthum
publiziert), wo-
Abb. 22: Balkendiagramm von Playfaire
Abb. 20: Langzeittemperaturmessung im
Erdboden („Pyrometrie“) durch Lambert
William Playfaire zurück,
der hierfür seine „Lineare
Arithmetik“ entwickelte. 1786
veröffentlichte Playfaire Darstellungen ökonomischer Daten mittels Balken- und Liniendiagrammen
(Abb. 21
und 22).
Es gibt viele weitere Beispiele für empirische Funktionen,
von denen noch zwei erwähnt seien:
39
Horst Hischer
1796: John Southern und James Watt führen in England die erste automatische Aufzeichnung von Messwertdaten-Paaren durch,
und zwar für die Aufzeichnung von Druck
und Volumen bei Dampfmaschinen (sog.
„Watt-Indikator“, bis 1822 geheim gehalten).
Abb. 23 zeigt ein Foto dieses Watt-Indikators. Wir erkennen deutlich, dass dieses
„funktionierende“ Gerät eine geschlossene
Linie zeichnet: Hier wird also ein thermodynamischer „Kreisprozess“ erfasst! Das Studium und Verständnis dieser Kurve, die ja einen funktionalen Zusammenhang zwischen
Druck und Volumen darstellt, ist zugleich ein
Schlüssel zum Verständnis der „Funktion“
der Dampfmaschine!
1821: Jean Baptiste Joseph Fourier stellt
die Häufigkeitsverteilung der Altersstruktur
der Einwohner von Paris durch einen Funktionsgraphen dar (Abb. 24).
Abb. 24: Häufigkeitsverteilung von Fourier
Hier ist anzumerken, dass wir Fourier und
seinem Schüler Dirichlet die entscheidenden
Schritte zur Entwicklung des abstrakten
Funktionsbegriffs in der Mathematik verdanken! So schreibt Fourier 1822 in seinem
Hauptwerk „Theorie der Wärme“: 41
Allgemein repräsentiert die Funktion f (x)
eine Folge von Werten oder Ordinaten, von
denen jeder beliebig ist. Da die Abszissen
x unendlich viele Werte annehmen dürfen,
so gibt es auch unendlich viele Ordinaten
f (x) . Alle haben bestimmte Zahlenwerte,
die positiv, negativ oder Null sein können.
Es wird keineswegs angenommen, dass
diese Ordinaten einem gemeinsamen Gesetz unterworfen sind; sie folgen einander
auf irgendeine Weise und jede Ordinate ist
so gegeben, als wäre sie allein gegeben.
Abb. 23: „Watt-Indikator“ von 1796
zur automatischen Aufzeichnung der
Volumen-Druck-Kurve bei einer Dampfmaschine
Dieser Watt-Indikator ist in beeindruckender
Form eine Symbiose aus Medium und Funktion:
Er vermittelt ein wichtigen Zusammenhang
zur Funktionsweise der Dampfmaschine (und
erlaubt vor allem ihre Untersuchung und
Kontrolle!).
Und aufgrund seiner Darstellungsweise ist er
„Funktion“ im doppelten Sinn: bezüglich der
„Funktionsweise“ und vor allem der mechanischen Realisierung einer mathematischen
Funktion.
40
Fourier spricht zwar (noch) nicht — wie in der
heutigen Mathematik — von der „Funktion f “,
sondern er bezeichnet den Funktionsterm
f (x) als Funktion, aber das war damals (seit
den mathematisch-formalen Anfängen bei
Bernoulli und Euler) üblich, und es machen
wundersamer Weise u. a. viele (Anwender)
auch heute (wieder bzw. noch?). Es ist zu
vermuten, dass diese verallgemeinernde
Sichtweise aus Fouriers eigener Beschäftigung mit empirischen Daten aus der Physik
und der Soziologie entstanden ist. Denn solche Primärdaten sind ja — wenn überhaupt
— nur angenähert durch termdefinierte Funktionen darstellbar.
Damit erscheinen also bereits vor knapp 200
Jahren — mit Bezug auf die Definition von
Fourier — die graphischen bzw. numerischen
bzw. mechanischen Darstellungen empirischer Daten von Huygens, Halley, Lambert,
Playfair, Watt, und Fourier als Funktionen —
Darstellungen, die wir bereits als Medien zur
Darstellung von Kultur und Wirklichkeit erkannt haben.
41 Siehe (Hischer 2002, 359).
Mathematikunterricht und Neue Medien — oder: Bildung ist das Paradies!
7.5 Und heute?
Dieser kulturhistorische Überblick deutet an,
in welcher Vielfalt uns „Funktionen“ in den
letzten 4000 Jahren der Menschheitsgeschichte begegnen. Dabei zeigen die Beispiele zugleich, dass mittels Funktionen immer wieder Wirklichkeit und Kultur dargestellt
wurden, dass Funktionen in diesem weiten
Sinne also in der Rolle eines Mediums auftreten, während sie in der Mathematik selbst,
dieser „Wirklichkeit sui generis“, 42 vor allem
zu einem eigenständigen Objekt geworden
sind, das auch ohne diesen medialen „Anwendungsaspekt“ bedeutsam ist. Eine solche
kulturhistorische Betrachtung von Funktionen
und Medien hilft uns dann, den Begriff „Neue
Medien“ besser zu verstehen.
• Weitere Beispiele
Mit Blick auf die bisherigen Ausführungen
modifiziere ich die bekannte Aussage des
Technomathematikers Helmut Neunzert über
die Mathematik 43 wie folgt:
Funktionen und Medien sind überall,
nur wer weiß das schon!
Dass Funktionen überall in der Mathematik
sind, ist wohl klar. Aber außerhalb der Mathematik?
Dazu zum Abschluss noch einige „moderne“
Beispiele, die auf Neuen Medien beruhen.
xel-Punkt mit den Koordinaten (x, y) ein Zahlentripel f (x , y ) ∈ B 3 mit B = {0, 1, 2, ... , 255}
(also 256 Helligkeitsstufen für jede der drei
Farben R, G, B) zugeordnet, so dass damit
jedem Bildpunkt 224 Farbwerte zugeordnet
werden können (24-Bit-Darstellung).
In Abb. 25 wird dies für 256 Graustufen mit
f (x , y ) ∈ B exemplarisch am Buchstaben
„ f “ dargestellt, der nebeneinander in drei Pixelgraphiken von normaler Größe, in vierfacher und in sechzehnfacher Vergrößerung zu
sehen ist. Die einzelnen Pixel und ihre marginalen Graustufen (aufgrund einer Anti-Aliasing-Darstellung) sind erkennbar.
o
WAV: Audio-Datei als „Sample-Tabelle“
Eine WAV-Datei kann als zeitachsenorientierte Funktion aufgefasst werden, die wir als
Funktionsgraph sichtbar machen können
(bzw. durch nachgeschaltete Verkettung mit
„Audio-Funktionen“) auch hören können. Bei
ihr werden über den Abtastzeitpunkten der
Zeitachse als Funktionswerte die abgetasteten Samples dargestellt. Bei der konkreten
Bildschirmdarstellung werden jedoch nicht
Abtastzeitpunkte, sondern äquidistante, lückenlos aufeinander folgende Abtastintervalle benutzt, und über diesen werden die Samples als Funktionswerte aufgetragen, so dass
eine Treppenfunktion vorliegt (Abb. 26, 27).
o Pixelgraphik
Wenn eine Bitmap-Datei auf einem Bildschirm dargestellt wird,
so liegt eine
Funktion
vor, die jedem
Pixel
(also jedem
Punkt z. B.
der
Bildschirm-Matrix)
einen
Farbcode
zuordnet.
Abb. 26: WAV-Datei eines Musikstücks
mit beiden Stereokanälen
Durch Zoomen
kann Abb. 25: Graustufen-Pixel in 4- und
16-facher Vergrößerung
man dieses
auch direkt erleben: Wenn man nämlich so
weit vergrößert, dass man die ursprünglichen
Pixel als monochromes Quadrat sieht. Im
RGB-Modus wird dabei jedem Bildschirmpi42 Nach Wittenberg, siehe auch (Hischer 2002, 125, 132)
43 „Mathematik ist überall, nur weiß das schon!“. Zitiert in
(Hischer 2002, 107).
Abb. 27: horizontal und vertikal gezoomter Ausschnitt
aus Abb. 26, bei dem man die Abtastintervalle mit den
darüber aufgetragenen Samples erkennt.
Es liegt also eine Treppenfunktion vor.
Die beiden Stereosignale sind nicht identisch.
41
Horst Hischer
Dieses kann man sich mit der Software veranschaulichen, die heute bei nahezu jeder
Soundkarte eines PC mitgeliefert wird. Auch
hier kann man durch horizontales Zoomen (in
der Zeitachse) bis in die Details hineingehen.
Noch besser geht es mit einem professionellen Programm, bei dem man auch vertikal
zoomen kann (vgl. Abb. 26 und 27). 44
o MIDI: Audio-Datei als „Steuerdatei“
Eine MIDI-Datei kann ebenfalls als zeitachsenorientierte Funktion aufgefasst werden, die wir sogar als Partitur sichtbar machen und durch Verkettung auch hören können. Durch Verkettung können wir dabei jeder einzelnen Stimme ein beliebiges „synthetisches Instrument“ zuordnen. Dieses sollte
man mit der eigenen Soundkarte und passender Software ausprobieren. 45
Diese exemplarisch gedachte Liste ungewohnter Beispiele für Funktionen außerhalb
der Mathematik möge dazu anregen, auf weitere Funktionensuche zu gehen. Das können
dann z. B. Tabellen, Formeln, ... , Balkendiagramme, ... , Algorithmen etc. sein, wobei
solche Funktionen dann häufig (immer?)
auch Medien sind und andererseits mit Hilfe
(auch Neuer!) Medien simulierbar sind.
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über die Neuen Medien und das gar nicht
mehr allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit. Weinheim & Basel: Beltz, München &
Wien: Hanser
44 Hier SEKD Samplitude 2496.
45 Empfehlenswert ist die kostenlose Demoversion des
Kompositionsprogramms SIBELIUS,
herunterladbar unter: http://sibelius.com.
42
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124
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z
Funktionen dynamisch entdecken
Hans-Jürgen Elschenbroich, Neuss
Aber der Formalismus darf nicht überwuchern;
die Hauptsache ist eine klare Erfassung der
Grundbegriffe und ihrer anschauungsmäßigen
Bedeutung.
Felix Klein: Über eine zeitgemäße Umgestaltung
des mathematischen Unterrichts an den höheren
Schulen (1904)
Funktionen sind ein wichtiges Themengebiet der Sekundarstufe I, die Betonung des funktionalen Zusammenhangs ist seit den Meraner Reformvorschlägen ein Thema der
Schulmathematik. Mit DGS ist jetzt ein dynamischer, genetischer Zugang zu Funktionen
möglich. Die Schüler können die unabhängige Variable x variieren und untersuchen, wie
verändert sich y und P(x/y). Es ist stets ein x und das zugehörige y sichtbar, der Graph
entsteht dann als Ortslinie von P(x/y).
Bei Funktionenscharen können die Parameter variiert werden, es ist stets ein Graph
sichtbar, der zu den jeweiligen Parametern gehört und es wird untersucht, welche Auswirkungen deren Variation auf den Graphen hat.
1
Funktionaler
Zusammenhang
Funktionales Denken ist laut Vollrath (1989)
„typisch für den Umgang mit Funktionen“.
Der Umgang mit Funktionen wiederum ist typisch für die Mathematik und im Laufe des
20. Jahrhunderts auch für den MathematikUnterricht geworden. Die Reformvorschläge
von Meran, siehe Gutzmer (1908), haben
erstmals neben der Stärkung des räumlichen
Anschauungsvermögens die „Erziehung zur
Gewohnheit des funktionalen Denkens“ als
besondere Aufgabe hervorgehoben. Es wurde gefordert, dass darauf der „Hauptteil der
Arbeit“ im Mathematik-Unterricht verwandt
werden sollte, nicht nur in der damals so genannten Arithmetik, denn „diese Gewohnheit
des funktionalen Denkens soll auch in der
Geometrie durch fortwährende Betrachtung
der Änderungen gepflegt werden, die die
ganze Sachlage durch Größen- und Lageänderung im einzelnen erleidet“1.
-
Marzani (1956) hat aus der Erkenntnis,
dass starre Demonstrationsmodelle dem
dynamischen Denken wenig entgegen
kommen und diese daher durch bewegliche Modelle ergänzt werden müssen,
„die nicht nur zeigen, wie etwas ist, sondern erleben lassen, wie etwas wird“, einen mechanischen ‚Funktionenschieber’
ersonnen:
Bei Funktionen ist dafür der Begriff ‚funktionaler Zusammenhang’ üblich geworden. Die
unterrichtliche Umsetzung aber krankte lange
daran, dass geeignete Lernumgebungen
fehlten. In den 50er bis 70er Jahren gab es
dann verschiedene Ansätze:
1 Hervorhebungen durch den Autor dieses Artikels.
Abb. 1: Funktionenschieber von Marzani
43
Hans-Jürgen Elschenbroich
-
-
Strunz (1956) und andere sahen den Unterrichtsfilm als geeignetes Werkzeug.
War jahrtausendelang ein starres Bild für
die Veranschaulichung einer stetigen
Überlegung schlecht geeignet, so hat
sich dies gewandelt. Im Film können
nach Fletcher (1971) „die geometrischen
Schaubilder sich ändern und eine kontinuierliche Geschichte erzählen“.
Peters (1987) entwickelte in seinem Diaporama-Programm audiovisuelle Diashows, in denen für die Entwicklung typische Schnappschüsse aufeinander folgten.
Dies alles war aufwändig herzustellen und
schwierig einzusetzen und kaum daher in der
Unterrichtspraxis praktisch nicht vor. Vielmehr mutierte die Behandlung des funktionalen Denkens von der dynamischen Untersuchung funktionaler Abhängigkeiten zu einer
eher statischen Einführung in den Funktionsbegriff. Dies war schon bei Lietzmann (1922)
angelegt, der den Funktionsbegriff „als Bindemittel im ganzen Lehrstoff“ sah.
Ein intuitives Verständnis von Variablen als
unabhängige bzw. abhängige Veränderliche
wurde in der Folge der Exaktheitswelle als
„eine naiv-anschauliche Redeweise“, als „eine dem vorwissenschaftlichen Bereich entstammende Redeweise“ angesehen. Pickert
(1958/59) betonte: „f(x) ändert sich genauso
wenig wie x, wenn auch x als Veränderliche
bezeichnet wird; man setzt vielmehr für x
Werte aus dem Definitionsbereich ein und
erhält so aus f(x) stets wieder Zahlenwerte“.
In dem Bemühen „an eine wissenschaftlich
befriedigende Auffassung über Variable heranzuführen“ sollten Redeweisen wie „x3
wächst, wenn x wächst“ ersetzt werden
durch (korrekte) Formulierungen wie „wenn
x1<x2, so x13<x23“. So wurden bei den Lernenden durch das Streben nach fachlicher
Korrektheit Hürden für die Entwicklung von
Grundverständnis errichtet.
2
Schülerfehler und
Variablen-Verständnis
Die im Algebra-Unterricht übliche Betonung
der Funktionsgleichung führte nicht nur zu
einer statischen Sicht von Funktionen, sie
förderte bei Schülern oft ungewollt ein falsches Verständnis von Variablen. Wenn
Schüler Gleichungen wie y = 2x–3, y = -3x+1,
y = x2–2x+3 betrachten, kann der fatale Eindruck entstehen:
44
„x und y ist das, was sich in der Gleichung
nie ändert.“
Die in der Zuordnungsschreibweise benutze
Symbolik x a y ist keineswegs intuitiv, sondern durchaus missverständlich. So wies Hischer (2002) darauf hin, dass sie häufig (und
nicht nur von Schülern!) zunächst gelesen
wird als
„x wird zugeordnet y.“
was sprachlich mehrdeutig ist und dann statt
„dem x wird das y zugeordnet“ oft fälschlich
als „das x wird dem y zugeordnet“ interpretiert wird, „weil der Pfeil von x nach y geht“!
Wird eine Gerade als Funktionsgraph einer
Linearen Funktion gezeichnet, so erkennt der
Schüler daran oft den Veränderlichenaspekt
und die Zuordnung x a y nicht:
„Die Gerade ändert sich doch nicht, wenn
x geändert wird?!“
All diese Schülerprobleme2 geben Anlass,
über Variablen-Konzepte und Variablen-Verständnis nachzudenken. Malle (1993) hat in
seinen
Untersuchungen
verschiedene
Aspekte von Variablen identifiziert, die im Zusammenhang mit Funktionen folgendermaßen gedeutet werden können:
- Beim Bereichsaspekt repräsentiert eine
Variable eine beliebige Zahl aus einem
bestimmten Bereich. Dieser Aspekt lässt
sich in den Simultanaspekt und den Veränderlichenaspekt weiter untergliedern.
Beide Aspekte bezieht Malle zunächst nur
auf eine Variable.
- Beim Simultanaspekt durchläuft dabei die
Variable alle Zahlen des Bereichs (in der
Praxis oft nur einen typischen Ausschnitt),
welche gleichzeitig, simultan überblickt
werden. Bei Funktionen ist dieser vorrangig der Definitionsbereich; der Simultanaspekt ist dann bei der Wertetabelle und
beim Funktionsgraphen vorhanden.
- Beim Veränderlichenaspekt geht es darum, dass die Zahlen aus einem Bereich in
einer zeitlichen Abfolge durchlaufen werden. Der Veränderlichenaspekt kommt
fast ausschließlich im Zusammenhang mit
funktionalen Betrachtungen vor, denn „es
hat im allgemeinen ja keinen Sinn, eine
Variable für sich alleine wachsen oder fallen zu lassen, wenn nicht die Abhängigkeit von mindestens einer weiteren Variablen mitstudiert wird“.
2 Beim Lösen von Gleichungen kommt noch ein weiteres Schülerproblem hinzu: „Das x ist doch gar nicht variabel, da kommt doch eine Zahl raus!“ Darauf soll hier
nicht eingegangen werden.
Funktionen dynamisch entdecken
- Beim Einzelzahlaspekt hat die Variable
jeweils einen bestimmten, aber veränderbaren Wert. Dies betrifft bei Funktionen
die Parameter (Formvariable), die sich
dann in typischer Weise auf den Verlauf
des gesamten Graphen auswirken.
Diese Variablenaspekte werden im Folgenden darauf untersucht, wie und inwieweit sie
in gängigen Mathematikprogrammen bei der
Behandlung von Funktionen umgesetzt werden.
3
Funktionenplotter
und CAS
Numerisch rechnende Funktionenplotter oder
symbolisch rechnende Computer-AlgebraSysteme bieten heutzutage komfortable
Möglichkeiten, Funktionsgraphen zu zeichnen. Es wird die Funktionsgleichung/ der
Funktionsterm eingegeben und dann auf
Knopfdruck in Sekundenbruchteilen ‚auf einen Schlag’ der komplette Graph (im Rahmen der Bildschirmskalierung) gezeichnet.
Aus didaktischer Sicht ist dies aber nicht immer wünschenswert. Der Simultanaspekt
wird so zwar realisiert, aber der Veränderlichenaspekt kommt nicht zum Ausdruck.
1
x+3 beispielsweise
2
(s. Abb. 2) kann der Schüler nicht gut den
funktionalen Zusammenhang verstehen und
erkennen, denn die Gerade, der Graph als
Menge aller Punkte P(x/y) bleibt ja unverändert, statisch. Wünschenswert wäre es vielmehr, zunächst einmal nur zu einem x das
zugehörige y zu betrachten und die Auswirkungen der Änderung der unabhängigen Veränderlichen x auf die abhängige Veränderliche y sowie auf P(x/y) zu untersuchen und
hierbei die Dynamik zu erleben.
Am Graphen von y = -
4
Funktionen plotten mit
der Tabellenkalkulation
Mit einer Tabellenkalkulation wie Excel kann
man zu einer Funktion eine Wertetabelle auf
einem bestimmten Bereich mit einer gewünschten Schrittweite erstellen und erhält
den zugehörigen Funktionsgraphen dann
durch ein geeignetes Diagramm. Der Funktionsterm muss dabei nur einmal eingegeben
werden und kann einfach durch Kopierbefehle in die darunter liegenden Zellen übertragen werden.
Der Simultanaspekt ist automatisch in den
Spalten der Wertetabelle umgesetzt, auch
der Zuordnungsaspekt ist in den einzelnen
Abb. 2: Funktionen plotten mit CAS (Derive)
45
Hans-Jürgen Elschenbroich
Abb. 3: Funktionen plotten mit einer Tabellenkalkulation (Excel)
Zeilen der Tabelle (etwas versteckt) zu finden und der Veränderlichenaspekt in der Abfolge der Zeilen. Wie bei den Funktionenplottern wird der gesamte Graph auf einen
Schlag (als Diagramm) gezeichnet.
Der Einzelzahlaspekt ist bei der Tabellenkalkulation gut umgesetzt, die jeweiligen Parameter-Werte können per Tastatur in entsprechenden Zellen geändert werden (s. Elschenbroich 1996, 1999). Die Änderungen
schlagen sich sofort in der Wertetabelle und
im Diagramm nieder. Solche Änderungen der
Parameter lassen sich in neueren Versionen
von Tabellenkalkulationen auch kontinuierlich
mit Schiebereglern umsetzen: s. Abb. 3.
Ein gewisses Verständnisproblem beim Einsatz einer Tabellenkalkulation besteht darin,
dass sie mit zwei Ebenen arbeitet. Eine
arithmetische Ebene (Wertetabelle) ist sichtbar, die zu Grunde liegende algebraische
Ebene (Term) ist versteckt. Es wird üblicherweise mit Zelladressen statt Variablennamen
gerechnet, und es sind unterschiedliche Arten der Adressierung erforderlich (relativ für
die unabhängige Variable x, absolut für die
Parameter).
46
5
Funktionen plotten mit
DGS
Dynamische Geometrie-Software wie EuklidDynaGeo oder Cabri II ermöglicht es (mittlerweile), mit Funktionen zu arbeiten, im Zugmodus x zu verändern und die Auswirkung
auf y und P(x/y) zu verfolgen. Statt bei den
Variablen von bestimmten Werten zu abstrahieren, werden so nun (praktisch) alle Werte
überblickt, aber jeweils nur einer betrachtet.
Die Schüler erkennen zunächst, dass und
wie sich bei Verändern von x der Punkt
P(x/y) auf einer gedachten Linie bewegt (s.
Abb. 4). DGS ermöglicht so eine ‚Entschleunigung’. Erst anschließend entsteht diese Linie aus der Bewegung von P als Ortslinie/
Spur und der Funktionsgraph somit als neues, komplexeres Objekt: s. Abb. 5.
Dieser für das Verständnis wichtige Zwischenschritt wurde bislang in der Regel sowohl ohne als auch mit Computereinsatz
übersprungen. Die fehlenden technischen
Möglichkeiten behinderten an dieser Stelle
das genetische Lernen, was zu vielen Verständnisproblemen im Umgang mit Variablen
und Funktionen geführt hat.
Funktionen dynamisch entdecken
Abb. 4a–d: Funktionaler Zusammenhang mit DGS (Euklid-DynaGeo)
Abb. 5a, b: Funktionsgraph-Entstehung mit DGS (Euklid-DynaGeo)
Mit DGS wird nun beim Plotten von Funktionen sowohl der Simultanaspekt als auch der
Veränderlichenaspekt berücksichtigt.
6
Funktionenscharen
Nach der Untersuchung einzelner Funktionen, z. B. einzelner Linearer Funktionen in
den Klassen 7–8 oder einzelner Quadratischer Funktionen in der Klasse 9 steht die
allgemeine Untersuchung von Funktionen
dieses Typs, also y = mx+n oder y = x2+px+q
an. Die Koeffizienten werden selbst zu Variablen, zu Parametern. Somit werden dann
Funktionenscharen betrachtet.
Auch hier sind Funktionenplotter3 und CAS
oft für den Aufbau von Verständnis nicht op3 Das DOS-Programm Paraplot von M. Weiß ermöglichte schon Anfang der 90er Jahre das Zeichnen von
Funktionsgraphen bei kontinuierlicher Parametervariation. Es hatte aber keine große Verbreitung gefunden,
vermutlich weil der dynamische Ansatz nicht recht zu
der damaligen Sicht von Mathematik passte. In jüngster Zeit gibt es eine zunehmende Zahl von solchen
Programmen oder in Web-Seiten eingebundenen Applets, die Derartiges in moderner Umgebung leisten.
timal, weil zu mächtig. Sollen beispielsweise
Graphen von y = x2+px betrachtet werden, so
muss in dem verbreiteten CAS Derive zunächst der Vector-Befehl eingesetzt werden
und dann werden sämtliche Graphen der
Schar wieder ‚auf einen Schlag’ gezeichnet.
Dabei kommt der Einzelzahlaspekt nicht zum
Tragen, sondern wird eher verdunkelt. Der
dynamische Zusammenhang ‚wie ändert sich
der Graph, wenn p geändert wird’ ist zwar
vorhanden und vom Kundigen herauszulesen, aber für den Lernenden recht schwer zu
entdecken. Denn der Schüler sieht sofort viele Graphen gleichzeitig und nicht den Zusammenhang zwischen einem Wert des Parameters p und dem zugehörigen Graphen:
s. Abb. 6.
Mit DGS kann dagegen die kontinuierliche
Veränderung des Parameters durch Schieberegler realisiert werden (je nach DGS als
Zahlobjekt definiert oder mittels einer Strecke
konstruiert), der jeweilige Funktionsgraph ist
dann als Ortslinie vorhanden. Änderungen
des Parameters wirken sich unmittelbar auf
den Graphen aus, die Schüler können interaktiv untersuchen, wie der Graph reagiert,
wenn ein Parameter variiert wird.
47
Hans-Jürgen Elschenbroich
Abb. 6: Funktionenschar mit CAS (Derive)
Abb. 7a–d: Funktionen’schar’ mit DGS (Euklid-DynaGeo)
Der Parameter (in der Sprechweise der Algebra: die Formvariable) wird somit als eine
‚Supervariable’ erfahren, die den gesamten
Graphen beeinflusst, als eine Variable, die
den Graphen formt (Abb. 7).
y = x2+px+q bei Variation von p?’. Mit DGS
lässt sich diese Kurve einfach im Zugmodus
als Ortslinie des Scheitelpunktes erzeugen4:
Eine Erweiterung auf typische Ortslinienprobleme bietet sich jetzt an, z. B. ‚wie verhält
sich der Scheitelpunkt des Graphen von
4 Die Parametervariation durch Schieberegler kann auch
48
gut mit einer Tabellenkalkulation wie Excel realisiert
werden, aber nicht mehr die anschließende OrtslinienUntersuchung des Scheitelpunktes!
Funktionen dynamisch entdecken
Plots von Funktionen mit zwei Variablen, so
wie er in CAS Standard ist. Eine Funktion
fp(x) mit einem Scharparameter p kann auch
als Funktion mit zwei Variablen f(x; p) gesehen werden, der Graph ist dann eine Fläche
im Raum. So wie der Graph einer Funktion
y = f(x) als Linie aus der Spur der Bewegung
des Punktes P(x/y) bei Variation von x entsteht, so entsteht der Graph von y = f(x; p)
als Fläche aus der Spur des Graphen von
y = fp(x) bei Variation von p. Die Parabelschar aus Abb. 6 wird dann wie in Abb. 9
dargestellt. Querschnitte parallel zur xAchse, senkrecht zur p-Achse durch die Fläche liefern die jeweiligen Graphen von fp(x).
2
Abb. 8: Ortslinie des Scheitelpunkts von y = x +px+q
mit DGS (Euklid-DynaGeo)
Ein derartiges Ortslinienproblem lässt sich interaktiv in der Klasse 9 behandeln, siehe Elschenbroich & Seebach (2002), dies muss
nicht bis zum Ende der Differenzialrechnung
warten.
Die dynamische Visualisierung von Funktionenscharen, in denen der Zusammenhang
von jeweiligem Parameterwert und zugehörigem Funktionsgraphen sichtbar wird, ist auch
die Grundlage für ein Verstehen des 3D-
7
Zusammenhänge
entdecken
Systematische Veränderungen von Parametern ermöglichen es, Eigenschaften von
Funktionen zu entdecken und/ oder in neuer,
dynamischer Sicht zu sehen. Dies soll am
Beispiel der bekannten p-q-Formel zur Lösung quadratischer Gleichungen aufgezeigt
werden. Die p-q-Formel ist noch eiserner Be-
2
Abb. 9a–d: Verschiedene Ansichten des 3D-Plots von f(x; p) = x +px mit CAS (Derive)
49
Hans-Jürgen Elschenbroich
Abb. 10a–d: Nullstellenformel und Scheitelpunkt mit DGS (Cabri II)
standteil des Algebra-Schulwissens. Sie gehört aber zu den Themen, über die im Zeitalter der CAS-Taschenrechner im Gefolge des
Beitrags von Herget u.a. (2000) diskutiert
wird, ob man sie in absehbarer Zeit noch unterrichten wird. Als auswendig gelernte Formel ist ihr künftiger Sinn sicher strittig. Aber
die Schüler können Zusammenhänge zwischen Nullstellen und Scheitelpunkt der Parabel entdecken, die zu einem tieferen Verständnis von Parabeln und einer anderen
Formulierung der sogenannten p-q-Formel
führen, siehe Elschenbroich (2002). Dies behält auch im CAS-Zeitalter seinen Bildungswert! (Abb. 10)
Im Zugmodus entdecken die Schüler zunächst qualitativ, dass die Parabel keine
Nullstelle hat, wenn der Scheitelpunkt
S(xS/yS) oberhalb der x-Achse liegt, genau
eine Nullstelle hat, wenn S auf der x-Achse
liegt, und zwei Nullstellen, wenn S unterhalb
der x-Achse liegt, siehe Abb. 10a–d. Dann
finden sie heraus, dass die Nullstellen stets
symmetrisch zur Parallelen zur y-Achse
50
durch xS liegen und umso weiter auseinander, je weiter sich S unterhalb der x-Achse
befindet. Wird S weiter ‚nach unten’ gezogen,
so wandern die Nullstellen ‚auseinander’,
aber offensichtlich nicht im gleichen Maße
wie ‚nach unten’. Variiert man nun S nur auf
der y-Achse, so erkennt man, dass die Nullstellen um die Wurzel aus dem Abstand von
S zur x-Achse vom Ursprung/ von der yAchse entfernt sind. Dies führt zur Nullstellenformel x1,2 = xS± − y S , die den Zusammenhang zwischen der Lage von S und den
Nullstellen jetzt auch quantitativ wiedergibt.
8
Ko-Variation und
Umkehrfunktion
Malle (2000) betont bei Funktionen neben
dem mehr statischen Aspekt der Zuordnung
„jedem x wird genau ein y = f(x) zugeordnet“
den dynamischen Aspekt des funktionalen
Funktionen dynamisch entdecken
Abb. 11a, b: Ko-Variationen mit DGS (Cabri II)
Abb. 12a–d: Umkehrung von y = cos(x) mit DGS (Cabri II)
Zusammenhangs im Sinne Felix Kleins, auch
Kovariation genannt. Hierbei geht es darum
„die Variation von y zu erfassen, wenn x eine
bestimmte Skala von Werten durchläuft“, wie
schon Strunz (1956) formulierte. Malle (2000)
hat aber noch eine Ergänzung gemacht, die
den Aspekt der Ko-Variation betont: „Wird x
verändert, so ändert sich f(x) in einer bestimmten Weise und umgekehrt5.“ Diese
Umkehrung ist bislang weder mit Tafel und
Kreide noch mit gängigen Funktionenplottern
adäquat handhabbar gewesen und fand da5 Hervorhebungen durch den Autor dieses Artikels.
her im Unterricht praktisch nicht statt. DGS
bietet hier (ansatzweise) ein Werkzeug. Es
kann nicht nur x variiert werden (s. Abb. 4),
sondern auch P(x/y) (s. Abb. 11a) oder y (s.
Abb. 11b), um dann die Auswirkungen zu
studieren. Die Effekte des Ziehens an P bzw.
y können in der Druckversion leider nur angedeutet werden.
DGS eignet sich damit auch hervorragend
zur Einführung in das Thema „Umkehrfunktionen“. Der Punkt P(x/y) kann an der Hauptwinkelhalbierenden zu P′ gespiegelt werden
(s. Abb. 12b) und P′ kann man dann durch
Ziehen an x eine Ortslinie zeichnen lassen
51
Hans-Jürgen Elschenbroich
Abb. 13: Dynagraph
(s. Abb. 12c). Nun kann die Eindeutigkeit der
Umkehrrelation im Zugmodus untersucht
werden, indem man einen für die Umkehrfunktion infrage kommenden Teil der Kurven
im Spurmodus hervorhebt, siehe Elschenbroich/ Seebach (2003) und Abb. 12d.
9
„Los von Descartes!“:
Dynagraph
Die Darstellung von Funktionen im cartesischen Koordinatensystem ist so sehr zum
Standard geworden, dass sie vielfach schon
als die einzig mögliche erscheint. Dabei ist
sie nicht immer optimal geeignet, um Eigenschaften von Funktionen zu visualisieren.
Goldenberg (1992) wählte für seine Dynagraph genannte Darstellung statt der orthogonalen Achsen zwei parallele Achsen, vorzugsweise ohne Skalierung, nur mit einer
Markierung des Ursprungs. Dies wurde damals in LOGO programmiert, lässt sich aber
heute ideal mit DGS realisieren: s. Abb. 13.
Dynagraph ist eine dynamische Umsetzung
der bislang wenig genutzten LeiterdiagrammDarstellung von Zuordnungen. Dabei entsteht im Zugmodus schnell und besonders
eindrucksvoll ein Gefühl für Montonie, Linearität, Extrema, Polstellen und Periodizität, für
qualitative Eigenschaften6. Werden die Schüler angehalten, das beobachtete Verhalten
zu beschreiben, so ergibt sich auch eine
neue Chance zur Versprachlichung von Mathematik.
10 Fazit
DGS-Plotter eignen sich bestens zum Aufbau
des Verständnisses von Variablen und Funktionen. Sie ermöglichen eine umfassende
Realisierung der verschiedenen Variablenaspekte und bieten durch die dynamische Visualisierung mittels Zugmodus und Ortslinien
eine neue Qualität im Erleben und Verstehen
von Funktionen. Sie sollen und können CAS
6 Das kann in der Druckversion nicht erlebt werden, hier
empfiehlt sich die DGS-Version:
http://elschenbroich.bei.t-online.de/dynagraph/dynagraph.htm
52
nicht aus dem Unterricht verdrängen, aber in
der wichtigen Begriffsbildungsphase ergänzen.
Literatur
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53
DGS als Trägermedium für interaktive Arbeitsblätter
in der Differentialrechnung
z
Thomas Gawlick, Landau
Dieser Beitrag berichtet über verschiedene Konzepte zum Einsatz von DGS — vom „visuellen Verstärker“ und „Datenlieferant“ bis hin zum Träger von Bedeutung bei der Konzeptentwicklung. Französische Erfahrungen zeigen die Notwendigkeit, aber auch die
Schwierigkeiten der damit verbundenen „instrumentellen Genese“. Es erweist sich: Den
daraus resultierenden Anforderungen an eine FDGS (Funktionen repräsentierende DGS)
werden bestehende DGS unterschiedlich, aber stets mit Einschränkungen gerecht, was
die didaktischen Möglichkeiten einschränkt. Dennoch kann der Einsatz von FDGS den
gewünschten Erkenntniswert („epistemic value“) besitzen, wie an Beispielen gezeigt wird.
1
Die Ausgangslage
Der Mathematikunterricht der Sekundarstufe
II in den Zeiten nach PISA muss sich der
Herausforderung stellen, mit allenfalls knapper werdenden (weil in den Primärbereich
umverteilten) Ressourcen die nun auch öffentlich sichtbaren Defizite auszugleichen —
und das bei vermutlich höheren Kursfrequenzen für eine heterogenere Klientel als
bisher. Aber schon jetzt zeigen Testergebnisse wie Berichte aus der täglichen Praxis,
dass zunehmend die formalen Voraussetzungen für das tradierte SII-Curriculum nicht
mehr aus der SI mitgebracht werden.
Diese Gemengelage — zusammen mit einer
stärkeren Akzentuierung allgemeinbildender
Unterrichtsziele, wie etwa im neuen NRWLehrplan — legt zweierlei nahe:
•
inhaltlich das vermehrte Einbeziehen heuristischer und explorativer Zugangsweisen,
•
methodisch eine größere Binnendifferenzierung durch entsprechende Arbeitsformen.
Beides lässt sich durch den Einsatz geeigneter Lehr-Lern-Programme bewerkstelligen —
wobei sich die damit angestrebte Flexibilisierung aber am ehesten erreichen lässt, wenn
die Lernumgebung sich mächtiger Werkzeuge wie CAS oder DGS bedient.
2
Erfahrungen
mit CAS und DGS
Nachfolgend wird zunächst über neuere französische Arbeiten zum Thema „Integration
von Technologie im Mathematikunterricht“
54
berichtet: In Frankreich wird seit über 20 Jahren der Einsatz elektronischer Medien vorangetrieben, allerdings war man höheren Orts
mit dem erzielten Effekt des Mitteleinsatzes
so unzufrieden, dass ein entsprechender Untersuchungsauftrag zur Erforschung der Ursachen an eine Gruppe französischer Mathematikdidaktiker und Mathematikdidaktikerinnen erging. Eine Metastudie (Lagrange et
al. 2001) über 662 Publikationen aus 1995
bis 1998 (davon 175 über CAS) „has clearly
shown that the complexity of instrumental
genesis has been widely under-estimated until quite recent” (Artigue 2001).
Dabei wird mit dem Begriff instrumentelle
Genese zum Ausdruck gebracht, dass von
einem Werkzeug wie CAS nicht schon per se
der bestimmungsgemäße Gebrauch gemacht
wird. „The artefact at the outset does not
have an instrumental value. It becomes an
instrument through a process, called instrumental genesis, by the construction of personal schemes or, more generally, the appropriation of social pre-existing schemes.”
Und dabei zeigt sich immer wieder, dass dieser Prozess keineswegs in den voraus gedachten Bahnen verläuft. So berichtet Artigue über eine eigene Studie zur Variation
von Funktionen in Klasse 11 (über ein Jahr,
als Werkzeug wurde der TI-92 benutzt): „Our
attention was attracted by the slowness and
windings of this instrumental genesis ... The
economic strategies of use of the TI-92 were
rarely chosen.” Als Ursachen für den unbefriedigenden Ausgang benennt sie: „The immediateness of results opposes to their epistemic value, — an explosion of techniques
which remain at a relatively hand-made level,
the theoretical discourse about instrumented
techniques had been rather poor, episodic
and lacking structure.”
DGS als Trägermedium für interaktive Arbeitsblätter in der Differentialrechnung
Diese Erfahrungen zeigen, dass der Verlauf
der instrumentellen Genese entscheidend
von der Rolle der Lehrperson abhängt. Konsequenter Weise wurde eine vergleichbare
Studie (Laborde 2001) über DGS gleich als
gemeinsames Entwicklungsprojekt mit Lehrern und Lehrerinnen angelegt. Dabei zeigt
sich in zwei Zyklen über einen Zeitraum von
drei Jahren, dass die Integration der Technologie in den Unterricht ein langer und komplexer Prozess ist, da sie mit allen Komponenten des didaktischen Systems interagiert.
Dieser Prozess erfordert naturgemäß auch
von den Lehrenden selbst Lernprozesse und
Konzeptwechsel, die nicht ohne weiteres
vonstatten gehen. Vielmehr tendierten die
Lehrenden anfänglich dazu, die Interaktion
der Technologie mit dem Kern des didaktischen Systems zu vermeiden:
richts. Heute sehe ich, dass diese Revolution
nicht stattgefunden hat. Ich sehe weiter, dass
es zudem nicht sinnvoll war, eine solche zu
erwarten“ (Neveling 2002). Vielmehr propagiert er „Das Zwei-Schritte-Prinzip“ zur Vernetzung von Papier und Bleistift mit rechnergestützten Aktivitäten, um so schrittweise
Technologie in den Lernprozess einzuführen.
– rechnergestützte Aufgaben betrafen eher
Randbereiche und Erweiterungen des
Curriculums,
– Einfluss von Parametern auf den Graphen einer Funktion,
– geometrische Deutung der Ableitung,
– Mittelwertsatz,
– Aufgaben wurden häufig auch parallel auf
Papier behandelt,
3
DGS erlaubt
•
•
– häufig wurden mathematische Sachverhalte bloß mit der Software nachvollzogen
(„verifying use“), die Rolle der DGS wurde
dabei auf Ziehen, Messen und Beobachten begrenzt.
Im Lauf der Zeit änderte jedoch graduell die
Software ihre Rolle von einem „visuellen
Verstärker (visual amplifier)“ oder „Datenlieferant (provider of data)“ zu einem essentiellen Bestandteil der Bedeutung von Aufgaben.
Dies ist entscheidend für die Erreichung des
Endstadiums der Interpretation, das Laborde
wie folgt charakterisiert: „Technology gives a
meaning to mathematics and mathematics
justifies the use of technology.”
Dies wurde dadurch ermöglicht, dass die erfahreneren Lehrer und Lehrerinnen nach ein
bis zwei Jahren
Entscheidend bei der Bewertung dieser Ergebnisse scheint der Aspekt, dass die beschriebene Entwicklung keine anfängliche
Fehlentwicklung darstellt, die zu korrigieren
war, sondern ein notwendiges Stadium, das
es zu durchlaufen galt.
Entsprechend resümiert auch Neveling auf
dem Hintergrund seiner Erfahrungen als
Fachberater: „Als ich vor ca. fünfzehn Jahren
Derive kennen lernte, dachte ich, wir stehen
vor einer Revolution des Mathematikunter-
die dynamische Visualisierung mathematischer Sachverhalte wie etwa
die eigenständige Erkundung mathematischer Sachverhalte wie
– Finden einer Funktion mit vorgegebenen Eigenschaften,
– heuristische Ableitungsbestimmung,
– geometrische Lösung von Extremwertaufgaben.
Vorteile von DGS gegenüber CAS sind dabei
(vor allem bei der eingangs benannten Problematik heterogener Zielgruppen):
•
die Verwendung von DGS erfordert nicht
so viele formale Fähigkeiten,
•
die dynamische Variation gehorcht dem
Prinzip der direkten Manipulation: das
System gibt sofort die gewünschte Antwort, so dass Änderungen in ihrem zeitlichen Verlauf erfahrbar werden,
•
DGS verhält sich dabei theoriegeleitet:
der Benutzer bzw. die Benutzerin kann
daher die Auswirkungen mathematischer
Phänomene erfahren, ohne dass er bzw.
sie sie kalkülmäßig beherrschen muss.
– DGS bei Hausaufgaben und Prüfungen
verwendeten,
– mathematische Inhalte DGS-gestützt entwickelten.
Möglichkeiten und Vorteile des Werkzeugs DGS in
der Differentialrechnung
In diesem Sinne ist DGS also eine Experimental-Umgebung für den Mathematikunterricht, insofern daher vergleichbar mit Modellbildungssystemen in der Physik.
4
Zur Funktionalität von
FDGS
Zur konkreten Umsetzung dieser Möglichkeiten ist aber keineswegs jede DGS geeignet.
55
Thomas Gawlick
Eine Funktionen darstellende DGS (FDGS)
muss vielmehr die folgende Funktionalität
aufweisen:
1. Explizite Spezifikation funktionaler Abhängigkeiten zwischen den Koordinaten
eines Punktes („Generator“),
2. Dynamische Erzeugung von Funktionsgraphen durch Zeichnen der Ortslinie des
Generators („dynamischer Graph“),
3. Interaktive Variation des Funktionsgraphen durch Manipulation von Parametern
mit automatischer Anpassung des Graphen („dynamische Aktualisierung“),
4. Interaktives Verschieben und Umskalieren
(„Zoomen“)
des
Koordinatensystems
(„dynamische Re-Präsentation“).
Wie weit werden gängige DGS diesen Anforderungen gerecht?
„Euklid“ ermöglicht die Spezifikation des
Generators durch direktes Editieren seiner
Koordinaten: So wird etwa in Abb. 1 die unabhängige Variable x als Punkt auf der xAchse modelliert, die abhängige Variable y
dagegen als Punkt mit festen Koordinaten,
für die — das ist die entscheidende Neuerung — auch Terme eingegeben werden
können.
Parameter lassen sich dabei über Schieberegler dynamisch verändern und per numeri-
scher Eingabe auch auf einen exakten Wert
festlegen. In Abb. 1 wird der funktionale Zusammenhang y = x2/q durch Zuweisung des
Terms Cx(x)2/val(q) an die y-Koordinate des
Punktes y realisiert, wobei durch Cx(x) die xKoordinate des Punktes x und durch val(g)
der aktuelle Wert des Parameters g referenziert wird.
Der dynamische Graph lässt sich dann sowohl durch eine Punktfolge als auch durch
eine Linie darstellen, was didaktisch sicherlich hilfreich ist, wenn man — wie schon Euler 1748 in seiner „Introductio in analysin infinitorum“ — den Funktionsgraphen als Spur
eines Stabs beweglicher Länge einführt.
Schwächen zeigt „Euklid“ dagegen bei der
dynamischen Aktualisierung — lässt man etwa im Beispiel g gegen Null gehen, so zeigt
die den Graphen approximierende BézierKurve zunehmende Abweichungen von der
realen Gestalt. Dies ist auch nachteilig für
den Versuch, das Zoomen selbst zu realisieren — das ist aber nötig, denn in der jetzigen
Version ist die Einheit auf 1 cm festgelegt.
Die Ergebnisse sind aber nur eingeschränkt
verwendbar, s. u.
„Cabri“ ermöglicht die Realisierung funktionaler Abhängigkeiten mittels der Menüfunktion „Maß übertragen“ von Termen (auf Koordinatenachsen!). Der Graph kann als
Punktmenge mit der Spurfunktion erzeugt
Abb. 1: Erstellung eines dynamischen Funktionsgraphen mit „Euklid“
56
DGS als Trägermedium für interaktive Arbeitsblätter in der Differentialrechnung
werden — um ihn als dynamisches Objekt zu
erhalten, muss man ihn aber nochmals mittels der Ortslinienfunktion erzeugen — und
erhält ihn dann auf einen Schlag. Zoomen
des Graphen ist durch Ziehen an den Einheiten möglichen, der Graph ist dabei etwas
stabiler als bei „Euklid“. Mit Alt-+ können zusätzliche Punkte auf ihm erzeugt werden,
was aber auch nicht alle Probleme löst, s. u.
Parameter lassen sich durch das Einbeziehen von Maßgrößen realisieren (Schieberegler muss man selber mit Hilfe von Punkten
auf Strecken basteln).
Die Termeingabe ist dabei etwas zu sehr
dem Prinzip der direkten Manipulation verpflichtet: Klickt man während der Termeingabe auf Maße, ordnet „Cabri“ ihnen selbst die
Bezeichnungen a, b, … zu, mit denen sie
dann in den Term eingehen. Später auf sie
oder den Term zurückzugreifen, scheint nicht
ohne weiteres möglich zu sein.
„Cinderella“ bietet weitaus weniger Unterstützung für Funktionen: die Koordinaten von
Punkten sind nicht direkt zugreifbar, insbesondere also nicht editierbar. So können allenfalls Polynome „von Hand“ über die geometrische Realisierung der Grundrechenarten realisiert werden, was ohne Makros jedoch sehr mühselig ist. Transzendente Funktionen wie der Sinus lassen sich gar nicht
darstellen, da keine Maßübertragung für die
Bogenlänge vorhanden ist. Als Notbehelf
kann man einige Funktionen geometrisch definieren, die Darstellung ist jedoch unbefriedigend (vgl. Abb. 2).
AE um B und CD um F abgetragen, so
dass GF = CD . Die Ortslinie von G enthält
neben dem gewünschten Graphen allerdings
auch sein Spiegelbild an der x-Achse. Das
liegt daran, dass beim Bewegen von D durch
C die beiden Schnittpunkte des Hilfskreises
um F mit der Senkrechten durch F ihre Plätze tauschen — eine notwendige Konsequenz
des stetigen Verhaltens von „Cinderella“.
Zoomen ist möglich, aber nur eingeschränkt
tauglich: Gitter und Markierungen der unbeschrifteten Achsen werden nicht mit skaliert,
sondern neu erzeugt — allein aus einer Längenangabe rechts unten ist es möglich, ihre
aktuelle Bedeutung zu errechnen (im Prinzip).
Auch die Dynamik von Ortslinien lässt Wünsche offen: animiert man etwa die Bewegung
von C auf dem Kreis, wird die erzeugte Ortslinie nicht modifiziert, obwohl sie offenbar von
C abhängt.
5
Beispiele für FDGSbasierte Arbeitsblätter
Nachfolgend werden drei Beispiele für den
möglichen Einsatz von FDGS als Trägermedium für Arbeitsblätter zur Differentialrechnung diskutiert, die verschieden tief in die
konzeptionelle Basis des Unterrichts eingreifen:
Abb. 2: Geometrische Funktionsdarstellung mit „Cinderella“
D = (x, y) variiert auf dem Kreis um A durch
C. Dargestellt werden soll die Funktion
x a CD
in einem nach B verschobenen
Koordinatensystem. Dazu wird mit dem Zirkel
Beispiel 1: Das Funktionenmikroskop
Bereits Kirsch hatte in den siebziger Jahren
als eine mögliche Grundvorstellung von Differenzierbarkeit vorgeschlagen, „dass das
57
Thomas Gawlick
beobachtete kleine Graphenstück bei hinreichend starker Vergrößerung praktisch geradlinig verläuft und somit eine gewisse Steigung besitzt.“ (Blum & Kirsch 1979) Diese
Eigenschaft lässt sich in konkreten Beispielen natürlich gut mit einem rechnerbasierten
Funktionenmikroskop überprüfen. Auf dem
Hintergrund beobachteter Schwierigkeiten
mit dem Grenzwertbegriff schlägt Tall
(1986)1 vor, dieses rechnergestützte Konzept
als fundierende Grundvorstellung des Lehrgangs zu betrachten, wobei der interaktiven
Visualisierung im stand-alone-System „Graphic Calculus“ eine Schlüsselrolle zukommt:
„The existence of interactive visual software
leads to the possibility of an exploratory approach to mathematics which enables the
user to gain intuitive insights into concepts,
providing a cognitive foundation on which
meaningful mathematical theories can be
built“ (Tall & West 1992).
Damit verbindet auch Tall schon die Hoffnung der Curriculumreformer „that students
which might be termed as ‚symbolically illiterate’ can be successful in learning and understanding calculus through the use of graphic and heuristic tools“ (Tall 1997).
Die Rolle des Rechners bei der Konzeptbildung sieht Tall dabei vor allem in der besseren Behandelbarkeit nicht differenzierbarer
Funktionen. Wenn auch die Behauptung, „in
a traditional calculus course, non-differentiable functions would not be considered until
a very late stage, if at all“ (Tall & West 1992),
nicht ohne Weiteres auf deutsche Verhältnisse übertragbar ist, bleibt doch festzuhalten,
dass gerade die Behandlung stetiger, aber
nirgends differenzierbarer Funktionen durch
interaktive Visualisierung sehr an Prägnanz
gewinnt, was dazu beitragen dürfte, das Verständnis von Differenzierbarkeit zu vertiefen.
Bei der Darstellung solcher Funktionen ist
man natürlich auf die Berechnung einer endlichen Teilsumme einer unendlichen Reihe
beschränkt — wie ja auch bei den transzendenten Funktionen: im Unterschied zu diesen
ist es aber hier essentiell, beim Zoomen
zugleich auch die Genauigkeit der Näherung
zu adjustieren. Dies beschränkt die Einsatzmöglichkeit von DGS — allein das in
Deutschland wenig verbreitete „Geometer’s
Sketchpad“ bietet die Möglichkeit der MakroIteration mit einer wählbaren Schrittzahl.
Aber bereits bei der Behandlung von Funktionen, die nur in einem Punkt nicht differenzierbar sind, dies aber auf essenzielle Weise
1 Der Verfasser dankt Tommy Dreyfus für den Hinweis
auf die Arbeiten von Tall.
58
(also nicht bloß durch einen Knick oder
Sprung), zeigt DGS ihre Grenzen: Das klassische Beispiel ist f(x) = sin(1/x) bei Null.
Abb. 3 zeigt eine „Euklid“-Realisierung mit
selbst gemachter Zoom-Funkion: Beim Skalierungsfaktor 10-5 (der Exponent ist über den
Schieberegler veränderbar) werden beim
Zeichnen der Ortslinie etwa 700 ziemlich
gleichmäßig verteilte Stützstellen über
[0, 2,4·10-4] erzeugt (Abb. 3a), die beim
Zeichnen der approximierenden Bézier-Kurve aber nicht zu einer adäquaten Darstellung
der Funktionsgraphen verbunden werden
(Abb. 3b).
Gegenüber dieser visuellen Aberration verblasst der mögliche didaktische Effekt, den
das Erleben der Oszillation der Sekante
durch (0, 0) und (x, sin(1/x)) beim Ziehen an
x haben kann. Auch „Cabri“ vermag bei diesem Beispiel nicht zu überzeugen: Die Ortslinie in Abb. 4 bleibt beim Zoomen im Wesentlichen selbstähnlich — daran ändert leider auch das Hinzufügen zusätzlicher Punkte
via Alt-+ nichts.
Mit „Cinderella“ lassen sich derartige Beispiele gar nicht untersuchen, da ja keine Möglichkeit besteht, den Graphen der SinusFunktion als Ortslinie zu erzeugen. Die Programmautoren sehen dies nicht als „bug“,
sondern als „feature“ — zur Wahrung des
von „Cinderella“ realisierten Kontinuitätsprinzips.
Für den unterrichtlichen Einsatz ist es sicherlich nachteilig, dass dieses klassische Beispiel für wesentliche Nichtdifferenzierbarkeit
nicht angemessen rechnergestützt behandelt
werden kann. Allerdings muss man auch
konzedieren, dass sich das Konzept des
Funktionenmikroskops in der Behandlung
von Differenzierbarkeit nicht durchgesetzt hat
— obwohl (oder weil?) es mit Rechnerunterstützung realisiert zu einer konzeptionellen
Erweiterung des Analysisunterrichts hätte
beitragen können. Dies illustriert die in den
französischen Arbeiten benannten Schwierigkeiten hinsichtlich der Interaktion von Technologie mit dem Kern des didaktischen Systems. Entsprechend wird in den folgenden
Beispielen das Ziel „technology gives meaning to mathematics“ zurückhaltender angesteuert — was natürlich die Herausforderung
erhöht, dass der Technologieeinsatz tatsächlich mathematisch gerechtfertigt ist.
Beispiel 2: „Visualizing Change“
Unter diesem Titel legten Steketee & Jackiw
1998 acht „calculus activities“ für „Geome-
DGS als Trägermedium für interaktive Arbeitsblätter in der Differentialrechnung
ter’s Sketchpad“2 vor, die den Bogen von der
ε-δ-Definition des Grenzwerts über Integrale
und das Newton-Verfahren bis zu Lösungen
von Differentialgleichungen spannen. Für jedes Thema wird zu einem elektronischen Arbeitsblatt ein Papier-Arbeitsblatt mit einer
Reihe von Aufträgen vorgegeben. Abb. 5
zeigt das elektronische Arbeitsblatt zur Diffe-
renzierbarkeit, Abb. 6 die dazugehörigen Aufträge, wobei als Kommentar hinzugefügt
wurde, in welcher Weise DGS hier im Lernprozess umgesetzt wird.
Dieses Beispiel zeigt die besonderen Möglichkeiten von „Sketchpad“ (in der Version 4
sind diese nochmals erweitert, besonders
hinsichtlich Iteration und interaktiver Dyna-
Abb. 3a: Stützstellen für den Graphen von sin(1/x)
Abb. 3b: Approximation der Graphen von sin (1/x) durch „Euklid“
2 Der Verfasser dankt Bernard Winkelmann für den
mik, wovon im Bereich der Differentialrechnung das an „Visualizing Change“ anschlie-
Hinweis auf diese Arbeit.
59
Thomas Gawlick
ßende Buch von Clements et al. (2002) wesentlichen Gebrauch machen):
•
•
•
Ein- und Ausblenden vorbereiteter Informationen,
Abspielen von Animationen auf Knopfdruck,
Angabe einer Schrittzahl für die Iteration
eines Makros (in der Aktivität zur Lösung
von Differential-Gleichungen).
dass dieses Material gut zu einem beginnenden Technologieeinsatz passt, der den
Schwerpunkt der Arbeit auf Papier belässt.
Der „epistemic value“ liegt darum eher in den
thematischen Erweiterungen des Curriculums. Das weite Themenspektrum spricht
zudem für einen eher punktuellen, episodischen Einsatz, wie er von der Zielgruppe
vermutlich sowohl aufgrund der verfügbaren
Ressourcen als auch des eigenen Erfahrungshintergrundes auch bevorzugt wird —
zumindest als Einstieg. Nach einer persönlichen Mitteilung des „Sketchpad“-Entwicklers
Jackiw wurden diese Aktivitäten auch entsprechend entworfen, nämlich als „scaffolds
for teachers experimenting with change“.
Dass es dabei tatsächlich zu einer Fortentwicklung im Gebrauch der Arbeitsblätter
durch die Lehrer kommt, zeigt sich laut Jackiw nicht nur in seinen Erfahrungen in konkreten Unterrichtsversuchen, sondern ließe
sich sogar statistisch anhand der Zugriffsfrequenzen auf die Materialien seiner Website
belegen!
Abb. 4: Der Graph von sin(1/x) mit „Cabri“
Die Klassifikation der Aktivitäten in Abb. 6
nach Verwendungsweisen von DGS zeigt,
Abb. 5: „Sketchpad“-Arbeitsblatt zur Differenzierbarkeit
60
DGS als Trägermedium für interaktive Arbeitsblätter in der Differentialrechnung
Abb. 6: Das begleitende Papier-Arbeitsblatt
Beispiel 3: DGS-Arbeitsblätter
zum selbstständigen
Lernen
Der Verfasser versuchte im Rahmen eines
Projektes am Oberstufen-Kolleg der Universität Bielefeld, einen Mittelweg zwischen den
beiden vorigen Herangehensweisen zu beschreiten: Ausgehend von einem „verifizierenden Gebrauch“ in bekannten Beispielen
(Ableitung der Parabel) sollte die „instrumentelle Genese“ durch das Einbeziehen heuristischer Techniken (Ableitung der Exponentialfunktion) vorangetrieben werden, um dann
durch das Entdecken neuer Sachverhalte
(Mitteltangente einer kubischen Funktion)
den Erkenntniswert in Form eines vertieften
Verständnis des Tangentenkonzepts zu erhalten.
Hier nun eine Übersicht über die Themen der
interaktiven Arbeitsblätter zur Differentialrechnung:
1. Der Grenzübergang vom Differenzenzum Differentialquotienten
1.1
Ableitung der Parabel
1.2
1.3
Erarbeitung der Ableitung der Exponentialfunktion
Ableitung der Logarithmusfunktion
2. Anwendungen der Differenzierbarkeit
2.1
2.2
Modellierung eines Gleisanschlusses
Zur Herleitung der Kettenregel
3. Entdeckung von Tangenteneigenschaften
3.1
3.2
3.3
3.4
Parabeltangenten
Mittelwertsatz
Mitteltangente
Polynome im Affenkasten
4. Extremwertaufgaben
4.1
4.2
Glasscheibe
Claim abstecken
5. Kurvenscharen
5.1
5.2
5.3
Die parabolisch gebrochene Scheibe
Die Helligkeitsverteilung einer Lampe
Quartiken
Die Arbeitsblätter können vom learn:lineServer herunter geladen werden (Gawlick
2002). Zu jedem „Euklid“-Arbeitsblatt gibt es
ein Papier-Arbeitsblatt mit ergänzenden didaktischen Bemerkungen. Vom Funktionsumfang der FDGS wird hier im Wesentlichen
Ziehen, Messen, Ortslinienfunktion und
Termeingabe verwendet. Ein vorheriger Kontakt mit DGS ist daher zwar sicher hilfreich,
aber nicht Voraussetzung.
61
Thomas Gawlick
6
Ein Beispiel für
den Erwerb einer
heuristischen Technik
Bei „gutartigen“ Funktionen (das sind z.B. alle auf einem Intervall stetig differenzierbaren,
also alle Polynome und Potenzreihen) kann
der Differentialquotient gleichmäßig durch einen geeignet gewählten Differenzenquotienten approximiert werden. Diese Eigenschaft
wird in Blatt 1.1 zunächst an dem klassischen Beispiel der Parabel erkundet. Dabei
geht es um das Wiedererkennen vertrauter
Phänomene im neuen Gewande und zugleich um das Vertrautwerden mit der Arbeitsumgebung DGS. Darüber hinaus kann
aber auch hier etwas Neues entdeckt werden: Beim Zusammenziehen des Steigungsdreiecks bewegt sich der Graph der Sekantensteigungsfunktion nach unten. Das bedeutet: Bei monoton fallendem Grenzübergang
ist auch der Differenzenquotient monoton fallend, was sich geometrisch begründen lässt.
Natürlich lässt sich dieses Resultat auch in
der klassischen Papier-und-Bleistift-Umgebung aussprechen — die Visualisierungsmöglichkeiten von FDGS, speziell die automatische Aktualisierung von Ortslinien und
die direkte Manipulation der Parameterwerte,
machen es aber doch in einer Weise augenfällig, die konventionell nicht möglich wäre.
Man mache sich selbst davon ein Bild!Diese
Gleichmäßigkeit des optischen Grenzübergangs h→0 kann auch als Motivation dafür
dienen, dass man tatsächlich den Differentialquotienten gut durch einen geeigneten Differenzenquotienten annähern kann.
Im zweiten Schritt wird dann die so eingeführte heuristische Methode angewendet, um
neue Ableitungen zu finden: die der Exponentialfunktionen. Deren konventionelle Herleitung macht ja wegen der exakten Berechnung von limh→0(eh–1)/h ein wenig Probleme,
so dass ein alternativer, heuristischer Zugang wünschenswert ist. Natürlich lässt sich
der auch mit Tabellenkalkulation o.ä. beschreiten, allerdings sind die Möglichkeiten
hierbei doch etwas beschränkt. Ein sicher
drastisches Beispiel dafür (aus Busch 1999,
Hervorhebungen im Original):
„Als besondere Eigenschaft der Exponentialfunktion wird in Schulbüchern herausgestellt,
daß die Funktionswerte
proportional zur Steigung an der entsprechenden Stelle sind. Diese Eigenschaft
macht sich die folgende Herleitung (für
Grundkurse) zu Nutze.
62
x
f(x)
f’(x)
f’(x)/f(x)=dy/dx
-1,5
0,544
0,221
0,406
-0,5
0,816
0,331
0,406
0
1
0,405
0,405
1
1,5
0,608
0,405
Anhand der Funktion f(x) = 1,5·x wird mit
Einsatz des Graphikrechners die Steigung in
verschiedenen Punkten ermittelt:
Ergebnis: f´(x) = 0,405 · f(x)
Damit ist nun die Proportionalität hinreichend gut belegt worden. Wie groß ist der
Proportionalitätsfaktor genau?
An Hand der Tabelle sieht man gut, daß dieser an der Stelle x=0 als Steigung auftaucht.
Hier besteht für den Schüler noch einmal die
Möglichkeit der selbständigen Überprüfung
und für den Lehrer die Festigung des Verfahrens.
Ergebnis: f´(x) = 0,405465 · f(x)
Wie geht’s weiter? Hier steht man vor einer
methodisch-didaktischen Klippe. “Was hat
der Proportionalitätsfaktor mit der Basis 1,5
zu tun?“, könnte man fragen. Da die Schüler
durch den Graphikrechner das Probieren gewöhnt sind, ist dieses Vorgehen legitim. Eine
spätere exakte Herleitung kann dieses ja
noch untermauern. Zur Absicherung dieses
Vorgehens kann man vorher den Proportionalitätsfaktor an einer anderen Basis überprüfen.
Es gilt: ln 1,5 = 0,405465.
Damit steht das Endergebnis fest: f´(x) =
ln 1,5 · 1,5 x.“
Es erscheint fraglich, ob auf einem solchen
Wege tatsächlich ein Zugewinn an Einsicht
erzielt oder eine heuristische Problemlösestrategie vermittelt werden kann. Grundsätzlich dürfte aber das Vorliegen des fertigen Ergebnisses im CAS eher als ein Hindernis zu
betrachten sein, ebenso die Tatsache, dass
der heuristische Prozess jeweils nur für wenige feste Parameterwerte durchgeführt werden kann. Entsprechend verzichtet etwa
Koepf (1993) in seiner „Analysis mit Derive“
bei dieser Ableitungsbestimmung auf den
CAS-Einsatz (auch bei der Grenzwertberechnung). DGS bietet demgegenüber die
Möglichkeit, diese stetig in einander zu überführen — wobei auf die ausschnittshafte Dokumentation von solchen Grenzprozessen in
Form von Wertetabellen durchaus nicht verzichtet werden sollte, nur eben als Rahmen,
nicht als Ersatz der dynamischen Visualisierung. Das könnte dann etwa wie in Abb. 7
und 8 aussehen.
DGS als Trägermedium für interaktive Arbeitsblätter in der Differentialrechnung
Abb. 7: Das interaktive Arbeitsblatt zu Exponentialfunktionen
Man kann nämlich durch Variation der Basis
entdecken, dass der Graph der Sekantensteigungsfunktion S dem der Exponentialfunktion f: x ‌→ ax sehr ähnlich sieht — durch
geeignete Manipulation lassen sich die beiden sogar zur Deckung bringen. Mit Hintergrundwissen über Potenzen und Logarithmen lassen sich nun gezielte Experimente
anstellen: Ist f’ vielleicht selbst eine Exponentialfunktion? Falls f’(x) = bx, so ist b durch Loln f ' ( x )
,
garithmieren zu ermitteln: ln(b) =
x
ln f ' ( x )
b= e x
ln S ( x )
≈e x
.
Dann müsste allerdings insbesondere der
ln S( x )
Ausdruck
konstant sein. Und das
x
lässt sich durch Termeingabe und Ziehen an
x mit „Euklid“ überprüfen — und widerlegen.
Wie kommt man nun weiter? Hier sind mehrere Wege denkbar, von denen die Lernenden — hoffentlich — den einen oder anderen
ausfindig machen. So ist es zum Beispiel
möglich herauszufinden, dass der Ausdruck
ln S( x )
zwar nicht immer konstant ist, — in
x
der Nähe von a=e aber fast. S könnte also
eine „gestörte“ Exponentialfunktion sein. Ein
anderer Hinweis hierauf ist die Beobachtung,
dass bei echten Exponentialfunktionen in 0
stets der Wert 1 angenommen wird. — S(0)
hängt jedoch offenbar deutlich von a (und
etwas von h) ab. Und Ziehen zeigt: die Abhängigkeit ist ersichtlich multiplikativ. Hier ist
also ein Faktor zu ermitteln. Entsprechend
ln S( x )
kann auch beobachtet werden, dass
x
nahe von x=1 und a=3 nur wenig von ln a
abweicht. Also dürfte es sich bei der Basis
um a handeln. Auch die Übereinstimmung
der beiden Graphen für a≈e deutet darauf
hin. Auf solchen Wegen kann man also zu
der Hypothese S(x)~cax kommen. Durch Ziehen an x lässt sich auch die Fastkonstanz
S( x )
erhärten. Zur symbolischen Bevon
ax
schreibung der Faktoren ist ein verdeckter
63
Thomas Gawlick
S( x )
) konax
struiert. Zieht man an a und zeichnet die
Ortslinie des Punktes, also den Graphen des
Vorfaktors c in Abhängigkeit von a, erhält
man eine Vermutung für die vorliegende
Punkt mit den Koordinaten (a,
Abhängigkeit: der Graph ähnelt einer Logarithmus-Funktion (zur Unterscheidung von
einer Wurzelfunktion bewege man a zwischen 0 und 1).
Der heuristische Ansatz liefert also visuelle
Evidenz für die Vermutung f’(x) = ln a · ax.
Auf dem Bildschirm siehst Du den Graphen der Funktion f(x):=ax.
1. Ziehe an x, um den Wert für x zu verändern. Die Werte für x und y=f(x) werden immer aktuell in
den schwarzen Termfenstern angezeigt. Beachte: 1LE entspricht 10cm!
Welchen Bereich von x kann das Programm also darstellen? Und von y?
2. Wie verändert sich f(x), wenn Du x veränderst?
3. Ziehe jetzt an dem roten Schieberegler, um den Wert für a zu verändern. Wie ändert sich dabei f?
4. Für diese Funktion kennen wir noch nicht die Ableitung. Auf dem Bildschirm siehst Du aber die
Sekante zu den Stellen x und x1=x+h. Den Wert von h kannst Du über den blauen Schieberegler einstellen. Wie berechnet man die Steigung der Sekante?
5. Im blauen Termfenster siehst Du den aktuellen Wert der Sekantensteigung. Dieser Wert entspricht
der Länge der blauen Strecke steig. Der Wert ändert sich, wenn Du x und h verstellst.
Zeichne jetzt mit Hilfe des Buttons „Ortslinie aufzeichnen“ den Graphen der Sekantensteigungsfunktion: Wähle dabei zuerst Punkt S an und ziehe dann den Punkt x auf der x-Achse auf und ab. Der
Punkt S hinterlässt eine Spur: das ist der gesuchte Graph. Er zeigt Dir für jeden Wert von x den Wert
der Sekantensteigung zwischen den Punkten x1 und x.
6. Was hat die Sekantensteigung mit der Ableitung zu tun?
7. Welchen Zusammenhang vermutest Du zwischen f(x) und f’(x)?
8. Benutze „Euklid“, um eine Tabelle mit Näherungswerten für die Ableitung anzulegen: Stelle zunächst a=2 ein (mit der rechten Maustaste auf den Schieberegler und dann “Bereich editieren“). Lies
dann die Werte auf 2 Stellen genau ab. Nutze die letzten Zeilen für weitere Berechnungen, um Deine
Vermutung zu überprüfen. Du kannst dazu mit „Euklid“ weitere dynamische Terme berechnen:
wechsle ins Menü „Messen&Rechnen“, drücke auf den Taschenrechner. Vorhandene Terme kannst
Du einbauen, indem Du auf sie klickst. Zum Schluss „Enter“ drücken und auf den Bildschirm klicken,
wo Dein Term erscheinen soll.
x
f(x)
f'’(x)
1
a=
x
f(x)
f'’(x)
1
a=
x
f(x)
f'’(x)
1
9. Notiere hier den erarbeiteten Zusammenhang zwischen f(x) und f’(x)
f(x)=
f’(x)=
Abb. 8: Das interaktive Arbeitsblatt zu Exponentialfunktionen
64
DGS als Trägermedium für interaktive Arbeitsblätter in der Differentialrechnung
In einem dritten Schritt kann die Anwendung
der heuristischen Technik gefestigt werden
durch die Bestimmung der Ableitung des natürlichen Logarithmus. Zum Abgleich mit der
Arbeit auf Papier ist dabei wieder das Erstellen von Wertetabellen vorgesehen. Durch
das selbständige Erarbeiten solcher Beispiele lässt sich in den Augen des Verfassers ein
höherer Grad von kognitiver Eigenaktivität erreichen als durch die üblichen Versuche
strenger Herleitungen, bei denen die Lernenden aufgrund der technischen Schwierigkeiten sicher über weite Strecken bloß rezeptiv
sein dürften.
Die Erfahrung mit dem unterrichtlichen Einsatz dieser Blätter am Oberstufen-Kolleg
zeigt allerdings, dass von einigen Lehrenden
dennoch das heuristische Arbeiten als bloßer
Umweg bei einer auf Epsilontik basierenden
formalen Erarbeitung des Differentialkalküls
betrachtet wurde — während andere der
technischen Beherrschung dieses Kalküls im
Hinblick auf Prüfungen und spätere Kurse
den Vorzug gegenüber seiner Veranschauli-
erst über einen längeren Zeitraum entwickelt
werden muss und institutioneller Veränderungen bedarf.
7
Ein Beispiel für
das Entdecken
neuer Sachverhalte
Abb. 9 zeigt das Arbeitsblatt zur Mitteltangente: für die kubische Funktion
f(x) = ax(x–m)(y–n)
soll die Tangente im Mittelpunkt zweier Nullstellen untersucht werden3. Hier kommt es
auf das genaue Sehen an: nur allzu schnell
wird dort nämlich fälschlich die Extremstelle
lokalisiert. Hier hat die Computervisualisierung offenbar Vorteile gegenüber der Handskizze, was die Genauigkeit der Darstellung
angeht. Zudem lässt sich natürlich im Zugmodus viel leichter Evidenz für die doch etwas überraschende Vermutung herstellen:
die Tangente verläuft immer durch die dritte
Nullstelle!
Abb. 9: Das Arbeitsblatt zur Mitteltangente
chung gaben. Die Aporien, in die das Zusammenspiel solcher Haltungen führen kann,
verdeutlich die Reaktion eines Kollegiaten
auf die obigen Beispiele: „Mit ‚Mathematica’
bekomme ich das doch auf Knopfdruck.“
Diese Reaktionen bestätigen die französischen Erfahrungen, dass sich der erhoffte
„epistemic value“ des Technologieeinsatzes
nur bei einer insgesamt veränderten unterrichtlichen Schwerpunktsetzung einstellt, die
Im Unterrichtsexperiment zeigt sich zudem,
dass bei der Computerpräsentation der Aufgabe die Situation häufiger als beweglich
aufgefasst wurde als auf Papier: die Lernenden kamen hier selber dazu, die Mitte nicht
nur zwischen m und n zu untersuchen, sondern auch zwischen 0 und m bzw. 0 und n.
Das Verziehen der ursprünglichen Reihen3 Nach einer Idee von D. Haftendorn.
65
Thomas Gawlick
folge mag dabei eine Hilfe bei der Überwindung der psychologischen Barrieren gewesen sein, die Mitte auch zwischen nicht benachbarten Punkten anzusehen.
Zudem zeigte sich, dass die Findung des gesuchten Sachverhalts weitaus leichter fiel als
seine algebraische Beschreibung, geschweige denn seine Verifikation mittels Differentialrechnung.
Gerade deshalb ist das Beispiel wertvoll, etwa um die Gleichung der Tangente vertieft
zu bearbeiten. Häufige Fehler wie der Ansatz
y = f’(x0)·x oder y = f’(x0)·x+f(x0) können mit
Hilfe der DGS als falsch erkannt und selbständig korrigiert werden.
8
Fazit
Elektronische Arbeitsblätter auf der Basis
von FDGS besitzen ein bedeutsames heuristisches Potential. Sie können dazu beitragen,
auch Lernenden mit formalen Defiziten Einsichten in zentrale Grundvorstellungen zu
vermitteln und ihnen das Entdecken mathematischer Sachverhalte ermöglichen. Wichtig
ist dabei die Einbettung von Selbstlernphasen am Rechner in den unterrichtlichen Gesamtkontext, sowohl wegen des beschränkten Feedbacks durch die FDGS als auch im
Hinblick auf die graduelle Modifikation der
bestehenden Unterrichtspraxis. Um vollen
Nutzen aus dem potentiellen Erkenntniswert
solcher Arbeitsblätter zu ziehen, bedarf es allerdings, so zeigt die mit ihnen gemachte Erfahrung, einer Veränderung des institutionellen Umfeldes hinsichtlich besserer Verfügbarkeit und der Möglichkeit, sie auch bei
Hausaufgaben und Prüfungssituationen zu
verwenden.
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Strenge in der Analysis IV. Heft 3 von: Der Mathematikunterricht 25
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http://www.ti.com/calc/schweiz/pdf/TI_0199.pdf
66
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http://www.learnline.de/angebote/selma/medio/
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and informatics on mathematics and its teaching. Paris: UNESCO, 117–123
z
Formen multimedialen Lehrens — ein Vergleich
Mutfried Hartmann, Nürnberg
In Nürnberg werden den Lehramtsstudierenden seit einigen Jahren vorlesungsbegleitend
mathematische Inhalte im WWW zur Verfügung gestellt. Die Aufbereitung erfordert, Konzepte für die Darbietung dieser Inhalte zu entwickeln, damit diese von den Studierenden
möglichst effektiv rezipiert werden können. Auf der Basis medienpsychologischer Erkenntnisse wurde dabei im Laufe der Zeit durch Synthese verschiedener Darbietungsformen eine neue Instruktionsform entwickelt, das „Pop-up-Ikonogramm“. — In einer aktuell durchgeführten Evaluation wird versucht, das „Pop-up-Ikonogramm“ mit anderen
Darbietungsformen, wie etwa schulbuchtypischen Einzelbild-Text-Kombinationen, Bildfolgen oder reinen Lehrfilmen, hinsichtlich des damit erzielten Lernerfolgs zu vergleichen.
Die zentrale Frage dabei ist: Kann durch eine geeignete multimediale Darbietungsform
der Lernerfolg überhaupt merklich gesteigert werden? Und wenn ja, welche Darbietungsform lässt auf den höchsten Lernerfolg hoffen? — Im Folgenden soll zunächst kurz in die
Grundideen von „Pop-up-Ikonogrammen“ eingeführt werden. Im Anschluss werden Fragestellungen, Design und erste Ergebnisse der Evaluation vorgestellt.
1
„Pop-up-Ikonogramme”,
Prototyp einer neuen
Darbietungsform
Der Inhalt, hier am Beispiel des „Beweises
des Sehnensatzes“, wird bei Pop-up-Ikonogrammen auf drei „Ebenen“ angeboten:
normalen Lernenden soll sie vor allem dazu
dienen, nach dem vollständigen Studium des
Lerninhalts nochmals dessen Struktur zu
veranschaulichen und einzuprägen.
2. Ebene: Pop-up-Fenster
1. Ebene: Strukturübersicht
Abb. 2
Abb. 1
Auf den ersten Blick stellt sich der Lerninhalt
für den Benutzer als Bildfolge dar. Die einzelnen Abschnitte des Lerninhalts, in diesem
Fall Beweisschritte, werden dabei jeweils
durch ein kleines Bild („Ikone“) dargestellt,
das den jeweiligen Abschnitt möglichst gut
graphisch repräsentieren soll. Diese Ikonen
sind entsprechend der Abfolge der Abschnitte mit Nummern versehen und entsprechend
der logischen Struktur des Inhalts angeordnet. Sich allein aus der Strukturübersicht den
Lerninhalt im Ganzen zu erschließen, ist i.a.
nur vorgebildeten Lernern möglich. Dem
Wenn man mit der Maus über eine Ikone
fährt, wird ein Fenster mit detaillierter Information eingeblendet. Darin wird der entsprechende Abschnitt erläutert und formal korrekt
notiert. Eine Sonderrolle stellt die „Idee“Ikone dar. Dort werden heuristische Hinweise
gegeben und die zentrale Idee aufgezeigt.
Mithilfe der Pop-up-Fenster kann sich der
Lerner prinzipiell den Lerninhalt komplett neu
erschließen. Sie dienen vor allem aber dazu,
schnell und gezielt auf Informationen zuzugreifen, wenn der Lerner unter Rückgriff
auf die Strukturübersicht nach der Betrachtung der Filmsequenzen (s.u.) den Lerninhalt
mental zu rekonstruieren versucht.
67
Mutfried Hartmann
3. Ebene: Filmsequenz
Abb. 3
In die letzte Ebene eines Pop-up-Ikonogramms kommt man, wenn man auf eine der
Ikonen klickt. Hier wird der jeweilige Abschnitt als Tonfilmsequenz dargeboten. Man
kann den Film jederzeit bei Bedarf anhalten
und wieder starten bzw. an den Anfang oder
das Ende der Sequenz springen. Ist der Film
am Ende einer Sequenz angekommen, so
erscheint ein „nächster Schritt“-Button mit
dem direkt die darauffolgende Filmsequenz
gestartet werden kann. Auf diese Weise kann
der komplette Inhalt als Kette von Tonfilmsequenzen erschlossen werden. Aus den Filmen kann jederzeit in die Strukturübersicht
zurückgekehrt werden. Um den Wiedereinstieg in die Filmdarbietung zu erleichtern,
wird durch eine grüne Hinterlegung der entsprechenden Ikonen angezeigt, welche Filmsequenzen bereits bearbeitet wurden.
2
Fragestellungen
Um gesicherte Aussagen über die Effektivität
der Ikonogramme hinsichtlich des Lernerfolgs zu gewinnen, wird dieser Typ mit Lehramtstudierenden in Nürnberg evaluiert. Die
erste Datenerhebung erfolgte im SS 02. Sie
dient dazu, im Sinne einer Voruntersuchung
zu prüfen, inwieweit das Erhebungsinstrument zur geplanten Lernerfolgsmessung sowie zur Bildung weiterer Hypothesen geeignet ist. Eine zweite, umfangreichere Datenerhebung ist für das WS 02/03 geplant. Erst
mit Abschluss dieser Erhebung ist mit signifikanten Ergebnissen zu rechnen.
Die Hauptfragestellung ist, welcher Lernerfolg mit Ikonogrammen im Vergleich zu anderen Darstellungen, z.B. den in Büchern übli-
chen als Einzelbild mit begleitenden Texten,
erzielt wird.
Weitere Fragestellungen leiten sich daraus
ab, dass die Vollversion des Pop-up-Ikonogramms im Wesentlichen auf zwei medialen
Formen aufbaut: Dem Lehrfilm und den Bildfolgen. Der Lehrfilm wurde dabei modifiziert,
indem er sequenziert wurde und Steuerelemente hinzugefügt wurden. Auch die klassische Bildfolge wurde verändert. Sie tritt nicht
als einfache Abfolge von Bildern, in die alle
Detailinformationen bereits integriert sind, in
Erscheinung, sondern als eine, die logische
Struktur des Beweises widerspiegelnde
Strukturübersicht. Um dieses Übersichtsbild
nicht zu überladen, werden Detailinformationen mittels Pop-up-Fenster abgerufen.
Aus diesen Gegebenheiten bzw. Modifikationen ergeben sich weitere Fragen:
•
o sequenziert (entspricht Pop-up-Ikonogramm ohne Strukturübersicht) und
einmal
o unsequenziert ohne jede Steuermöglichkeit.
• Welche Bedeutung kommt der Bildfolge
und speziell deren Strukturierung zu? —
Um dies zu klären, war es ebenfalls notwendig, zwei reine Bildfolgeversionen zu
erstellen, eine
o strukturierte (entspricht Pop-up-Ikonogramm ohne Film) und eine
o unstrukturierte Version, die die Bilder
entsprechend ihrer Abfolge auf einer
Seite ohne Pop-up-Effekte zeigt.
• Muss es überhaupt Multimedia sein?
Oder ist es eventuell effektiver, Lerninhalte mittels eines einfachen Druckbuttons
auf Papier darzubieten? — Eine Klärung
dieser Frage erforderte die Bereitstellung
der Einzelbildversionen sowohl am Bildschirm als auch als Ausdruck auf Papier.
Die folgende Abbildung zeigt die einzelnen
Vergleichsgruppen nochmals im Überblick:
Abb. 4
68
Welche Bedeutung hat der Lehrfilm für
den Lernerfolg und welchen Anteil hat
daran die Sequenzierung des Films? —
Um dies zu testen, wurden zwei reine
Lehrfilmversion erstellt; einmal
Formen multimedialen Lehrens — ein Vergleich
3
Evaluation
Die Evaluation, wie auch die bereits abgeschlossene Voruntersuchung, gliedert sich im
Wesentlichen in drei Phasen:
1. Erhebung des Vorwissens der Probanden
mit dem Ziel der Bildung vergleichbarer
Gruppen
2. Unterweisung der Gruppen in einer der
sieben Versionen
3. Test des Lernerfolges
Phase 1: Erhebung des Vorwissens zur
Gruppenbildung
Die Probanden waren alle Studierende des
Lehramts Grund- bzw. Hauptschule am Ende
ihrer jeweiligen Geometrie-Didaktik-Veranstaltung. Um sicherzustellen, dass in den einzelnen Gruppen jeweils das ganze Leistungsspektrum von sehr schwachen bis zur
sehr starken „Mathematikern“ in gleicher
Weise vertreten ist, wurde in einer Vorerhebung zunächst der Leistungsstand der Teilnehmer mittels eines Punktesystems ermittelt. Die Kriterien zur Ermittlung des
Leistungsstands bildeten in der Hauptsache Fragen zu Schulleistungen, wie
etwa nach der Abiturnote im Fach Mathematik, sowie die Bearbeitung einfacher geometrischer Aufgabenstellungen,
wie etwa die Bestimmung der Diagonalenlänge eines Rechtecks. Darüber hinaus flossen weitere Aspekte mit ein, z.B.
welche Einstellung die Teilnehmer zur
Mathematik haben und ob Mathematik
von Ihnen als Leistungskurs belegt wurde.
nes kurzen Fragebogens zur Selbsteinschätzung des Lernerfolgs und Handhabbarkeit
des Programms.
Phase 3: Lernerfolgstest
Eine Woche nach der Unterweisung wurde
der Lernerfolg für Reproduktions- und Transferwissen getestet. Dazu mussten die Probanden zunächst den Beweis für den Sehnensatz reproduzieren und in einer zweiten
Aufgabe diesen Beweis auf eine gegenüber
der Unterweisung hinsichtlich Lage und Bezeichnungen veränderte Beweisskizze adaptieren. Hierbei konnten insgesamt 23 Punkte
erreicht werden. Im Anschluss war als Transferleistung der Sekantensatz zu beweisen.
Hier konnten 8 Punkte erreicht werden.
4
Erste Ergebnisse der
Voruntersuchung
Mittels Reproduktionsleistung gemessener Lernerfolg
Insgesamt konnten sieben Gruppen mit
jeweils sieben GS-Studierenden und einem HS-Studierenden gebildet werden,
die ein vergleichbares Leistungsspektrum aufwiesen und deren Gesamtsummenwerte aus der Vorerhebung um maximal 2,5% variierten.
Phase 2: Unterweisung
Ziel der Unterweisung war, dass sich die
Probanden mit unterschiedlich medial
aufbereiteten Material den Beweis für
den Umfangswinkel- und den Sehnensatz
ohne Zeitvorgabe erschließen konnten. Dabei diente der Umfangswinkelsatz sowohl zur
Angleichung der notwendigen Vorkenntnisse
als auch zur Einführung und Gewöhnung an
das jeweilige Lernsystem. Die Unterweisung
erfolgte in getrennten Räumen durch Hilfskräfte mit festgelegten Einweisungstexten.
Die Schulung endete mit der Bearbeitung ei-
Abb. 5
Erwartet wurde, dass sich bzgl. der Reproduktionsleistungen die beiden Einzelbildversionen, Papier bzw. Bildschirm, nicht relevant unterscheiden. Hingegen sollte die sequenzierte Filmversion der unsequenzierten
und die strukturierte Bildfolge der unstrukturierten deutlich überlegen sein. Die besten
Ergebnisse sollte mutmaßlich das Pop-UpIkonogramm liefern, während aufgrund der
rein passiven Aufnahme die Filmversionen
69
Mutfried Hartmann
insgesamt am schlechtesten abschneiden
sollten.
Die Ergebnisse wichen in zwei Punkten von
den Erwartungen ab: Die Filmversionen
brachten immerhin in etwa den gleichen
Lernerfolg wie die Einzelbildversionen und
die sequenzierte Filmversion brachte keine
besseren Ergebnisse als die unsequenzierte.
Mittels Transferleistung gemessener
Lernerfolg
Abb. 6
Gegenüber dem Abschneiden bei den Reproduktionsaufgaben wurde bei der Transferaufgabe erwartet, dass sich der Strukturüberblick sowie die gleichzeitige Darbietung
von Ton und Animation positiv auf die Transferleistungen auswirken (Theorie der „doppelten Encodierung“ nach Paivio 1986). Bei
den reinen Filmversionen sollte dieser Effekt
allerdings bedingt durch die geringe Verarbeitungstiefe nicht zur Geltung kommen. Für
das Pop-up-Ikonogramm hingegen wurde erwartet, das sich der Strukturüberblick und der
Effekt durch die doppelte Encodierung gegenseitig ergänzen. Dies sollte zu einer besonders hohen Transferleistung der mit dieser Version geschulten Probanden führen.
Entgegen dieser Erwartung liegen deren
Leistungen in der Bearbeitung der Transferaufgabe zwar immerhin an zweiter Stelle,
übersteigen aber die anderer Gruppen nur
70
wenig. Allein die Bildfolgegruppe mit Strukturübersicht hebt sich in der Transferleistung
deutlich von denen anderer Gruppen ab.
5
Zusammenfassung
Auch wenn bei dieser Voruntersuchung aufgrund des geringen Datensatzes noch keine
signifikanten Ergebnisse zu erwarten waren,
so lassen sich dennoch gewisse Tendenzen
erkennen. Das Pop-up-Ikonogramm, eine
speziell für das WWW entwickelte
Darbietungsform für mathematische
Inhalte, lieferte vergleichsweise gute Reproduktionsergebnisse. Die
mit dieser Darbietungsform geschulten Probanden konnten im
Schnitt etwa 50% der Inhalte wiedergeben, während die mit den
Einzelbild- und reinen Filmversionen geschulten Teilnehmer jeweils
nur etwa ein Viertel der Inhalte reproduzieren konnten. Allein die
Bildfolgeversion mit Strukturübersicht konnte eine noch annähernd
gleichgute Reproduktionsleistung
bewirken.
Die Produktion reiner Filmversionen
(egal ob sequenziert oder nichtsequenziert) kann hingegen bereits
jetzt mit großer Wahrscheinlichkeit
als Fehlinvestition angesehen werden. Da die Erstellung von Filmen
im Gegensatz zu Standbildern wesentlich aufwendiger ist, findet man
bei den Filmversionen mit Abstand
das ungünstigste Verhältnis aus
Nutzen und Produktionsaufwand.
Hinsichtlich dieser „Produktionseffizienz“ liegt hingegen die Bildfolgeversion mit
Strukturübersicht bereits für den Bereich der
Reproduktionsleistungen an erster Stelle. Berücksichtigt man nun noch, dass diese Darbietungsform die mit Abstand besten Transferleistungen zeitigte, so kann vermutet werden, dass diese filmlose Variante des Popup-Ikonogramms sich am Ende der Untersuchungen als besonders geeignete Darbietungsform mathematischer Inhalte im Netz
erweisen wird. Ob sich diese Aussagen tatsächlich statistisch erhärten werden, hängt
von den Ergebnissen ab, die eine Neuauflage dieser Untersuchung mit erhöhter Probandenzahl im WS 02/03 liefern wird.
Literatur
Paivio, A. (1986): Mental representations: A dual
coding approach. Oxford: Oxford University Press
z
Einsatz von DGS am Beispiel von Cinderella
Gaby Heintz, Neuss
Als ein besonders wichtiges Mittel, die Aufmerksamkeit der Schüler zu erregen, ihr Interesse wach zu halten und sie allmählich an das
für später so wichtige funktionale Denken zu
gewöhnen, wird in der neueren Zeit die Bewegung angesehen.
Detlefs, H. (1913)
Das Papierarbeitsblatt ist im Unterricht als didaktisches Mittel bereits fest integriert.
Durch den Einsatz von DGS kommen durch das ‚bewegliche’ Arbeitsblatt neue Perspektiven hinzu. Die Besonderheit der ‚Interaktivität’ bei einem Cinderella-Arbeitsblatt und die
notwendigen Rahmenbedingungen beim Einsatz im Unterricht werden in diesem Beitrag
vorgestellt.
1
Bewegung und
Arbeitsblatt
Detlefs’ (1913) oben zitierte Aussagen sind
vor dem Hintergrund der damaligen Kinohefte bzw. Daumenkinos entstanden. Vielleicht
erstaunt es, dass hier bereits auf drei wesentliche Aspekte der Bewegung hingewiesen wird: Durch das Phänomen der Bewegung kann beim Lernenden
werkzeuges in der neuen Version. In Abb.
2a–c wurden die Linien der Freihandzeichnung automatisch in Strecken bzw. Geraden
umgesetzt.)
• die Aufmerksamkeit und
• die Motivation gesteigert werden sowie
• eine neue Fähigkeit im Unterricht erreicht
werden.
Was ist mit der neu zu vermittelnden Fähigkeit, dem „Beweglichen Denken“, gemeint?
Man versetze sich dazu einmal in folgende
konkrete Unterrichtssituation: Der Lehrer fordert die Schüler auf, ein Dreieck zu zeichnen,
um daran die verschiedenen Eigenschaften
zu erarbeiten. Betrachten wir hierzu eine
mögliche Fragestellung im Geometrieunterricht in der Jahrgangsstufe 7: Wo liegt der
Schnittpunkt der Mittelsenkrechten in Abhängigkeit zur besonderen Form des Dreiecks?
Gewohnheitsmäßig werden von den Schülern bekannte Figurenkonstellationen von
Dreiecken aus dem Unterricht übernommen.
So kann man häufig folgendes Phänomen
feststellen, vgl. Abb. 1.
(Die Abbildungen 1 und 2 wurden mit einer
Beta-Version von Cinderella 2.0 realisiert.
Abb. 1 zeigt die Verwendung des Freihand-
Abb. 1: Beispiel einer möglichen Schülerzeichnung
Der Schüler zeichnet in seinem Heft bzw. auf
der Tafel in der Regel ein „besonderes“ Dreieck, ein rechtwinkliges oder auch regelmäßiges Dreieck. Als Grundseite wird häufig die
Seite AB gewählt, die parallel zur Tafelkante
oder den Rechenkästchen im Heft angeordnet ist.
Aus der einen vorliegenden Zeichnung sollen
nun vom Schüler Eigenschaften von einer
Menge von Dreiecksfiguren erschlossen werden. Viele Zeichnungen müsste man zeichnen, um einen Überblick über verschiedene
Lagen zu erhalten. Erwartet wird aufgrund
obiger Aufgabenstellung, dass der Schüler
„im Kopf“ eine Bildfolge von Figuren entwickelt, vgl. Abb. 2a–c.
71
Gaby Heintz
Die Lage des Schnittpunktes F im Inneren
des spitzwinkligen Dreiecks muss als ein
Sonderfall begriffen werden, um so auch weitere Sonderfälle, wie z.B. in Abb. 2b, zu erschließen.
Auch Abb. 2c zeigt nur eine mögliche Sonderform, die unter Zuhilfenahme des Zugmodus in der DGS entdeckt werden kann. Allerdings muss der Schüler erst einmal erkennen, dass verschiedene Konstellationen und
damit Fälle existieren, um diese erschließen
zu können.
Abb. 2a: Schnittpunkt der Mittelsenkrechten im Inneren
des Dreiecks
Ohne die Verwendung von DGS heißt das für
den Schüler, in das statische Bild Bewegung
zu integrieren. Damit ist gemeint, den Punkt
C in Abb. 2a „stetig“ in seiner Lage zu den
Punkten A und B zu verändern. Die Schwierigkeit für den Schüler besteht darin, die Veränderung des Punktes in seiner Bewegung
rein gedanklich zu verfolgen, vgl. Gattegno
(1971).
Das bewegliche Bild muss sich in eine Menge von unterschiedlichen Dreiecksformen
auflösen lassen. Aus dem einzelnen Dreieck
muss die Fülle der betrachtungswerten Dreieckskonstellationen erkannt und einzelne
Fälle dann in der Besonderheit erschlossen
werden. Damit wird beim Einsatz von DGS
eine neue Fähigkeit vom Schüler erwartet,
die darin besteht, mathematische Probleme
in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Dass so
auch ein weiterer Zugang zu Definitionen,
Problemlösungen und Beweisen ermöglicht
werden kann, soll nur kurz erwähnt werden.
In Anlehnung an Roth (2002) sind wesentliche Komponenten für die Umsetzung des
„beweglichen Denkens“ im Unterricht:
• Hinsehen
• Erfassen und Erkennen
• Argumentieren
• Analysieren
• Verbalisieren
• Realisieren
• Reflektieren
Abb. 2b: Schnittpunkt der Mittelsenkrechten auf einer
Dreiecksseite
Diese Komponenten sind beim Einsatz von
DGS insbesondere bei den methodischen
Notwendigkeiten im Unterricht zu berücksichtigen, s. Kap. 4.
2
Interaktivität und
Arbeitsblatt
Im Unterricht stellt sich Lehren und Lernen
als Interaktionsprozess dar, d. h. eine Wechselwirkung zwischen dem Verhalten des Lehrers und dem Verhalten des Schülers. Das
Verhalten des einen Beteiligten im Lernprozess beeinflusst das Verhalten des anderen.
Wie kann diese Wechselwirkung beim Arbeiten mit dem Computer erreicht werden?
Abb. 2c: Schnittpunkt der Mittelsenkrechten außerhalb
des Dreiecks
72
Im Rahmen des interaktiven Lernens sind
Rückmeldungen zum Lernprozess, d.h. eine
Einsatz von DGS am Beispiel von Cinderella
Aufgabenstellung
(in Textform)
Werkzeugleiste
(ausgewählt)
Zeichenoberfläche
(Applet)
'Rückmelde'-Fenster
Abb. 3: Aufbau eines interaktiven Cinderella-Arbeitsblattes
Bestätigung über das Erreichen von Zwischenlösungen und damit eine Erfolgskontrolle für den Schüler wesentliche und förderliche Komponenten für den Lernprozess. Hilfestellungen, eingebettet in das Arbeitsblatt,
wurden schon von Schumann (1998) als
wünschenswert herausgestellt. Ein sogenanntes ‚interaktives’ Arbeitsblatt kann diese
Forderung umsetzen, weil sich dort Hinweise
integrieren lassen, die entweder als Rückmeldung zu bereits vollzogenen Konstruktionen oder als Hilfestellung zur Lösung fungieren. Ein in Cinderella eingebauter stochastischer „Beweiser“ kann auf vom Schüler konstruierte Elemente insofern reagieren, dass
sie mit vom Lehrer vorbereiteten Konstruktionselementen verglichen werden. Werden
Übereinstimmungen festgestellt, werden diese an den Schüler rückgemeldet. Durch diese Möglichkeit der Rückmeldung grenzt sich
eindeutig das „interaktive Arbeitsblatt“ vom
herkömmlichen Papierarbeitsblatt und auch
vom ‚beweglichen’ Arbeitsblatt ab.
dungen in Form von Hilfestellungen (s.
Abb. 4) zum anderen in der Lösungskontrolle
einer vom Lernenden durchgeführten Konstruktion, vgl. Heintz (2001).
Nun zum Aufbau eines Cinderella-Arbeitsblattes: wesentliche Bestandteile des interaktiven Cinderella-Arbeitsblattes sind drei verschiedene Applets, deren Reihenfolge und
Größe sich mit einem HTML-Editor individuell
verändern lassen. Nach Rückmeldungen aus
Unterrichtsversuchen, vgl. Heintz (2000), hat
sich aus meiner Sicht der graphische Aufbau
des Arbeitsblattes nach Abb. 3 bewährt.
Hinweise für den Lernenden zur Erstellung
einer Konstruktion sind vom gewählten Lösungsweg unabhängig. Soll beispielsweise
eine Mittelsenkrechte konstruiert werden, ist
das Lösungselement allein die Mittelsenkrechte, in Abb. 4 mit dem Buchstaben f bezeichnet. Das Hinweiselement („f“) besteht
also nur aus einer Geraden mit Namen f,
nicht aus der Konstruktion der Mittelsenkrechten selber. Der Hinweis oder integrierte
Tipp ist somit von der eigentlichen Wahl der
Mittel des Konstrukteurs unabhängig. Farbliche Unterstützungen durch Einfärbungen der
Linien oder Kreise werden auf der CinderellaOberfläche vorgenommen und beim Abspeichern des Hinweiselements automatisch mitübernommen. Diese visuellen Rückmeldun-
Unterhalb des Arbeitsblattes sind textliche
Ergänzungen, z.B. zusätzliche Erläuterungen
zur Werkzeugleiste, je nach Kenntnisstand
der Lernenden hilfreich.
Die Besonderheiten des interaktiven Arbeitsblattes bestehen zum einen in der Möglichkeit von textlichen und visuellen Rückmel-
Abb. 4: Ein beispielhaft ausgefülltes Hinweisformular
73
Gaby Heintz
gen, verstärkt durch die Einfärbungen, unterstützen den Lernprozess durch Aktivierung
weiterer Eingangskanäle des Schülers.
Der Lehrer entscheidet bei der Erstellung des
Arbeitsblattes über die Wartezeit bzw. Verzögerungszeit, in der der Schüler die einzelnen Hinweise erhält. In Abb. 4 werden beispielsweise 30 Sekunden vorgegeben; die
Wartezeit sollte jeweils auf die Lerngruppe
abgestimmt sein. Werden vom Schüler zwischenzeitlich weitere Hinweise zur Vorgehensweise abgefragt, wird er auf die verzögerte Rückmeldung hingewiesen, s. Rückmeldefenster in Abb. 3 unten. So kann vermieden werden, dass der Lernende ohne eigene Anstrengung durch einfaches Anklicken
der Hilfestellung zu einer Teillösung gelangt.
Dies unterscheidet eine HTML-Seite mit verlinktem Hinweis, in der sich ein bewegliches
Bild befindet, von einem interaktivem Cinderella-Arbeitsblatt. In dem vorgefertigten Hinweis-Formular sind ebenso binnendifferenzierte Aufgabenstellungen realisierbar. So
kann der Lernstoff, das Lerntempo und der
Schwierigkeitsgrad der jeweiligen Lerngruppe angepasst und somit individuelles Lernen
ermöglichen werden.
Die mit Cinderella erstellten Arbeitblätter haben eine sehr geringe Dateigröße, die
Transportmöglichkeiten über das Web oder
per Diskette sind dadurch vereinfacht.
3
Didaktische Klippen
Welche didaktischen Klippen müssen nun
vom Lehrer beim Einsatz von beweglichen
bzw. interaktiven Arbeitsblättern gemeistert
werden? Die veränderte Lernumgebung
bringt trotz Nutzung einer StandardBrowseroberfläche eine erhöhte Komplexität
für Lehrer und Lernenden mit sich, vgl.
Heintz & Wittmann (2002).
Neben der Gewährleistung der technischen
Anforderungen hinsichtlich Stabilität und arbeitsergonomischen Gesichtspunkten der
einzusetzenden Rechner muss der Lehrer
weitere didaktische Entscheidungen treffen.
Möchte der Lehrer das eigenständige „Geometrietreiben“ seiner Schüler unterstützen
und fördern, sind hierzu für den ungeübten
Schüler didaktische Anleitungen zu geben.
Der Einsatz des Mediums ‚interaktives Arbeitsblatt’ ermöglicht dem Lehrer ein heuristisches Vorgehen. Ein rein linearer Aufbau der
Unterrichtssequenz
nach
steigendem
Schwierigkeitsgrad würde der Wirkung des
Mediums widersprechen. Je nach Leistungs-
74
stand der Lerngruppe ist es für dieses Unterrichtsvorhaben erforderlich, dass der Lehrer
eine gestufte Anleitung und Motivation zur
Selbstständigkeit der Lernenden einplant.
Es ist eine Illusion zu glauben, dass die vom
Lehrer ausgewählten Lernziele immer deckungsgleich sind mit denen seiner Schüler.
Freie Erkundungen der Schüler schaffen
auch neue sinnvolle Unterrichtsvorhaben.
Hier muss der Lehrer sich entscheiden, inwiefern es aus curricularen Vorgaben möglich ist, Abstriche bei seinen bisher aufgestellten Lernzielen zu machen und es Sinn
macht, den Erkundigungen seiner Schüler zu
folgen. Sind bestimmte Vorgehensweisen
zum Erlernen notwendig oder sind spezielle
Zwischenschritte bei einer Konstruktion zu
erlernen, müssen Vorgaben vom Lehrer gegeben werden. Dies kann zur Einengung der
Vorgehensweise führen. Zusätzlich erfordert
der Umgang mit unterschiedlichen Leistungsstärken der Schüler differenzierte Hilfestellungen und alternative Aufgabenstellungen. Zur Berücksichtigung der unterschiedlichen Lerntypen sind weitere binnendifferenzierte Vorgehensweisen erforderlich.
Die Veränderung der Lehrerrolle vom Wissensvermittler und Instrukteur zum Indikator
und Moderator des Lernprozesses ist beim
Einsatz von interaktiven Arbeitsblättern mit
integrierter Lösungskontrolle implizit gegeben.
Bender (2001), Elschenbroich (2001) und
Hölzl (1999) haben auf das Problem der Entstehung von fragmentarischem Wissen beim
Einsatz von DGS und CAS immer wieder hingewiesen. Hier wurde insbesondere eine
große Ablenkungsmöglichkeit durch die Fülle
der zur Verfügung stehenden Werkzeuge für
den Schüler beim Einsatz von DGS gesehen.
Der Lehrer muss überlegen, wie er die kreativen Möglichkeiten des Spieltriebs nutzt, ohne ihnen unnötigen Überhang zu geben.
Hierzu kann der Lehrer bei der Erstellung eines Cinderella-Arbeitsblattes eine gezielte
Einschränkung von Werkzeugen vornehmen,
die dem Schüler bei der Lösung der Aufgabe
zur Verfügung stehen sollen. Eine Anzahl
von Tipps in Form von gestaffelten Hinweiselementen, die wesentliche Lernschritte absichern, kann hilfreich sein. Ein mittleres Maß
zwischen notwendiger Offenheit und Absicherung von wesentlichen Elementen in der
Besprechungsphase ist zu finden. Hier greifen auch methodische Notwendigkeiten, s.
Kap. 4.
Bei der Erstellung der Aufgabenstellung sollte der Text auch unter dem Kriterium Verständlichkeit beleuchtet werden. Knappe,
Einsatz von DGS am Beispiel von Cinderella
wenig gegliederte Aufgabenstellungen, die
nicht bestimmte Lösungswege und -ansätze
nahe legen, haben sich aus meiner Sicht
bewährt.
4
Methodische
Notwendigkeiten
Aus den didaktischen Entscheidungen beim
Einsatz eines interaktiven Arbeitsblattes ergeben sich methodische Notwendigkeiten.
Grundsätzlich sollte der Lehrer Kommunikation zwischen den Lernenden ermöglichen. In
der Computerarbeitsphase hat sich aus meiner Sicht die Sozialform Partnerarbeit bewährt. Sie ermöglicht den Austausch und die
Diskussion von unterschiedlichen Lösungsansätzen, schafft Raum für interne Fragen
zur Aufgabenstellung und verhilft zum intensiven Lesen.
Die Arbeitsphase lässt sich grob in drei Phasen aufteilen, in denen differenzierte Vorgaben vom Lehrer zu geben sind:
In der eigentlichen Computer-Arbeitsphase
sollten die Schüler zu Vorhersagen und Vermutungen aufgefordert werden. Bei der Öffnung von Fragestellungen ist die Suche nach
unterschiedlichen Lösungsansätzen und -wegen zu betonen. Aufgrund der Tatsache,
dass Konstruktionen auf den verschiedenen
Applets im interaktiven Arbeitsblatt nicht abgespeichert werden können, sind beim Schüler Ergebnisfixierungen sowie Kommentierungen in Schrift und Bild einzufordern. Eine
Dokumentation über einzelne Screenshots ist
zwar möglich, gibt aber die Fülle von Konstruktionsschritten schwerlich wieder. Insbesondere sind auch mit DGS erstellte Konstruktionen per Hand ins Heft zu übertragen.
Der Einsatz von Arbeitsblättern mit integrierter Lösungskontrolle bedingt eine darauf abgestimmte Besprechungsphase. Durch die
gestuften Hinweiselemente ist den Schülern
auf jeden Fall ‚ein’ Ergebnis bekannt. Hieraus
ergeben sich möglicherweise Motivationsprobleme hinsichtlich einer notwendigen Besprechung, die bereits durch eine darauf abgestimmte Aufgabenstellung aufzufangen
sind.
Der Schwerpunkt bei der Lösungspräsentation durch die Schüler liegt nun in erster Linie
auf der Art und der Qualität der Begründungen ihrer Konstruktionsschritte und der Betrachtung und Diskussion von differenzierten
Lösungswegen. Der Umgang mit unerwarteten Schülerlösungen ist bereits in der Zeit-
planung der Unterrichtsstunde zu berücksichtigen.
In der anschließenden Reflexionsphase können Papierarbeitsblätter in Form von Tagebuchprotokolle oder Lerntagebücher den
Lernprozess weiterhin effektiv unterstützen.
Hierdurch hat der Lehrer auch die Möglichkeit, neben der Besprechungsphase weitere,
in selbstständigen Schülerarbeitsphasen erreichte Arbeitsergebnisse sowie Lernschwierigkeiten zu erfahren.
5
Chancen durch Einsatz
von DGS
Der Lehrplan der Jahrgangsstufe 11 in NRW
sieht integrierende Wiederholungen aus den
Themenbereichen der Sekundarstufe I vor.
Bei der Umsetzung des Lehrplans im Unterricht wird bedauerlicherweise häufig der Aspekt der reinen Wiederholung in den Vordergrund gestellt. Niemann (1990) stellte schon
zehn Jahre vor dem Inkrafttreten der neuen
Richtlinien für die Sekundarstufe II einen Ansatz vor, der anhand von Papierarbeitsblättern, noch ohne die Verwendung von DGS,
den Wiederholungsstoff in einzelnen Themenbereichen von den Schülern an unbekannten Aufgabenstellung nochmals aufrollt.
Ausgangspunkt ist z.B. folgende Aufgabenstellung:
Aufgabe: Gegeben sind zwei Punkte P und
Q, die nicht auf den Koordinatenachsen liegen. Kann man einen Punkt R auf den Achsen so wählen, dass das Dreieck PQR
rechtwinklig ist?
Bei dieser Unterrichtseinheit werden die Inhalte von Thaleskreis über das Lösen von linearen,
quadratischen
und
BruchGleichungen bis hin zur Aufstellung von
Kreisgleichungen sequenziell in einzelnen
Arbeitsblättern, je nach geeigneter Wahl der
Punkte P und Q im Koordinatensystem, behandelt. Hierzu muss der Schüler Argumentationsketten aufstellen und Fallunterscheidungen hinsichtlich der Lösungsvielfalt von
quadratischen Gleichungen vornehmen. Dieser Ansatz zeigt aus meiner Sicht auch neue
Perspektiven für den Analysis-Unterricht der
Sekundarstufe II auf.
Der Schwerpunkt dieser Unterrichteinheit
liegt im Bereich der Algebra, die geometrischen Ansätze sind zur Unterstützung der
Algebra-Kenntnisse diesen untergeordnet.
Zur Verdeutlichung der Inhalte ein Beispiel:
75
Gaby Heintz
Abb. 5: Startseite eines interaktiven Arbeitsblattes (Download möglich unter www.mathe-ecke.de )
Wählt man z.B. die Punkte P(-2/3) und
Q(2/-1) im Koordinatensystem, so ergeben
sich als mögliche Lösungen:
a) die Punkte R1(0/5) und R2(-0/5), falls der
rechte Winkel bei P liegt.
b) die Punkte R3(0/-3) und R4(3/0), falls der
rechte Winkel bei Q liegt.
c) die Punkte R5(0/1+2 2 ), R6(0/1–2 2 ),
R7( 7 /0) und R8(- 7 /0), falls der rechte
Winkel bei R liegt.
Zu a) und b) sind jeweils Geradengleichungen aufzustellen und die Schnittpunkte der
Geraden mit den Koordinatenachsen zu berechnen.
Zu c) ist die Bestimmung der Koordinatendarstellung des Thaleskreises über die Berechnung des Mittelpunktes und des Radius
erforderlich. Weiterhin sind die Schnittpunkte
des Kreises mit den Koordinatenachsen zu
berechnen. Ist die Tangentengleichung an
den Kreis in Koordinatendarstellung bekannt,
ist dies eine weitere mögliche Lösungsvariante.
Setzt man die Arbeitsblätter in interaktive Arbeitsblätter um, kann der Schüler durch die
Möglichkeit der Bewegung auf einen Blick
verschiedene Situationen entdecken. Die in
Abb. 5 benannte Aufgabenstellung spannt
den gesamten Rahmen der Untersuchungen
auf und ist tragendes Element dieser Unterrichtseinheit. Stellt man nun dem Schüler das
Problem z.B. in Form von Abb. 5 vor, kann
bzw. muss der Schüler nun die Einzelprobleme selber entdecken und in seiner Relevanz beurteilen. So muss er u.a. die Abhängigkeiten von der Anordnung der Punkte A
und B im Koordinatensystem erkennen, Lösungsvarianten in Bezug auf die Lage des
rechten Winkel bei A bzw. B, s. Abb. 6, oder
auch bei C, s. Abb. 7, ermitteln.
Welche neuen Chancen für den Lernprozess
können nun beim Einsatz von DGS hinzukommen?
Beim Einsatz der Papierarbeitsblätter, die
i. d. R. von den Schülern nacheinander bearbeitet werden, werden einzelne Schwierigkeiten isoliert betrachtet. Der Schüler wird von
einem Arbeitsblatt zur nächsten Schwierigkeit geführt.
76
Abb. 6: Fall: Kein Schnitt des Thaleskreises mit den
Koordinatenachsen
Neben den integrierten Hinweisen im interaktiven Arbeitsblatt können dann den Schülern
Hilfestellungen zur Aufarbeitung seiner Lü-
Einsatz von DGS am Beispiel von Cinderella
cken aus dem Wiederholungsstoff angeboten
werden. Methodisch bietet sich hier das Stationenlernen an. Hierbei entscheidet der
Schüler und nicht der Lehrer, welchen Themenbereichen er sich aufgrund seiner Wissenslücken verstärkt widmen muss.
6
Ausblick
Richter-Gebert & Kortenkamp (2002) kündigen neue Funktionen in der Version 2.0 von
Cinderella an. Für den Mathematikunterricht
sind aus meiner Sicht folgende besonders interessant:
• Freihandzeichnungen:
Wie mit einem Bleistift können Zeichnungen vorgenommen werden. Diese lassen
sich mithilfe eines dazu passenden Werkzeuges anschließend in Geraden oder
Strecken umsetzen. Darauf kann dann
wiederum der Zugmodus angewendet
werden. So ist es möglich, die Veränderung vom starren Bild zum beweglichen
Bild zu erleben.
Abb. 7: Fall: Ein Eckpunkt liegt auf einer Koordinatenachse
Die Qualität liegt hier also nicht nur in erster
Linie in den zu vollziehenden heuristischen
Strategien, sondern in der Notwendigkeit,
das gestellte Problem strukturell zu durchdringen. Weitere Spezialfälle können bei geeigneter Wahl der Koordinaten der Punkte A
und B vom Schüler erarbeitet werden, vgl.
Abb. 8. Hier ist die Lage auf den Koordinatenachsen, vgl. Abb. 7, nur ein zu betrach-
• Physik-Optionen:
Bewegte Wellen, wie z.B. die Sinuswelle,
können für den Mathematikunterricht konstruiert werden.
• Makros bzw. Skripte:
Insbesondere können auch geometrische
Objekte in Textform als Konstruktionsvorschrift eingegeben werden und in Konstruktionen umgesetzt werden.
7
Resümee
Beim Einsatz von DGS stellen die neuen Visualisierungsmöglichkeiten nicht nur unter
Zeitaspekten eine große Hilfestellung für den
Lehrer dar. Durch die zweigleisige Betrachtungsweise in Bild und Sprache werden unterschiedliche Lerntypen berücksichtigt. Die
Möglichkeit zur aktiv-entdeckenden Auseinandersetzung mit geometrischen Fragestellungen durch die Schüler kann nicht hoch
genug eingeschätzt werden.
Abb. 8: Beispiel in der Situation mit 8 möglichen Fällen
tender interessanter Fall.
Dieser Ansatz ergibt eine andere Sichtweise
der Unterrichtseinheit. Die Vielfalt der Lösungsansätze ist auf den geometrischen Lösungsansatz verlagert, die algebraische Betrachtungsweise des Problems ist in den Hintergrund gestellt.
Unterrichtsversuche zeigten die Annahme
von Hilfestellungen durch Schüler und eine
positive Bewertung der Sozialform Partnerarbeit, s. Heintz (2001) und somit eine Bewährung der hier vorgestellten didaktischen und
methodischen Vorgehensweise. In Form von
Protokolldateien wurden die Tätigkeiten der
Schüler aufgezeichnet. Schülertätigkeiten an
der Tastatur und mit der Maus wurden dabei
protokolliert und in Log-Files festgehalten.
Mit zunehmender Erfahrung mit den Cinderella-Arbeitsblättern zeigten sich auch zunehmende Aktionen bei den Lernenden.
77
Gaby Heintz
Literatur
Bender, P. (2002): Dynamische GeometrieSoftware in der Lehramts-Ausbildung — Erste
Ergebnisse einer Evaluation. In: Herget u. a.
(2002), 75–83
Detlefs, H. (1913): Die Veranschaulichung von
veränderlichen Figuren im Unterricht. In: Unterrichtsblätter 19, 121–124
Elschenbroich, H.-J. (2001): Lehren und Lernen
mit interaktiven Arbeitsblättern. Dynamik als
Unterrichtsprinzip. In: Herget, W. & Sommer,
R. (Hrsg.) (2001): Lernen im Mathematikunterricht mit neuen Medien. Hildesheim: Franzbecker, 31–39
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Beiträge zum Mathematikunterricht 2000. Hildesheim: Franzbecker, 273–277
Heintz, G. (2001): Didaktische Betrachtungen zum
Einsatz von DGS in Klasse 7 — beim Einsatz
von Cinderella. In: Beiträge zum Mathematikunterricht 2001. Hildesheim: Franzbecker,
273–276
Heintz, G. (2001): Interaktive Arbeitsblätter — Hilfestellungen, Tipps und Lösungskontrolle für
Lernende. In: Amelung, U. & Barzel, B. (Hrsg.)
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(2001): Reflexionen und Visionen eines technologiegestützten
Mathematikunterrichts.
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Heintz, G. & Wittmann, G. (2002): Gestaltung von
neuen Lernumgebungen durch neue Medien.
In: Herget u. a. (2002), 169–170
Herget, W., Sommer, R., Weigand, H.-G. & Weth,
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Verwendung dynamischer Geometrie-Software. Universität Augsburg: Habilitationsschrift
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Denken. Zur Begriffsgeschichte eines didaktischen Prinzips. Berlin: Logos
Niemann, W. (1990): 11/1: Wiederholung — Angleichung — Motivation. In: Mathematik Betrifft
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Roth, J. (2002): Bewegliches Denken — ein wichtiges Prozessziel des Mathematikunterricht. In:
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Schumann, H. (1998): Interaktive Arbeitsblätter für
das Geometrielernen. In: Mathematik in der
Schule 36, 562–569
z
Stationenlernen mit neuen Medien
im Mathematikunterricht der Sek. II
Henning Heske & Heinz Wesker, Dinslaken
Im Rahmen des BLK-Modellversuchs SelMa („Selbstlernen in der gymnasialen Oberstufe
— Mathematik“) wurde ein didaktisch-methodisches Konzept entwickelt und erprobt, das
die Möglichkeiten der neuen Technologien für ein selbstständiges Lernen im Mathematikunterricht nutzt.
Zentrale Medien bei diesem Unterrichtskonzept sind der PC mit einem offline zu nutzenden Internetbrowser samt vorbereiteten HTML-Dateien und Programmen (z.B. LiveMathAnimationen, AVI-Videosequenzen, Mathcad-Grafiken, Excel-Programmen, Java-Applets) sowie der TI-89 mit seinem implementierten Computeralgebrasystem.
Anhand der Stationenzirkel zu den Themen „Ganzrationale Funktionen“ und „Matrizenrechnung“ werden das Konzept und seine Umsetzung in der Praxis vorgestellt.
1
Stationenlernen mit
neuen Medien
Der von Februar 1999 bis Januar 2003 in
Nordrhein-Westfalen laufende BLK-Modellversuch SelMa („Selbstlernen in der gymnasialen Oberstufe — Mathematik“) hatte sich
zur Aufgabe gestellt, Unterrichtsszenarien
und -materialien zu entwickeln, die neue Medien „intelligent“ in den Mathematikunterricht
der Sekundarstufe II integrieren und dabei
die Eigenaktivität der Schülerinnen und
Schüler fördern. Eine zusätzliche Fragestellung war, inwieweit sich bei solchen Unterrichtskonzepten die Rolle der Lehrerinnen
und Lehrer verändert. Im Rahmen dieses
Modellversuchs haben wir als Autorenschule
(Ernst-Barlach-Gesamtschule
Dinslaken)
u. a. zwei Unterrichtseinheiten als Stationenlernen für die gymnasiale Oberstufe entwickelt, die diesen Ansprüchen gerecht werden.
Lernen an Stationen (synonym auch Stationenlernen, Stationenzirkel und Lernzirkel) ist
eine offene Unterrichtsform, die aus dem
Grundschulbereich stammt und inzwischen
Eingang in die Sekundarstufe I (Bauer 1997)
auch der Gymnasien gefunden hat, in der
Sekundarstufe II aber noch wenig erprobt ist
(Heske 2001). Diese Form des ganzheitlichen Lernens berücksichtigt unterschiedliche
Lernvoraussetzungen, unterschiedliche Zugänge und Betrachtungsweisen sowie unterschiedliches Lern- und Arbeitstempo in besonderer Weise. Den Schülerinnen und
Schülern wird ein vielfältiges Angebot an Aufgaben angeboten, so dass ein Lernen mit allen Sinnen möglich ist. Die Auswahl und Be-
arbeitung der Aufgaben, einschließlich Kontrolle und Korrektur, erfolgt weitgehend
selbstständig und eigenverantwortlich.
Ideal ist diese Unterrichtsform, wenn es möglich ist, einen Unterrichtsgegenstand so aufzubereiten, dass er auf verschiedenen Wegen erschlossen werden kann. Ziel ist es,
möglichst viele Lerneingangskanäle anzusprechen. Auf diese Weise wird der Unterricht auch den unterschiedlichen Lerntypen
gerecht, die in einer Lerngruppe vorhanden
sind. Für den Mathematikunterricht verlangt
dieses Vorgehen eine Präsentation des Gegenstandes auf der enaktiven, der ikonischen
und der symbolischen Ebene. Darüber hinaus ist auch eine interaktive Darstellung
durch einen Computereinsatz anzustreben
(Hole 1998).
Es sind verschiedene Zielrichtungen eines
solchen Unterrichts denkbar. Besonders geeignet ist diese Methode für vertiefendes, individuelles Üben. Aber auch das Erschließen
eines neuen Unterrichtsgegenstandes oder
Mischformen sind möglich.
Die Organisation dieser Unterrichtsform, die
mindestens über drei Stunden — angemessen sind aber eher vier und mehr Doppelstunden — ablaufen sollte, ist aufwendig, da
etwa 12–25 Stationen vorbereitet werden
müssen. Sie werden in der Regel in einem
geeigneten Klassenraum an den Wänden
aufgebaut. Gearbeitet wird entweder an den
Stationen, oder die Schülerinnen und Schüler
nehmen sich die Materialien (z. B. Arbeitsblätter) mit an ihren Arbeitsplatz. Es ist sinnvoll, Stationen mit unterschiedlichen Sozialformen anzubieten, damit sich dieser Unterricht nicht in Einzelarbeit erschöpft, sondern
79
Henning Heske & Heinz Wesker
auch Partner- und Gruppenarbeit berücksichtigt. Die Stationen sollten nummeriert und
farbig markiert sein. Die Farbe könnte Auskunft über den thematischen Schwerpunkt,
die Sozialform oder den Zugang geben. Da
nicht alle Schülerinnen und Schüler alle Stationen bearbeiten sollen, ist es auf diese einfache Weise möglich, das Lernen trotzdem
zu strukturieren, indem man gewisse Vorgaben bezüglich Wahl- und Pflichtpensum
macht, z. B.: jeder muss wenigstens drei
blaue, eine rote und zwei gelbe Stationen bearbeiten.
Selbstverständlich kann eine vorgelegte
Konzeption ohne größeren Aufwand auf die
eigene Lerngruppe zugeschnitten werden,
indem bestimmte Stationen weggelassen
werden, die Aufgabenstellung der einen oder
anderen Station umformuliert wird oder einige wenige zusätzliche Stationen hinzugefügt
werden.
Die inhaltliche Zusammenführung der Lerngruppe und der Anschluss an den weiteren
Unterricht ist überlegt zu organisieren. Da
nicht alle Schülerinnen und Schüler die selben Stationen bearbeiten,
ist es empfehlenswert,
durch die Ausweisung von
Pflichtstationen eine inhaltliche Grundlage zu schaffen, an die angeknüpft
werden kann. Beispielsweise muss die Erarbeitung wichtiger neuer Inhalte selbstverständlich Pflicht
sein. Es ist zudem möglich
und sinnvoll, der Lerngruppe während der Arbeit an
den Stationen (z. B. in der
zweiten Doppelstunde) eine umfangreiche Hausaufgabe zu stellen, die zur
ersten Stunde nach Beendigung der Arbeit an den
Stationen anzufertigen ist.
Diese Hausaufgabe verlangt die Bewältigung aller
wichtigen (vor allem der
neuen) Aspekte des Themas. Ihre Besprechung
dient dann als Zusammenführung der Lerngruppe
und als Übergang in eine
traditionelle
Unterrichtsform.
(vgl. Gabriel & Heske 2001) und „Matrizenrechnung“ (vgl. Gabriel, Heske & Teidelt 2002) liegen komplett als HTML-Dateien
vor und können online oder nach dem Herunterladen vom Bildungsserver learn-line offline
bearbeitet werden. Bei einigen Stationen ist
der Einsatz eines Computers mit Browser
zwingend notwendig, da sie entsprechende
Lern- und Animationsprogramme (LiveMath
mit dem entsprechenden Plugin) beinhalten.
Andere Stationen lassen sich ausgedruckt
auch problemlos als Arbeitsblatt oder Karteikarte auslegen. Die Schülerinnen und Schüler können wählen, welche Stationen sie in
welcher Reihenfolge bearbeiten. Es empfiehlt
sich jedoch, insbesondere neue Inhalte als
Pflichtstationen auszuweisen. Die Schülerinnen und Schüler erhalten zur Orientierung
einen sogenannten Laufzettel (Abb. 1), auf
dem alle Stationen aufgeführt sind (Nummer,
Titel, Themenbereich, Pflicht- oder Wahlstation, Sozialform). Der Lehrer übernimmt bei
dieser Unterrichtsform im Wesentlichen die
Funktionen des Beraters, da die Lösungen
der Aufgaben an den jeweiligen Stationen
ausliegen bzw. angeklickt werden können.
Die im Rahmen des BLKModellversuchs SelMa entwickelten Stationenzirkel
„Ganzrationale Funktionen“
Abb.1: Laufzettel zum Stationenlernen „Matrizenrechnung“
80
Stationenlernen mit neuen Medien im Mathematikunterricht der Sek. II
Rechnungen und Ergebnisse notieren die
Schülerinnen und Schüler in ihrem Heft. Der
Unterricht wird durch eine umfangreiche
Hausaufgabe, die über den gesamten Zeitraum begleitend gestellt wird, ergänzt. Dadurch wird auch eine zusätzliche Lernerfolgskontrolle erreicht, an die der weitere Unterricht anknüpfen kann.
ger, offline zu nutzender Internetbrowser
(Netscape oder Internet Explorer) gewählt.
Daher wurde der gesamte Stationenzirkel in
HTML-Dateien erstellt, die auf einer CD vorliegen. Der unschätzbare Vorteil ist, dass —
sofern ein vernetzter Computerraum mit CDServer vorhanden ist — eine einzige CD genügt, so dass alle Schülerinnen und Schüler
auf die Materialien und Animationen zugreifen können.
2
Der Lernzirkel umfasst 21 Stationen, die in
vier Aufgabengruppen unterteilt sind, was einem unterrichtlichen Umfang von ca. 10–14
Stunden entspricht.
Lernen an Stationen in
der Sek. II:
Matrizenrechnung
Der Stationenzirkel „Matrizenrechnung“ ist für
den Mathematikunterricht in den Jahrgangsstufen 12 und 13 konzipiert. Das dort zu behandelnde Thema Matrizenrechnung ist bisher von den Schülerinnen und Schüler meistens eher als langweilig erlebt worden. Zudem verhinderte ein hoher Rechenaufwand,
der eine hohe Fehlerhäufigkeit beinhaltete,
die Untersuchung interessanter Anwendungen. Der erstellte Stationenzirkel dient der
selbstständigen und ganzheitlichen Erarbeitung dieses Themas.
Die Nutzung der neuen Technologien erfolgt
durch die Verwendung allgemeiner und fachspezifischer Computerprogramme wie des
Computeralgebrasystems LiveMath und des
Tabellenkalkulationsprogramms Excel. Günstig ist es, wenn den Schülerinnen und Schüler zudem ein computeralgebrafähiger Taschenrechner wie der TI-89 zur Verfügung
steht. Als Lernumgebung wurde ein gängi-
Die Unterrichtsreihe ist für ein Halbjahr der
Jahrgangsstufe 12 oder 13 als Einstieg in die
Lineare Algebra konzipiert. Sie eignet sich
auch zur Vermittlung eines Orientierungswissens zum Thema Lineare Algebra.
Lernvoraussetzungen der Lernenden sind
grundlegende Kenntnisse über geometrische
Abbildungen aus der Sekundarstufe I, der
Begriffe Matrix (rechteckiges Zahlenschema)
und Vektor (einspaltige Matrix) sowie die Fähigkeit und Fertigkeit, einen Internet-Browser
zu bedienen und ein Computeralgebrasystem (z.B. Derive oder TI-89) zu benutzen.
3
Beispielhafte Stationen
Auf dem Laufzettel (Abb. 1) bieten die ersten
sechs Stationen unterschiedliche Zugänge
zum Themenbereich „Einführung in die Matrizenrechnung“. In Station 2 werden in ei-
Abb. 2: Aufgabe zur Einführung der Matrizenmultiplikation
81
Henning Heske & Heinz Wesker
nem für Schülerinnen und Schüler verständlichen Anwendungszusammenhang die Matrix-Vektor-Multiplikation und die Matrizenmultiplikation als zweckmäßiges Bearbeitungsschema hergeleitet.
Im 1. Aufgabenteil geht es darum, die Menge
der einzelnen Bestandteile zu bestimmen,
die die Energy Company braucht, um die Bestellung der Firma Sport Mayer ausliefern zu
können, also um eine Matrix-Vektor-Multiplikation. Im 2. Aufgabenteil soll eine Tabelle erstellt werden, aus der ersichtlich wird,
wie viel Kilogramm der einzelnen Bestandteile für die Bestellungen der einzelnen Firmen
benötigt werden. Die Multiplikation zweier
Matrizen löst dieses Problem, dem im Nächsten eine weitere Systematisierung folgt.
Abb. 3: Lösung zur Aufgabe
rens kann erschlossen werden, wenn die
elementaren Zeilenumformungen mit einem
Computer-Algebra-System berechnet werden. Bei einer Bearbeitung dieser Station
ohne entsprechende Computer- bzw. Taschenrechnernutzung könnte der Rechenaufwand und die damit verbundene Fehleranfälligkeit den Blick auf den Algorithmus als solchen verstellen.
So werden in dieser ersten Gruppe von Stationen unterschiedliche Lerneingangskanäle
angesprochen, die den verschiedenen Aspekten des Matrixbegriffes Rechnung tragen.
Die Stationen zur „Codierung von Nachrichten“ und zum „Gaußschen Algorithmus“ bieten Gelegenheiten, weitergehende systematische Fragen zur Lösbarkeit von Gleichungssystemen oder Invertierbarkeit von Matrizen in den Blick zu
nehmen.
Mit Blick auf die Stationen des gesamten
Lernzirkels wird der
Aspekt unterschiedlicher Zugänge zum
Themenbereich Matrizenrechnung deutlich. Während die 2.
Gruppe (Nr. 7 bis 14)
die geometrische Wirkung der Matrizen in
den Mittelpunkt rückt,
wird in den Stationen
Nr. 15 bis 19 (grüne
Gruppe)
erarbeitet,
wie man mit (stochastischen) Matrizen Prozesse aus verschiedenen Bereichen (Gesellschaft, Ökologie)
simulieren kann.
In Station Nr. 10 kann
die Geometrie von
2x2-Matrizen mit Hilfe
eines
interaktiven
Plugins
(LiveMath)
systematisch erkundet werden. Die AusAbb. 4: Systematisierung Matrix-Vektor-Multiplikation und Matrizenmultiplikation
wirkung der Änderung
Andere Zugänge zur Matrizenrechnung bievon Koeffizienten der Matrix C kann unmitten die Stationen Nr. 5 und 6. Während bei
telbar beobachtet werden. Mögliche gedankder „Codierung von Nachrichten“ (Nr. 6) stärliche Fehler werden sofort visualisiert und
ker die Wirkung, hier die Ver- und Entschlüskönnen mit dem Partner analysiert werden.
selung von Informationen, im Mittelpunkt
In Station Nr. 17 wird der Prozess (Wandern
steht, knüpft die Station zum Gaußschen Alvon Kundenstämmen) als solcher in den Mitgorithmus an Vorwissen aus der Sekundartelpunkt gestellt, während es in der Station
stufe I an. Das Lösen von Gleichungssyste„Biesbosch“ (Nr. 15) stärker darum geht, den
men ist bekannt, die Systematik des Verfah(ökologischen) Prozess mathematisch an-
82
Stationenlernen mit neuen Medien im Mathematikunterricht der Sek. II
gemessen zu modellieren. Die Umweltbedingungen eines Biotops ändern sich, wodurch
sich ein anderes ökologisches Gleichgewicht
einpendelt, indem unterschiedliche Vegetationsformen ineinander übergehen. Solche
Anwendungssituationen führen unmittelbar
auf recht große Matrizen, die nur sinnvoll mit
einem Computer-Algebra-System, oder wie
in der Station eingebaut, mit dem LiveMathPlugin bearbeitet werden können, da die Potenzen recht großer Matrizen zu berechnen
sind.
Vernetzung der Begriffe zu visualisieren (s.
Abb. 7).
4
Erfahrungen und
Erkenntnisse
Durch die Möglichkeit, das Lerntempo weitgehend sowie die Lernmaterialien und den
Schwierigkeitsgrad
zumindest
teilweise
selbst zu bestimmen, wird die Unterrichtsmethode „Lernen an Stationen“ von den Schülerinnen und Schülern
sehr gut angenommen.
Die
Aufmerksamkeit
und die Bereitschaft
selbst zu lernen sind in
der Regel deutlich höher als im traditionellen
Unterricht. Durch die
Anwendungsorientierung der Aufgabenstellungen wird zudem ein
Bezug zur Lebenswirklichkeit der Lernenden
deutlich gemacht und
eine zusätzliche Motivation geschaffen, sich
mit Mathematik auseinAbb. 5: Interaktives Plugin LiveMath zur Geometrie von 2x2 Matrizen
ander zu setzen. Durch
die Organisation von
Stationen, die in Partner- oder in Gruppenarbeit zu bewältigen
sind, werden auch
Lernsituationen initiiert,
in denen gemeinsam
gelernt wird und eine
Interaktion
zwischen
Schülerinnen
und
Schülern über Mathematik stattfindet. Durch
die Möglichkeit und die
Notwendigkeit,
sich
selbst zu kontrollieren
und sich selbst für eine
Abb. 6: Bestimmung einer Übergangsmatrix aus einem Flussdiagramm
bestimmte Station zu
entscheiden, wird die
Mögliche systematische Vertiefungen zu dieVerantwortung
für
das
eigene Lernen und
ser Gruppe von Stationen können die Unterdas Bewusstsein über eigene Stärken und
suchung von Fixelementen linearer AbbilSchwächen deutlich erhöht.
dungen bzw. die Fixverteilung stochastischer
Prozesse sein.
Die verwendeten Medien (z.B. LiveMath-Animationen, Videosequenzen, Mathcad-GrafiDie beiden letzten Stationen des Zirkels
ken, Excel-Programm, Java-Applets, TI-89)
widmen sich dem Aspekt der Begriffsbildung.
dienen vor allem der Entlastung der SchüleIn der Aufgabe (Station Nr. 20) sollen vorgerinnen und Schüler von aufwendigen Rechgebene Begriffe aus der Matrizenrechnung
nungen durch die Benutzung eines Compuzu einer Mindmap strukturiert werden, um die
teralgebrasystems und der Visualisierung
83
Henning Heske & Heinz Wesker
Abb. 7: Mindmap zum Begriff Matrizenrechnung
von mathematischen Zusammenhängen. Die
Einbeziehung von sinnstiftenden Anwendungen wird größtenteils dadurch erst möglich.
Die Schwierigkeiten für einen häufigeren Unterrichtseinsatz des Stationenlernens lagen
in der äußerst aufwendigen Erstellung der
einzelnen Stationen und in dem organisatorischen Problem, einen geeigneten Raum in
der Schule für längere Zeit entsprechend
einzurichten. Durch unsere beiden kostenlos
zum Downloaden bereit stehende Stationenzirkel wird ein Einsatz im alltäglichen Mathematikunterricht praktikabel, da nur mit einer
CD und lediglich einem mit CD-Server ausgestatteten Computerraum ein entsprechender Unterricht organisierbar ist.
Lernen an Stationen ist eine Unterrichtsmethode für den Mathematikunterricht in der Sekundarstufe II, die es ermöglicht, die neuen
Medien „intelligent“ in den Unterricht zu integrieren. Sie fördert dabei nachhaltig das
selbstständige Arbeiten der Schülerinnen
und Schüler. Die Rolle der Lehrerinnen und
Lehrer wandelt sich vom Teaching zum Coaching, d. h. sie entwickelt sich hin zu einer
individuellen Lernberatung.
Literatur
Bauer, Roland (1997): Schülergerechtes Arbeiten
in der Sekundarstufe I: Lernen an Stationen.
Berlin: Cornelsen Scriptor
Gabriel, Ilona & Heske, Henning (2001): Tarifsysteme und Bogenbrücken. Stationenlernen mit
neuen Medien im Mathematikunterricht. In:
Computer + Unterricht 11, Heft 44, 16–19
Gabriel, Ilona, Heske, Henning & Teidelt, Markus
(2002): Einführung in die Matrizenrechung —
Selbstlernen durch Lernen an Stationen. In:
Amelung, U., Barzel, B. & Berntzen, D. (Hrsg.):
Neues Lernen — Neue Medien — Blick über
den Tellerrand. Münster: Zentrale Koordination
Lehrerausbildung (ZKL-Texte 19), 339–342
Heske, Henning (2001): Lernen an Stationen im
Mathematikunterricht. In: Der mathematische
und naturwissenschaftliche Unterricht 54, 398–
401
Hole, Volker (1998): Erfolgreicher Mathematikunterricht mit dem Computer. Methodische
und didaktische Grundfragen in der Sekundarstufe I. Donauwörth: Auer
Internetadressen
Den Stationenzirkel zu den Ganzrationalen Funktionen findet man unter:
www.learn-line.nrw.de/angebote/selma/foyer/projekte/dinslakenproj1/index.htm
Den Stationenzirkel zur Matrizenrechnung findet man unter:
www.learn-line.nrw.de/angebote/selma/foyer/projekte/dinslakenproj3/index.htm
Einige Pfade höher stehen alle Materialien dort auch gezippt zum Downloaden bereit.
84
z
Motivationsmöglichkeiten von
Lehr- und Lernprogrammen
Stefanie Krivsky, Wuppertal
Entwickelt wird ein Kriterienkatalog für Lehr- und Lernprogramme auf Basis der Lernvoraussetzungen und im Hinblick auf die Lernziele.
Am Beispiel MathePrisma werden Möglichkeiten zur Realisierung dieser Anforderungen
gezeigt.
1
Lernziele und
Lernvoraussetzungen
Lehr- und Lernprogramme sind geprägt von
den unterschiedlichen Lernzielen, die sie verfolgen, sowie den verschiedenen Lernvoraussetzungen, die die Autoren jeweils zu
Grunde legen.
Auf Grundlage verschiedener Lerntheorien
haben sich (nach Baumgartner 1994) vor allem drei Arten von Lernprogrammen entwickelt:
• Computer aided „drill and practice”-Programme,
• (Intelligente) Tutorensysteme,
• Simulationen, Mikrowelten.
Erstere beziehen ihren Ursprung aus dem
Behaviorismus. Sie gehen davon aus, dass
Wissen „angeeignet und gespeichert“ wird
und eine „korrekte Ein-/Ausgabe-Relation“
ist. Lernen bedeutet damit die „Bildung von
Reiz-Reaktions-Ketten“, was zum Ziel hat
jeweils „eine (einzige) richtige Antwort zu finden“. Damit ist der Ablauf dieser Programme
„starr vorgegeben“ und der Computer ein autoritärer Lehrer.
Abb. 1: Einflussfaktoren bei Lernprogrammen
Wie in Abb. 1 dargestellt, ist durch die Lernziele festgelegt, welche Kompetenzen zu vermitteln sind und somit die inhaltliche Richtung vorgegeben. Bei den Voraussetzungen
ist zum einen das Individuum „Mensch“ zu
berücksichtigen, welches die Methodik bedingt, nach der Lerninhalte zu vermitteln
sind. Zwar sind die methodischen Möglichkeiten durch die Technik bzw. durch das Medium Computer sicherlich (noch) eingeschränkt, dennoch bieten vor allem Interaktionen und Visualisierungen einen neuen Zugang zu insbesondere mathematischen Inhalten.
Nach dem Kognitivismus wird Wissen „verarbeitet und gespeichert“. Lernen bedeutet hier
„Aufbau kognitiver Strukturen“ und Lernziel
ist, „sich richtige Methoden zum Finden einer
Lösung anzueignen“. Für die Lernprogramme
bedeutet dies, dass sie „dynamisch und abhängig vom Lernmodell“ sind. Der Rechner
wird damit zum „helfenden und beobachtenden Tutor“.
Mit konstruktivistisch ausgelegten Lernprogrammen wird Wissen „konstruiert und gespeichert“ und bedeutet „mit einer Situation
geeignet umgehen können“. Lernen heißt also „Erwerb von Erfahrungen“, und das Lernziel heißt „komplexe Situationen bewältigen
können“. Der Ablauf solcher Lernprogramme
muss also vom Benutzer „selbst bestimmt
und autonom“ sein, denn der Computer gilt
als „kooperativer Berater“.
Da der Aufbau entsprechender Programme
damit recht stark vorgegeben ist und sich
diese Programme überwiegend an der Methodik und der Technik orientieren, werden
die Möglichkeiten, die sich für einzelne Inhalte bieten, nicht immer ausgeschöpft. Daher
85
Stefanie Krivsky
sollen im Folgenden, ausgehend von mathematischen Lernzielen, methodische und technische Notwendigkeiten zusammengetragen
und diese abschließend mit Forderungen aus
Lernbiologe und -psychologie begründet werden.
2
Das Modul
„Rekursive Folgen“
Das Modul „Rekursive Folgen“ beinhaltet Begriffs-, Regel- und Beweislernen, denn es
wird das in Abb. 2 dargestellte Begriffsnetz
zu Folgen erarbeitet, Bildungsgesetze von
arithmetischen und geometrischen Folgen,
der Folge der Quadratzahlen sowie der Folge
der Fibonacci-Zahlen behandelt, und das
Beweisprinzip der vollständige Induktion thematisiert.
•
Begriffsbildung wird mittels (interaktivem)
Begriffsnetz dargestellt.
•
Bildungsgesetze zu arithmetischen und
geometrischen Folgen können mittels
Aufgabengeneratoren trainiert werden.
•
Wachstumsprozesse von Sonnenblumen
werden simuliert und zeigen mathematische Strukturen in der Natur, und zwar
an einem besonders ansprechenden Beispiel.
2.1 Inhaltliche Konzeption im
Hinblick auf Technik
Der Folgenbegriff ist sehr facettenreich. Je
nach dem, welches Lernziel im Vordergrund
steht, werden der Aufzählungsaspekt, der
Funktionsaspekt, der rekursive oder iterative
Aspekt oder der Diskretisierungsaspekt hervorgehoben, wobei der
Aufzählungsaspekt der
intuitiven
Vorstellung
wohl
am
nächsten
kommt.
Wie in Weigand (1993)
beschrieben, bietet es
sich beispielsweise für
die
Einführung
des
Grenzwertbegriffs
an,
den Funktionscharakter
von Folgen zu betonen,
während im Zusammenhang mit Approximationen und Intervallschachtelungen der Diskretisierungsaspekt im Vordergrund steht. Im Hinblick
auf das Beweisverfahren
der vollständigen Induktion ist vor allem der rekursive Aspekt der Folgen von Bedeutung.
Ebenso kann zwischen
globalen, lokalen und
punktuellen Sichtweisen
unterschieden werden.
Wird die Folge als Objekt, Funktion oder ErAbb. 2: Begriffsnetz zu Folgen im Modul „Rekursive Folgen“
gebnis z. B. einer Intervallzerlegung aufgefasst,
Methodische und technische Vorteile des
spielt erstere eine zentrale Rolle. Die lokale
Computereinsatzes:
Sichtweise steht bei Betrachtungen von auf• Es werden Beispiele zu Folgen in
einanderfolgenden Folgengliedern im Mittelsymbolischer, graphischer und operatiopunkt wie bei der rekursiven Darstellung,
naler Form dargeboten.
während bei punktuellen Sichtweisen jeweils
genau ein Folgenglied von Bedeutung ist, al• Anwendungsbeispiele werden in interakso bei der expliziten Darstellung von Folgen.
tiver Form präsentiert (Türme von Hanoi,
Treppenstufen von Fibonacci).
86
Motivationsmöglichkeiten von Lehr- und Lernprogrammen
Schließlich lassen sich die vorgestellten
Aspekte mit dynamischen und statischen
Sichtweisen in Zusammenhang setzen. So
zeigt sich die statische Sichtweise im Diskretisierungs-, Gesamtheits- und punktuellen
Aspekt und die dynamische Sichtweise im
iterativen Aspekt und Aufzählungsaspekt.
Der funktionale und der lokale Aspekt lässt
sich hierbei beiden Kategorien zuordnen (vgl.
Weigand 1993).
Da der Reiz der technischen Möglichkeiten
von Computern sicherlich vor allem in Animationen und Interaktionen liegt, gilt es vor
allem den dynamischen Aspekt von Folgen
bzw. rekursiven Folgen bei der Begriffseinführung herauszuarbeiten. Da in dem Modul
zudem das Beweisverfahren der vollständigen Induktion vorgestellt werden soll, werden
Folgen über den rekursiven Aspekt eingeführt. Das Ziel des Moduls beschränkt sich
nicht nur auf die Vorstellung des Begriffs der
rekursiven Folge, sondern neben der rekursiven Darstellung wird auch die explizite Darstellung motiviert und das zugehörige Begriffsnetz (s. Abb. 2) und insbesondere der
Zusammenhang zwischen rekursiven Folgen
und vollständiger Induktion vermittelt.
Als Beispiele zu Folgen werden im wesentlichen arithmetische und geometrische Folgen
betrachtet, ferner aber auch periodische Folgen, die Summenfolge der natürlichen Zahlen und die der Quadratzahlen studiert.
Dabei ermöglichen insbesondere Aufgabengeneratoren ein Training im routinierten Umgang mit Folgen. Aufgaben, bei denen Handlungen simuliert werden, bieten sich im Zusammenhang mit den „Türmen von Hanoi“
und der Folge der Fibonacci-Zahlen an.
2.2 Inhaltliche Konzeption im
Hinblick auf Methodik
In der Einstiegsphase gilt es vor allem, den
Lernenden durch Simulationen Gelegenheit
zu geben, an ihre Vorkenntnisse anzuknüpfen und zu vorgelegten Problemstellungen eigene Ideen zu entwickeln. Da allgemein das
Fortsetzen von Zahlenfolgen aus Rätseln
oder Einstellungstests bekannt ist, bietet es
sich an, den Benutzer darüber an das Thema
heranzuführen. Gleichzeitig werden dabei im
Sinne des Prinzips der Variation der Veranschaulichung die wesentlichen Merkmale von
rekursiven Folgen herausgestellt. Die Folgen,
die der Lernende dabei fortzusetzen hat,
werden in Form von Zahlen, aber auch in
Form von Bildern dargeboten.
Motivationsmechanismen dieses Einstiegs
sind:
•
Die Aufgabenstellung ist von Rätseln und
Tests her bekannt und gibt ein Gefühl
der Vertrautheit.
•
Der Alltagsbezug und die Bedeutung des
Themas für den Alltag ist durch den Einstellungstest gewährleistet.
•
Ohne theoretischen Hintergrund können
die Aufgaben „intuitiv“ gelöst werden und
vermitteln erste Erfolgserlebnisse.
•
Ein Wechsel zwischen Zahlen und Bildern regt verschiedene Assoziationen
an, wobei Bilder besonders Lernende mit
„Abwehrhaltung“ gegenüber mathematischer Symbolik ansprechen.
Eingeführt wird der Folgenbegriff also über
den Aufzählungsaspekt, wobei es Aufgabe
des Lernenden ist, die Rekursionsvorschrift
dieser Folgen zu erkennen und anzuwenden.
Abb. 3: Beispielaufgabe aus dem Einstellungstest
In der dem Aufbau von Sach- und Fachkompetenz dienenden Erarbeitungsphase werden die einzelnen Begriffe formal definiert,
wobei der Rechner bzw. das Programm immer mehr die Aufgabe eines helfenden Tutors übernimmt. Im Modul werden zuerst die
Teilbegriffe „Startwert“ und „Rekursionsvorschrift“ vorgestellt, die eine rekursive Folge
kennzeichnen, bevor der Oberbegriff „Folge“
bzw. „rekursive Folge“ eingeführt wird. Zur
Veranschaulichung der Bedeutung der Teilbegriffe für das Prinzip der rekursiven Folgen
und im späteren auch für das Prinzip der vollständigen Induktion wird das „Dominoprinzip“
herangezogen.
Dazu wird das Umfallen von Dominosteinen
simuliert, d. h. der Benutzer startet durch Anklicken eines ersten Dominosteins eine Animation bei der „unendlich viele“ Dominosteine zum Umfallen gebracht werden. Die Parallele zwischen erstem Dominostein und
Startwert bzw. Kippmechanismus und Rekursionsvorschrift wird nochmals dadurch be-
87
Stefanie Krivsky
tont, dass ebenso durch Anklicken eines
Startwertes eine ähnliche Animation abläuft,
bei der jedes Folgenglied seinen Nachfolger
„erzeugt“.
Von der rekursiven Darstellung lässt sich
durch geeignete Fragen überleiten zur impliziten Darstellung, also auch der funktionale
Aspekt vermitteln. Die Frage nach einer Beweistechnik, mit der sich implizite in rekursive
Darstellungen transformieren lassen, motiviert das Prinzip der vollständigen Induktion.
Wie in Abb. 4 gezeigt, kann für die Einführung dieses Beweisverfahrens das Dominoprinzip erneut aufgegriffen werden.
ben an, bei denen rekursive Funktionsvorschriften in Bildern erkannt, Folgenglieder
berechnet sowie explizite und implizite Darstellungen bestimmt bzw. mittels vollständiger Induktion bewiesen werden sollen. Als
Transferaufgaben sind im Modul die Seiten
zu den „Türmen von Hanoi“ und den Fibonacci-Zahlen anzusehen, da hier das Rekursionsprinzip auf Handlungsabläufe übertragen wird und die Rekursionsvorschrift operational durchdacht wird.
Die „Türme von Hanoi“ stellen dabei eines
der bekanntesten Beispiele zum Rekursionsprinzip dar: Ein aus verschieden großen
Scheiben zusammengesetzter Turm soll so abund an einem anderen
Platz aufgebaut werden,
dass nie eine kleinere
Scheibe unter einer größeren liegt, wobei ein
dritter Platz als Zwischenablage zur Verfügung steht. Es ist Aufgabe des Lernenden zu
erkennen, dass das Problem für einen Turm mit
n Scheiben dadurch rekursiv gelöst werden
kann, dass man den
Turm mit n–1 Scheiben
auf die Zwischenposition
schiebt,
die
größte
Abb. 4: Beispiel zum Beweisprinzip der vollständigen Induktion
Scheibe umlegt und den
Turm auf dieser aufbaut.
Die Zusammenhänge zwischen den einzelIn dem Modul wird dazu nach der minimalen
nen Begriffen werden in einem Zusatzfenster
Anzahl der benötigten Umlegungen von
dargestellt, das bei jeder Begriffsdefinition
Scheiben gefragt, also für den Aufwand die
aufgerufen werden kann. In diesem Fenster
rekursive Folge
wird das in Abb. 2 dargestellte Netz mit etF(n)=2F(n–1)+1 mit F(1)=1 erarbeitet.
was veränderter Symbolik entwickelt, und
Die Folge der Fibonacci-Zahlen ist die Anthilft so bei der Einordnung eines neuen Bewort auf die Frage nach der Anzahl der Möggriffs und stellt gleichzeitig noch einmal eine
lichkeiten eine Treppe hinaufzusteigen, wenn
Wiederholung der bereits bekannten Begriffe
die erste Stufe betreten werden muss, und
dar, wobei durch Anklicken eines Begriffs die
dann auf die jeweils nächste oder übernächsentsprechende Seite (im Hauptfenster) ante gewechselt werden kann. Diese berechgezeigt werden kann.
nen sich nach dem Bildungsgesetz der Folge
Am Ende der Erarbeitungphase gilt es, die
der Fibonacci-Zahlen
Folgen aus dem Eingangstest zu definieren
F(1)=F(2)=1 und F(n)=F(n–1)+F(n–2).
und den Test somit auch aufzulösen.
Der letzten Phase, der Ergebnissicherung,
dienen im Modul sicherlich die Trainingsaufgaben zu geometrischen und arithmetischen
Folgen. Verschiedene Berechnungsmethoden können dazu an mit Zufallsgeneratoren
erzeugten Aufgaben erarbeitet und trainiert
werden. Auch das Arbeitsblatt bietet Aufga-
88
Die Zusammenhänge zwischen FibonacciZahlen, expliziter Darstellung und goldenem
Schnitt lassen sich eindrucksvoll am Beispiel
der Spiralen bei Sonnenblumenkernen vorführen und mit Hilfe der vollständigen Induktion bzw. Kettenbrüchen zeigen.
Motivationsmöglichkeiten von Lehr- und Lernprogrammen
In Abb. 6 werden durch das Prägnanzgesetz
die mittleren „Formen“ zu einer „Figur“ zusammengesetzt und als Buchstabe „B“
wahrgenommen. Je nach Kontext wird die
gleiche Figur auch als „13“ interpretiert.
Bei Lernenden hat sich im Zusammenhang
mit dem Modul „Rekursive Folgen“ gezeigt,
dass die Bildungsgesetze der grafischen
Darstellung in der Aufgabe aus Abb. 3 zunächst nur schwer erkannt werden. Erst anhand der Zahlenfolge werden die Gesetzmäßigkeiten wahrgenommen und dann auch an
der Grafik erkannt.
Abb. 5: Simulation von Wachstumsprozessen von Sonnenblumenkernen
3
Beobachtungen aus der
Lernbiologie und
Lernpsychologie
Abschließend soll grob skizziert werden, welche Prozesse beim Lernen im Gehirn ablaufen, und anhand ausgewählter Beispiele erläutert werden, wie sich hier gewonnene Erkenntnisse für Lernprozesse nutzen lassen.
In der ersten Phase der Wahrnehmung werden Informationen als Reize über die verschiedenen Sinnesorgane aufgenommen, als
Töne, Muster, Farben erkannt, nach einer
semantischen Analyse bewertet und gefiltert.
Nicht nur bei der Gestaltung des Layouts von
Lernprogrammen, sondern auch bei der Darstellung von Lerninhalten gilt es zu beachten,
dass dabei folgende Gesetzmäßigkeiten gelten (vgl. Banyard 1995, Vollrath 2001):
• Wahrnehmung erfolgt
und nicht isoliert.
kontextbezogen
• Gestalten höherer Prägnanz werden bevorzugt.
• Von konkurrierenden Wahrnehmungen
wird nur eine bewusst wahrgenommen.
• Veränderungen werden gemäß der Hysteresekurve erkannt, d. h. erst bei Überwindung eines Schwellwertes werden diese
bewusst.
Als das Gesetz von der guten Gestalt wird
das Prägnanzgesetz bezeichnet, welches
sich darin äußert, dass der Mensch den
Drang verspürt „schlechte Gestalten“ in „gute“ zu überführen, d. h. in Gestalten, die
durch Gesetzmäßigkeiten, Einfachheit, Geschlossenheit, Symmetrie gekennzeichnet
sind (vgl. Vollrath 2001).
Abb. 6: Die mittlere Figur wird je nach Kontext als „B“
oder als „13“ interpretiert (siehe Spektrum der Wissenschaft 2002).
Jede Wahrnehmung wird bewertet und mit
einem Gefühl wie Freude oder Angst verknüpft. Wird dabei beispielsweise der Fluchtinstinkt ausgelöst, können die Denkprozesse,
die automatische Reaktionen behindern, unterdrückt werden. Da jedes Lebewesen von
Natur aus auf neue Gegenstände oder Situationen zunächst mit Abwehr bzw. Flucht reagiert, bedeutet dies, dass auch bei neuen
Lerninhalten das „rationale Denken“ zunächst eher blockiert wird (vgl. z. B. Vester
1997).
So sollten Lernenden bereits in der Einstiegsphase Erfolgserlebnisse ermöglicht
werden, da positive Erlebnisse besonders
gut verarbeitet werden. Dazu zählen auch
sogenannte „Aha-Erlebnisse“ wie auch das
Wiedererkennen von vertrauten Erinnerungen. Die Erarbeitung von neuem Lehrstoff
fällt entsprechend leichter, wenn an Bekanntes angeknüpft wird und die Angst vor Fremdem durch Neugier kompensiert wird.
Der Einsatz des Moduls in Testreihen zeigt,
dass durch das Eingangsrätsel die Hemmschwelle gegenüber Mathematik deutlich gesenkt und das selbstständige Erarbeiten von
Themen gefördert wird.
Die Informationen, die als wichtig bzw. als
neu eingestuft werden, gelangen in die bewusste Wahrnehmung, welche auch als selektive Wahrnehmung bzw. Aufmerksamkeit
bezeichnet wird. Aufmerksamkeit ist eine
89
Stefanie Krivsky
•
Neue Informationen oder Reaktionen,
•
Nichteintreffen erwarteter Reize,
•
Erwarten von Urteilen,
Je mehr Regionen an der Verarbeitung bestimmter Informationen beteiligt sind, desto
besser lassen sich diese wieder abrufen. So
hat sich gezeigt, dass die Reproduktion von
Informationen bei einer vielseitigen Verarbeitung deutlich verbessert werden kann (vgl.
beispielsweise Janotta 1990):
•
Überwindung von Gewohnheiten.
• Hören 20%,
Grundvoraussetzung für Lernprozesse und
lässt sich provozieren durch (vgl. Birbaumer
& Schmidt 1999):
Entsprechend sind bei Lernprozessen geeignete Reize und Motivationsmittel einzusetzen, um die Aufmerksamkeit der Lernenden
auch über längere Zeiträume hindurch zu erhalten. Auf wichtige Informationen kann sie
beispielsweise durch Fragen oder Überraschungseffekte gelenkt werden.
In diesem Sinne hat sich die Kombination
aus Präsentation von Sachverhalten und
Fragen bzw. Experimenten als sehr konzentrationsfördernd erwiesen. So hat sich beispielsweise gezeigt, dass sich insbesondere
bei einem Schüler mit ADS-Syndrom die
Lerngeschwindigkeit deutlich steigern ließ
und er erstmals nicht nur von der Geschwindigkeit, sondern auch vom Lernerfolg her im
Vergleich mit seinen Mitschülern sehr gute
Leistungen erbrachte.
Aus Sicht der Lernbiologie umfasst das Denken mentale, bewusst ablaufende Prozesse
wie logisches Denken und Problemlösen
oder das Einordnen und Bewerten vom Situationen und Ereignissen. Wie mittels PETAufnahmen nachgewiesen werden kann (vgl.
z. B. Birbaumer & Schmidt 1999) spezialisieren sich unterschiedliche Gehirnregionen auf
die Verarbeitung unterschiedlicher Informationen (z. B. bzgl. verschiedener Sinnesorgane, verschiedener Merkmale von Informationen und auch umfangreicherer Szenarien,
bzgl. unterschiedlicher Bewertungssysteme,
u. v. m). Wird neuer Stoff dabei in Bezug zu
bereits vorhandenem Wissen gesetzt, so fällt
das Verarbeiten bzw. Einordnen leichter.
Entsprechend sollte bei umfangreicheren
Lerngebieten zunächst ein Wissensgerüst
aufgebaut und dieses erst danach mit Details
gefüllt werden. Schließlich gilt es, die Beziehungshaltigkeit von Informationen darzustellen, da ein dichtes Wissensnetz einerseits
Erfolgserlebnisse, andererseits aber auch ein
vielseitiges Kombinieren und kreatives Verarbeiten des Wissens ermöglicht.
Untersuchungen (vgl. z.B. Spitzer 1996) haben ergeben, dass nach Ausfällen einzelner
Bereiche — beispielsweise infolge einer Gehirnoperation — die Verarbeitungen teilweise
von anderen Arealen übernommen werden.
Ebenso widmen sich Regionen nach dem
Ausbleiben von Reizen anderen Aufgaben.
90
• Sehen 30%,
• Hören und Sehen 50%,
• Anwenden und Erfahren 70%.
Lernprogramme sollten vor diesem Hintergrund besonderen Wert auf eine sehr vielseitige Darstellung von Lerninhalten Wert legen,
so dass Informationen intensiver verarbeitet
werden und vielfältigere Assoziationen entstehen können.
Literatur
Banyard, P. (1995): Einführung in die Kognitionspsychologie. München & Basel: UTB
Baumgartner, P. & Payr, S. (1994): Lernen mit
Software. Digitales Lernen Bd. 1. Innsbruck:
Österr. Studien-Verlag
Birbaumer, N. & Schmidt, R. F. (1999): Biologische Psychologie. 4. Aufl. Berlin, Heidelberg &
New York: Springer
Janotta, H. (1990): Computer based training in der
Praxis. Landsberg/Lech: verlag moderne industri
Spitzer, M. (1996): Geist im Netz — Modelle für
Lernen, Denken und Handeln. Heidelberg,
Berlin & Oxford: Spektrum
Vester, F. (1997): Denken, Lernen, Vergessen.
24. Aufl. München: dtv
Vollrath, H.-J. (2001): Grundlagen des Mathematikunterrichts in der Sekundarstufe. Heidelberg
& Berlin: Spektrum
Weigand, H.-G. (1993): Zur Didaktik des Folgenbegriffs. Mannheim, Wien & Zürich: BI-Wissenschaftsverlag
Spektrum der Wissenschaft Magazin. Gehirn und
Geist, Magazin für Hirnforschung und Psychologie Vol. 1. Spektrum der Wissenschaft. Heidelberg 2002
z
Begriffsbildung im Mathematikunterricht
Anselm Lambert, Saarbrücken
Begriffsbildung ist ein allgemein anerkannter und wesentlicher Gegenstand des Mathematikunterrichts. Damit ist es unstrittige Aufgabe der im Unterricht eingesetzten Neuen
Medien, speziell auch der Lehr- und Lernprogramme, jene zu unterstützen.
Begriffsbildung findet durch den Einsatz Neuer Medien offensichtlich in einer anderen
Lernumgebung als bisher statt. Eine Frage, die nun zu stellen ist, um die dadurch bedingten eingetretenen bzw. notwendigen Veränderungen zu untersuchen, ist die danach, was
denn Begriffsbildung sei.
Begriffe und Begriffsbildung sind auf einer ersten Ebene unter ontogenetischen und kulturhistorischen Aspekten zu betrachten und enthalten auf einer zweiten Ebene von der
kognitiven, epistemologischen oder soziokulturellen Wissensstruktur abhängige Komponenten. Diese beiden Ebenen sind miteinander verwoben. Die Fachdidaktik bedient sich
nun der geeigneten Hilfswissenschaften, von der Psychologie über Pädagogik, Philosophie und Soziologie bis hin zur Geschichte, um ein ganzes Bild von Begriffsbildung in
Mathematik und Mathematikunterricht zu erhalten (siehe Abb. 2).
Das hier vorgestellte theoretische Modell von Begriffsbildung ist deskriptiv in dem Sinne,
dass es die vorhandenen Sichtweisen strukturiert, und normativ, da es auffordert die genannten Aspekte alle zu berücksichtigen. Es eignet sich für praktische Unterrichtsplanung, -beobachtung und -bewertung durch Lehrkräfte und bietet sich an als Basis für
weitere systematische empirische Untersuchungen.
Von der im Modell beschriebenen Struktur des ontogenetischen Aspektes des Begriffes
„Begriffsbildung“ geführt, tragen wir aus den Befunden empirischer Mathematikdidaktik
schließlich ein begründetes systematisches Modell von Zugängen zur Mathematik zusammen, die für die Begriffsbildung im Mathematikunterricht eine entscheidende Rolle
spielen.
1
Der Begriff
„Begriffsbildung“ in der
didaktischen Literatur
Über Mathematik im allgemeinen und Begriff im besonderen wurde schon nachgedacht, bevor es die Fachwissenschaft „Didaktik der Mathematik“ gab. So wie wir aus
der Geschichte der Mathematik im Rahmen
eines genetischen Unterrichts wertvolle Anregungen für das Machen und Darstellen
von Mathematik, also für den Prozess und
das Produkt Mathematik erhalten können,
so liefern uns die Vordenker des Nachdenkens über Mathematik auch heute noch
zwar nicht empirisch messend abgesicherte, aber dennoch unverzichtbare wichtige
Impulse und Erkenntnisse. Beginnen wir also mit einem Klassiker.
1.1 Ein klassischer Anfang:
Gottlob Frege
Das Wort Begriff wird verschieden gebraucht, teils in einem psychologischen,
teils in einem logischen Sinn, teils auch in
einer unklaren Mischung aus beiden.
(Frege 1892, 64)
Gleich zu Beginn wird hier von dem „Wort“
Begriff gesprochen, das „gebraucht“ wird.
Frege beschreibt hier (zumindest implizit),
dass der Gebrauch eines Wortes seine Bedeutung ist. Ein Wort, als Zeichen für einen
Begriff, ist nicht notwendigerweise der Repräsentant eines Dinges. Sprache ist also
nicht wie beim jungen Wittgenstein Abbild
der Wirklichkeit, sondern wie beim späten
Wittgenstein gilt, dass der Gebrauch eines
Wortes in einer Sprache seine Bedeutung
ist. Dies gilt auch für die Zeichen der Sprache „Mathematik“. Begriffe verbergen sich
hinter den gebrauchten Zeichen. Wir unterscheiden, wenn nötig, das Zeichen (also
das Begriffswort, den Begriffsnamen oder
Bezeichner) von dem Begriff, der durch
Begriffsinhalt und/oder --umfang gegeben
ist. Und davon weiter die Relation von Bezeichner und Begriff. Betrachten wir den
Begriff als gegeben und ordnen ihm seinen
Bezeichner zu, so nennen wir dies Be-
91
Anselm Lambert
zeichnung (oder Ausdruck); umgekehrt ist
der Begriff die Bedeutung des Bezeichners:
des Algebraunterrichts heraus. (Vollrath
1994, 253)
Bezeichnung: Begriff a Bezeichner
Hier beschreibt Vollrath den ontogenetischen Aspekt von Begriffsbildung (Hischer
1996, 9). Lesen wir dies exemplarisch, erhalten wir als Verallgemeinerung auf alle
Gebiete der Mathematik sinngemäß: Die
Begriffe bilden sich im Mathematikunterricht
heraus. Der Lernende erwirbt (oder konstruiert — je nach Begriffsbildung in der diese beschreibenden Lehr-Lern-Theorie) —
im Laufe des Unterrichts Begriffe. Aber was
heißt „im Unterricht herausbilden“? Wie
kommt ein Begriff in eine Unterrichtssituation? Was ist eigentlich ein zu beobachtender Begriff im Unterricht? Wie können wir
ihn beobachten und erkennen, ob er erworben (oder konstruiert) wurde? Dazu werden
wir in Bälde das epistemologische Dreieck
heranziehen.
Bedeutung: Bezeichner a Begriff
Frege stellt in dem oben angeführten Zitat
zwei Aspekte von Begriffsbildung heraus:
einen psychologischen Aspekt auf der einen und einen logischen, das heißt zeitgenössisch: einen philosophischen Aspekt,
auf einer anderen Seite, die sich in seinen
Augen in diesem Spannungsverhältnis —
oft in (unerwünschter) Unklarheit — vermischen.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es zu zeigen, dass wir bei den Begriffen „Begriff“
und „Begriffsbildung“ neben den beiden von
Frege angeführten noch einige weitere
Aspekte zu betrachten haben, und davon
zu überzeugen, dass wir durch diese Vielgesichtigkeit eher (die erwünschte) Klarheit
erlangen.
Unsere Aufgabe ist es also, den vielfältigen
Gebrauch des Wortes „Begriff“ oder auch
des Wortes „Begriffsbildung“ aufzuspüren.
Die in der Literatur gefundenen Sichtweisen
werden dann im zweiten Abschnitt in ein
systematisierendes Modell zusammen gefasst. Dann sehen wir weiter.
1.2 „Begriffsbildung“ in der
aktuellen
didaktischen Literatur
Wir wollen im nun Folgenden aus der originär fachdidaktischen und weiterer, der
Fachdidaktik nützlichen und von der Fachdidaktik zu nutzenden Literatur zusammentragen, in Verbindung setzen und strukturieren, was wir dort zur Begriffsbildung finden
können.
Begriffsbildung im Unterricht; ein fachdidaktischer Einstieg.
Allen, die sich für das Thema „Begriffsbildung“ interessieren, würden wir für einen
Einstieg in der Regel gewiss eines der Bücher von Hans-Joachim Vollrath empfehlen.
Das ist meist das erste, was einem, mir und
den von mir befragten Didaktikern zumindest, zu „Didaktik der Mathematik und Begriffsbildung“ einfällt: „Schauen Sie doch
mal in den Vollrath!“ (insbesondere Vollrath
1984). Schauen wir also mal:
Der Zahlbegriff, der Verknüpfungsbegriff,
die Begriffe Term und Gleichung, sowie
der Funktionsbegriff bilden sich im Laufe
92
Vollrath fährt fort:
Diese Begriffsbildungsprozesse spiegeln
bis zu einem gewissen Grade die historische Entwicklung wieder. (Vollrath 1994,
253)
Hier beschreibt Vollrath den kulturhistorischen Aspekt von Begriffsbildung (Hischer
1996, 9). Auch Uwe-Peter Tietze fährt auf
diesen beiden Schienen. Er unterscheidet
Begriffsbildung (a) als Entstehung und
Fortentwicklung eines Begriffs im historischen Rahmen der mathematischen Wissenschaft, (b) als Entstehen eines Begriffs im Kopf eines Schülers [...], (Tietze
u. a. 2000, 56)
und ergänzt
[...] (c) als Handlungsabsicht des Lehrers
im Unterricht. (Tietze u. a. 2000, 56)
Der Begriff kann also nach dieser Vorstellung auch von der Lehrkraft vorgebildet
werden, ohne dass er von den Lernenden
nachgebildet (erworben oder konstruiert)
wird! Es gibt eine Handlungsweise der
Lehrkraft, die einen Begriff in den Raum zu
stellen vermag, der dort von den Lernenden
abgeholt wird oder aber auch nicht.
Zurück zu Vollrath:
Die Lernenden können sich dieser Begriffsentwicklungen in reflektierenden
Phasen des Unterrichts bewusst werden.
(Vollrath 1994, 253)
Welcher Begriffsentwicklungen? Das ist
nun etwas schwieriger zu verstehen. Meint
Vollrath den kulturhistorischen Aspekt? Dafür spricht — entlang „der Gebrauch eines
Wortes ist seine Bedeutung“ — das in beiden Sätzen gebrauchte Wort „Entwicklung“.
So orientieren sich etwa auch Roland Fi-
Begriffsbildung im Mathematikunterricht
scher und Günther Malle bei „Begriffsentwicklung“ an der Geschichte der Mathematik (Fischer & Malle 1985, 150ff). Oder
meinen sie (auch) den ontogenetischen
Aspekt? Sinn macht beides.
Beides könnte und wird bildungsbedeutsam sein [...]. (Hischer 1996, 9)
„Bildungsbedeutsam“ unter der Perspektive
sowohl der Allgemeinbildung als auch der
Begriffsbildung. Für unseren Mathematikunterricht heißt das, dass Begriffsbildung unter den beiden Aspekten (ontogenetisch
und kulturhistorisch) sowohl impliziter als
auch expliziter Unterrichtsinhalt sein kann
und soll.
Die Lernenden sollten im Mathematikunterricht über die in ihnen stattfindende Begriffsbildung genauso reflektieren und sich
genauso dazu äußern können, auch in
schriftlicher Form, wie zu der kulturhistorischen Begriffsbildung (die ihnen in inhaltlichen Zusammenhängen gegenüber treten
sollte). „Äußern können“ heißt hier: wir sollten den Erwerb dieser Fähigkeit zur Reflexion fordern und fördern und im Unterricht
die Zeit und den Raum und damit die Gelegenheit zur Muße dazu zur Verfügung stellen.
In einem ersten Schritt kann dies, wie von
Wilfried Herget (in der Tradition von Wagenschein) vielerorts propagiert, in Form
von Aufsätzen über Inhalte des Mathematikunterrichts geschehen. Einerseits in „etwas anderen Aufgaben“ mit authentischem
Bezug zur Wirklichkeit: an Hand von Zeitungsausschnitten mit fragwürdigen (d. h.
des (Nach-) Fragens würdigen) mathematischen Argumentationen. Andererseits mit
authentischem innermathematischem Bezug, etwa in Beantwortung der Fragen „was
ist eine negative Zahl?“ oder „wozu brauchen wir negative Zahlen?“ — wie von Günter Schmidt (Stromberg) erfolgreich im Unterricht verwirklicht, in sinnvoller Ergänzung
zum Rechnen mit negativen Zahlen. Nebenbei: solche Aufsätze ersetzen nicht
Rechnen durch Schreiben, sondern betten
Rechnen sinnhaft ein; hier wird Unterrichtszeit nicht für vermeintlich Unmathematisches geopfert, sondern vielversprechend
investiert.
Es ist ein kleiner zweiter Schritt, auch zur
Begriffsbildung selbst als Thema vorzustoßen, einerseits die Stärken (und Schwächen) der Sprache Mathematik zu diskutieren, andererseits die Fragen „Wie ich lernte, was eine negative Zahl ist!“ (ontogenetischer Aspekt) oder „Wie die negativen Zahlen in die Mathematik kamen!“ (kulturhistori-
scher Aspekt) oder beides anzugehen. Wie
wir reflektierende, nachdenkliche Fragen,
die im Laufe des Unterrichts dann zu eigenen Fragen der Lernenden werden sollten
und könnten, weiter systematisch ausdifferenzieren können, finden wir von Susanne
Prediger begründet und exemplarisch an
der Exponentialfunktion vorgeführt in (Prediger 2002). Sie klammert dort allerdings
den kulturhistorischen Aspekt aus.
Es gibt
[...] immer wieder Bemühungen, die
Schüler zum Schreiben über Mathematik
zu bringen. Wer wie Gallin und Ruf einen
Weg findet, dass sie [...] aufschreiben,
welche Fragen sie besonders berührt,
welche Ergebnisse sie beeindruckt haben, welche Erfahrungen für sie aber
vielleicht auch schmerzhaft waren, kann
ihnen helfen eine persönliche Beziehung
zur Mathematik zu gewinnen und wird
dabei selbst eine neue Dimension des
Mathematikunterrichts kennen lernen.
(Vollrath 2001, 151)
Reflektierende mathematische Aufsätze
(auch über Aspekte der Begriffsbildung),
gerade auch in Alltagssprache, sind darüber hinaus ein wertvoller Beitrag zum
selbstgesteuerten Lernen, das notwendige
Bedingung eigenständigen lebenslangen
Lernens ist.
Es ist unbestreitbar, dass die Tätigkeit
des umgangssprachlichen Kommentierens und Analysierens mathematischer
Aktivitäten zur Förderung des Verständnisses und zum Aufbau einer größeren
mathematischen Kompetenz beiträgt. In
diesem Sinne sind die Aufforderungen
von Herget zu unterstützen, häufiger mathematische Aufsätze schreiben zu lassen. (Kaune 2001, 38)
Gerade dann, wenn über die Inhaltsebene
hinaus auch auf metakognitive Fragen danach, welche Ideen zu einem Begriff geführt haben, Antworten gesucht werden, um
die metakognitive Kompetenz der Schüler
zu verstärken (vgl. Kaune 2001, 39): Mathematische Aufsätze!
Zurück zu Vollrath:
Man sollte versuchen, ihnen den Eindruck zu vermitteln, dass diese Begriffsentwicklungen nicht abgeschlossen sind.
(Vollrath 1994, 253)
Wir wollen es wieder für beide oben herausgelesenen Aspekte behaupten: Sowohl
die ontogenetische als auch die kulturhistorische Begriffsbildung sind nie abgeschlossen. Jeder kann sich individuell weiterentwickeln; niemand kann wissen, wie sich die
93
Anselm Lambert
Mathematik in den nächsten 100 Jahren
entwickeln wird.
aus bilden die Interaktionen den Begriff (radikal: die Interaktion ist der Begriff).
Der Eindruck kann implizit vermittelt werden, in obigem Beispiel (zum Zahlbegriff)
durch den weiteren Ausbau des Zahlensystems: die Lernenden lernen auch noch irrationale Zahlen kennen. Besser aber wird er
explizit reflektiert. Es kann im Unterricht
nachgezeichnet werden, wie Menschen
durch den Auf- und Ausbau von Begriffen in
Begriffssystemen sich die Möglichkeit gaben, die Phänomene in der Welt zu ordnen
(s. u.), und wie der Erwerb dieser Begriffe
und darüber hinaus der Fähigkeit zu reflektierender Begriffsbildung auch den Lernenden diese Möglichkeit schenkt.
Es ist also von der Natur des Wissens
her erforderlich, sowohl den formalen
Kalkül, als auch die ausgezeichneten Anwendungen, und die Beziehung beider
Ebenen im Unterricht zu vermitteln.
(Bromme & Steinbring 1990, 162)
Das epistemologische Dreieck
Bei Vollrath heißt es sinngemäß: „Die Begriffe bilden sich heraus“ (s. o.). Dazu kommen wir nun zurück. Aus der Sprachwissenschaft haben Rainer Bromme und Heinz
Steinbring für die Didaktik der Mathematik
das dort bewährte Werkzeug des epistemologischen Dreiecks übernommen. Wenn
man Mathematik als Sprache zu lesen und
zu sprechen bereit ist, ist dies durchaus naheliegend.
Begriff
Objekt
Wir haben auf unserer Suche nun auch das
Wort (das Zeichen) „epistemologisch“ im
Zusammenspiel mit dem Wort (dem Zeichen) „Begriff“ gefunden. Schauen wir uns
nun jenes Wort und seinen Gebrauch in der
Literatur an, stellen wir fest: „epistemologisch“ bedeutet „erkenntnistheoretisch“,
und zwar bezüglich subjektiver oder aber
auch intersubjektiver Erkenntnis. Ein solcher Doppelgebrauch kann leicht zu Missverständnissen führen, da hier ein Bezeichner für zwei verschiedene, wenn auch nicht
disjunkte Begriffe steht. Uns weist er allerdings auf den epistemologischen Doppelaspekt von Begriffsbildung hin, der sowohl
unter ontogenetische als auch kulturhistorische Begriffsbildung fällt.
Begriffsschriften und Begriffssprache
Symbol
Mit dem epistemologischen Dreieck setzen
wir Objekt (oder Ding), Zeichen und Begriff
in Beziehung. Statt „Zeichen“ finden wir in
der Didaktik der Mathematik dann auch den
Bezeichner „Symbol“. Mit diesem Modell
gehen wir
[...] davon aus, daß nur die Zeichen- und
die Gegenstands-Ebene der Beobachtung zugänglich sind, während sich die
Begriffsebene nur indirekt beobachten
lässt [...]. (Seeger 1990, 139)
Der Begriff ist in diesem Modell das stattfindende und zu beobachtende Zusammenspiel von Objekt und Zeichen. Der
Begriff
konstituiert sich somit in einem relationalen Gefüge von Objekt(en) (Anwendungskontext), Symbol (Struktur) und Begriffsinhalt. (Bromme & Steinbring 1990, 160)
Dies werden wir gleich noch etwas vertiefen, wenn wir „Begriffssprache“ und damit
auch die Zeichen näher betrachten. Eins
noch: Vom platonistischen Standpunkt aus,
der die mathematischen Ideen als gegeben
glaubt, stellt der Begriff diese Interaktion
her, vom konstruktivistischen Standpunkt
94
Hierin ist eine geeignete begriffsbildende
Handlungsabsicht (vgl. Tietze oben) der
Lehrkraft zu suchen und zu finden.
Die Idee, eine Schrift zu entwickeln, die Begriffe verarbeitbar macht, ist alt. Sie findet
sich bereits im 13. Jahrhundert bei dem katalanischen Philosophen Raimundus Lullus1. Auch Gottfried Wilhelm Leibniz, der
Erfinder des Binärsystems, hat darüber
nachgedacht. Beginnen wir aber auch hier
wieder mit unserem Klassiker, mit Frege:
In den abstrakteren Teilen der Wissenschaft macht sich immer aufs Neue der
Mangel eines Mittels fühlbar, Missverständnisse bei anderen und im eigenen
Denken zu vermeiden. Beide haben ihre
Ursache in der Unvollkommenheit der
Sprache. [...] Wenn wir aber das Zeichen
einer Vorstellung hervorbringen, [...] so
schaffen wir einen festen Mittelpunkt, um
den sich Vorstellungen sammeln. Von
diesen wählen wir nun wieder eine aus,
um ihr Zeichen hervorzubringen. So dringen wir Schritt für Schritt in die Welt unserer Vorstellungen ein und bewegen uns
darin nach belieben [...]. (Frege 1882,
89f)
Wichtig ist für Frege also bei einer Begriffssprache und den in dieser verwendeten
Zeichen die Unmissverständlichkeit. Haben
wir geeignete Zeichen an der Hand, bei de1 Für diesen Hinweis danke ich Hans Schupp.
Begriffsbildung im Mathematikunterricht
nen Darstellung und Vorstellung (möglichst)
eineindeutig verbunden sind, können wir
diese zur weiteren Begriffsbildung nutzen.
Dieser Prozess setzt sich iterativ fort und
führt über die Konstruktion von Zeichenhierarchien zur Konstruktion von Begriffshierarchien. Diese Vorstellung von Begriffshierarchien hat Parallelen in der Lernpsychologie nach Ausubel, der Begriffe in Begriffshierarchien gespeichert denkt (vgl. etwa
Straka & Macke 1979, Lehrtext 7; in seiner
Sprache sagen wir hier gerade, dass es eine korrelative Subsumtion zwischen unserer und seiner Vorstellung von Begriffshierarchien gibt.)
Beispiele für Zeichen sind die Symbole unserer mathematischen Formelsprache (etwa mit der uns als Kalkül dienenden Struktur „Körperaxiome“), aber auch die Objekte
unserer Geometrie (etwa mit „Konstruktion
mit Zirkel und Lineal“), die von den alten
Griechen in den Sand gezeichnet und von
uns durch die Neuen Medien zu dynamischem Leben erweckt wurden. Und nicht
zuletzt natürlich die Worte unserer gesprochenen Sprache.
Darstellung und Vorstellung
Zeichen sind immer nur Darstellungen von
Vorstellungen. Die Darstellung, etwa eines
Dreiecks, mit Bleistift auf Papier oder mit
Kreide an die Tafel oder mit Maus in den
Bildschirm gezeichnet, ist nicht gleichzusetzen mit der mathematischen Vorstellung,
die wir uns davon machen. Sie ist immer
nur eine Abbildung unserer Vorstellung in
die Wirklichkeit. Das Zeichen „Dreieck“
kann in weitere Begriffsbildungen eingebracht werden, wenn die Lernenden von ihrer Zeichnung so weit zu einem Zeichen zu
abstrahieren in der Lage sind, dass sie darin die ideale Vorstellung eines Dreiecks sehen.
Betrachten wir das Beispiel in Abb. 1, das
wir (Vollrath 2001, 86) entnehmen, wo es
zur Illustration gestaltpsychologischer Zugänge zur Beweisfindung, als Suche nach
der guten Gestalt, verwendet wird.
In unseren Formelzeichen sieht es so aus:
A=
g
gh
h
h=
=g
2
2
2
Wir sehen hier verschiedene Zeichen (visuelle und formale) zur Bestimmung des Flächeninhalts eines Dreiecks. In diesen Zeichen sind verschiedene Beweisideen noch
enthalten: Der Flächeninhalt ist das Produkt
der Hälfte der Grundseite mit der Höhe
bzw. die Hälfte des Produkts aus Grundseite und Höhe bzw. das Produkt der Grundseite mit der Hälfte der Höhe. Dies steht zunächst einmal der formalen Assoziativität
im Weg, ganz zu schweigen von der Kommutativität. Erst wenn der (höhere) Begriff
„Flächeninhalt“ erworben ist, erst dann sind
die formalen Terme wirklich gleich und das
Symbol für Flächeninhalt steht weiteren höheren Begriffsbildungen zur Verfügung.
Wir können uns auch diese Situation wieder
mit dem epistemologischen Dreieck veranschaulichen, von dem wir inzwischen über
seine (symbolische) Darstellung (und deren
Anwendung auf die von uns betrachteten
Objekte) eine Vorstellung erworben haben.
Der Begriff vermittelt hier nun zwischen der
Darstellung (als Objekt im epistemologischen Dreieck) und der Vorstellung (als
Symbol dort), zwischen der externen und
internen Repräsentation, bis zur begrifflichen Identifikation von Darstellung und Vorstellung. Dieser Teil der Begriffsbildung ist
nicht direkt zu beobachten.
Unsere Vorstellungen sind von den von uns
(individuell) bevorzugten Darstellungen abhängig. Mit „Nimm-Stellung-Aufgaben“ zu
Vorstellungen und Fehlvorstellungen kann
dies zum Thema eines an Begriffsbildung
interessierten, diskursiv reflektierenden Mathematikunterrichts werden. Siehe dazu
(Kaune 2001, 44f).
Subjektive und intersubjektive Begriffsbildung
Abb. 1
Frege hat für uns oben den psychologischen Aspekt der Begriffsbildung ins Spiel
gebracht. Was sagt die heutige Lernpsychologie zur Begriffsbildung? Dort finden
wir die folgende Unterscheidung (vgl. Edelmann 1995, 29f):
95
Anselm Lambert
usw. unter epistemologischen Aspekten
betrachtet werden. (Seeger 1990, 130)
Klassische Theorie:
Logische Struktur
Kombination der kritischen Attribute
Prototypentheorie:
Das heißt also: auch intersubjektiv. Dazu
benötigen wir dann allerdings Modelle aus
der Soziologie.
Begriffe werden abgespeichert
in Form von typischen Objekten
Gewollte Begriffsbildung
Wir können eine Parallele ziehen: Diese
Unterscheidung ist auch die von Mathematik als Produkt, in dem Begriffe durch die
klare Beschreibung ihrer kritischen Attribute
bestimmt sind, und Mathematik als Prozess, in dem Begriffe abgrenzend durch
Beispiele und Gegenbeispiele bestimmt
werden.
Jeder weiß, dass ein Dreieck drei Ecken
hat, und erkennt ein solches. Aber keiner
zählt dazu die Ecken eines Dreiecks, um es
über seine logische Struktur als Dreieck zu
bestimmen. (Und: Wir können oben auch
das epistemologische Dreieck sehen, ohne
dass ein Dreieck eingezeichnet ist.)
Nebenbei zeigt sich hier auch der kulturhistorische Aspekt von Begriffsbildung am Begriff „Begriffsbildung“ in der Lernpsychologie. Die klassische Theorie ist noch stark
von den Vorstellungen der Logiker geprägt,
die Begriffe durch Begriffsinhalt und Begriffsumfang beschreiben und den Begriffsinhalt, also Definiens und Definiendum, in
den Vordergrund stellen. Die neuere Prototypentheorie hat sich nun von diesem historischen Rahmen gelöst.
Wir sehen theoretische Begriffe außerdem als den Ausdruck bestimmter Sichtweisen von Menschen, als soziale, kommunikative Konstrukte an. (Fischer &
Malle 1985, 151)
Auch der in der vorliegenden Arbeit gebildete Begriff von Begriffsbildung versteht
sich als Diskussionsbeitrag, der die Sichtweise der zitierten Autoren in einer virtuellen Kommunikation fasst.
Sie ergeben sich nicht zwangsläufig aus
der Natur, unserer Wahrnehmung ...
(Der Begriff „Unendlichkeit“ ist hier ein gutes Beispiel. Wie ist es mit dem Begriff
„Begriff“?)
..., sie sind hingegen Ausdruck eines bestimmten Wollens; Ausdruck dessen,
dass uns ein gewisser Gesichtpunkt
wichtig ist. [...] Es ist in der Regel natürlich nicht der Wille eines einzelnen Menschen, der hier maßgebend ist, es ist das
gemeinsame (teilweise unbewusste) Bestreben von Mathematikern, die als Mitglieder der Gesellschaft in einer bestimmten historischen Situation tätig sind.
(Fischer & Malle 1985, 151)
Ein solches Wollen formuliert Hans Freudenthal wie folgt:
Wissen ist in jedem Fall subjektiv, [...]
strukturell organisiert [...] eine mentale Konstruktion. (Edelmann 1995, 22)
„Wissen ist subjektiv“ kann für uns nur heißen: die Modelle der Psychologie beschreiben nur das subjektive, in den Individuen
vorhandene Wissen. Intersubjektives Wissen gibt es dennoch auch, kann aber von
den Modellen, die die kognitionspsychologische Struktur des Wissens beschreiben,
nicht erfasst werden. Der Preis für die Genauigkeit eines Modells ist immer die Einschränkung seiner Reichweite.
Wissen ist in den Modellen der Lernpsychologie in Begriffshierarchien strukturiert (vgl.
Ausubel und Gagné nach Reinmann-Rothmeier & Mandl 2001, 611f) und muss von
den Lernenden in Eigenleistung aktiv erarbeitet werden (mehr dazu: ReinmannRothmeier & Mandl 2001, 626). Auf der anderen Seite finden wir aber auch:
„Wissen“ kann [...] als Produkt eines Gemeinwesens, einer „Sprachgemeinschaft“
96
Unsere mathematischen Begriffe, Strukturen und Vorstellungen sind erfunden
worden als Werkzeuge, um die [...] Phänomene der Welt zu ordnen. (Klieme
u. a. 2001, 142)
Diese Feststellung kann uns als normativer,
diskussionswürdiger und -fähiger Standard
dienen. Sie liegt auch dem Begriff der Mathematical Literacy der PISA-Studie zu
Grunde.
2
Ein systematisierendes
Modell
Das Phänomen „Begriffsbildung“ aus den
Fundstücken aus der Literatur zusammenpuzzelnd können wir ordnend das folgende
Bild festhalten: Begriffsbildung zeigt sich
auf zwei unterschiedenen, wenngleich miteinander verwobenen Ebenen.
Die hier getroffene Begriffsbildung von Begriffsbildung ist Ausdruck (m)eines Wollens,
Begriffsbildung im Mathematikunterricht
eine überschaubare Struktur in die Phänomene zu bringen.
Wichtige Begriffe stellen gewissermaßen
Anfangspunkte von Theorien dar und
werden ihrerseits durch die Theorien erklärt. Dabei ist es eine nützliche Sichtweise, solche Begriffe als den Ausdruck von
Beziehungen im Rahmen eines Netzwerks von Beziehungen, eben der Theorie, zu sehen. „Theoretische Begriffe“ der
Mathematik, wie wir diese Begriffe auch
nennen wollen, stehen für wesentliche
Relationen und entstehen nicht bloß
durch Weglassen von Eigenschaften (sogenannte „empirische Abstraktion“) aus
anderen Begriffen. Die Entfaltung dieser
im Begriff angelegten wesentlichen Relationen führt zu jenem Netzwerk, das wir
Theorie nennen. (Fischer & Malle 1985,
151)
Abb. 2 (Hischer & Lambert 2002, 145)
97
Anselm Lambert
3
Erste Anwendungen des
Modells
Als reiner Mathematiker könnte ich mich
nun zufrieden zurücklehnen und sagen: „Ich
habe die Phänomene der Welt geordnet in
einem schönen, symmetrischen Diagramm,
das die (von mir; oder: uns?) betrachteten
Aspekte strukturiert.“
Als Didaktiker muss ich (oder: müssen wir?)
aber über den theoretischen Erkenntnisfortschritt hinaus auch den praxisrelevanten
suchen.
3.1 Begriffsbildung im Mathematikunterricht aus kognitionspsychologischer Sicht
Wir hatten oben schon angesprochen, dass
die beiden Modelle der kognitiven Struktur
bei der Begriffsbildung in den Begriffsbildenden und den Begriffsgebildeten mit
wichtigen Phasen mathematischer Arbeit
synchronisieren.
Der Begriff als Produkt rigoroser Mathematik ist immer strikt durch seine charakterisierenden Eigenschaften bestimmt, also ein
Begriff klassischer Bauart. Die Frage Wittgensteins, ob ein verschwommener Begriff
denn ein Begriff sei, beantwortet die moderne Mathematik des 20. Jahrhunderts mit
einem eindeutigen, lauten „Nein!“. Selbst
die Begriffe der Fuzzy-Theorie, der mathematischen Wissenschaft von der Vagheit,
sind strenge mathematische Begriffe.
Im Prozess der Mathematik hingegen arbeiten viele Mathematiker mit prototypischen
Repräsentanten der von Ihnen untersuchten und benutzten Begriffe. Die später ausgeschärften Begriffe entstehen im Prozess
„Mathematik“ durch die implizite oder explizite Unterscheidung von Beispielen und
Gegenbeispielen. Ein Begriff ist das, was er
nicht nicht ist. Dies ist auch ein Weg für den
Mathematikunterricht. Siehe dazu auch (Hischer & Lambert 2002, S.146ff: 13.3 Begriffsbildung im Unterricht). Die Didaktik hat
sich also um geeignete diskriminante Musterprototypen zu bemühen, die den Lernenden einen Begriff nahe bringen können.
3.2 Zugänge zur Mathematik
Legen wir unser obiges Modell von Begriffsbildung zu Grunde, so behaupten wir,
dass der ontogenetische Aspekt von Begriffsbildung in der kognitiven und episte-
98
mologischen Wissensstruktur der Lernenden zu suchen ist. Die Wissenschaften, derer sich die Fachdidaktik hier bedienen
kann, sind die Psychologie in Form der Kognitionspsychologie sowie die Philosophie
und die Soziologie in Form der Epistemologie.
Kognitive Mathematik
Am Institut für Kognitive Mathematik in Osnabrück untersucht man die Zugänge zur
Mathematik im Rahmen eines kognitionstheoretischen Paradigmas. Die dortigen Untersuchungen führten zu folgender (hier
stark verkürzten) Begriffsbildung. Es kann
zwischen zwei Ausprägungen der kognitiven Struktur unterschieden werden.
Wir unterscheiden bei einem Menschen,
der sich in seiner Umwelt mittels Kognition Orientierung verschafft, zwischen dem
Einsatz einer prädikativen und dem einer
funktionalen kognitiven Struktur. Wir
vermuten, daß nicht beide Anteile bei allen Menschen gleich stark ausgeprägt
sind. (Schwank 1996, 171)
Diese Strukturen lassen sich wie folgt skizzieren (vgl. Schwank 1996, 171, und
Schwank 1998a):
Prädikative Struktur
Auf Beziehungsgeflechte und Ordnungsprinzipien ausgerichtet
Feststellung von Eigenschaften und
Strukturen
Begriffe sind Relationen
zwischen mathematischen Gegenständen.
Funktionale Struktur
Denken in
Handlungen
Wirkungsweisen
und
Organisation von Prozessen
Begriffe sind Operationen
zwischen mathematischen Gegenständen.
Daraus resultiert eine unterschiedliche
Haltung in Anbetracht eines Problems.
(Wir sprechen nur in solchen Fällen von
einem Problem, in denen die Lösung
nicht (einfach) durch Anwendung eines
erworbenen Schemas hergestellt werden
kann.)
Bei der Sichtung eines Problems wird eine unterschiedliche „Brille“ aufgesetzt
und so vom Typ her unterschiedliche Akzente gesetzt [...] Die Art des Zurechtlegens des Problems beeinflusst die Begriffsbildung [...] wesentlich. (Schwank
1996, 171)
Begriffsbildung im Mathematikunterricht
Inge Schwank hat Tests zur Bestimmung
der individuellen kognitiven Struktur entwickelt (Schwank 1998b):
keine. In anwendungsbezogener mathematischer Modellbildung, in der die wirkliche
Situation verarbeitbar zurechtgestutzt wird,
dann in einem mathematischen Modell verarbeitet wird und die deduzierten Konsequenzen erst noch interpretiert werden, ist
entscheidend, dass das Ergebnis einer
Überprüfung an der Wirklichkeit, seiner Validierung, standhält (vgl. Schupp 1988).
Die heutige Mathematik lebt von Ihrer
sprachlichen Vielfalt. Dies hat auch für den
Mathematikunterricht Folgen, auch für Idealtypen reiner Mathematik:
Die Schulgeometrie sollte die dynamischeren Möglichkeiten der Alltagssprache auch begrifflich nutzen. (Führer
2002, 178)
In dem gegebenen Bild fehlt unten rechts ein Element.
Versuchen Sie sich selbst, und finden Sie eine möglichst sinnvolle Ergänzung.
Achten Sie dabei auf Ihre Begründung, warum Sie von
Ihrer Lösungsfigur überzeugt sind.
Abb. 3 (nach Schwank 1998b, C-18)
Eine Einordnung Ihrer Lösung zu der hier
gestellten Aufgabe finden Sie in (Schwank
1998a), weitere erläuterte Beispiele in
(Schwank 1996, 178) und (Schwank 1999b,
91 und 95).
Die rigorose, moderne Mathematik des 20.
Jahrhunderts ist prädikativ. Diese Betonung
erklang mit dem Einzug der Neuen Mathematik und der damit einschwingenden
Strengewelle auch in der Schule und hallt
heute noch dort nach.
Nach Maier & Schweiger pflegt die im 20.
Jh. favorisierte mathematische Fachsprache einen Verlautbarungsstil, der
sich auch im Vergleich zu anderen Fachsprachen besonders zeitlos, objektivistisch, substantivistisch und redundanzarm-esoterisch gibt. [...] Inzwischen zeigen sich jedoch in der Fachwissenschaft
selbst starke Tendenzen zu anwendungsorientiert „robusten“ Mathematikauffassungen, die [...] nach stärker prozessualen Ausdrucks- und Denkweisen
verlangen [...]. (Führer 2002, 178)
Es gilt also: Je nach Kontext ist die heutige
Mathematik zu Beginn des 21. Jahrhunderts prädikativ oder funktional. Und: Je
nach Kontext ist Rigorosität oder Robustheit das Kriterium der Wahrheitsfindung. In
der reinen Mathematik führt kein Weg an
strenger Beweisführung vorbei, sonst ist es
Und die dynamischen Möglichkeiten eines
Dynamische-Geometrie-Systems als eines
visuellen und funktionalen Werkzeugs. Der
Zugmodus etwa verlangt auch funktionales
Denken in Wirkungsweisen und Handlungen. Eine solche dynamische Geometrie ist
dadurch eine andere als die von den alten
Griechen im Sand fixierte, Strukturen beschreibende; sie ist nicht einfach ein Neuer
Weg zu alten Zielen. In Ergänzung zur klassischen Geometrie bereichert sie gerade
deshalb den Unterricht.
Peter Bender stellt fest:
DGS und CAS stiften Sinn durch Konkretisierung und Visualisierung von abstrakten Begriffen: Viele Begriffe lassen sich
durch ein Tafelbild nur unzureichend veranschaulichen, vor allem jene, die sich
aus Parameteränderungen ergeben.
(Bender & Schwill 1995)
Dem ist in soweit zuzustimmen, als wir nun
auf einfacherem Weg viele Beispiele (und
Gegenbeispiele), die prototypisches Begriffslernen ermöglichen, erzeugen können.
Offen ist hingegen die Frage, wie Lernende
in Abhängigkeit von ihrer kognitiven Präferenz mit DGS umgehen. Die Unterscheidung „prädikative vs. funktionale kognitive
Struktur“ legt nahe, dass vor allem funktionale Lernende von diesem beweglichen
Werkzeug profitieren, dass hingegen für
prädikative Lernende eher eine Sammlung
von Einzelbildern die Beziehungsgeflechte
offenbart. Es wäre zu erwarten, dass dies
sich auch in unterschiedlichem Umgang mit
DGS zeigt.
Und da wir gerade bei bewegten Bildern
sind: Wir müssen die Frage stellen, welche
Lernenden von animierten Funktionsplots
profitieren und welche aber mehr von
reichhaltigen Einzelbildsammlungen? Oder
anders: Wer versteht konkretisierte und vi-
99
Anselm Lambert
sualisierte Parameteränderungen besser im
Fluss und wer Schritt für Schritt?
60 % der Interviewten haben zwei der Zugänge, 36 % einen und 4 % alle drei. Ich
nenne diese Zugänge im folgenden visuell,
formal, konzeptuell. Veranschaulichen wir
sie uns an einem Beispiel: Gegeben sind
eine Gerade, zwei Punkte auf dieser Geraden und zwei sich schneidende Kreise um
diese Punkte.
Abb. 5
Welche Steigung hat die Gerade durch die
Schnittpunkte der Kreise?
Lösungen:
Abb. 4a–e
Nur eins scheint klar: Offen sichtlich erhöht
ein visueller Zugang zur Mathematik den
Nutzen eines visuellen Werkzeugs.
Denkstile: Epistemologien von Mathematikerinnen und Mathematikern
Leone Burton hat 70 professionelle, forschende Mathematikerinnen und Mathematiker sowohl aus der reinen, als auch aus
der angewandten Mathematik interviewt,
um ihre Zugänge zur Mathematik zu erforschen (Burton 1999). Auf der Basis ihrer Interviews unterscheidet sie die folgenden
Denkstile:
Stil:
Denken:
Anteil:
Visual
in Bildern,
oft dynamisch
66%
Analytic
symbolisch,
formalistisch
37%
Conceptual
in Ideen,
klassifizierend
47%
100
1. formal: Aufstellen der Kreisgleichungen,
Berechnung der Schnittpunkte, Berechnung der Geradengleichung. (Dies ist
sehr aufwändig, besonders wenn keine
konkreten Kreise gegeben sind).
2. konzeptuell: Symmetrie ausnutzen: die
Kreise sind symmetrisch, damit sind
auch die Schnittpunkte und die durch
diese induzierte Gerade symmetrisch
zur gegebenen Gerade, also sind die
Geraden orthogonal. (Jetzt ist der nötige
formale Aufwand zur Berechnung stark
reduziert).
3. visuell: Das zu beobachtende Phänomen ist: die Geraden stehen senkrecht
auf einander. (Das ist hier die geometrische Invariante unter einer Kongruenzabbildung: das Koordinatensystem und
damit auch die Steigung sind uninteressant!)
Wir sehen weiter: Auch die (individuell interessierende) Fragestellung hängt vom (individuellen) Denkstil ab.
Von den hier beschriebenen Dialekten der
Sprache „Mathematik“ hat nur der formale
die Präzision und Reichweite hervorgebracht, die die moderne Mathematik für ihren rigorosen Aufbau benötigt. Aber auch
die anderen beiden (oder die möglichen
Kombinationen) haben in der Geschichte
der Mathematik große Leistungen beim
Ordnen der Phänomene ermöglicht und
tragen hier zu elegant(er)en (?) Lösungen
bei. Im Unterricht sollten die Zugänge neben einander und mit einander verwendet
werden, mit dem formalen Zugang als pri-
Begriffsbildung im Mathematikunterricht
mus inter pares. (Den Ausdruck „präformal“
für die nicht formalen Zugänge klammere
ich hier aus.)
Burton beschreibt als weitere Dimensionen
mathematischen Tuns in der Praxis neben
dem Denkstil u. a. Schönheit2 oder Intuition
und Einsicht.
Felix Klein hatte bereits intuitiv eine ähnliche Unterteilung der Denkstile wie Burton
vorgeschlagen (vgl. Borromeo Ferri 2002,
124). Er nannte die Typen Geometer (der
sieht, was er denkt), Analytiker (der mit der
Formel) und Philosophen.
Eine weitere Beschreibung von Denkstilen
liefert der Mathematiker und Psychologe
Jacques Hadamard (1954). Er unterscheidet einen visuellen und einen analytischen
Zugang und stellt als eine wichtige Fähigkeit eines Mathematikers heraus, flexibel
zwischen den beiden wechseln zu können.
Betrachten wir dazu das folgende Beispiel:
Dass die beiden Geraden senkrecht auf
einander stehen, sehen (sehr gute) Visualisten in der obigen Zeichnung, Formalisten
lesen es in den Formeln. Für einen formalen Zugang ist „senkrecht aufeinander stehen“ ein eher künstlicher Begriff. Hier liegt
dann etwa die Frage nach der Punktmenge
näher, die dadurch beschrieben ist, dass
sie Lösungsmenge der Gleichungssysteme
ist, die dadurch gegeben sind, dass wir in
obigem Gleichungssystem jede 2 durch eine Variable ersetzen:
y=
1
x−a
a
y = − ax +
1
.
a
Für den Visualisten ist wiederum die Frage
nach der Gestalt (dem geometrischen Ort)
eben dieser Punktmenge in der Ebene interessant. Das bewusste Zusammenspiel
der Sichtweisen bereichert unsere Mathematik, deshalb sollte Mathematikunterricht
den Lernenden die Bewusstheit verschiedener, sich ergänzender Denkstile ermöglichen.
Rita Borromeo Ferri untersucht diese Denkstile bei 15- bis 16-jährigen Schülerinnen
und Schülern und beginnt eine empirisch
begründete Beschreibung zu entwickeln
(Borromeo Ferri 2002).
Ein zweidimensionales Modell ...
Fassen wir obige Erkenntnisse zu mathematischen Denkstilen zusammen, erhalten
wir ein zweidimensionales, idealtypisches
Modell möglicher Zugänge zur Mathematik:
Prädikativ
Funktional
Formal
Visuell
Konzeptuell
... und seine Konsequenzen
Abb. 6
Je nach Sichtweise sind zwei Gleichungen
gegeben oder zwei Geraden. Der Erwerb
der Fähigkeit, zwischen beiden flexibel
wechseln zu können, setzt voraus, dass im
Unterricht hinreichend oft beide Sichtweisen aufeinander bezogen thematisiert werden. Das Bestimmen des Schnittpunkts der
beiden Geraden oder der Lösung des Gleichungssystems ist mathematisch das Selbe
in verschiedenen Verpackungen.
Eine empirische Erhebung der Anteile für
die einzelnen Zellen dieser Matrix steht
noch aus. Nichtsdestoweniger führt uns
dieses Modell zu einer wichtigen Einsicht:
Es gibt unterschiedene Zugänge, und um
auf die Zugänge der Lernenden zur Mathematik eingehen zu können, muss die Lehrkraft diese und ihren eigenen Zugang kennen.3 So schreibt Johann Sjuts zu den hier
übernommenen kognitionspsychologischen
Unterscheidungen der Osnabrücker Schule:
2 Auch unsere zeitgenössische Theoretische Physik glaubt
an die Wahrheit ihrer experimentell kaum überprüfbaren
Naturbeschreibungen mit der Stringtheorie aus ebendiesem Grund: Schönheit in der verwendeten Mathematik.
3 Ich ordne mich zum einen als funktional zum anderen als
visueller Konzeptualist in das Schema ein.
101
Anselm Lambert
Lehraktivitäten müssen sich folglich an
den vorhandenen kognitiven Strukturen
orientieren. Deren Modifizierungs- und
Differentiationspotenzial bildet neben der
stoffbezogenen Frage, welche externen
Repräsentationen (Darstellungen) zu erwünschten internen Repräsentationen
(Vorstellungen) führen können bzw. führen, die wesentliche Größe. (Sjuts 2002,
468)
Analoges gilt für die epistemologisch unterschiedenen Zugänge.
Jugendliche, die über andere mathematische Denkstile verfügen als die betreffende Lehrperson, haben demnach größere Schwierigkeiten mit dem Unterricht
als Jugendliche, die über Denkstile verfügen, die denen der Lehrperson ähnlich
sind. (Borromeo Ferri 2002)
Zur Diskussion
Die ihr nicht eigenen, oben beschriebenen
Zugänge zur Mathematik muss die Lehrkraft lernen, um sich verständigen zu können, auch wenn diese Dialekte nie zu ihrer
Muttersprache werden. Auch die Lernenden
sollten versuchen, sich die ihnen nicht eigenen Zugänge der Mitlernenden zu erarbeiten. Dies gilt besonders für den modernen, prädikativ-formalen. Aber dort, wo
dieser nicht erlernt wird, mit den anderen,
eigenen Zugängen aber Phänomene geordnet und Probleme gelöst werden, wird
auch Mathematik gemacht, sind diese Fähigkeiten also im Mathematikunterricht anzuerkennen.
Die klassische Analysis war schon sehr
leistungsfähig, bevor ihr Cauchy, Bolzano
und Weierstraß ihre heutige formale Strenge verordneten und nun etwa auch nach
der zuvor stillschweigend unterstellten Vollständigkeit der reellen Zahlen gefragt wurde. Die klassische Algebra löste konkrete
Gleichungen, bevor sie in ihrer modernen
Form nach abstrakten Strukturen forschte.
Mathematik ist immer mehr als der zur letzten Gewissheit notwendige Formalismus,
Mathematik beginnt mit Anschauung. Gauß
veranschaulichte die formal vorhandene
imaginäre Zahl − 1 , „um diese Größe in
das Gebiet der Mathematik zuzulassen“,
um ihr „volles Bürgerrecht im Reich der Mathematik zu verschaffen“ (nach Volkert
1989, 16). Das Prinzip von der Verlässlichkeit der Anschauung: „Was anschaulich
evident ist, lässt sich auch formal beweisen“ (Volkert 1989, 11), trägt uns sehr weit,
auch wenn es sich etwa beim Begriff der
Stetig- und Differenzierbarkeit Weierstraßschen Monstern beugen muss — die aber
102
doch mehr Objekt innermathematischer
Freude denn Subjekt außermathematischer
Begrenzung sind. Der Mathematikunterricht
sollte Gelegenheiten bieten, die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der verschiedenen Zugänge bewusst kennen zu lernen.
Inhaltlich-anschauliche
Argumentationen
sollten im Mathematikunterricht ebenso ihren Platz haben wie formale, damit die Lernenden erfahren, wie die verschiedenen
Zugänge zur Mathematik sich gegenseitig
entgrenzen: durch Formalisierung der Anschauung und umgekehrt der Veranschaulichung des Formalismus, und so einen umfassenderen Begriff „Mathematik“ bilden.
Die Untersuchung von Leone Burton zeigt,
dass die drei beschriebenen, epistemologisch unterschiedenen Denkstile auch heute immer noch im Prozess „Mathematik“
zum Machen von aktueller Mathematik
verwendet werden, auch wenn wir im Produkt „Mathematik“ in der Regel nur noch
den formalen wiederfinden. Eine wissenschaftliche Arbeit muss als Baustein im Gebäude der modernen Mathematik in der
prädikativ-formalen Hochsprache als der
derzeitigen Sprache innerwissenschaftlicher Kommunikation gefasst sein, eine begründbare Lösung eines Problems im Unterricht (oder im Leben) kann sich hingegen
auch der Dialekte bedienen. Begründbarkeit — nicht formale Strenge (die dem
Problem angepasst werden sollte) — ist die
besondere Qualität der Sprache „Mathematik“.
Denkstile sind über die aus ihnen resultierenden Begriffe auch „Ausdruck eines bestimmten Wollens“. Die analytische und die
synthetische Geometrie etwa drücken ein
Interesse an unterschiedlichen geometrischen Phänomenen aus und gehen so verschiedenen Fragen nach. Die Vielfalt der
Denkstile trägt wesentlich zur Reichhaltigkeit auch der modernen Mathematik des
20. Jahrhunderts in ihrer kulturhistorischen
Tradition — von der sie sich ja nicht löste,
sondern die sie unter einer pointierten
Sichtweise fortführte — bei.
In der bunten Tradition, in der unsere heutige Mathematik steht, ist es legitim, auch
den Lernenden ihren eigenen Dialekt zu
lassen, wenn sie damit mehr erreichen
können als mit einem unverstandenen, ihnen fremden. Die Kommunikation mit denen, die einen anderen Dialekt sprechen,
ist eine wünschenswerte — aber eben nicht
immer zur individuellen Fähigkeit, Mathematik machen zu können, notwendige —
allgemeinbildende Fähigkeit. Diese Fähig-
Begriffsbildung im Mathematikunterricht
keit zur Kommunikation wird durch die Bewusstheit der unterschiedenen Zugänge
gefördert.
Und zum Abschluss: eine PISA-Aufgabe
Die Aufgaben des internationalen PISATests wurden für den nationalen Test um
sogenannte innermathematische ergänzt.
Es sind der Inhalt der Grundfläche einer
Pyramide ([...]) und die Länge der Mittellinie eines Dreiecks (Frage „Dreieck“),
beides jeweils als rein mathematische
Gegenstände vorgestellt, zu berechnen.
(Klieme u. a. 2001, 151)
Betrachten wir die „rein mathematische“
Dreiecksaufgabe:
AB des Dreiecks
ABC ist 6 cm lang. Es werden die Mittel-
Dreieck: Die Seite
punkte E und F der Seiten AC und BC
eingezeichnet. Wie lang ist EF ?
Abb. 7 (nach Klieme u. a. 2001, 152)
Dies ist keine (!) Aufgabe der reinen, modernen, prädikativen Mathematik. Warum?:
Einzeichnen ist eine (funktionale) Handlung, die Mittelpunkte der Seiten sind uns
aber doch mit den Seiten bereits gegeben,
wir als moderne Prädikative können sie nur
noch benennen; sie müssen nicht mehr von
uns eingezeichnet werden. Strenge beiseite, wichtiger ist: auch diese auf den ersten
Blick eher konvergente Aufgabe ermöglicht
eine anregende Vielfalt unterschiedlichster
Lösungswege:
1. Intuitiv
2. Messen
3. Abrufen von Satzwissen: „Die Mittenparallele im Dreieck ...“
4. Strahlensatz
5. Hineinsehen von kongruenten Dreiecken
6. Analytisch:
a. Koordinatendarstellung
b. Vektorzüge
Ein derart buntes Spektrum an Lösungswegen (zu einer praktisch rein mathemati-
schen Aufgabe) ermöglicht und verlangt
eine umfassende Diskussion im Unterricht
— auch gerade zum Einüben der Kommunikation und Verständigung (allgemeinbildend!) zwischen den individuellen Dialekten
der Sprache „Mathematik“ — und entsprechend ganzheitliche Beurteilungen und Bewertungen der Lösungen in einer Klassenarbeit oder Klausur. Das wesentliche,
unaufkündbare Sprachspiel, das unsere
Mathematik zur Mathematik macht, ist auch
hier die intersubjektive Begründbarkeit der
Lösung.
Zur vorliegenden Arbeit
In der vorgetragenen Arbeit wird die Systematisierung der in der Literatur zu findenden Beiträge zur Begriffsbildung weiterverfolgt, wie sie von Horst Hischer begonnen
wurde. Die in (Hischer 1996) zu findenden
Gedanken, von denen auch die vorliegende
Arbeit profitiert, dienten als Keimzelle für
das hier vorgestellte, vollständigere Modell
zur Begriffsbildung von Begriffsbildung (siehe dazu auch Hischer & Lambert 2002).
Das durch dieses fundierte Zugangs-Modell
wird hier so zum ersten Mal präsentiert.
Ich danke Uwe Peters für seine kritische
Durchsicht des Manuskripts, durch die die
Chance erhöht wurde, dass über meine hier
vor Ihnen liegende Darstellung meiner Vorstellung von Begriffsbildung bei Ihnen eine
meiner zumindest ähnliche (Vorstellung von
meiner) Vorstellung erzeugt werden kann
— zu der nun Sie Stellung beziehen (können).
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Heidelberg u. a.: Spektrum
Raumgeometrie mit dem Computer —
Schülerprojekte in 2 bis 5 Raumdimensionen
Timo Leuders, Dortmund
Nach einer kurzen Bestandsaufnahme der Analytischen Geometrie im Unterricht der
gymnasialen Oberstufe werden wesentliche Desiderata für eine Weiterentwicklung dieses schulischen Themenfeldes dargestellt. An einigen Unterrichtsbeispielen wird demonstriert, wie eine Analyse der menschlichen Raumwahrnehmung und der Darstellung
räumlicher Objekte zum Ausgangspunkt für die (Nach-) Erfindung vektorgeometrischer
Objekte werden kann. Einige Schülerarbeiten sollen belegen, wie durch den Einsatz des
Computers vielfältige Anschlussfragestellungen projektartig bearbeitet werden können.
1
Analytische Geometrie —
Wunsch und Wirklichkeit
Als Begründungen für die curriculare Bedeutung der Analytischen Geometrie in Richtlinien für die gymnasiale Oberstufe werden
vornehmlich die folgenden angeführt (vgl.
z.B. MSWWF 1999):
• In der Analytischen Geometrie entfaltet
sich die zentrale Idee des räumlichen
Strukturierens, des Modellierens und des
funktionalen Zusammenhangs (fachliche
Repräsentativität). Ein Teilaspekt hiervon ist der folgende:
• Descartes Verbindung von Algebra und
Geometrie, die der Analytischen Geometrie zugrunde liegt, ist von fundamentaler
Bedeutung für die moderne Entwicklung
der Mathematik und der Naturwissenschaften (geistesgeschichtliche Bedeutung).
• Die Eigendynamik der mathematischen
Begriffsbildung (insbesondere der Weg
von der Anschauung bis hin zur Axiomatik) kann hier besonders gut als eine typische Eigenschaft der Wissenschaft Mathematik erfahren werden (fachmethodische Repräsentativität).
• Die Analytische Geometrie — so wird oft
argumentiert — halte eine Fülle von Kontexten bereit (Anwendungsorientierung). Wie sehr hierbei aber zwischen authentischen und scheinbaren Kontexten
unterschieden werden muss, wird im Folgenden noch deutlich werden.
• Die geometrische Anschauung kann als
Basis und Quelle der mathematischen Intuition dienen (Anschaulichkeit). Wurde
früher oft noch stillschweigend angenommen, die Anschaulichkeit sei der Analyti-
schen Geometrie per se zu eigen, so sieht
man heute differenzierter, dass man diesen Aspekt bei der Unterrichtsgestaltung
bewusst verfolgen muss.
Man muss sich angesichts dieser Auflistung
in Erinnerung rufen, dass ungeachtet aller
schlüssigen Argumente die Tatsache, dass
die Analytische Geometrie in unseren Curricula vorkommt, immer noch eine normative
Setzung ist. Dass auch andere Themen an
ihre Stelle treten können, zeigt die in vielen
Bundesländern gängige Grundkurspraxis und
zeigen auch die Curricula anderer Länder.
Ein Blick in die pädagogische Praxis beweist
zudem, dass die hier hervorgehobenen
Aspekte wie „Anschauungsorientierung“ und
„mathematische Begriffsbildung“ eher als
nachträgliche Rationalisierungen denn als
Kriterien für die Konstruktion von Unterricht
dienen.
Die Struktur vieler Unterrichtsgänge zur Analytischen Geometrie spiegelt zudem nicht selten eine deduktivistische Sicht der Mathematik wider — dies ist ein offenbarer Nachhall
der Wissenschaftsorientierung. Zentrale Begriffe, wie etwa der des „Vektors“ oder der
„Ebene“ werden nach einer aus zeitökonomischen Gründen knapp gehaltenen „Motivationsphase“ definitorisch festgesetzt. Sodann
werden mit ihnen Probleme gelöst, die aus
einer unmittelbaren Kombination der Grundelemente entstehen („Schnitt zwischen Gerade und Ebene“), was zu einer Akkumulation von eher als technisch zu bezeichnenden Grundverfahren führt. Etwaige Anwendungen werden meist an den Schluss
gestellt. Diesem Vorgehen liegt die implizite,
oft anzutreffende subjektive Lerntheorie zugrunde, dass erst die Techniken gründlich
geschult werden müssen, bevor sie auf komplexere Zusammenhänge angewendet werden können. Ein solches Gliederungsprinzip
prägt sowohl viele einzelne Unterrichtsse-
105
Timo Leuders
quenzen als auch die Gesamtstruktur mancher Curricula.
Diese kurze, vielleicht etwas überpointierte
Schilderung macht deutlich, worin die Desiderata in der unterrichtlichen Behandlung der
Analytischen Geometrie liegen:
Mathematische Grundbegriffe der Analytischen Geometrie sollen nicht am Anfang der Beschäftigung mit geometrischen
Problemen stehen, sondern ihr Ergebnis
sein. Ihre (Nach-) Erfindung soll durch
die Auseinandersetzung mit ganzheitlichen Problemzusammenhängen notwendig und sinnerfüllt erscheinen. Diese Forderung spiegelt die Freudenthalsche Vorstellung wider: „Man wendet Mathematik
an, indem man sie jeweils von neuem erschafft“ (Freudenthal 1973, 113). Sie entspricht zugleich auch der historischen
Entwicklung: Der axiomatische Begriff des
abstrakten Vektorraums ist erst ein Kind
des frühen 20. Jahrhunderts.
Die heute festzustellende Beschränkung
der Analytischen Geometrie auf lineare
Gebilde (meist wird die Kugel als einziges
nichtlineares Objekt hinzugenommen) ist
allein aus dem Wunsch zu rechtfertigen,
alle Probleme mit Techniken der linearen
Algebra lösen zu wollen. Diese Feststellung führt nicht zu dem oft gehörten Ruf
nach der Rückkehr der Kegelschnitte,
sondern zu einem Plädoyer für das verstärkte Einbeziehen authentischer raumgeometrischer Figuren: Spiralen und
andere Raumkurven oder eine große Vielfalt von Polyedern geben die Gelegenheit
zu einer reichhaltigen Diskussion raumgeometrischer, aber auch algebraischer
und kombinatorischer Fragestellungen.
Der Schritt weg von der Behandlung geometrischer Elementarprobleme, hin zu
komplexeren,
anwendungsnäheren
Fragestellungen steht prinzipiell offen
und sollte genutzt werden. Dass „komplex“ nicht mit „kompliziert“ gleichzusetzen ist, lehren uns inzwischen viele Beispiele aus unterschiedlichen Schriften zu
einem „realitätsbezogenen Mathematikunterricht“ (s. die Istron-Bände von 1990 bis
2000, insbesondere Meyer 2000, s. aber
auch unter www.alympiade.de). Der Einsatz des Computers kann hierbei als eine
Entlastung von aufwändigen algebraischen und algorithmischen Verfahren begrüßt werden.
2
Anlässe für eine (Nach-)
Erfindung der
Analytischen Geometrie
Im Folgenden soll exemplarisch an einem
meines Erachtens besonders geeigneten
Themenfeld dargestellt werden, wie eine solche Neuorientierung in der unterrichtlichen
Behandlung der Analytischen Geometrie
aussehen kann.
Ausgangspunkt ist hier, wie oben gefordert,
die individuelle Anschauung und, was motivational noch stärker wiegt, die Betrachtung
des eigenen Wahrnehmungsapparates anhand der fundamentalen Fragenstellungen:
„Wie sehen wir unsere Umwelt eigentlich
räumlich?“ und „Wie(so) gelingt die flächige
Darstellung räumlicher Gebilde?“. Diese Fragen können organisch zur Genese (d.h. zur
Erfindung bzw. Nacherfindung) vektorgeometrischer Grundbegriffe im Unterricht führen.
Als zwei „fruchtbare Momente“ können hier
die beiden folgenden Anregungen dienen,
von denen die erste eher im Rahmen einer
offenen, moderierten Unterrichtsdiskussion,
die zweite als Gruppenreflexion zu einer Lehrerdarbietung organisiert werden kann.
2.1 Situation 1: Räumliches Sehen von Zweifarbstereogrammen (Anaglyphen)
Seit der Erfindung der Fotografie haben
Menschen versucht, auch den räumlichen
Seheindruck auf das Medium Foto oder Film
zu bannen. Grundprinzip ist dabei immer,
das binokulare Sehen, d.h. die für die beiden
Augen getrennte Darbietung zweier verschiedener Bilder, anzusprechen (Details hierzu
im Internet unter www.schul-mathe.de unter
dem Stichwort „Projektion“). Die Betrachtung
solcher Zweifarbstereogramme im Unterricht
durch einfach zu verfertigende Komplementärfarbenbrillen regt zu Fragen nach dem
Abb. 1: Die Augen sehen durch eine rote und eine
grüne Farbfolie, die, hintereinander gelegt, das Licht
vollständig absorbieren.
106
Raumgeometrie mit dem Computer — Schülerprojekte in 2 bis 5 Raumdimensionen
Funktionsprinzip der Bilddarstellung sowie
dem der eigenen Wahrnehmung an (vgl.
Abb. 1).
Der Anlass für eine Mathematisierung ergibt
sich zwanglos, wenn man sich beispielsweise zur Aufgabe nimmt, eine Figur wie das
abgebildete Tetraeder etwa auf der Folie eines Tageslichtprojektors so als Zweifarbbild
zu zeichnen, dass es durch die Brille betrachtet den Eindruck eines echten Tetraeders macht (vgl. Abb. 2). Wie dieses Vorhaben zu einer (Nach-) Erfindung elementarer
vektorgeometrischer Begriffe führt, wird weiter unten dargestellt.
Abb. 3: Heilige Dreifaltigkeit von Andreij Rubliev
(1411)
Abb. 2: Jeweils drei Innenkanten sind grün bzw. rot
gefärbt.
2.2 Situation 2: Simulation von
Räumlichkeit in der bildenden
Kunst — oder: die Entdeckung der Perspektive
Die Empfindung der Räumlichkeit auch
bei einer flächigen Darstellung ist dem
Menschen keineswegs von der Natur in
die Wiege gelegt, sie muss vielmehr
individuell erworben werden. Daher
verwundert es nicht, dass sie sowohl
kulturell als auch historisch bedingt ist
(Rock 1998). Dies können Schülerinnen und Schüler im Unterricht „augenscheinlich“ wahrnehmen, wenn man etwa bildnerische Darstellungen aus den
verschiedenen Epochen der Menschheitsgeschichte betrachtet — von der
Höhlenmalerei über die ägyptischen
Wandmalereien und die Renaissance
bis hin zu der „Augenwischerei“ eines
M.C. Escher. Da an dieser Stelle der
Platz für eine Wiedergabe aller dieser
Beispiele nicht ausreicht, seien nur exemplarisch drei Abbildung betrachtet
(weitere unter www.schul-mathe.de).
In Andreij Rublievs Heiliger Dreifaltigkeit von
1411 (Abb. 3) ist neben der Technik der Verdeckung der uns noch nicht überzeugend
scheinende Versuch zu erkennen, Tiefenwirkung durch eine perspektivische Darstellung
zu erzielen. Schnell jedoch vermag unser
Auge die „Fehler“ zu entdecken, wohingegen
das Bild in der Mitte bereits eine perfekte
Täuschung bietet. Der Besitz der Technologie zur Erzeugung einer solchen Perspektive
bedeutete für die Künstler Einfluss und potentiellen Reichtum: Aus Venedig schreibt
1506 Albrecht Dürer, „...werde ich nach Bologna reiten, um der Kunst in geheimer Per-
Abb. 4: Mathematik als Technologie hinter der Kunst
107
Timo Leuders
spektive willen, die mich einer lehren will. ...“
(Abb. 4 und Zitat nach Burlisch, 1998). Die
geometrischen Verfahren waren Ausdruck
einer „unbewussten Mathematik“, ein „in materiellen Objekten ausgedrücktes, intuitives
Wissen um Formen, Sachverhalte und Algorithmen“ (Scriba & Schreiber 2002, 251ff).
Auf eben diesem Stand sind Schülerinnen
und Schüler, wenn sie im Kunstunterricht
Zeichenverfahren zur Darstellung von Parallel- und Fluchtpunktperspektive erlernen.
sam paradigmatisch und — heute würde
man sagen: handlungsorientiert — abgebildet. Dieses Bild ist ein willkommener Anlass,
den Projektionsbegriff mit Schülerinnen und
Schülern sukzessive zu mathematisieren und
dabei die Grundtatsachen der Analytischen
Geometrie nachzuerfinden.
3
Die kartesische Erfindung
Ausgehend von dieser „didaktischen“ Darstellung des Projizierens lässt sich eine nach
zunehmender Abstraktion gestufte Begriffsbildung betreiben:
Diese beginnt mit einem enaktiven Nachvollzug der obigen Situation (z.B. mit einem
langen Gummiband). Hierbei wird das dargestellte Funktionsprinzip, aber auch seine
scheinbare Inkonsistenz aufgedeckt (Wie
entstehen die Bildpunkte, wenn Leinwand
und Band nicht gleichzeitig im Rahmen sein
können?).
Abb. 5: Schülerzeichnungen von Würfeln
Die abgebildeten Schülerzeichnungen von
Würfeln (Abb. 5) schließlich sind aus dem
Auftrag entstanden, möglichst unterschiedliche Ansichten eines Würfels zu zeichnen.
Die Frage, welche dieser Darstellungen als
realistisch zu werten ist, wurde durchaus
kontrovers diskutiert.
Abb. 6: Dürers enaktive Darstellung der Projektion
Der Durchbruch zum Bewussten, der Übergang von der Frage des „Wie“ zur Frage des
„Warum“, drückt sich in dem berühmten Dürerschen Blick in eine imaginäre Künstlerwerkstatt aus (Abb. 6): Hier wird der Prozess,
den wir als „Projektion“ bezeichnen, gleich-
108
Im nächsten Schritt, der sprachlichen Erschließung, können die Schülerinnen und
Schüler die ersten Grundbegriffe aushandeln: Objekt, Gegendstand,...; Bildfläche,
Leinwand,...; Bild,...; Blickpunkt, Zentralpunkt, Augenpunkt,...; Sehstrahl, Projektionslinie,...
In der nachfolgenden ikonischen Darstellung (Abb. 7) muss entschieden werden,
welche Aspekte für den Prozess unerheblich
und welche konstitutiv sind. Hier können die
Begriffe erstmalig ausgeschärft und bewusste Reduktionen vorgenommen werden: Die
Leinwand wird zur (nicht mehr begrenzt gedachten) Ebene, das Objekt wird in Objektpunkte aufgelöst.
Abb. 7: ikonische Darstellung der Projektion
Erst jetzt ist die Grundlage für eine „radikale“
Mathematisierung geschaffen: Um die genaue Lage der Bildpunkte in der Ebene festzustellen, werden die geometrischen Objekte
symbolisch, nämlich in Form von Zahlen
und deren Platzhalter dargestellt, der geometrische Projektionsprozess wird zu einer
Raumgeometrie mit dem Computer — Schülerprojekte in 2 bis 5 Raumdimensionen
— noch zu erarbeitenden — arithmetischen
Operation. Dies ist die fundamentale Idee,
die auf Descartes Schlüsselwerk „Géometrie“
(1637) zurückgeht und die seither zu einem
Herzstück des Erfolges der modernen Mathematik und Naturwissenschaft geworden
ist.
Wie aber wird die Notwendigkeit dieses letzten Schrittes für Schülerinnen und Schüler
erlebbar? Man kann dies erreichen durch eine nachvollziehbare Produktorientierung, wie
z.B. in den folgenden Ansätzen:
Man will ...
• die genauen Lage der Bildpunkte einer
komplizierteren geschwungenen Figur berechnen, etwa um eine realistische Vorlage für eine Decken- oder Wandmalerei zu
erstellen (z.B. in der Art einer Pozzo’
schen Scheinkuppel; vgl. Scriba & Schreiber 2002, 329).
• die mathematisch exakten Lagen der
Bildpunkte einer einfachen Figur bestimmen. Hier bietet sich z.B. an, das oben
abgebildete Zweifarbstereogramm eines
Tetraeders zu berechnen, um ein realistisches Bild zu erhalten.
• die Arbeit einem Computer übertragen.
Hier entfaltet sich die eigentliche Macht
der kartesischen Methode. Das geometrische Problem kann als Algorithmus einem
Computer aufgetragen werden, dessen
besondere Kapazität in der wiederholten
schnellen Anwendung eines Algorithmus
liegt. Abbildung 8 zeigt das Arbeitsergebnis einer Schülergruppe, die im Rahmen
einer Sommerakademie Mathematik/Informatik in Münster gearbeitet haben. Sie
entwickelten ein Programm, mit dem man
Kantenmodelle beliebiger Polyeder erstellen, stereographisch darstellen und animieren kann (s. „SMIMS2001“ bzw.
„SMIMS2002“ unter
www.leuders.net/timo/schule).
Es sollen nun einige konkrete unterrichtliche
Ansatzpunkte dargestellt werden, wie sich
die Grundbegriffe der Raumgeometrie und
der Analytischen Geometrie aus dem beschriebenen „Projektionsproblem“ heraus
entwickeln lassen, — wie man sich also einer
Erfüllung der anfangs genannten Desiderata
nähern kann.
• Um ein „berechenbares Modell“ eines
Körpers zu erhalten, müssen dessen Koordinaten bestimmt werden. Hieraus ergeben sich zahlreiche Anlässe, die Eckpunkte einfacher und komplexerer Polyeder zu ermitteln. Es können zunächst
auch elementargeometrische Argumentationen wiederholend herangezogen werden.
• Für eine mathematische Modellierung des
Projektionsprozesses benötigt man zumindest eine mathematische Darstellung
der Projektionsgeraden und der Bildebene, sowie ein Verfahren, deren Schnittpunkt zu berechnen. Hierbei können erste
Auffassungen von der Geraden als parametrisierbare Punktmenge und davon,
was ein Vektor ist, entwickelt werden.
• Soll der Blickpunkt und damit die Projektionsebene um einen Körper herum wechseln, so wird es nötig, angemessene Darstellungen von Ebenen verschiedener Lage zu suchen.
• Will man im Computer Figuren bewegen
oder drehen können, so müssen sukzessive räumliche Kongruenzabbildungen
(z.B. Translationen und Drehungen um
die Koordinatenachsen) entwickelt werden.
• Die Notwendigkeit der Berechnung von
Winkeln zwischen Geraden kann bei der
innermathematischen Frage nach der
Form bestimmter Polyeder auftauchen,
aber auch bei dem Wunsch, Flächen ausgefüllt und — je nach Lage zu einer Beleuchtungsrichtung — verschieden hell
ausgeleuchtet darzustellen.
Viele dieser Aspekte setzen nicht etwa Informatikkenntnisse voraus, sondern lassen
sich ebenso mit einem Grundkurs Mathematik behandeln. Dabei kann man entweder
gänzlich ohne Computer arbeiten, mit einem
Informatikkurs kooperieren, oder aber einzelnen Schülerinnen oder Schülern „Programmieraufträge“ durch den Kurs geben lassen,
für die dann selbstverständlich zunächst gemeinsam adäquate Algorithmen entwickelt
werden müssen.
Abb. 8: Anaglyphischer Dodekaeder
109
Timo Leuders
4
Höher hinaus: Vier
Dimensionen und mehr
Das Thema ist mit den angedeuteten Aspekten keineswegs erschöpft. Zu den vielen weiteren mathematisch produktiven Fragestellungen gehört z.B. das Funktionsprinzip der
auf dem wallpaper effect beruhenden Autostereogramme (hier gibt es eine Vielzahl von
Internetseiten; ein Projekt für den Informatikunterricht beschreiben Heiss & Hermes
1999) oder das Problem der Bestimmung
von Raumpunkten aus Abstandskoordinaten
für 3D-Arbeitsplätze oder für die elektronische Erfassung menschlicher Bewegungsvorgänge für Animationsfilme. Hierin liegen
viele Ideen für Projektarbeit und Facharbeiten.
Einer dieser weiterführenden Aspekte ergibt
sich, wenn man die mit dem Projektionsvorgang umschriebene Dimensionsfrage betrachtet. Der Dimensionsbegriff ist nämlich,
den anfänglichen Argumentationen folgend,
weder in der Frage der Existenz einer Vektorraumbasis erschöpft noch sollte er von ihr
ausgehen. Viel interessanter ist es hier, sich
zunächst die Charakteristika der verschiedenen Raumdimensionen vor Augen zu führen
und sich so eine lebendige Vorstellung von
Dimensionalität zu machen.
Ein faszinierender Ausgangspunkt kann hier
Abbotts berühmte Novelle „Flatland“ (1884 &
2001) sein, in der er schildert, wie eine zweidimensionale Welt und ihre Geschöpfe aussehen könnten und mit welchen Wundern
und Paradoxa für diese Wesen die Entdeckung der dritten Dimension verbunden ist.
Schnell geraten Schüler ins Grübeln, wie für
uns die vierte Dimension aussehen könnte.
Ähnlich wie Abbott kann man diese Frage
auch an mathematischen Grundproblemen
und Grundfiguren festmachen: Was sind
vierdimensionale Würfel, Kugeln, Pyramiden
etc.? Wie kann man sie in drei Dimensionen
darstellen? Schülerinnen und Schüler untersuchen und entdecken, wie Objekte und
Operationen übertragen oder adäquat verallgemeinert werden können. Sie bestimmen
Eckenkoordinaten, entdecken, dass die Projektionsmethode von drei in vier Dimensionen mathematisch völlig analog übertragbar ist, sie untersuchen Schnittgebilde oder
verallgemeinern Drehungen.
Abbildung 9 zeigt die Ergebnisse der Projektarbeit zweier Schülergruppen (siehe
„SMIMS2001“ bzw. „SMIMS2002“ unter
www.leuders.net/timo/schule).
110
Abb. 9: zweidimensionale Projektion einer vierdimensionale Pyramide über dreidimensionalem Würfel
Ein Team entwickelte ein Programm, mit
dem man durch sukzessive Konstruktion von
Prismen, Pyramiden und Kugelschalen zweidimensionale Abbildungen und n-dimensionale Koordinatenmengen höherdimensionaler Polytope erzeugen kann.
Eine andere Gruppe schrieb ein Programm,
das vierdimensionale Gebilde stereographisch auf den Bildschirm projiziert und mit
dem man diese dann in vier Dimensionen
verschieben und drehen kann. Abbildung 10
schließlich zeigt die Projektion einer Kleinschen Flasche, deren Kantenmodell in vier
Dimensionen keine Selbstdurchdringung hat.
Abb.10: Projektion einer Kleinschen Flasche
Auch hier gilt wieder: Viele Aspekte des „Projektionsproblems“ lassen sich auch ohne
Computernutzung und auch in einem Grundkurs verwirklichen. Wesentlich ist hier allein,
dass authentische Probleme zum Ausgangspunkt der (Nach-) Erfindung von Mathematik
werden.
Die vorgestellten Beispiel haben zudem gezeigt, dass eine höhere Komplexität des Zugangs zur Analytischen Geometrie nicht unbedingt eine Erschweren des Lernens bedeuten müssen. Im Gegenteil: „Ganzheitliche
Themen sind zwar (kleinschrittig) schwerer
Raumgeometrie mit dem Computer — Schülerprojekte in 2 bis 5 Raumdimensionen
zu lehren, aber (aktiv entdeckend) leichter zu
lernen als portionierte Stoffangebote“ (Wittmann 2000).
Literatur und Internet-Seiten
Abbott, Edwin (1884 & 2001): Flatland. Princeton:
Princeton University Press 1991 (Erstausgabe
1884). Deutsche Übersetzung in: Dionys Burger (2001): Silvestergespräche eines Sechsecks. Köln: Aulis
Burlisch, Roland (1998): Virtuelle Welten aus dem
Rechner. In: www-m2.ma.tum.de/
Veroeffentlichungen/VirtuelleWelten
Freudenthal, Hans (1973). Mathematik als pädagogische Aufgabe. Bd. 2. Stuttgart: Klett
Heiss, P. & A. Hermes (1995): 3D-Grafik. Stuttgart: Klett
Istron (Hrsg.) (1990–2000): Materialien für einen
realitätsbezogenen Mathematikunterricht. Bde.
1–6. Hildesheim: Franzbecker
Meyer, Jörg (2000): Projektionen. In: Istron
(2000). Bd. 6, 104–117
MSWWF (Ministerium für Schule, Weiterbildung,
Wissenschaft und Forschung) (Hrsg.) (1999):
Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II — Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Frechen: Ritterbach
Rock, Irvin (1998): Wahrnehmung — vom visuellen Reiz zum Sehen und Erkennen. Heidelberg & Berlin: Spektrum
Scriba, Christoph J. & Peter Schreiber (2002):
5000 Jahre Geometrie. Berlin, Heidelberg &
New York: Springer
Wittmann, Erich Christian (2000): Aktiv-entdeckendes und soziales Lernen im Rechenunterricht. In: Gerhard Müller (Hrsg.) (2000): Mit
Kindern rechnen. Frankfurt: Arbeitskreis
Grundschule
www.alympiade.de
www.leuders.net/timo/schule
www.schul-mathe.de
111
Lernumgebung zum Orientierungswissen
„Hypothesentest“
z
Eckhard Löbbert, Haltern am See – Sythen
In den Richtlinien und Lehrplänen für die Sekundarstufe II Gymnasium/ Gesamtschule
NRW ist die Möglichkeit vorgesehen, Kenntnisse in Stochastik als Orientierungswissen
zu vermitteln. Die Lernumgebung möchte diesem Anspruch gerecht werden. Sie folgt
dem Prinzip Learning by Doing, an einem Lösungsbeispiel werden die Phasen eines
Hypothesentests vorgestellt und es wird in die Entscheidungslogik eingeführt. Nach dem
Top Down Prinzip können bei Bedarf Begriffserklärungen und Begründungszusammenhänge abgerufen werden. Die mathematischen Hintergründe werden durch Visualisierungen nahegebracht und durch die problembezogene Einführung in unterschiedliche
Werkzeuge (Excel, Derive oder TI-89) sollen die Schülerinnen und Schüler befähigt werden, einfachere Anwendungsaufgaben selbstständig zu lösen.
1
Einleitung
In den Richtlinien in NRW gehört es zur Obligatorik, dass die Schülerinnen und Schüler in
den Jahrgangsstufen 12 und 13 in
den Gebieten Analysis, Lineare Algebra/ Geometrie und Stochastik
mindestens ein Orientierungswissen
erwerben. Bei der Vermittlung stochastischen
Orientierungswissens
ist anzustreben, diese Grundeinsichten anhand einfacher Beispiele
plausibel zu machen. Es geht nicht
primär darum, die entsprechenden
mathematischen Theorien im Detail
nachzuvollziehen, als vielmehr darum, im Prinzip zu verstehen
(MSWWF 1999, 37). In der gymnasialen Oberstufe sind die Vorkenntnisse in der Stochastik, die Schülerinnen und Schüler aus der Mittelstufe mitbringen, diffus. Zwar ist Stochastik seit
Jahrzehnten als verpflichtend in den Richtlinien der Sekundarstufe I vorgesehen, aber
der nur 3-stündige Mathematikunterricht in
den Jahrgangsstufen 9 und 10, sowie Unterrichtsprojekte, Betriebspraktika, Skifreizeiten
etc. führen zwangsläufig zu inhaltlichen Kürzungen, die in der Regel zu Lasten der Stochastik gehen. Aus der Jahrgangsstufe 11
kann man Kenntnisse aus der beschreibenden Statistik (Kenngrößen, Ausgleichsgerade, Regression und Korrelation) voraussetzen. Die entwickelte Lernumgebung will die
Mathematiklehrerin/ den Mathematiklehrer
darin unterstützen, in einem zeitlich angemessenen Rahmen Orientierungswissen
zum Hypothesentest zu vermitteln und Anwendungsaufgaben für die neu erworbenen
Kenntnisse zur Verfügung zu stellen.
112
2
Zum Aufbau
Die Lernumgebung ist für den Einsatz im Unterricht konzipiert, sie unterstützt weniger das
Abb. 1
individuelle Lernen, sondern stärker das Lernen in Gruppen. Der Aufbau gliedert sich in 4
Phasen. In einer ersten Phase wird in die
Entscheidungslogik eines Hypothesentests
eingeführt (Abb. 1). Die Schülerinnen und
Schüler bearbeiten in mehreren Schritten die
grundliegenden Inhalte. Die Bearbeitungsschritte orientieren sich an den Phasen eines
Hypothesentests: Problemstellung, Formulierung der Nullhypothese und Alternativhypothese, Wahrscheinlichkeitsverteilung, Annahme- und Ablehnungsbereich, Entscheidung
aufgrund des Stichprobenergebnisses. An einem authentischen Untersuchungsergebnis
aus der Medizin wird der Frage nachgegangen, ob ein Einsatz eines neuen Medikaments einer herkömmlichen Behandlungsmethode überlegen ist oder ob der Erfolg zufällig sein kann. Anhand dieses Beispiels
Lernumgebung zum Orientierungswissen Hypothesentest
wird in die typische Begriffsbildung und in die
Entscheidungslogik des Hypothesentests
eingeführt. Die Schülerinnen und Schüler
sollen schrittweise die Argumentation nachvollziehen und dadurch lernen, ähnliche Fälle
zu lösen. Sie werden aber auch dazu aufgefordert, mit Applets zu experimentieren, die
Ergebnisse zu analysieren und aktive
Selbsterklärungen vorzunehmen. Die Lernumgebung genügt damit der Forderung von
Prof. Mandel, „Die Lernumgebung muss den
Anwender zu einer selbstgesteuerten Auseinandersetzung herausfordern“ (Beuthner
2002). In einer zweiten Phase werden die
neu erworbenen Kenntnisse selbstständig
auf einfache Beispiele aus der Medizin angewandt. Das Lernen erfolgt hier dem Prinzip
„Learning by Doing“. Die Schülerinnen und
Schüler lösen die Aufgaben, indem sie die
Schritte des Hypothesentests aus der Beispielaufgabe ausprobieren und nachmachen.
Als Modell und Hilfe dient das Beispiel aus
der ersten Phase. Das Lernen mit der Lernumgebung setzt auf eine Hybrid-Lernform.
Es sieht nicht nur Phasen selbstgesteuerten
Lernens durch die Schülerinnen und Schüler
vor, sondern bezieht bewusst auch Phasen
lehrergesteuerten Lernens mit ein. Zu jedem
Applet, das zur Visualisierung der mathematischen Theorien dient, sind Arbeitsaufträge
formuliert, die die Schülergruppen auf einem
Arbeitsblatt zu bearbeiten haben. Außerdem
werden die Schülerinnen und Schüler durch
das Arbeitsblatt aufgefordert, gezielt Verständnisfragen zu formulieren. Die Lehrerin/
der Lehrer sichtet die Ergebnisse und sammelt die Fragen. Mit diesen Erkenntnissen
kann der Unterrichtende die dritte Phase, die
Vertiefungsphase, strukturieren und neue
Schwerpunkte bilden. Die Organisation dieser Phase liegt in der Verantwortung der
Lehrerin/ des Lehrers. Sie kann in einem Unterrichtsgespräch, aber auch in Partner- oder
Gruppenarbeit erfolgen. Die Lernumgebung
verfügt über unterschiedliche Vertiefungsangebote, die interessierte Schülerinnen und
Schüler auch in der ersten Phase schon benutzen können. Ein Glossar bietet eine zusätzliche Orientierung. Den Abschluss bildet
eine vierte Phase, in der das erworbene Wissen selbstständig auf verschiedene Anwendungsaufgaben angewandt wird, somit die
Kenntnisse vertieft, geübt und nachhaltig
verankert werden. Als Sozialform in dieser
Phase sollte Gruppenarbeit, eventuell in
Form eines Gruppenpuzzles gewählt werden.
3
Der Zugang über Simulation und Visualisierungen
Abb. 2
Abb. 3
Von dem Benutzer der Lernumgebung werden keine speziellen Stochastikkenntnisse
erwartet. Es wird versucht, ohne kombinatorische Grundkenntnisse zur Binomialverteilung zu kommen. Ausgehend von dem Anwendungsbeispiel wird das zugrundeliegende Urnenmodell entwickelt. Durch Java-Applets wird das Ziehen von Stichproben simuliert und ausgewertet (Abb. 2). Wiederholtes
Ziehen von Stichproben führt zu einer Wahrscheinlichkeitsverteilung (Abb. 3), die der Binomialverteilung sehr nahe kommt. Mit den
Applets kann experimentiert werden. Arbeitsaufträge zu den Applets lenken auf bestimmte Merkmale und Zusammenhänge, die entdeckt werden sollen. Weitere Applets als Experimentierumgebungen führen zu den
Kenngrößen, zur Bedeutung der Sigma-Umgebung und zur Näherungsformel von Moivre-Laplace.
113
Eckhard Löbbert
4
Binomialverteilung,
Erschließen nach dem
Top-Down-Prinzip
Nach der Simulationsphase stellt sich nun
die Frage, ob die Wahrscheinlichkeitsverteilung auch berechnet werden kann. Es wird
die Binomialverteilung für das zugrundeliegende Zufallsexperiment angegeben, und
man kann die Ergebnisse mit den Simulationsergebnissen vergleichen und stellt nur
geringe Unterschiede fest. Schrittweise kann
man nun den Weg nachvollziehen, wie man
zur Berechnung kommt. Durch ein Java-Applet (Abb. 4), wird dem Benutzer der rekursive
Aufbau des zugehörigen Baumdiagramms für
ein Bernoulliexperiment verdeutlicht. Der Binomialkoeffizient bk(n,k) wird eingeführt als
die Anzahl der Wege in einem Baumdiagramm, die bei einem n-stufigen Experiment
zu k Erfolgen führen. Eine genauere Analyse
des Baumdiagramms führt zur rekursiven Berechnungsvorschrift bk(n,k) = bk(n–1,k–1) +
bk(n–1,k) der Binomialkoeffzienten, dabei gibt
bk(n–1,k–1) die Anzahl der Wege in dem oberen Teilbaum (Abb. 4) und bk(n–1,k) die Anzahl der Wege in dem unteren Teilbaum
(Abb. 4) an. Wer jemals die rekursive Formel
zur Berechnung der Binomialkoeffizienten
programmiert hat, kennt die gravierenden
Laufzeitprobleme. Daher wird auch die iterative Berechnungsregel vorgegeben und anhand eines kleinen Induktionsbeweises kann
der Benutzer die Richtigkeit der iterativen Berechnungsregel nachvollziehen.
Abb. 4
5
Vertiefungsangebote
An verschiedenen Stellen gibt es unterschiedliche Vertiefungsangebote, die nach
Interesse der Schülerinnen und Schüler, oder
nach Aufforderung durch die Lehrerin/ den
Lehrer bearbeitet werden können. In einem
114
ersten Durchgang sollen die Begriffe und neu
erworbenen Methoden an Beispielen selbstständig angewandt werden. Anschließend
sollen notwendige Begriffe und Zusammenhänge, die die Problemlösungen vereinfachen, noch ergänzt werden. Es gibt Vertiefungsangebote zum Hypothesenbegriff, zur
Binomialverteilung, Erwartungswert/ Varianz/
Standardabweichung, Sigma-Umgebungen,
Näherungsformel von de Moivre und Laplace
und zum einseitigen Hypothesentest.
6
Anwendungsphasen
Die Anwendungsphasen geben dem Benutzer die Rückmeldung, in wieweit die Entscheidungslogik des Hypothesentests verstanden worden ist, und bietet die Chance,
Wissenslücken zu schließen. Anwendungsphasen sind nach der Einführungsphase
(Phase 1) und nach der Vertiefungsphase
(Phase 3) vorgesehen. In der ersten Anwendungsphase sollten die Beispielfälle von der
Partnergruppe, die auch in der ersten Phase
zusammengearbeitet hat, gelöst werden. Die
Beispiele in der zweiten Anwendungsphase
sollten von neu zusammengestellten Gruppen bearbeitet werden. Die Anwendungsphasen geben den Benutzern Rückmeldung,
in wieweit das Verfahren verstanden worden
ist.
7
Werkzeuge
Die Java-Applets sind so konstruiert, dass
nur die Problemstellung des Eingangsbeispiel (Phase 1) bearbeitet werden kann. Die
Applets sind bewusst nicht als universale
Werkzeuge programmiert worden. Die Schülerinnen und Schüler sollen dadurch aufgefordert werden, sich mindestens mit einem
Werkzeug (Excel, Derive oder dem TI-89)
vertraut zu machen, um unabhängig von der
Lernumgebung Anwendungsaufgaben lösen
zu können. Zu allen drei Werkzeugen werden
problembezogene Einführungen und Hilfen in
der Lernumgebung bereitgestellt.
8
Schlussbemerkung
Die Lernumgebung wurde im Rahmen des
BLK-Modellversuchs SelMa (Selbstlernen in
der gymnasialen Oberstufe — Mathematik)
vom Autorenteam des Albert-SchweitzerGymnasiums in Marl entwickelt. Das Ziel von
Lernumgebung zum Orientierungswissen Hypothesentest
SelMa ist es zu zeigen, wie Mathematikunterricht in der gymnasialen Oberstufe zu gestalten ist, wenn Eigentätigkeit und selbstständiges Arbeiten mit neuen Medien gefördert
werden sollen. Man findet die Umgebung auf
dem NRW-Bildungsserver learn:line unter
der Adresse www.mathe-selma.de.
Literatur
Althoff, Heinz (1985): Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik. Stuttgart: Metzler
Beuthner, Andreas (2002): Wissen lässt sich nicht
mit dem Trichter einfüllen. In: Computer Zeitung 41/7, 22
Griesel, Heinz & Postel, Helmut (2000): Elemente
der Mathematik Grundkurs 12/13. Hannover:
Schroedel
Keiser, Otto M. (1998): Leitprogramm Testen von
Hypothesen. ETH Zürich: Department Mathematik
http://www.educeth.ch/mathematik/leitprog/test
en/ (15.10.2002)
Krengel, Ulrich (2000): Einführung in die Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik. Braunschweig: Vieweg
MSWWF des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.)
(1999): Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II. Frechen: Ritterbach
Strick, Klaus Heinz (1998): Einführung in die Beurteilende Statistik. Hannover: Schroedel
115
Ein Projekt zum Einsatz von Software für
Dynamische Geometrie (DGS) in der
Lehramts-Ausbildung: Ein Zwischenbericht
z
Dorothee Maczey, Paderborn
In einem Forschungsprojekt wurden an der Universität Paderborn Studierende in Interviews zu ihren Erfahrungen mit dem Einsatz von DGS und zu ihren Vorstellungen über
Geometrie und deren Veränderungen befragt. An Hand von drei Beispielen soll dieser
Zwischenbericht Aufschluss über Inhalte und erste Ergebnisse des Projektes geben.
1
Das Projekt
An der Universität Paderborn läuft unter der
Leitung von Peter Bender vom 01.08.2001
bis zum 31.07.2003 das Projekt „Wirkung einer multimedialen Lernumgebung auf das
Mathematiklernen“. Es wird gefördert vom
MSWF im Rahmen des Innovationsprogramms „Wirksamkeitsforschung — Neue
Medien in der Hochschullehre“. Unter Mitwirkung der Universitäten Dortmund (Henn) und
Nürnberg (Weth) werden in verschiedenen
Lehrveranstaltungen zur Geometrie, in eingeschränktem Maße auch zur Analysis und
Stochastik, Studierende befragt.
In diesem Bericht wird es um eine Geometrie-Vorlesung gehen, die für Erst-SemesterStudierende der Mathematik für das Lehramt
der Sekundarstufe I und der Primarstufe im
Wintersemesters 2001 von Hans-Dieter Rinkens gelesen wurde.
In dieser Vorlesung werden bereits seit 6
Jahren multimedial aufbereitete Skripte verwendet: zunächst als Power-Point-Präsentationen zusammen mit Cabri Geomètre und
seit 3 Jahren als Internet-Skript zusammen
mit dem Internet-fähigen Cinderella. Es wird
mit einem Beamer an die Wand projiziert,
gleichzeitig verfügen die Studierenden über
eine Papierversion.
Bei der Bearbeitung der Übungen wird auch
von den Studierenden Cinderella benutzt; die
wöchentlichen Übungsblätter sind darauf zugeschnitten. Die Übungsstunden finden
grundsätzlich im kommunikationsfördernd
eingerichteten Poolraum statt (kreisförmige
Anordnung der Rechner, abgesenkte Bildschirme, Pädagogisches Netzwerk). Im Rahmen des Projektes wurden außerdem 20 der
50 bis 60 Studierenden mit Laptops ausgestattet, so dass sie in der Vorlesung „mitziehen“ konnten, sowie zur Bearbeitung ihrer
Übungen zu Hause.
116
2
Zu den Zielen des
Projektes
Den allgemeinen Rahmen bilden die folgenden Leitfragen:
Wie verändert sich das Lernen von Mathematik in einer multimedialen Umgebung?
Wie verändern sich die Auswahl der Inhalte
und die mathematischen Begriffe selbst?
Wie wird der Medieneinsatz an sich auf der
intellektuellen, emotionalen und sozialen
Ebene wahrgenommen?
Konkret und auf die Geometrie bezogen
heißt das, dass wir uns für das Verstehen
geometrischer Sachverhalte bei den Lernenden interessieren und dass wir ihre Denkmuster und Vorstellungen über (insbesondere dynamische) Geometrie rekonstruieren
wollen. Unsere konkreten Fragen lauten hier:
• Zugmodus — Denken in Bewegungen:
Wie beeinflusst Cinderella die Vorstellungen der Studierenden über geometrische
Objekte und deren Abhängigkeiten?
• Heuristik: Inwiefern wird das DGS von
den Studierenden heuristisch genutzt?
• Beweisen: Welche Rolle spielt Cinderella
für die Studierenden beim Beweisen?
Insbesondere zur ersten Frage gibt es Berührungspunkte zu einem übergeordneten
Aspekt: dem „Funktionale Denken“, und zwar
im Sinne der Meraner Reform, wie es von
Katja Krüger in ihrer preisgekrönten Dissertation beschrieben wird.
3
Zum Untersuchungsdesign
Wir erhielten unsere Daten hauptsächlich
aus Interviews mit den Studierenden, die
Ein Projekt zum Einsatz Dynamischer Geometrie-Software in der Lehramts-Ausbildung
größtenteils im Januar 2002 stattfanden,
nachdem mehr als die Hälfte des Semesters
vergangen war. Die Interviews bestanden
aus allgemeinen Fragen zum Medieneinsatz
und aus Fragen zur Dynamischen Geometrie, z. B.:
– Warum zieht man?
– Glaubst du, dass durch die Beweglichkeit
deine Vorstellungskraft gefördert wird, so
dass du dir Bewegungen vorstellen
kannst, ohne mit Cinderella zu ziehen?
– Konstruktions- & Beweisaufgaben: —
Was ist der Unterschied? — Welchen Beitrag kann Cinderella dabei jeweils leisten?
– Was beweist Cinderella?
Der dritte Teil der Interviews bestand aus
drei Aufgaben, die die Probanden vor der
Kamera lösen sollten. Um hier einen Dialog
zu provozieren, wurden generell zwei Studierende gleichzeitig interviewt. Im Anschluss
an die Aufgabenbearbeitung stellte der Interviewleiter noch einmal besondere Fragen,
z.B.: Welche Rolle hat Cinderella jetzt beim
Bearbeiten der Aufgabe für euch gespielt?
Die Interviews verstehen sich als Fallstudien,
und die Auswertung erfolgt qualitativ durch
eine interpretative Analyse der Transkripte,
wobei fachinhaltliche und didaktische Aspekte mit einbezogen werden. Angelehnt an
Studien wie die von Hölzl (1999), vom Hofe
(1998) etc. soll eine Brücke geschlagen werden zwischen qualitativ-empirischer Forschung und Stoffdidaktik. Das bedeutet insbesondere, bei der Rekonstruktion der Vorstellungen über (dynamische) Geometrie sowohl normative Aspekte aus der medienbezogenen Mathematikdidaktik, als auch
sachanalytische und stoffdidaktische Aspekte
ohne Medien-Bezug zu berücksichtigen.
4
Einblick in die aktuelle
Projektarbeit
Im Folgenden soll an drei Beispielen ein Einblick in die aktuelle Projektarbeit gegeben
werden.
4.1 Simone: Komplexität
Si Nur mit dem Zugmodus, ähm, ich weiß
nicht, wenn man .. da steht man dann
nachher noch wieder eher vorm Problem
ab und zu find ich, weil . wenn man meinetwegen ’ne Zeichnung macht, und irgendwas versucht zu beweisen, dann
sieht man im Moment erst mal nur einen
Fall, meinetwegenSo, ist mir jedenfalls jetzt immer gegangen. Und wenn dann, dieser Zugmodus
ist, und dann so (stöhnt:) hoa da bewegt
sich ja alles, und was ist jetzt überhaupt
noch fest und . oh Gott . also dasFür die Studentin Simone stellt der Zugmodus ein Problem dar. Obwohl die Bewegungskomponente offensichtlich wichtiger
Bestandteil der Software ist, die in der Veranstaltung eingesetzt wird und über die ein
ganzes Forschungsprojekt angestrengt wird,
kann sie diesem wichtigen Element nichts
abgewinnen. Im Gegenteil: die Komplexität
der bewegten Konstruktion verwirrt und überfordert sie so sehr, dass sie im Gegensatz
zum vertrauten statischen Einzelfall nichts
mehr sieht und weiß.
IL Seht ihr denn auch Vor- oder Nachteile in
der Beweglichkeit, die jetzt in dem, in
dem äh Cinderella\ Konstruktionsprogramm gegeben ist\ gegenüber den Papierzeichnungen\
Si (zieht die Augenbrauen zusammen) Voroder Nachteile von dieser Beweglichkeit/
IL Ja\
Si Ja, wie eben schon gesagt (zuckt die
Schulter) manchmal verpfuscht’s wahrscheinlich irgendwelche Erkenntnisse
weil’s zu viel Möglichkeiten gibt/ aber
(zuckt die Schulter) es werden wahrscheinlich Möglichkei, also mehr Möglichkeiten auf einmal offensichtlich/ . als auf’m
Papier\ Das ist mit viel mehr Aufwand
verbunden vor allem dann\
Aber ansonsten\ (verzieht leicht den
Mund) muss man dann wahrscheinlich
eher erst in ner höheren Liga in Mathe
spielen (lacht) um das dann auch wirklich
zu verstehen sofort\
Die Beweglichkeit, d. h. der Zugmodus „verpfuscht“ sogar ihre Erkenntnisse, weil es ihr
„zu viele Möglichkeiten gibt“, sie sieht vor
lauter Bäumen den Wald nicht. Gleich darauf
beschwichtigt sie wieder (schließlich will sie
uns lieber nette Sachen sagen): Es gibt wohl
auch Vorteile in diesen Möglichkeiten, die
man auf dem Papier nicht haben kann, weil
es dort zuviel Aufwand kostet. Allerdings sind
diese ihr nicht zugänglich, da sie nicht in der
entsprechenden „Liga in Mathe“ spielt.
Diese Komplexität kann in ihren Augen somit
nur von solchen Personen bewältigt werden
(und damit von Vorteil sein), die in Mathe
sehr gut sind. Sie selbst liegt übrigens
durchaus im „oberen Mittelfeld“.
117
Dorothee Maczey
Kurz: Durch zu große Komplexität wird Simone am Lernen gehindert. Die Komplexität
ist deshalb zu groß, weil Simone in Mathe
nicht gut genug ist.
Zur These verallgemeinert: Die Dynamik
überfordert die ‚Schwachen’. DGS bringt nur
den Leistungsstarken etwas.
Auch Gawlick kommt bei seiner Untersuchung über die Wirkung des Einsatzes von
DGS im Mathematikunterricht mehrerer siebter Klassen zu dem Ergebnis, dass (zumindest für die Jungen) der Unterricht ohne DGS
„für Schlechtere effektiver“ ist als der Unterricht mit DGS, „und umgekehrt für Bessere“
(Gawlick 2001, 52).
Unsere Beobachtungen zeigen ebenfalls,
dass leistungsstarken Studierenden eine gewisse Komplexität in ihren Konstruktionen
nichts ausmacht. Sie gehen damit bewusst
um und sehen auch noch dann etwas, wenn
der Bildschirm voll von Linien ist. Sie verfügen darüber hinaus über Strategien im Umgang mit der Komplexität des Zugmodus,
z.B. bei der Suche nach Beweisargumenten:
Sie ziehen langsam, schauen genau hin und
suchen nach Spezialfällen, die ihnen weiterhelfen können. Sie betrachten dann diese
verschiedenen statischen Einzelfälle eingehend, ohne viel zu ziehen und verschaffen
sich so die Muße zum klaren Denken: „Thinking” statt „clicking“! (ein Begriffspaar von P.
Davis, vgl. Danckwerts, Vogel & Maczey
2000, 345)
Simone und ihre Interview-Partnerin dagegen
finden bei der selben Aufgabe von sich aus
keinen relevanten Sonderfall. Selbst nach
massiver Einhilfe erkennen sie nicht einmal
das Besondere daran: „Das ist ja fast das
Gleiche“.
Was lässt sich daraus folgern? Wie lässt sich
Simones Problem, vor dem sie mit dem Zugmodus steht, lösen?
Im Mathematikunterricht könnte man zunächst die Zusammenarbeit zwischen starken und schwachen Schülerinnen und Schülern vorantreiben, etwa im Sinne von Teamund Gruppenarbeit. Auf der inhaltlichen Ebene muss „das Sehen“ explizit Unterrichtsgegenstand sein. Das gezielte Beobachten und
Analysieren von Abhängigkeiten (bewegliches Denken, vgl. Roth 2002) stellt sich als
Fähigkeit im Allgemeinen nicht von allein ein.
Es muss als sinnvoll und hilfreich erfahren
und an Beispielen unterschiedlichen Komplexitätsgrades geübt werden. Dabei sollte
offen über Vorgehensweisen und Strategien
gesprochen werden, denn die heuristische
Wirksamkeit von statischen Bildern ist eine
118
andere als die von dynamischen. So lassen
sich mit statischen Einzelbildern eher Zusammenhänge zwischen mehreren geometrischen Konfigurationen oder Teilen einer
Konfiguration erkennen. Dagegen eignet sich
das flüchtige dynamische Bild z.B. zum Explorieren, um sich einen Überblick über die
Gesamtsituation und mögliche Sonderfälle zu
verschaffen, für den schnellen Test von Vermutungen oder für die Analyse von Bewegungsabläufen z.B. bei der Suche nach Beweisargumenten.
All dies gilt nicht nur für den Mathematikunterricht in der Schule, sondern ebenso für die
Universität: Sollen diese Tugenden in der
Schule ‚ankommen’, so muss auch die Lehramtsausbildung die Möglichkeit bieten, genau diese Dinge zu erfahren, d.h. sie zu tun
und zu reflektieren. Es lassen sich Tutorien
oder Übungen in Kleingruppen mit dem
Rechner organisieren, in denen der Umgang
mit einfachen und komplexen Beispielen geübt und entsprechende Strategien thematisiert werden.
Problematisch ist in jedem Fall die Einstellung, dass sich der kluge und effektive Umgang mit Dynamischer Geometrie als heuristisch wirksames Medium von selbst einstellt,
wenn er nur implizit in Vorlesung oder Übung
vorgelebt wird. Ohne weiteres geschieht dies
nach unseren Erfahrungen nicht.
Ein kleiner Nachtrag, Simone betreffend:
Si Ja mir kommt das aber das ganze Programm sowieso vor/ wie wenn man damals am Computer meinetwegen ganz
am Anfang irgendwelche solche Malsachen gehabt hat\ . Und so ungefähr find
ich das auch\ Das bringt nicht viel/ man
pfuscht da halt n bisschen, man macht n
bisschen was und- kommt mal was schönes bei rum, mal nicht/ aber so richtig .
dass ich jetzt sagen würde, boah ich bin
total begeistert davon/ dass ist . nich\
Das einzige wo ich vielleicht sagen würde
wirklich dass man, wenn man irgendwie
ne Präsentation oder so was macht/ oder
einfach Arbeitsblätter für, für Schüler
oder so was/ dass man die Zeichnungen
da dann aus m Computer machen kann
und, oder auch dieses Arbeitsblatt da vielleicht, dass es dann saubere Zeichnungen sind\ Aber ansonsten/ . weiß ich
nicht\
Simones Konsequenz aus ihrer Überforderung ist, das DGS auf ein Mal- und Präsentations-Programm im Stile Power-Points zu reduzieren. Sie spricht ihm so jeden mathematisch-inhaltlichen Sinn ab, d. h. sie lehnt die
Ein Projekt zum Einsatz Dynamischer Geometrie-Software in der Lehramts-Ausbildung
eigentliche Errungenschaft — das DGS als
D-GS — ab.
Wenn wir nicht wollen, dass unsere Lehrer
auf diese Art mit unserer ‚kostbaren Dynamischen Geometrie’ umgehen, so müssen wir
gerade im Hochschulbereich unsere Bemühungen im o.g. Sinne verstärken.
4.2 Ortslinie als Schiene oder
Spur?
Die Ortslinienfunktion ist neben dem Zugmodus das zweite charakteristische Merkmal einer DGS. Für die meisten Studierenden war
das Thema Ortslinien völlig neu, sie hatten
Linien oder Kurven bisher nicht als geometrischen Ort kennen gelernt. In der Veranstaltung wurde die Ortslinie einerseits statisch
als Menge aller Punkte, die einer bestimmten
Bedingung genügen, und andererseits dynamisch als Bahn eines sich bewegenden
Punktes eingeführt.
Die Interview-Frage an die Studierenden,
was sie unter einer Ortslinie verstehen, ergab
folgendes Bild:
• So gut wie alle antworten mit einer dynamischen Beschreibung, etwa:
„Wenn man einen Punkt bewegt...“ oder
Sie ist die einzige, in der sich der allgemeine Charakter des Geometrischen Ortes ausdrückt.
Es gibt darüber hinaus zwei verschiedene
Sichtweisen, welche Art von Objekt die Ortslinie ist, ob sie
• eher als Spur angesehen wird, die von einem Punkt erzeugt oder hinterlassen wird
oder die dem sie verursachenden Punkt
folgt,
• oder als Schiene, die schon da ist und
den Punkt nur aufnimmt, auf sich laufen
lässt.
Bei der „Spur-Sicht“ ist die Ortslinie abhängig
vom Punkt, bei der „Schienen-Sicht“ ist es
umgekehrt.
Bei der „Spur-Sicht“ liegt der Blick auf der
Genese, dem Prozess, bei der „SchienenSicht“ auf dem fertigen Produkt oder Objekt.
Die Mehrheit der Studierenden betrachten
die Ortslinie als Schiene, sie formulieren z.B:
„Die Straße, auf der ein Punkt wandert“,
„Straße, die ein Punkt verfolgt“,
„Gerade, Kreis oder sonst irgendwas,
worauf ein Punkt läuft“,
„auf welcher Bahn die dann verlaufen“.
Einige wenige haben die „Spur-Sicht“:
„Wenn man eine Figur hat und zieht an
einem Punkt...“
„und die Linie, die der Punkt zeichnet, ist
die Ortslinie“,
• Fast alle deuten eine zugrundeliegende
Abhängigkeit an, z.B.:
„die Ortslinie geht der Bewegung nach“,
„die Bewegung nach beschreiben“.
„Wenn ich den anderen Punkt bewege,
bewegt dieser Punkt sich mit“,
Mögliche Ursachen dieser unterschiedlichen
Sichtweisen und des starken Überhanges in
Richtung Schiene könnte z.B. darin liegen,
dass Cinderella nur das Objekt Ortslinie liefert, und derzeit nicht über einen Spurmodus
verfügt. Da uns dies bekannt war, wurde zur
Einführung des Ortslinien-Kapitels in der Vorlesung einmal die Spur mit der Beta-Version
der Software demonstriert.
„wie der sich zu dem anderen verhält“,
„wie sich die von den bewegbaren Punkten abhängigen Punkte bewegen“
• Die Beschreibungen sind unterschiedlich
präzise und nicht alle vollständig, viele
sind eher vage oder an konkrete Beispiele
geknüpft.
„da, wo der Punkt herverläuft, wenn man
das z.B. Dreieck bewegt“
• eine Äußerung fällt aus dem Rahmen:
„ne Ortslinie ist in ner gewissen Art und
Weise ne Verallgemeinerung“ „jetzt nehm
wa wieder den berühmten Schnittpunkt
der Seitenhalbierenden/ . und .. diese
Ortslinie gibt halt dann .. jeden einzelnen
Fall an/ .. oder, gibt jeden einzelnen Punkt
an/ auf den dieser Schnittpunkt fallen
kann\ Wenn ich diesen Punkt C oben bewege\
Dagegen ist die Nomenklatur bei Cinderella
aus der Spur-Sicht heraus verfasst: Die
„Straße“ ist die Kurve, auf der sich der UrbildPunkt (nicht der Ortslinien-Punkt!), bewegt.
Und der Benutzer wird beim Konstruieren der
Ortslinie aufgefordert, den „zu verfolgenden
Punkt“ (den Ortslinien-Punkt!) anzugeben.
Die Studierenden benutzen die Begriffe
„Straße“ und „Verfolgen“ genau umgekehrt!
Weiterhin kann die Wortwahl der Lehrenden
Einfluss gehabt haben: Eine „Bahn“ ist bereits vorhanden, und auch der mathematische Begriff „Ort“ drückt eine Präexistenz
aus: ein Ort ist schon da, wenn ich hinkomme, Orte erzeugt man nicht.
119
Dorothee Maczey
Die Unterscheidung in Schiene und Spur ist
im Grunde eine philosophische, eine epistemologische Frage, nämlich, ob die Dinge der
Erkenntnis schon vorhanden sind oder ob wir
sie erfinden. Ihre konkrete Bedeutung für das
Lernen von Geometrie ist nicht belegt. Sie
wäre von Interesse, wenn sie für Probleme
im Unterricht sorgen würde, z.B. wenn der
Schüler in einer anderen Vorstellung argumentiert als die Lehrerin.
4.3 Stefan: Dynamische Visualisierung und Beweis
Im dritten Beispiel geht es um die Frage, inwieweit eine dynamische Visualisierung einen Beweis unterstützen oder ersetzen kann.
Stefan antwortet auf die Frage nach Veränderung seines Bildes von Geometrie durch
Cinderella und bringt dabei ein Beispiel:
Also, ich finde diese Veranschaulichkeit .
suuper\ Also, man kann daran ziehen/
und dann sieht man, dass das eine Quadrat kleiner wird oder dann gegen Null
strebt und das andere Quadrat genauso
groß wird wie das der Hypotenuse\ . Und
wenn man´s jetzt zeichnen sollte, ich
wüsste nicht, wie man das jetzt ordentlich
. hin kriegen . könnte\
Ein wenig später nimmt der Interviewleiter
noch einmal Bezug auf dieses Beispiel und
fragt, was für Stefan das Besondere daran
gewesen sei.
S Also, für mich war das . Besondere oder
das Einleuchtende, dass halt . ähm wenn
man jetzt ähm meinetwegen an dem oberen Punkt, an dem Schnittpunkt der Katheten, wenn man jetzt da dran zieht/
dass halt . auf der einen Seite das eine
Kathetenquadrat kleiner wird/ je nachdem, und das andere Kathetenquadrat
größer\, je nachdem in welche Richtung
man geht\ .. und an irgendeinem Punkt/
wenn halt dieser . bestimmte Punkt, an
dem man zieht, jetzt auf der Hypotenuse
liegt, ähm . ist halt . ja, ist das Quadrat
über der Hypotenuse genauso groß wie
das Quadrat über den . ähm über den Katheten, wobei das eine Kathetenquadrat ja
dann Null ist . oder sein sollte\
Und dass man halt das Verhältnis auch
sieht, wie sich das eine Quadrat gegenüber dem anderen verändert\
An Stefans Beispiel ist problematisch, dass
es — auch wenn er am Anfang vom „Beweis
vom Satz des Pythagoras“ spricht — keine
Beweiskraft hat.
Abb. 1
S.: Also ich hab jetzt so diesen, diesen einen
Beweis, Beweis vom Satz des Pythagoras zum Beispiel im Kopf, wo man das
rechtwinklige Dreieck sieht/ und dann
noch über der oder unter der Hypotenuse
halt nen Quadrat hat/ .
und die beiden ähm Kathetenquadrate/ .
und kann man, also wenn man das jetzt
zeichnen würde, dann ähm . oder, anders\
mit Cinderella könnte man jetzt einfach
die beiden Katheten im Prinzip . ja auf die
Hypotenuse legen, so dass oben halt genau so ein flächengleiches Quadrat entstehen würde wie jetzt das äh, Hypotenusenquadrat\
120
Der von ihm als so „einleuchtend“ empfundene Spezialfall, in dem eine Kathete Null ist,
sagt nichts über das Verhältnis der Größe
der Kathetenquadrate aus. Es lässt sich daher auch nicht auf den Satz schließen. Jeder
Bogen über der Hypotenuse würde diesen
Grenzfall liefern: ein größerer Kreis ebenso
wie ein Ellipsen-, Parabelbogen oder andere
Kurven. Seine Betrachtung wäre nur dann
aussagekräftig, wenn man vom Grenzfall
auch auf andere Fälle schließen könnte,
wenn man also bereits wüsste, dass die
Summe der Kathetenquadrate konstant ist:
doch das ist die Aussage des Satzes!
Stefan behauptet außerdem, „dass man halt
das Verhältnis auch sieht, wie sich das eine
Quadrat gegenüber dem anderen verändert“,
aber dazu lässt sich tatsächlich mit bloßem
Auge keine konkrete Aussage machen. Auch
die Veränderungen auf anderen Bögen sind
teilweise so ähnlich, dass es beim Ziehen
Ein Projekt zum Einsatz Dynamischer Geometrie-Software in der Lehramts-Ausbildung
nicht möglich ist, mit dem bloßen Auge einen
Unterschied auszumachen. Man kann die
Konstanz der Summe nicht sehen!
Stefan macht hier zwei Aussagen, wie Cinderella ihn überzeugt hat, die beide jedoch mathematisch nicht aussagekräftig sind. Also ist
Cinderella hier vollkommen sinnlos? Für Stefan offensichtlich nicht. Und Stefan ist ein
sehr guter Student, in seinem Studiengang
Primarstufe weit überdurchschnittlich, was
Mathematik anbelangt. Durch die Auswertung des Interviews wissen wir außerdem,
dass er über ein differenziertes und
elaboriertes
Beweisverständnis
verfügt.
Trotzdem scheint er dieser dynamischen
Visualisierung Beweiskraft zuzuschreiben. Er
findet diese „Veranschaulichkeit“ „suuper“
und der Spezialfall ist für ihn das „Einleuchtende“. Er sieht etwas, die Variation im
Zugmodus bringt ihm etwas, überzeugt ihn.
Es ist zu erwarten, dass neben anderen Studierenden auch viele Schülerinnen und
Schüler durch eine dynamische Visualisierung ähnliche Vorstellungen entwickeln, sie
als Plausibilisierung oder gar als Beweis annehmen. Dies muss nicht unbedingt von
Nachteil sein.
Dynamische Visualisierungen oder, wie Bender (1989) formulierte: „stetige Bewegungen
und Verformungen“, können in unterschiedlichem Ausmaß überzeugend wirken oder
sein.
Ich möchte zwei Fälle näher ausführen: Sie
können
• überzeugend, aber kein Beweis sein;
• überzeugend und ein Beweis sein.
Im ersten Fall können Vorstellungen wie die
von Stefan im Mathematikunterricht einen
willkommenen Anlass zur Analyse geben.
Nachfragen wie z.B.: „Was genau sagt uns
dieser Spezialfall? Überzeugt er euch? Was
hat er mit dem Satz des Pythagoras zu tun?
Du sagst, du kannst sehen, wie sich das
Verhältnis der Quadrat-Größen verändert —
wie siehst du das genau? Wie ist das Verhältnis?“ können als Hinführung zum vollständigen Argument dienen oder zumindest
die Reichweite der Plausibilisierung klar machen. Durch sie lässt sich in jedem Fall eine
tiefergehende mathematische Analyse anschließen, die von den Vorstellungen der
Schülerinnen und Schüler ausgeht und eine
Kultur des kritischen Nachfragens und Argumentierens ins Leben rufen kann.
Auch Gespräche über das Spannungsfeld
von Beweis – Überzeugung – Plausibilisierung sind darüber hinaus möglich, z.B. mit
dem Ziel, sich der Frage „Was ist ein Beweis?“ zu nähern.
Die Voraussetzung dafür ist natürlich, dass
die Lehrperson eine Atmosphäre schafft, in
der die Schülerinnen und Schüler ihre Vorstellungen unvoreingenommen äußern können und wollen. Außerdem muss sie das
Problem in einer fehlerhaften Vorstellung erkennen und ggf. Kontrastierungsvorschläge
machen. Dazu muss sie insbesondere elementar-geometrisch gut ausgebildet sein und
Vielfalt (von Lösungsmöglichkeiten, im Beziehungsreichtum mathematischer Gegenstände etc.) als sinn- und wertvoll erfahren
haben.
Eine weitere Funktion dynamischer Visualisierungen ist die Verbreiterung der Erfahrungsbasis, indem zunächst auf einer phänomenologischen Ebene zahlreiche Fälle
sichtbar werden und ggf. auch Folgerungen
und Ursachen (was ist, wenn ...?) untersucht
werden können. Dadurch wird jedoch möglicherweise das Beweisbedürfnis reduziert oder blockiert, wofür wir ebenfalls bereits Beispiele gefunden haben (Maczey 2002, 329).
Andererseits würde kein Mathematiker einen
Beweis anstrengen, wenn er nicht schon an
den Sachverhalt glauben würde, d.h. durch
empirische Befunde oder Plausibilisierungen
von seiner Gültigkeit überzeugt wäre.
Es steht und fällt damit, dass ein Beweis als
mathematisches Charakteristikum eben mehr
ist als nur ein Gültigkeitsnachweis, er dient
neben der Verifikation ebenso der Erklärung
und Systematisierung im Sinne des lokalen
Ordnens, und das heißt: des Verstehens.
Eine Möglichkeit, einen Beweis mit Hilfe der
DGS nicht durch Zweifel an der Gültigkeit eines Satzes, sondern durch Neugier und Interesse an den Zusammenhängen zu motivieren, beschreibt Hölzl mit der Methode des
Kontrastierens, bei der ein Sachverhalt „eingebettet in allgemeinere oder speziellere
Fragestellungen, in seiner Besonderheit eher
erkennbar wird“ (Hölzl 1999, 23):
Die Rolle des Computers (..) liegt weniger im
Erhärten einer bestimmten Vermutung —
Lernenden reicht dazu oft nur ein einziges
Beispiel —, sondern im Verfolgen einer Reihe von verallgemeinerten und spezialisierten
Fragestellungen, um so die empirische
Grundlage zu verbreitern, auf der sich dann
Beweisaktivitäten, etwa im Sinne lokalen
Ordnens, anstoßen lassen. (Hölzl 1999, 34)
Für den Fall, dass die dynamische Visualisierung überzeugend und ein Beweis sein soll,
muss zunächst das Beweisargument im Bild
sichtbar sein, wie in einem Beispiel von Arn-
121
Dorothee Maczey
heim zum Winkelsummensatz
1972, diskutiert bei Bender 1989).
(Arnheim
Abb. 2 (Arnheim 1972, 173)
Obwohl es sich im streng mathematischen
Sinne nicht um einen echten Beweis handelt,
da der Satz in seiner Aussage „nur“ äquivalent zum Parallelenaxiom ist, wird er dennoch
in so gut wie allen Schulbüchern der 7. Klasse als solcher ausgeführt und scheint mir als
Beispiel an dieser Stelle durchaus geeignet.
Arnheim führt aus, wie die Variabilität Plausibilität und Allgemeingültigkeit noch einsichtiger macht: Nach der Beweisüberlegung am
statischen Bild lässt man einen Winkel fest
und variiert die beiden anderen, deren Summe konstant bleibt. Und hier sieht man nun
die Konstanz der Summe!
„Nun ist es gewiß von praktischem Wert, die
Gültigkeit eines Lehrsatzes zu beweisen;
darüber hinaus kommt es für das Denken
darauf an, daß der Bereich des Lehrsatzes
ausdrücklich zu Bewußtsein kommt.“ „Der
Lehrsatz ist nicht nur als allgemein gemeint,
sondern nun auch als allgemein verstanden.“
(Arnheim 1972, 173f)
Dieser Fall, in dem Visualisierung und Beweis eins sind, ist wohl der Idealfall für die
Mathematikdidaktiker, denn der Beweis ist
immer noch das, was die Mathematik so besonders, so kraftvoll und unabhängig macht.
Beweisen ist eben nicht alles —, aber ganz
ohne Beweisen ist alles nichts.
Ausgehend von unserem Eingangsbeispiel:
Stefan und Pythagoras können wir nun drei
Folgerungen für drei Arbeitsgebiete der Mathematikdidaktik aufstellen:
Dynamische Visualisierungen können bei
den Studierenden (oder auch bei den Schülerinnen und Schülern) Vorstellungen hervorrufen, die von der Lehrperson nicht unbedingt intendiert waren, aber Anlass geben
können zur Analyse mathematischer Sachverhalte und zum Gespräch über das Verhältnis Plausibilisierung – Beweis. Dazu
muss die Lehrerin sensibel sein für mathematische Argumente wie für versteckte Schülervorstellungen und diese Sensibilität auch
in ihrer Ausbildung erfahren und gelernt haben. — Das ist eine Aufgabe für die Lehre.
Beispiele, in denen ein echtes Beweisargument mit der Überzeugungskraft durch Variation gepaart ist, sind für den Unterricht be-
122
sonders lohnend. Es gilt, sie zu finden und
für die Schule aufzuarbeiten. — Das ist eine
Aufgabe für die Stoffdidaktik.
Außerdem geht es darum, Phänomene aus
der Halbwelt zwischen DGS und Mathematik
zu beobachten, zu strukturieren, zu beschreiben, unter Einbezug der stoffdidaktischen Seite zu analysieren und der fachdidaktischen Diskussion wie auch der unterrichtlichen Praxis zugänglich zu machen. —
Das ist eine Aufgabe für die empirische Forschung.
Literatur
Arnheim, Rudolf (1972): Anschauliches Denken.
Köln: DuMont-Schauberg
Bender, Peter (1989): Anschauliches Beweisen im
Geometrieunterricht — unter besonderer Berücksichtigung von (stetigen) Bewegungen
bzw. Verformungen. In: Kautschitsch, Hermann & Metzler, Wolfgang (Hrsg.): Anschauliches Beweisen. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky & Stuttgart: Teubner, 95–145
Bender, Peter (2001): Dynamische-GeometrieSoftware (DGS) in der Lehramts-Ausbildung.
In: Beiträge zum Mathematikunterricht 2001,
104–107
Danckwerts, Rainer, Vogel, Dankwart & Maczey,
Dorothee (2000): Ein klassisches Problem —
dynamisch visualisiert. In: Der mathematische
und naturwissenschaftliche Unterricht 53, 342–
346
Gawlick, Thomas (2001): Zum Erwerb geometrischer Grundbegriffe mit bzw. ohne DGS im regulären Mathematikunterricht. In: Herget, Wilfried & Sommer, Rolf (Hrsg.): Lernen im Mathematikunterricht mit Neuen Medien. Hildesheim: Franzbecker, 45–53
Hofe, Rudolf vom (1998): Computergestützte
Lernumgebungen im Analysisunterricht. Fallstudien und Analysen. Habilitationsschrift Universität Augsburg
Hölzl, Reinhard (1999): Qualitative Unterrichtsstudien zur Verwendung dynamischer GeometrieSoftware. Augsburg: Wißner
Krüger, Katja (1999): Erziehung zum funktionalen
Denken. Berlin: Logos
Maczey, Dorothee (2002): Ein Projekt zum Einsatz
Dynamischer Geometriesoftware in der Lehramts-Ausbildung. In: Beiträge zum Mathematikunterricht 2002, 327–330
Rinkens, Hans-Dieter (2001): Internet-Skript zur
Vorlesung „Elemente der Geometrie“:
http://math-www.uni-paderborn.de/~rinkens/
veranst/elgeo2001/index.html
Roth, Jürgen (2002): Bewegliches Denken — ein
wichtiges Prozessziel des Mathematikunterrichts. In: Beiträge zum Mathematikunterricht
2002, 423–426
z
Feli-X:
Ein Prototyp zur Integration von CAS und DGS
Reinhard Oldenburg, Göttingen
Das Beispiel der Parabelkonstruktion macht deutlich, dass die Alternative zwischen den
Werkzeugen CAS und DGS unglücklich ist. Anhand eines Prototypen werden die Möglichkeiten eines integrierten CAS-DGS diskutiert.
1
Einleitung
Computeralgebrasysteme (CAS) und dynamische Geometrieprogramme (DGS) gehören zur selbstverständlichen Werkzeugsammlung des modernen Mathematikunterrichts. Nun gibt es einen beachtlichen Bereich mathematischer Inhalte, die mit beiden
Werkzeugen bearbeitet werden können. Mit
einem Programm, das beide Fähigkeiten
vereint, könnte man sich die Qual der Wahl
ersparen und zudem neue didaktische Wege
eröffnen. In diesem Aufsatz soll ein solches
Programm vorgestellt werden, das das CAS
Mathematica und ein selbst geschriebenes
DGS integriert.
Zunächst wird der didaktische Hintergrund
beschrieben, aus dem sich die Zielsetzung
einer solchen Integration ergeben hat. Dazu
wird am Beispiel der Einführung von Parabeln die Alternative zwischen CAS und DGS
herausgearbeitet. In der anschließenden Diskussion des Programms Feli-X wird dieses
Beispiel wieder aufgenommen.
Die hier vorgestellte Arbeit entspringt einem
Bild von Mathematik und Mathematikunterricht, das mit den folgenden Schlagworten
umrissen werden kann:
• Mathematik ist eine ermächtigende Wissenschaft, und Schüler müssen den Zuwachs an eigner Macht erfahren können.
• Mathematik ist ein Werkzeug und benutzt
Werkzeuge.
• Werkzeuge sind nicht passiv, sie prägen
als Interaktionspartner die mathematischen Inhalte.
• Die Wahl des richtigen Werkzeugs ist eine
zu erwerbende Kompetenz.
2
Parabeln
Es ist Konsens der Mathematikdidaktik, dass
Parabeln als geometrische Objekte und nicht
nur als Graphen quadratischer Funktionen
behandelt werden sollten. Bei Parabeln ist ihre Brennpunkt- bzw. Leitlinieneigenschaft
zentral für ihre technische Anwendung und
bietet somit reiche Vernetzungsmöglichkeit.
Eine Parabel in der Euklidischen Ebene E
wird festgelegt durch einen Brennpunkt F
und eine Leitgerade g (die F nicht enthält).
Die zugehörige Parabel ist die Menge derjenigen Punkte, deren Abstand von g genauso
groß ist wie ihr Abstand von F. Also:
{P∈Ed(P,g)=d(P,F)}.
Diese mathematische Definition gilt es unterrichtlich umzusetzen. Im folgenden werden
Erfahrungen mit verschiedenen Ansätzen dazu berichtet.
3
Parabeln mit DGS
Weitgehend dem Ansatz des innovativen Mathematikschulbuches Mathenetz folgend, habe ich zunächst andere, bekannte Abstandseigenschaften (Mittelsenkrechte, Kreis) wiederholt, um dann auf die Konstruktion der
Parabel mittels Tangente (Abb. 1) zuzusteuern.
Leider hat kein einziger meiner Schüler diese
Vorlage der Mittelsenkrechten genutzt. Statt
dessen kamen Schüler auf verschiedene Varianten der Idee, einen Kreis von variablem
Radius um F zu schlagen und eine Parallele
zu g im Abstand des Kreisradius zu konstruieren. Die Schnittpunkte von Kreis und
Parabel liegen dann natürlich auf der Parabel
(Abb. 2).
Eine Analyse der kognitiven Anforderungen
der beiden Wege fördert zu Tage, warum der
zweite Weg einfacher ist: Er setzt nämlich die
geforderte Eigenschaft geradliniger um. Von
der geforderten Abstandseigenschaft der Parabelpunkte kann man durch gerichtete Argumentationsschritte unmittelbar die Richtigkeit der Konstruktion einsehen. Im ersten Fall
123
Reinhard Oldenburg
dagegen, ist es einfacher, von der fertigen
Konstruktion rückwärts zu argumentieren.
Besonders interessant ist die, auch in Abb. 2
gezeigte und von mehreren Schülern parallel
Abb. 1: Die Leitlinienkonstruktion der Parabel mit Tangente
Abb. 2: Die Konstruktion der Parabel mit einem Schieberegler und Hilfskreisen
124
Feli-X: Ein Prototyp zur Integration von CAS und DGS
entdeckte Variante, den gemeinsamen Radius und Parallelenabstand durch einen
selbstgebauten Schieberegler vorzugeben,
also eine algebraische Variable einzuführen.
Dies legt den Schluss nahe, dass ein algebraischer Zugang angemessen sein könnte.
4
Parabeln mit CAS
Da zum Zeitpunkt der Parabeleinführung der
Satz des Pythagoras in der Regel zur Verfügung steht, kann die Definition der Parabel
(bezogen auf ein Koordinatensystem) in
Gleichungen übersetzt werden. Mit Derive
kann das wie in Abb. 3 geschehen. Wenn
man #2, #3 und #4 zeichnen lässt, erhält
man das in Abb. 3 rechts gezeigte Bild.
5
CAS vs. DGS
Die bisherige Diskussion sollte zeigen, wie
das jeweils gewählte Werkzeug schon die
Problemwahrnehmung und erst recht die Lösung verändert. Die Werkzeuge bestimmen
damit maßgeblich die ablaufenden Denkprozesse. Es ist damit zu rechnen, dass der
Umgang mit einem bestimmten Werkzeug zu
charakteristischen Fixationen führt.
Eine weitere bedenkenswerter Punkt ist die
naheliegende Parallelität zwischen der
DGS/CAS-Scheidung und der von Schwank
(1996) vorgenommen Unterscheidung der
Präferenz für funktionalen/prädikativen Denkstil. Es könnte sich schon von daher als geboten erweisen, verschiedenen Schülern verschiedene Zugangsmöglichkeiten zu eröff-
Abb. 3: Die Parabel in Derive
Bei diesem Zugang hatten einige Schüler
Probleme, mit der abstrakten algebraischen
Ausdrucksweise. Andererseits ermöglichte
sie auch eine verhältnismäßig leichte Erweiterung auf die Abstandsdefinitionen anderer
Kegelschnitte. Obwohl die Schüler diesen
Vorteil sahen, erklärte in einer abschließenden Befragung die Mehrheit, die Veranschaulichung der Parabel mit Euklid sei
schöner. Hauptargument war, dass das fertige Bild noch mit der Maus verändert werden
konnte.
nen. Da aber nach dieser Theorie der jeweils
nicht präferierte Stil auch gefördert werden
kann, scheint ein integratives Werkzeug auch
aus diesem Blickwinkel sinnvoll zu sein.
6
CAS und DGS mit Feli-X
Aus den oben dargestellten Überlegungen
ergibt sich der Wunsch nach einem System,
das CAS und DGS integriert. Mit dem Programm Feli-X steht ein Prototyp zur Verfü-
125
Reinhard Oldenburg
gung, der als experimentelles System zwar
noch nicht für Schüler geeignet ist, es aber
erlaubt, erste Erfahrungen mit diesem Ansatz
zu sammeln.
Gegenwärtig ist Feli-X in Mathematica geschrieben, da dieses CAS derzeit das einzige
ist, dessen Kern über dokumentierte Schnittstellen verfügt, die die benötigten Dienste bereitstellen. Da langfristig der Umstieg auf ein
anderes CAS geplant ist, ist die gegenwärtige Phase bewusst experimentell gehalten.
Sie dient vor allem der Exploration und Auswahl von Eigenschaften, die dann in solider
Form in einem zweiten System implementiert
werden sollen.
• Ansatz möglichst allgemein, spätere Spezialisierung
Die Programmierung von Feli-X erfolgt so,
dass zunächst Möglichkeiten geschaffen
werden, und erst in einer zweiten Runde
ihr Nutzen bewertet wird. Bei sinnvollen
Möglichkeiten stellt sich dann auch die
Frage nach der Optimierung der Performance.
• Kapselung verschiedener DGS-Kerne
Dem experimentellen Ansatz folgend
wurde versucht, durch möglichst viele
verschiedene Strategien Dynamik in die
Konstruktion zu bringen.
In Kürze könnte man Feli-X durch die folgenden Eigenschaften umreißen:
• Keine Unterscheidung von abhängigen
• Kleines, offenes Mathematica/Java-Pro-
Wenn man die Konstruktion mit Gleichungen beschreibt, wird klar, dass die strenge
Unterscheidung von abhängigen und freien Punkten, wie sie die traditionelle DGS
trifft, keine mathematische Notwendigkeit
ist. Feli-X erlaubt deshalb auch das Ziehen an abhängigen Punkten. Diese Möglichkeit hat technische und didaktische
Konsequenzen, über die noch zu sprechen sein wird.
gramm
Die Übersichtlichkeit des Quellcodes und
die Offenheit soll es engagierten Anwendern erlauben, Feli-X als Bausteinkiste für
eigene Lern- und Forschungsumgebungen zu verwenden.
• Mathematica-Notebook und Grafikfenster
parallel benutzbar und sich gegenseitig
beeinflussend
Dies ist die Kernidee der interaktiven Integration von CAS und DGS.
• Mächtigkeit des CAS und seiner Sprache
überall verfügbar, universelles Werkzeug,
anpassbar
Dem Paradigma des Werkzeugs folgend,
soll Feli-X der Phantasie des Nutzers
möglichst wenig Schranken auferlegen.
• Gleichungen
als zentrales Modellierungsmittel (teilweise mit Zusatzinformation)
Eine Mindestforderung ist, dass sich die
interaktiv oder via Programm erstellte
Konstruktion nicht nur in Form einer Konstruktionsbeschreibung sondern auch in
algebraischer Form ausgeben lässt. Vom
technischen Standpunkt aus erlaubt dies
die Ankopplung eines automatischen Beweissystems. Vom didaktischen Standpunkt aus dient dies der Vernetzung von
Geometrie und Algebra und ermöglicht
verschiedenste Untersuchungen der Konstruktion. In Feli-X ist aber auch die Ankopplung an das Gleichungssystem bidirektional, d.h. Änderungen des Gleichungssystems bewirken unmittelbar eine
Änderung der geometrischen Konfiguration.
126
und unabhängigen Punkten
Abbildung 4 zeigt die typische Situation für
die Arbeit mit Feli-X. Auf der rechten Seite
sieht man das Mathematica-Notebook, auf
der linken Seite das Grafikfenster. Zusätzlich
ist in diesem Beispiel ein Schieberegler für
„myphi“ zu sehen. Mit diesem setzt der Benutzer den Wert der Mathematica-Variable
myphi, und deren Veränderung bewirkt in
der abgebildeten Situation eine Rotation des
Dreiecks im linken Fenster. Diese Rotation
wurde dabei über eine Rotationsmatrix gesteuert, die im Mathematica-Notebook definiert wurde.
Die Bidirektionalität der Kommunikation beide Programmfenster ermöglicht es, geometrische Objekte auf zwei Arten zu verschieben
(mit der Maus oder durch Angabe der neuen
Koordinaten) und Variablen auf zwei Arten
mit neunen Werten zu belegen (mit einer Mathematica-Zuweisung oder durch den Zugmodus der DGS).
Die analoge Bidirektionalität zwischen geometrischer Konstruktion und Gleichungssystem fordert eine Doppelung der graphisch relevanten Variablen: In den Gleichungen werden Symbole wie xc[„P1“] für die x-Koordinate des Punktes P1 verwendet. Die aktuellen Werte dieser Variablen werden aber
getrennt gespeichert und sind als XC[„P1“]
verfügbar. Die Funktion InsertValues erlaubt, in einem Term einige oder alle Varia-
Feli-X: Ein Prototyp zur Integration von CAS und DGS
blen durch ihre aktuellen Werte zu ersetzen.
Dies muss aber von Hand geschehen.
er durch die nachfolgenden Gleichungen ohnehin umgelenkt wird.
Abb. 4: Die Arbeitsumgebung von Feli-X
Die folgende Sequenz von Feli-X/Mathematica-Befehlen konstruiert eine Dynagraph Anwendung (vgl. Elschenbroich 2003), bei der
ein Punkt (hier P1, auf die x-Achse festgelegt) mit der Maus gezogen wird, und ein
zweiter Punkt auf einer zweiten Achse (hier
P2 auf der um 2 in y-Richtung verschobenen
Parallelen) gemäß einer Funktionsvorschrift
(hier x a x2) wandert.
P1=addObject[„point“,0,0];
P2=addObject[„point“,1,1];
addEquation[yc[P1]==0];
addEquation[yc[P2]==2];
addEquation[xc[P1]^2==xc[P2]];
Die ursprünglich für P2 angegebenen Koordinaten sind vollkommen bedeutungslos, da
Benutzeraktion
In dieser Beschreibung wird nirgends verwendet, dass P1 unabhängig (ein Basispunkt) und P2 abhängig (ein konstruierter
Punkt) ist. Folgerichtig erlaubt es Feli-X, an
P2 zu ziehen, wobei sich dann P1 mitbewegt.
Feli-X arbeitet also mit Gleichungen als Relationen. Herkömmliche DGS dagegen nehmen eine funktionale Modellierung dar. Dass
dieser traditionelle Ansatz einengend wirkt,
zeigt sich an den (allerdings sehr beschränkten) Möglichkeiten der Umdefinition von
Punkten in Cabri und Euklid. Es sei allerdings nicht verschwiegen, dass die der relationale Ansatz eine Reihe von technischen
und mathematischen Schwierigkeiten mit
sich bringt. Einige davon bilden aber unmittelbar wichtige mathematischen EigenschafReaktion von Feli-X
F=addObject[„point“,3,4];
g=addObject[„line“,1,-4,2];
P=addObject[„point“,5,5];
redrawDGS[];
Verschieben von P mit der Maus
addEquation[dist[P,F]==dist[P,g]];
Verschieben von P mit der Maus
Button „Lösungsmenge“, dann P anklicken
Verschieben von F mit der Maus
Es werden eine Gerade und zwei Punkte
gezeichnet.
P ist frei beweglich
P springt (?!, nämlich auf die Parabel)
P ist nur noch auf der (noch unsichtbaren)
Parabel beweglich
Es erscheint eine Parabel
Die Parabel wird nachgezogen
Tab. 1: Erzeugung einer Parabel mit Feli-X
127
Reinhard Oldenburg
ten und Einschränkungen ab, die auch didaktisch interessant sind. Beispielsweise machen sich nicht-eindeutige Zuordnungen und
Einschränkungen im Bildbereich bemerkbar.
Wie gestaltet sich die oben beschriebene
Einführung der Parabeln mit Feli-X? Tabelle 1 auf der Vorseite zeigt die Entwicklung.
Form durch versuchsweises Verschieben
von P ertastet werden. Der Nutzer zieht dabei an P als dem Punkt, der ihn interessiert,
nicht an einem Basispunkt, der lediglich
Hilfsmittel in einer Konstruktion ist.
Einer der DGS-Kerne, die das oben beschriebene Ziehen an abhängigen Punkten
erlaubt, heißt „FindMinimum“ nach der
Abb. 5: Die Parabel in Feli-X
Das Endstadium der Konstruktion ist in
Abb. 5 zu sehen. Die grobe Rasterung der
Parabel ist das Resultat einer programmtechnischen Notlösung, die ein Scheitern von Mathematicas ImplicitPlot gerade an diesem Beispiel kompensiert. Im Unterscheid
zur Ortslinienfunktion klassischer DGS (die
es in Feli-X auch gibt) gibt es hier keinen Basispunkt, an dem gezogen werden könnte,
um die Parabel abzufahren. Dafür aber kann,
noch bevor die Parabel gezeichnet wird, ihre
128
gleichnamigen Mathematica-Funktion, die er
benutzt. Er leistet noch etwas erstaunliches:
Wenn man in der Abbildung 6 den rechten
Kreismittelpunkt (der an die Gerade gebunden ist) nach links verschiebt bewegt sich der
Kreisschnittpunkt, auf den ein Vektor als
Marker gesetzt ist, stetig. Dieses Beispiel
wird im Handbuch von Cinderella verwendet,
um Unstetigkeit in traditionellen DGS aufzuzeigen.
Feli-X: Ein Prototyp zur Integration von CAS und DGS
Abb. 6: Eine bekannte Stetigkeitsfalle für dynamische Geometrieprogramme im Fenster von Feli-X
7
Beispiel eines einfachen
DGS-Kerns
Die Aufgabe eines DGS-Kerns im hier beschriebenen Rahmens ist, aus einer gegebenen Lösung des Gleichungssystems (alte
Konfiguration) eine neue Lösung zu finden,
bei der ein Teil der Variablen die durch die
Mausbewegung gegebenen neunen Koordi-
naten hat. Dabei können die Bewegungen
Einschränkungen unterliegen, beispielsweise
kann ein an ein Objekt gebundener Punkt
nicht an jede Stelle mit der Maus gezogen
werden. Das legt nahe, das Finden der neunen Konfiguration als Optimierungsproblem
aufzufassen. Die folgende Mathematica-Definition ist der vollständige Code des Kerns
„FindMinimum“, der für die obigen Beispiele
verwendet wurde, und der diese Idee realisiert:
DGmoveF[name_,Calt_,Cneu_]:= Module[{eqs,sol,RV},
RV = Map[{#, InsertValues[#]}&,Vars];
eqs=Join[Equations,{xc[name]==Cneu[[1]],
yc[name]==Cneu[[2]]}];
sol=Apply[FindMinimum,
Append[Prepend[RV,
Apply[Plus, Map[ (#[[1]] -#[[2]])^2 &, eqs]]],
MaxIterations->200]];
UpdateFromRules[sol[[2]]]; ];
Tab. 2: DGS-Kern „FindMinimum“
129
Reinhard Oldenburg
Diese Funktion übernimmt den Namen des
zu ziehenden Objekts (hier notwendig ein
Punkt) sowie seine alten (hier gar nicht benötigt) und neuen Koordinaten. Zum aktuell gültigen Gleichungssystem werden die Bedingungen hinzugefügt, dass die neuen Koordinaten die vorgegeben Werte annehmen sollen (Variable eqs). Zu allen Variablen wird ihr
aktueller Wert ergänzt (Variable RV) und aus
beiden Bestandteilen wird ein FindMinimumBefehl geformt, der die eigentliche Berechnung vornimmt.
8
Phasenraum-Modell
Schon der Begriff „Dynamisches Geometriesystem“ legt nahe, die Bewegungen im Zugmodus im Sinne dynamischer Systeme der
Physik zu deuten. Dazu gehört zunächst,
dass man neben dem Konfigurationsraum
auch den Impulsraum der Objekte betrachtet.
Das wirft ein interessantes Licht auf die von
Kortenkamp & Richter-Gebert (2000) mit Cinderella bekannt gemachte Stetigkeitsproblematik. Betrachten wir als Beispiel die Konstruktion der Winkelhalbierenden mit Hilfe
dreier Kreise gleichen Radius (Abb. 7). Wenn
man A in Richtung S mit konstanter Geschwindigkeit bewegt, bewegt sich auch P
Abb. 7
130
Richtung S mit konstanter Geschwindigkeit.
Das traditionelle Euklid, und auch die neueren Versionen in der Einstellung des deterministischen Zugmodus, zeigen ein überraschendes Verhalten, wenn A schließlich
durch S hindurch läuft. Dann zweigt P nämlich orthogonal ab, biegt also aus die zweite
Winkelhalbierende ein. Eine durch S und P
eingezeichnete Winkelhalbierende würde in
diesem Moment also springen. Der Punkt P
zeigt hier im Ortsraum nichtdifferenzierbares,
im Geschwindigkeitsraum sogar unstetiges
Verhalten. Dies ist allgemein typisch:
In allen in der Cinderella-Diskussion untersuchten Beispielen geht eine Unstetigkeit im
Ortsraum mit einer Nichtdifferenzierbarkeit im
Impulsraum, und umgekehrt eine stetige, aber nicht glatte Stelle im Ortsraum mit einer
Unstetigkeit im Impulsraum einher. Das legt
den Verdacht nahe, dass die Einbeziehung
des Impulsraums das Stetigkeitsproblem lösen könnte.
Eine naheliegende physikalische Interpretation der geometrischen Objekte eines DGS ist
es, die Punkte als Massepunkte zu betrachten, die durch Stangen und Räder verbunden
sind. Man erhält so ein Hamiltonsches System mit vielen Zwangsbedingungen. Betrachten wir die Mathematik dazu:
Feli-X: Ein Prototyp zur Integration von CAS und DGS
Es seien qi, i=1...n die Koordinaten aller geometrischer Objekte (also z.B. auch die Radien von Kreisen usw.). Zwischen diesen
Koordinaten bestehen aufgrund der Konstruktion Zwangsbedingungen (meistens algebraische Gleichungen): gj({qi})=0, j=1...k.
Man hat nun die Wahl der Masse aller Objekte mi. Für die Bestimmung der Lagrangefunktion verzichten wir auf potentielle Energie, so
dass sich als Lagrangefunktion ergibt:
L=
1 n
2
∑ mi q& i . Die Euler-Lagrange-Glei2 i =1
Die in Feli-X bis dato implementierte Version
dieses Verfahrens ist leider sehr ineffizient,
so dass nur die aller einfachsten Beispiel
damit berechnet werden konnten. Je nach
Wahl der Massen zeigt sich ein unterschiedliches Verhalten, das zum Teil gewöhnungsbedürftig ist. Beispielsweise kann man
manchmal am Massenschwerpunkt die ganze Konstruktion translatieren, oder durch andere Züge rotieren lassen. Es muss sich
noch zeigen, welche Varianten von Schülern
als natürlich empfunden wird.
chungen unter den Zwangsbedigungen lauten
k ∂g
d ∂
∂
j
−
=∑
λ j für i=1...n. In
dt ∂q& i ∂qi
j =1 ∂q i
unserem einfachen Fall ergibt sich also ein-
&&i =
fach: mi q
k +2
∂g j
j =1
i
∑ ∂q λ
j
. Um zu einem Sys-
tem erster Ordnung zu kommen, führt man
Geschwindigkeiten vi ein und erhält als zu lösendes System:
q&i = vi , i = 1...n
1
v&i =
mi
k +u
∑
∂g j ({qi })
j =1
∂qi
9
Didaktische Bewertung
Das hier vorgestellte Programm kann einige
Hoffnungen erfüllen:
• Die Verbindung von algebraisch/abstrakter und dynamisch/visueller Sichtweise
wird geschaffen. Feli-X trägt damit zur
Vernetzung bei. Es ermöglicht, klassische
Inhalte auf mehr Kanälen zu transportieren als nichthybride Werkzeuge.
• Die Offenheit des Systems kann die Inforλj
0 = g j ({qi }, t )
Dieses Anfangswertproblem ist bei jeder
Mausbewegung zu lösen. Die Anfangswerte
der Koordinaten q sind die Werte in der alten
Konfiguration. Alle Geschwindigkeiten haben
den Anfangswert 0. Man kann in dieses System, wenn man will, auch Informationen über
die Konstruktion (Abhängigkeitsgraph) eingeben, indem man für die Koordinaten, die von
der Bewegung nicht betroffen sind, die konstanten Koordinaten von vorneherein eingibt.
Für dieses algebraisch-differentielle Gleichungssystem kann man glücklicherweise
auf eine ausgearbeitete Theorie (Hairer et al.
2002) zurückgreifen, die einem die Existenz
einer eindeutigen Lösung garantiert, wenn
die Jacobimatrix der Zwangsbedingungen
maximalen Rang hat. Es hat noch keine systematische Untersuchung dieser Bedingung
stattgefunden, aber einfache Beispiele zeigen, dass sie in der Regel erfüllt ist. Wenn
dem so ist, hat man eine differenzierbare und
damit sogar stetige Lösung auf dem Phasenraum. Diese Lösung der Stetigkeitsproblematik ist im Vergleich zu der von Cinderella zu
sehen. Die in Cinderella vorgenommene Erweiterung auf komplexe Koordinaten steht in
Analogie zur Erweiterung auf den Phasenraum im hier diskutierten Modell.
mationsflüsse transparent machen.
• Die Bedeutung der Gleichungen wird erfahrbar.
• Feli-X ist ein Baukasten, mit dem Dyna-
graph-Anwendungen schnell realisiert
werden können. Es ermöglicht einen dynamischen Zugang zur Frage der Umkehrbarkeit einer Zuordnung.
Neben technischen Fragen wie der derzeit
noch zu geringen Arbeitsgeschwindigkeit und
gelegentlichen Programmabstürzen sollten
vor allem die folgenden didaktischen Fragen
in Zukunft genauer untersucht werden:
• Steht das Ziehen an beliebigen Punkten
im Widerspruch zur didaktisch wertvollen
Idee der geometrischen Konstruktion sukzessivem, also funktionalem Bauplan?
• Können Schüler sinnvoll mit der Be-
schreibung eines geometrischen Sachverhaltes durch ein (unübersichtliches?)
Gleichungssystem umgehen?
• Stellt die Unterscheidung von Variabler
(z. B. xc[P]) und ihrem Wert (z.B.
XC[„P“], was zum jeweils aktuellen Wert
evaluiert) eine kognitive Hürde dar? Oder
ist es die Chance das Variablenkonzept
neuartig zu visualisieren?
131
Reinhard Oldenburg
10
Weitere Ziele
Es sollen in Zukunft Schritte unternommen
werden, um in absehbarer Zukunft Schüler
mit einem solchen System arbeiten lassen zu
können. Im einzelnen stehen an:
•
Ausbau
– Integralkurven, Vektorrechnung, Tangenten etc...
– Anknüpfung an Beweissystem
– Algorithmische algebraische Geometrie
– Dynamisch angekoppelte Tabellenkalkulation
•
Richtung Mathematik
– Theorie des physikalischen Kerns
(Stetigkeit, Eichtheorie, schneller numerischer Löser)
– Homogene komplexe Koordinaten
•
Richtung Schüler
– Auswahl und Reifung geeigneter Ker–
–
–
–
ne
Neuimplementation in MuPAD oder
Maple
Verdeckte Linien, Farben, Makros,...
Dokumentation
Evaluation
Wenn die technische Umsetzung dieses
Plans gelingt, können auch die oben aufgeworfenen didaktischen Fragen experimentell
untersucht werden.
132
Literatur
Cukrowicz, Jutta & Zimmermann, Bernd (2001):
MatheNetz 9. Braunschweig: Westermann
Elschenbroich, Hans-Jürgen (2003): Funktionen
dynamisch entdecken. In diesem Band
Hairer, Ernst et al. (2002): Geometrical Numerical
Integration. New York: Springer
Kortenkamp, Ulrich & Richter-Gebert, Jürgen
(2000): Cinderella. Berlin: Springer
Schwank, Inge (1996): Zur Konzeption prädikativer versus funktionaler kognitiver Strukturen
und ihrer Anwendung. In: Zeitschrift für Didaktik der Mathematik 28, 168–183
Wolfram, Stephen (2001): Mathematica. A system
for doing Mathematics by Computer. Champaign: Wolfram Press
z
Zur Integration von Lehr- und Lernprogrammen in
den Mathematikunterricht
Andreas Pallack, Essen
Lernprogramme zum Mathematikunterricht werden oft im heimischen Bereich eingesetzt.
Die Auswahl der Software wird meist von den Eltern vorgenommen, womit hinreichende
Adaptivität zum Unterricht nicht gesichert ist. Der Nutzen solcher Programme hängt jedoch recht unmittelbar mit der gewählten unterrichtlichen Integrationsmethode zusammen. Im Rahmen dieses Beitrags werden einige Praxiserfahrungen zusammengetragen
und zu einer Kategorisierung von Integrationsmethoden verdichtet. Ziel dieses Vorgehens ist es Grundlagen zu schaffen, um Zusammenhänge zwischen dem unterrichtlichen
Nutzen und der gewählten Integrationsmethode von Programmen aufzudecken und so
Vor- und Nachmittagsmarkt stärker als bisher miteinander zu vernetzen.
1
Einleitung
Rechnerbasierte Lehr- und Lernprogramme
(LLP) haben mittlerweile eine recht bewegte
Geschichte. Bereits für die ersten Heimrechner gab es einfache Programme wie Vokabeltrainer, die dem Lernenden Unterrichtsinhalte präsentierten und sein Wissen abfragten. Mittlerweile existiert eine schier unüberschaubare Vielzahl von Produkten für alle
Fächer, die sich sowohl in ihrem Umfang, als
auch in ihrer Qualität erheblich unterscheiden. Das Potenzial dieser Programme für
den Unterricht nutzbar zu machen, ist, wie
man beispielsweise an den letzten Tagungsbänden der GDM erkennt, ein zentrales Ziel
der aktuellen mathematikdidaktischen Forschung. Spezielle Untersuchungen und Unterrichtskonzepte beschränken sich notwendigerweise auf einen kleinen Ausschnitt aus
dem großen Spektrum der verfügbaren Programme. Um trotzdem eine Kategorisierung
vornehmen zu können, teilt man häufig die
Klasse der LLP in die Unterklassen Werkzeug, Medium und Tutor ein. Eine genaue
Definition der einzelnen Begriffe scheint jedoch schwierig, was man nicht zuletzt daran
festmachen kann, dass es keine einheitliche
Definition gibt. Insofern scheint es notwendig,
vorab zu klären, welche Typen von LLP im
Rahmen dieser Arbeit behandelt werden. Ob
und inwiefern ein Lernprogramm geeignet ist,
um fachspezifisches Wissen zu vermitteln, ist
nicht unmittelbar durch Betrachten und Beurteilen des Programms möglich. So kann es
durchaus sein, dass recht schöne und aufwändige Programme den Lernenden nicht erreichen, da Inkompatiblitäten zum bereits
vorhandenen Wissen auftreten oder die Programme keine hinreichende Adaptivität zur
Integration in den Unterricht aufweisen. Zur
erfolgreichen Integration von Lernsoftware
muss also sowohl das Programm selbst, als
auch seine Integrationsmethode in Bezug auf
die Lernendengruppe beleuchtet und hinterfragt werden. Deswegen wird in einem
nächsten Schritt ein Vorschlag zur Kategorisierung von Integrationsmethoden vorgestellt. Ich unterscheide dabei zwischen „LLP
als Unterrichtsergänzung“, „Begleitender Einsatz von LLP“, „LLP Unterrichtsphasen“ und
„LLP–Integration“. Praxiserfahrungen bzw.
Vorschläge für die Unterrichtspraxis erläutern
anschließend die vorgenommene Unterteilung. Ich möchte bereits an dieser Stelle vorwegnehmen, dass Erfahrungsberichte vorliegen, die zeigen, dass ein und das gleiche
Programm unter verschiedenen Integrationsmethoden absolut abweichenden Erfolg und
Akzeptanz bei Schülern erzeugte. Schließlich
waren es auch solche Beobachtungen, welche die Schematisierung und Exaktifizierung
von Integrationsmethoden anregte. Abschließend wird ein Ausblick dahingehend gewährt, wie verschiedene Programme des
Nachmittagsmarktes auf die Lerngeschichte
eines Lernenden bei sinnvoller Integration in
den schulischen Unterricht positiv einwirken
können und ihm die Möglichkeit geben, nicht
verstandene oder vergessene Inhalte des
Unterrichts selbstständig nachzuarbeiten.
2
Was sind eigentlich LLP?
— Abgrenzung gegen
Anwendungsprogramme
Während Programme wie Computer-AlgebraSysteme (CAS), Tabellenkalkulationen und
auch Software für Geometrie bereits vielfältig
im Unterricht eingesetzt werden, führen Lern-
133
Andreas Pallack
programme, die auch im Nachmittagsbereich
eingesetzt werden, zur Zeit noch eher ein
Schattendasein. Trotz großer Absatzzahlen
und der damit verbundenen weiten Verbreitung berücksichtigt der Unterricht in den Sekundarstufen und der Grundschule eher selten die Möglichkeiten, die Programme besitzen. In dieser Arbeit werden ausschließlich
LLP betrachtet, die beschränkte Teilgebiete
des Unterrichts umfassen und Wissen sowohl präsentieren, als auch abfragen. Außen
vor bleiben umfangreiche Anwendungen wie
CAS, DGS oder Tabellenkalkulationsprogramme, aber auch elektronische Angebote,
die lediglich Wissen präsentieren ohne einen
hohen Grad an Interaktivität anzubieten. Um
einen Einblick in Charakter und Aufbau der
betrachteten Klasse von Programmen zu
gewähren, werden nun die Programme Mathebits aus dem Westermann-Verlag, Termumformungen bzw. Bruchrechnen aus dem
Klett-Verlag und das Ableitungsmodul des
Matheprismas der Universität Wuppertal kurz
vorgestellt. Die Programme unterscheiden
sich erheblich und sollen keineswegs miteinander verglichen oder detailliert beurteilt werden. Vielmehr ist es das Ziel, die Breite des
Spektrums der betrachteten LLP ansatzweise zu demonstrieren und eine Basis für die
Texte im Praxisbericht dieser Arbeit zu schaffen.
2.1 Mathebits
Das Programm Mathebits behandelt in erster
Linie die Bruchrechnung. Der Einsatz der
Software ist deswegen vor allem in der fünften bis siebten Klasse aller Schulformen
sinnvoll. Schon kurz nach dem Start des
Programms wird man von kleinen recht rundlichen Männchen freundlich begrüßt. Sie begleiten durch das gesamte Programm und
sind auch für die Navigation des Schülers
verantwortlich. Der Screenshot (Abb. 1) verschafft einen kleinen Eindruck von der dauerhaften Präsenz der Begleiter.
Abb. 1
Die Themen der Bruchrechnung werden,
durchaus mit üblichen Methoden vergleich-
134
bar, vorab anschaulich auf ikonischer Ebene
mit Hilfe interaktiver Animationen eingeführt
und
anschließend
systematisiert
(vgl.
Abb. 2). Die einzelnen notwendigen Rechen-
Abb. 2
schritte zum Lösen einer Aufgabe werden in
Rechenbausteinen festgehalten. In fortgeschritteneren Stadien des Programms soll
der Lernende zu einer gegebenen Aufgabe
die notwendigen Rechenbausteine zusammenstellen. Die Software beabsichtigt also
die Systematisierung von Bruchrechenaufgaben. Der Schüler wird dazu angeleitet, gegebene Terme zu analysieren und die entsprechenden Rechenschritte nach und nach
selbstständig zu kombinieren. Zum Ende jeder Lektion werden die üblichen abstrakten
Aufgaben ohne Rückgriff auf die Anschauung
präsentiert und sind ohne die zuvor angebotenen Hilfen zu lösen. Das Zurückgehen zur
Arbeit mit Rechenschritten oder anschaulichen Beispielen ist dabei nicht nur möglich,
sondern wird zum Teil auch durch das Programm gelenkt. Der Lernweg des Schülers
muss nicht linear erfolgen. Es ist durchaus
möglich, nur Teile von Lektionen zu bearbeiten oder einzelne Übungen zu überspringen.
Das Programm hält für den Lernenden nachvollziehbar fest, welche Teile bereits erfolgreich bearbeitet und welche noch zu lösen
sind. Mathebits besitzt keinen Formeleditor.
Das heißt, dass jeweils die Struktur des Ergebnisterms vorgegeben wird. Vom freien
Rechnen, wie auf Papier, kann also nicht gesprochen werden. Durch den vielfältigen Einsatz multimedialer Elemente wirkt das Programm freundlich. Reine Textseiten sind selten, die meisten Informationen werden durch
Sprachausgabe an den Lernenden weitergegeben. Das Programm ist im WestermannVerlag z. Zt. für 36 € als Einzel- und für 119 €
als Zehnerlizenz erhältlich.
Zur Integration von Lehr- und Lernprogrammen in den Mathematikunterricht
2.2 Termumformungen und
Bruchrechnen
Das Programm Termumformungen aus dem
Klett-Verlag gleicht in seinem Aufbau dem
Programm Bruchrechnen aus dem gleichen
Verlag stark. Ausführliche Beschreibungen
zu Bruchrechnen finden sich in (Herden &
Pallack 2001 und Pallack 2002). Ich beschränke mich deswegen an dieser Stelle auf
einen kurzen Einblick in das Programm
Termumformungen.
Abb. 3
nach der Anmeldung erscheint ein Menü mit
den Optionen Lernen, Üben und Testen. Der
Lernende steuert so die einzelnen Programmteile an. Der Programmabschnitt Lernen umfasst, im Gegensatz zu den beiden
anderen Teilen, außer Übungen zusätzlich
Erläuterungen zu deren Inhalt. Aufteilung und
Layout des Bildschirms bleiben stets erhalten
(vgl. Abb. 3). Über Buttons kann der Nutzer
auf eine Formelsammlung, einen Karteikasten, einen Taschenrechner, die Lernkontrolle
und weitere Optionen des Programms zugreifen. In den Einführungen
werden dem Schüler einzelne
Bildschirmseiten präsentiert.
Vor allem in den einführenden
Programmteilen sind diese an
die Anschauung angelehnt
(vgl. Abb. 4). Innerhalb der
Lektionen sind interaktive
Elemente eingebaut, an denen der Schüler feststellen
kann, ob er das bisher Erklärte verstanden hat. Nach Bearbeitung von Aufgaben wird
dem Schüler eine Empfehlung
zum weiteren Vorgehen im
Programm gegeben. Wichtige
Regeln werden innerhalb des
Programms stets in einer Box
dargestellt. Sie werden in den
Texten besonders hervorgehoben und sind stets als wichtig erkennbar. Nach der Bearbeitung von Aufgaben gibt die
Lernstandskontrolle
Aufschluss über den Erfolg der
einzelnen Sitzung und den
Langzeiterfolg. Dass die Interaktion innerhalb der Lektionen
lediglich auf das Klicken des
Weiter-Buttons beschränkt ist,
wirkt ermüdend. Das Programm ist im Wesentlichen linear aufgebaut. Lektionen, die
meist aus Einführungen und
Übungen bestehen, müssen
strikt von Anfang bis Ende erfolgreich bearbeitet werden,
um als erfolgreich abgearbeitet zu gelten. Das Programm
wird in regelmäßigen Abständen mit einem neuen Cover
versehen und z.Zt. für 34,90 €
im Fachhandel verkauft.
Abb. 4
Inhaltlich werden Erläuterungen und Übungen zu elementaren Termumformungen, wie
sie vor allem in den Jahrgängen sieben bis
zehn behandelt werden, angeboten. Kurz
135
Andreas Pallack
2.3 Ableitungsmodul des Matheprismas
Abb. 5
Abb. 6
Vor der Beschreibung des Programms möchte ich auf zwei zentrale Unterschiede zu den
vorhergehenden Programmen hinweisen.
Zum einen ist es frei im Internet verfügbar
(www.matheprisma.de) und insofern erheblich einfacher zu beschaffen. Zum anderen
ist es strikt auf Internetseiten ausgerichtet
136
und kann deswegen von jedem Arbeitsplatz
mit entsprechend eingerichtetem Browser
gestartet und bearbeitet werden. Da Jeder
Gelegenheit hat,
sich die Seiten
online
anzuschauen,
beschränke ich mich
auch an dieser
Stelle auf die Beschreibung einiger weniger Merkmale der Software.
Das Ziel des Moduls beschreiben
die Autoren wie
folgt: „An zwei
Beispielen — einem Kreis und einer Kurve — werden
zunächst
Tangenten motiviert. Der Übergang von Sekanten zu Tangenten
wird geometrisch
veranschaulicht.
Entsprechend
wird vom Differenzenquotienten
zur Ableitung an
einer Stelle und
schließlich
zur
Ableitungsfunktion übergeleitet.
Zum Schluss werden die Ableitungen
von
verschiedenen Funktionen
vorgestellt.“ (Entnommen den Matheprisma Informationen zum Modul,
vgl. Klein 2002).
Am Beginn des
Programms stehen Beispiele, die
an das physikalische Grundverständnis
der
Schüler anknüpfen (vgl. Abb. 5).
Die Abstraktion zum Kalkül erfolgt allmählich,
aber vollständig. Nachdem der Schüler mit
Seilen und Skates über Straßen geführt wurde, muss er zum Schluss mit den üblichen
Schreibweisen und Rechnungen umgehen.
Auf diesem Weg begleitet das Programm ihn
Zur Integration von Lehr- und Lernprogrammen in den Mathematikunterricht
durch viele interaktive Grafiken, welche die
inhaltliche Bedeutung der Ableitung illustrieren (vgl. Abb. 6). Es ist geplant, weitere
schultypische Themen in der nächsten Zeit
zu implementieren und zur Verfügung zu
stellen (mündliche Mitteilung 2002 von Frau
Krivsky, einer der Hauptinitiatorinnen von
Matheprisma).
Wie bereits angekündigt, behandeln die hier
vorgestellten Programme alle nur einen beschränkten Themenabschnitt des Mathematikunterrichts und sind im Allgemeinen nicht
universell einsetzbar. Auch das zweite Kriterium der vorgenommenen Beschränkung,
dass der Lernende mit dem Programm interagieren muss, ist im Fall der drei vorgestellten Produkte erfüllt.
3
Meinungen und
Einstellungen gegenüber
computergestützten
Lernprogrammen
Es ist kein Geheimnis, dass reine Übungsprogramme nach Ansicht vieler Verfechter
von offenen Lernumgebungen mehr Zeit- und
Geldverschwendung als sinnvolle Beschäftigung mit der Materie sind. Aus meiner Sicht
wird dabei außer Acht gelassen, dass es
durchaus sinnvolle Einsatzgebiete für diese
Programme gibt. Hauptursache der öffentlichen plakativen Schwarzfärbung von Practice&Drill Software — oder eben Übungsprogrammen — ist die unmittelbare Verkettung
des Charakters der Software mit deren Integration im Unterricht. Da die meisten Programme für den Heimbereich ausgelegt wurden, wird oft der Lernende als stummer Einzelkämpfer vor dem Rechner gesehen. Ich
möchte betonen, dass ich ein solches Szenario ebenfalls für nicht erstrebenswert halte.
Aber gerade deswegen ist es wichtig darüber
nachzudenken, wie man diesen Umgang mit
der Software verhindern kann. Lernsoftware
wird in unseren Kinderzimmern oft unabhängig vom Unterricht eingesetzt. Insofern stehen wir zur Zeit am Beginn einer extrem ungünstigen Entwicklung. Übungsprogramme
werden — in den meisten Fällen unkontrolliert — im Heimbereich genutzt. Zum einen
fehlt vielen Lehrern zur kompetenten Beratung von Eltern der Überblick über die vorhandenen Produkte (wie soll man sich auch
einen angemessenen Überblick verschaffen?), zum anderen möchten viele Eltern
auch nicht damit hausieren, dass ihr Kind einen heimlichen Nachhilfelehrer benötigt oder
in Anspruch nimmt. Es sind also zwei verschiedene Welten: Auf der einen Seite die
Schule, die im Unterricht ihre Schüler mit
neuen Methoden des Lernens und sogenannten Werkzeugen konfrontiert, auf der
anderen Seite die heimische multimediale
Welt mit all ihren Verführungen. Dieser Entwicklung muss entgegengewirkt werden. Das
ist jedoch nur möglich, wenn öffentliche
Wechselwirkungen und Schnittstellen zwischen der heimischen und schulischen Arbeit
und Nacharbeit geschaffen werden und somit
die Kommunikation über außerunterrichtliche
Möglichkeiten der Nacharbeit geöffnet wird.
Ganz nebenbei sei bemerkt, dass die ungeliebte Rolle des Drillinstructors gerade in kleinen Klassenstufen oft von den Eltern übernommen wird. Auch in diesem Bereich wird
bei vielen innovativen Konzepten vergessen,
dass im heimischen Bereich andere Gesetze
gelten und es durchaus üblich ist, vor Klassenarbeiten und anderen Prüfungen schlicht
zu pauken. Dass Lernsoftware diese Rolle
gut substituiert, prägt wohl auch das recht
positive Meinungsbild vieler Eltern. So wird
dem Rechner die Rolle zugeschrieben, ein
günstiger Nachhilfelehrer für ihre Kinder zu
sein. Da es um schulische Inhalte geht, wird
der Umgang mit Lernsoftware auch als positive und sinnvolle Beschäftigung mit dem
Medium Computer angesehen, da das Kind
selbstständig etwas für seine Zukunft tun
kann. In diesem Sinne wird auch die Bedienung von Lernprogrammen mit dem Aufbau
von Medienkompetenz und der Erlangung
von guten Schulabschlüssen verwoben.
Schüler selbst beurteilen Lernsoftware ebenfalls meist positiv (vgl. u.a. Pallack 2002,
179–183). Das ist vor allem der Fall, wenn
noch eine zusätzliche Spielhandlung in das
eigentliche Programm integriert wurde. Im
Unterricht erscheinen sie als willkommene
und kontrastreiche Abwechslung gegen die
traditionellen Unterrichtseinheiten.
Ich halte es für wichtig, dass Lernprogramme
nicht losgelöst von deren Integrationsmethode im Lernprozess diskutiert werden. Das
bedeutet natürlich auch, dass ohne empirische Untersuchung oder unterrichtspraktische Reflexion die Beurteilung von Programmen nur ansatzweise sinnvoll ist. Leider
geben sowohl die Hersteller von Anwendungs-, als auch die Hersteller von Übungsprogrammen nur selten konkrete Informationen oder Tipps dazu ab, wie ihre Produkte
den Unterricht bereichern sollen. Es bleibt
die Aufgabe des Lehrers, auf der Basis seiner Erfahrungen und seines Wissens eine
geeignete Methode zu wählen.
137
Andreas Pallack
4
Klassifizierung von Integrationsmethoden
Der hier unterbreitete Vorschlag zur Abgrenzung verschiedener Integrationsmethoden ist
sicher weder vollständig, noch bietet er eine
vollends disjunkte Klassifikation. Vielmehr
handelt es sich um eine Zusammenfassung
aus Beobachtungen der schulischen Praxis.
Die vorgenommene Klassifikation soll die
Kommunikation über Lernsoftware und deren
unterrichtliche Einbindung erleichtern und
Begriffe schaffen, die die gezielte Kommunikation ermöglichen. Ich gehe bei der Einteilung davon aus, dass übliche Unterrichtseinheiten, die auf neue technische Möglichkeiten zurückgreifen, stets recht eindeutig einer
der vorgestellten Methoden zugeordnet werden können. Insofern werden viele Leser ihren erlebten Unterricht einer der Kategorien
zuordnen und auch beurteilen können, ob
diese Methode wirklich das Optimum oder
nur ein Kompromiss zur Integration neuer
Medien war. Im Anschluss an die Vorstellung
der einzelnen Methoden möchte ich auf die
individuelle Lerngeschichte von Schülern zu
sprechen kommen. Die Zeitachse spielt bei
Lernprozessen immer eine zentrale Rolle.
Zur Illustration wird nicht zuletzt aus diesem
Grund für jede Methode eine Abbildung präsentiert, welche die Rolle von LLP im Unterrichtsprozess veranschaulicht.
4.1 LLP als Unterrichtergänzung
Wie Schüler im Heimbereich Unterrichtsstoff
nacharbeiten, hängt von vielen Faktoren ab.
Jede gewollte Chancengleichheit im Rahmen
schulischer Lehrgänge findet hinter der
Haustür ihr Ende, da sowohl Ausbildung und
Beruf, als auch Einkommen und Wertschätzung von Bildung seitens des Elternhauses
unmittelbar auf das Lernverhalten unserer
Schüler im Nachmittagsmarkt einwirken. Ergänzend zum Unterricht wird häufig Zusatzliteratur angeschafft, ein Nachhilfelehrer beauftragt oder auch Lernsoftware bereitgestellt. Das bedeutet, dass Schüler durch ihren Umgang mit LLP im Heimbereich unmit-
138
telbar auf das aktuelle Unterrichtsgeschehen
einwirken. In günstigen Fällen werden Lernende durch ihre Lehrer angeleitet, im Heimbereich nicht verstandene oder vergessene
Inhalte gezielt nachzuarbeiten, um dem anschließenden Unterricht wieder folgen zu
können. Positive Wechselwirkungen von
computergestützter heimischer Nacharbeit
und Unterricht sind also durchaus möglich.
An der Universität Essen wurde im Jahr 1999
eine Videostudie zum unterrichtsergänzenden Einsatz von Lernprogrammen durchgeführt. Ziel war es, Schülern der siebten Klasse von Gymnasien mit Defiziten im Bereich
der Bruchrechnung die gezielte Nacharbeit
mit dem Programm Bruchrechnen aus dem
Klett-Verlag zu ermöglichen. In einem ersten
Schritt wurden Probanden, die Defizite im
Bereich der Addition und Subtraktion von
Brüchen zeigten, durch eine Aufgabensammlung ausgewählt (vgl. Herden & Pallack
2000). Diese Schüler wurden dann mit dem
Programm konfrontiert und anschließend
nochmals in Bezug auf die Defizite getestet.
Es konnte festgestellt werden, dass das beobachtete Defizit bei allen Probanden weitgehend behoben wurde. Das Meinungsbild
der Lernenden war insofern positiv, als dass
alle Schüler das Lernen mit dem Programm
üblichen Lerneinheiten des Unterrichts vorziehen würden. Trotz dieses positiven Fazits
soll nicht verschwiegen werden, dass die
Schüler primär algorithmische Fähigkeiten
erlangten. Elemente des Programms, die auf
anschaulichen Erläuterungen basierten, wurden nicht von allen verstanden, bzw. nur bedingt beachtet (Weitere Details der Studie
finden sich in Herden & Pallack 2001.) Festzuhalten bleibt, dass der Rechner seiner Rolle als Nachhilfelehrer gerecht werden konnte,
da nun im Unterricht ein Rückgriff auf die erfolgreich wiederholten Fertigkeiten möglich
war.
Bei dem ergänzenden Einsatz von Lernsoftware ist es nicht notwendig, den Rechner im
eigentlichen Unterricht einzusetzen. LLPs
werden im Heimbereich genutzt, wobei der
Impuls zur Nutzung sowohl vom Elternhaus,
als auch von der Schule ausgehen kann. Der
ergänzende Einsatz von Lernprogrammen ist
mit Sicherheit die heute am häufigsten praktizierte Methode. Das wird noch deutlicher,
wenn man sich nicht auf Programme zum
Mathematikunterricht beschränkt. Im Bereich
der Sprachen — vor allem für das Fach Englisch — sind Lernprogramme viel stärker auf
die jeweiligen Schulbücher bezogen und werden in großen Auflagen verkauft und ergänzend genutzt.
Zur Integration von Lehr- und Lernprogrammen in den Mathematikunterricht
4.2 Begleitender Einsatz von LLP
Im Gegensatz zur Ergänzung erfolgt beim
begleitenden Einsatz von Lernprogrammen
sowohl die Softwarewahl, als auch der Zeitpunkt des Einsatzes gezielt und durch den
Unterricht gesteuert. Der Lehrer gibt seinen
Schülern in frühen Phasen einer Unterrichtssequenz Gelegenheit, eine bestimmte Software zu Hause — oder in Schulgebäuden —
zu nutzen. Im eigentlichen Unterricht wird die
Software nicht genutzt und nur bedingt thematisiert. Die Lernenden erhalten so Gelegenheit, Unterrichtsinhalte im individuellen
Tempo nachzuarbeiten.
Mit dem begleitenden Einsatz von Lernsoftware können verschiedene Motivationen zugrunde liegen. Ich selbst habe das Ableitungsmodul von Matheprisma zu Beginn eines neu einsetzenden Leistungskurses Mathematik im Jahrgang 12 genutzt, um alle
Schüler auf einen gemeinsamen Stand zu
bringen. Es ist klar, dass Schüler mit unterschiedlichen Lerngeschichten trotz verbindlicher Curricula auch unterschiedliche Fertigkeiten in neueinsetzende Kurse einbringen.
Die Bearbeitung erfolgte ausschließlich im
Heimbereich — was voraussetzte, dass alle
Schüler einen entsprechenden Rechner hatten. Es zeigte sich jedoch, dass das der Fall
war. Des Weiteren waren die meisten Inhalte
den Schülern bereits bekannt. Es handelte
sich somit um eine gezielte Wiederholung
von bereits durchgenommenem Stoff.
Der Unterricht wurde durch die Präsenz des
Programms immens entlastet. Viele sonst
notwendig erscheinende Wiederholungsphasen konnten verkürzt werden. Das kam dem
Unterricht insofern zu Gute, als dass die herkömmlicher Weise zur Wiederholung notwendige Zeit bereits in weiterführende Aufgaben investiert werden konnte. Diese erste
Phase der Homogenisierung von Schülerwissen schluckte immer einen großen Teil
des ersten Halbjahres der Jahrgangsstufe
12. Doch nicht nur meine eigene Empfindung
war im wesentlichen positiv. Nach Abschluss
der Wiederholungsphase wurden die Schüler
aufgefordert, ein Gutachten zum Ableitungs-
modul zu erstellen. Stellvertretend für 26
Einzelgutachten stelle ich hier zwei vor, welche die Gesamtmeinung recht gut wiederspiegeln:
„Zum Wiederholen und Üben von Ableitungen habe ich mir diese Internetseiten angeschaut und muss sagen, dass sie sehr übersichtlich dargestellt sind. Man erhält direkt
auf der Startseite einen Überblick über die
Inhalte, was ich sehr positiv finde. Des Weiteren kann ich sagen, dass das Quiz mit seinen Beispielen sehr anschaulich ist. Es gefällt mir gut, dass hier Mathematik mit alltäglichen Beispielen erklärt wird, so dass es
auch für die anschaulich ist, deren Verständnis für Mathematik geringer ist. Im Gegensatz dazu ist es auf der „Beweise“-Seite sehr
unübersichtlich geordnet und unzureichend
erklärt. Mir fehlten genauere Erläuterungen
zu den einzelnen Schritten. Mein Verbesserungsvorschlag hierzu wäre, vielleicht einen
Fließtext oder ähnliches hinzuzufügen. Ansonsten würde ich mir wünschen, dass auch
zu anderen Themen derartige Übersichtsseiten angeboten werden.“
(Anne-Kathrin S., Jgst. 12)
„Alles in Allem finde ich das Programm „Matheprisma“ nicht schlecht. Die Bilder sind
sehr übersichtlich und vor Allem die animierten Regelherleitungen finde ich besser als in
irgendwelchen Fachbüchern. Nur die vielen
Spielereien, wie z.B. das Anlegen von Tangenten usw. sind sehr unübersichtlich. Dies
wäre eigentlich mein einziger Vorschlag zur
Verbesserung.“
(Michael W., Jgst. 12)
Der Wunsch, dass auch andere Unterrichtsinhalte in dieser Form aufbereitet werden,
taucht immer wieder auf. Einige schrieben
auch, dass sie erst jetzt verstanden hätten,
um was es beim Ableiten eigentlich geht (Wir
sprechen von einem 12er Leistungskurs!).
Was sich ebenfalls in vielen Gutachten wiederfindet, ist das Argument der Übersichtlichkeit. Die kompakte Darstellung eines
recht umfassenden Themas scheint aus
Sicht der Schüler eine Neuerung zu sein, die
ihnen bis dato in dieser Form noch nicht geboten wurde. Auch der Vergleich mit traditionellen Medien — wie dem Schulbuch — ist
üblich beim Einsatz von Lernprogrammen
und fällt auch in diesem Fall klar pro Lernprogramm aus.
Der begleitende Einsatz von Lernprogrammen kann den Unterricht entlasten, wenn
geeignete Programme bekannt sind und zur
Verfügung stehen. Insofern halte ich die
Möglichkeit auf Programme frei im Internet
139
Andreas Pallack
zugreifen zu können, für ein lohnendes und
attraktives Angebot. Dass jedoch trotzdem
eine starke Dependenz von positiver Evaluation und Integrationsmethode besteht, wird
der folgende Abschnitt zeigen.
4.3 LLP–Unterrichtsphasen
Die Tradition, Rechner in Schulen in Computerräumen zu sammeln, ist wohl Ursache dafür, dass viele Unterrichtssequenzen den
Rechnereinsatz phasenweise vornehmen.
Aus Sicht der Schüler scheint es dann meist
so, dass in diesen Stunden etwas ganz Besonderes geschehen soll. Positive Konsequenzen dieser Sicht wären Neugier und Anfangsmotivation — negative jedoch Ablehnung und Unverständnis. Der normale Unterricht, den Schüler in ihrer Vergangenheit erlebt haben (auch heute noch ist die dominierende Unterrichtsform der Frontalunterricht),
trägt dazu bei, dass neuere Methoden sowohl von Kollegen, als auch von Schülern
häufig nur belächelt und aufgrund ihrer Andersartigkeit als schlecht ausgewiesen werden. Dass Bemühungen der Lehreraus- und
-fortbildung noch keine bemerkenswerten
Früchte trugen, ist wohl bei einem Blick in die
Schullandschaft
unbestritten.
Insofern
scheint es vermessen zu sein, davon auszugehen, dass Schüler den Gang in den Rechnerraum plötzlich als ernst zu nehmende Methode bzw. Unterrichtsphase wahrnehmen.
Trotzdem ist aufgrund der in Schulen gewachsenen Strukturen die phasenweise Integration von Lernprogrammen häufig die einzige Chance, Schülern die Möglichkeiten der
neuen Medien im Unterricht nahezubringen
oder zu demonstrieren. Ein Großteil computergestützter Lehrgänge wird sich deswegen
dieser methodischen Sparte zuordnen lassen.
Es liegen Erfahrungsberichte zur Integration
des Ableitungsmoduls von Matheprisma in
Grundkursen der Jahrgangsstufe 11 vor. Der
Unterricht wurde so angelegt, dass die Schüler bestimmte Zusammenhänge mit Hilfe des
Programms explorieren und im Anschluss an
jede Explorationsphase die Ergebnisse im
Plenum sammeln und sichern sollten. Es
zeigte sich jedoch recht schnell, dass formale
Unterschiede zu anderen Lernmaterialen
Probleme mit sich brachten. Hierzu gehört
beispielsweise, dass Differenzenquotienten
140
in anderer Form notiert wurden. Der Versuch
des Programms, die Ableitung anschaulich
einzuführen, hatte zur Konsequenz, dass
Schüler die Erklärungen nicht ernst nahmen.
Einige fühlten sich sogar veralbert und versuchten, unmittelbar mit den Abstraktionen
aus späteren Kapiteln zu arbeiten. Gerade
schwächere Schüler empfanden zwar die
Einführung als positiv, schafften es jedoch
später nur schwer, sich von den anschaulichen Definitionen zu lösen, was das Fortkommen dieser Schüler hemmte. Als besonders problematisch wurden die Schnittstellen
zwischen den einzelnen Phasen wahrgenommen. Während einige Schüler bemüht
waren, konstruktiv mit dem Dargebotenen
umzugehen, schafften es andere nicht, den
Verführungen des Internets zu widerstehen,
und surften parallel auf Seiten, die für sie interessanter erschienen. Hauptursache hierfür
schien das individuelle Lerntempo, dem das
Programm natürlich gerecht wurde. Es war
aus diesem Grund nicht zu verhindern, dass
einige Schüler mit den Seiten recht schnell,
andere erheblich langsamer zurechtkamen.
In den Sammlungs- und Sicherungsphasen
zeigte sich häufig, dass auch offensichtliche
Lernangebote der Seiten nicht bemerkt oder
nicht wahrgenommen wurden und den Schülern diese Erfahrungen und die notwendigen
Kenntnisse fehlten. Dies ist eine durchaus
übliche Erfahrung beim Umgang mit linear
aufgebauten Lernprogrammen (vgl. die Ausführungen in Kap. 4.1). Auch das Meinungsbild der Schüler variierte recht stark. Dominant war jedoch die Ansicht, dass es sich bei
dem Programm um eine Art Spielzeug bzw.
lediglich um eine unabhängige Ergänzung
zum Unterricht handelt.
Gerade hier zeigt sich, dass die Integrationsmethode eines Programms seine Qualität
und Nützlichkeit für den Unterricht erheblich
beeinflussen kann. Die Problematik der
Schnittstellen bei Berücksichtigung individueller Lerngeschwindigkeiten ist ein generelles
Problem der phasenweisen Integration von
Lernprogrammen, das wohl gelindert, aber
nicht vermieden werden kann. Insofern nehme ich immer stärker Abstand davon, eng
angelegte Programme zur Erarbeitung im
schulischen Kontext zu nutzen oder deren
Einsatz in diesen Phasen zu empfehlen. Das
Gleiche gilt jedoch für den Einsatz von CAS,
DGS oder Tabellenkalkulationsprogrammen,
wenn versucht wird, die Schüler ohne Binnendifferenzierung im Gleichschritt zu halten.
Ich möchte aus diesem Grund diesen Abschnitt mit der mittlerweile zwar recht abgegriffenen, aber immer noch gültigen Feststellung beenden, dass unsere traditionelle Vor-
Zur Integration von Lehr- und Lernprogrammen in den Mathematikunterricht
stellung von Unterricht und dessen Durchführung bei der Integration der neuen Medien
nicht mehr haltbar und ineffizient ist.
4.4 LLP-Integration
Der Mathematikunterricht nutzt viele verschiedene Medien. Hierzu gehört traditionell
das Schulbuch mit seinen Aufgaben, die Tafel, Arbeitsblätter, aber auch kleine Lernspiele wie zum Beispiel die recht bekannten LÜKKästen. Der Einsatz dieser Medien hat sich
etabliert und erfolgt integriert, was bedeutet,
dass sie zum einen akzeptiert, zum anderen
ziemlich gleichberechtigt zueinander sind.
Der folgende Vorschlag versucht, das Programm Mathebits aus dem WestermannVerlag gleichberechtigt zu traditionellen Medien in den Unterricht der Sekundarstufe I zu
integrieren. Es scheint aus den vorab genannten Gründen nicht sinnvoll zu sein,
Schüler zu früh intensiv mit dem Lernprogramm in Kontakt zu bringen. Auch die Einbindung in Phasen mit und Phasen ohne
Rechner bringt Probleme mit sich und
scheint nicht optimal. Ich propagiere aus den
genannten Gründen die Integration in einer
abgeschlossenen Übungsphase, die sich an
die Einführung der Grundrechenarten anschließt und deren Dauer 5–7 Stunden betragen sollte. Im Rahmen dieser Wiederholungs- und Übungsphase sollen den Schülern verschiedene Materialien zur Verfügung
gestellt werden, mit denen sie erproben können, ob das Gelernte verstanden wurde und
nunmehr beherrscht wird. Ich halte es für eine gesunde Mischung, wenn Lernmaterialien
der folgenden Typen miteinander kombiniert
werden:
-
Lernprogramm Mathebits,
-
Kommunikative Rechenspiele,
-
Traditionelles Aufgabenmaterial.
Um verschiedenen Lerngeschwindigkeiten
gerecht werden zu können, sollten 7–8 verschiedene Stationen mit den Materialien erstellt werden (Klassenstärke 25–35 Schüler).
So bleiben die Lerngruppen recht klein und
der Lehrer erhält Gelegenheit, sich um einzelne Schüler zu kümmern. Die Stationen
müssen nacheinander durchlaufen werden,
die Wahlfreiheit hängt deswegen stark von
der Anzahl der vorhandenen Rechner und
Vielzahl von Spielen und Aufgabenmaterialien ab. Das rechnergestützte Programm trägt
dazu bei, dass die Schüler in Bezug auf ihre
Fähigkeiten sensibilisiert werden. Sie lernen
das Programm im Rahmen des Unterrichts
kennen und erhalten so die Möglichkeit, in
späteren Phasen auf die Software zurückzugreifen, um gezielt Vergessenes zu wiederholen, oder schlicht, um Lerninhalte aufzufrischen. Auch der Lehrer kann nach Einführung des Lernprogramms Schüler gezielt anweisen mit dem LLP einzelne Lektionen abzuarbeiten. Diese Möglichkeit bieten die traditionellen Medien nur bedingt, da sie im Gegensatz zur Lernsoftware keine unmittelbare
Rückmeldungen liefern und die notwendig
zeitversetzte Kontrolle das ohnehin knappe
Zeitbudget der Lehrer belasten würde. Auch
scheint es schwierig, die doch für Schüler
dieser Jahrgangsstufe recht attraktiven Rechenspiele in nachfolgenden Unterrichtssequenzen wieder aufzugreifen. Vor allem kann
man dem Einzelnen so nie gerecht werden,
da ja nicht alle Lernenden den gleichen
Nachholbedarf haben. Das Gleiche gilt für
klassische Aufgabenmaterialien, die augenscheinlich keine besondere Attraktivität ausstrahlen. Das verwandte LLP wird so zur
Stütze des nachfolgenden Unterrichts und
trägt dazu bei, dass zum einen aufgrund der
Versäumnisse einiger Schüler weniger gemeinsame Wiederholungsphasen notwendig
sind, zum anderen aber auch dazu, dass
diese Schüler jederzeit die Möglichkeit haben, auf ein Werkzeug zuzugreifen, das es
ihnen erlaubt, Defizite selbstständig auszugleichen. Die folgende Abbildung visualisiert
die neugewonnene Funktion von Lernsoftware:
5.
Fazit und Ausblick
Es ist klar, dass die verschiedenen Methoden
zur Integration von Lernprogrammen nicht
unmittelbar vergleichbar sind. Ebenfalls ist
141
Andreas Pallack
nicht von der Hand zu weisen, dass die meisten angeführten Argumente und Erfahrungsbereichte aus der Kommunikation über Unterricht entstanden und weit davon entfernt
sind, eine empirisch abgesicherte Basis zur
Beurteilung darzustellen. Insofern liegt ein
Ziel dieser Arbeit darin zu unterstreichen,
dass Beurteilungen von Lernprogrammen unabhängig von Erfahrungen bezüglich verschiedener Integrationsmethoden im Unterricht nur sehr schwache bis keine Aussagen
erlauben. Die Integrationsmethode scheint
eine wichtige und nicht zu verachtende Rolle
im Prozess der unterrichtlichen Nutzung zu
spielen. Zentral ist also nicht nur die Frage,
was ein Programm leisten soll, sondern
auch, wie es das überhaupt schaffen kann
und welche Vorteile es im Idealfall gegenüber traditionellen Methoden bietet. Ich wäre
erfreut, wenn die Argumente und die Anregungen, die nach dem Vortrag über diese Arbeit auf der Herbsttagung des Arbeitskreises
Mathematik und Informatik der GDM in Soest
ausgetauscht wurden, fortgeführt würden und
so durch das Zusammentragen von Erfahrungsberichten ein Katalog von Indizien entstünde, der dem Lehrer bei methodischen
Entscheidungen zum Einsatz von Lern- und
Lehrsoftware behilflich sein kann. Insofern
möchte ich mit einem Ausblick schließen, der
eine mögliche zukünftige Rolle von LLPs in
der Lerngeschichte von Schülern beschreibt:
Wenn man es schafft, einen Kanon von Lernprogrammen im Rahmen der Schullaufbahn
eines Schülers zu integrieren, so stehen die
einzelnen Programme im Anschluss an deren unterrichtliche Thematisierung zur Nacharbeit zur Verfügung. Rückgriffe — wie zum
Beispiel die Wiederholung elementarer Termumformungen in der Oberstufe — scheinen
auch Jahre später möglich. In dieses Gefüge
von Programmen werden später auch Werk-
142
zeuge, wie zum Beispiel der TI89 oder Vergleichbares, ihren Platz finden und die Lerngeschichte von Schülern bereichern. Die Attraktivität von Lernsoftware zur Wiederholung
und Rekonstruktion von nicht mehr vorhandenem Wissen liegt somit gerade in ihrer Beschränktheit auf bestimmte Abschnitte des
Unterrichts, da nur so die ausschließliche
Konzentration auf sie gewährleistet scheint
und die gezielte Nacharbeit im beschränkten
Zeitrahmen möglich wird. LLPs könnten dem
Unterricht so etwas geben, dass er zur Umsetzung innovativer und neuer interessanter
Konzepte unbedingt benötigt: Zeit.
Literatur
Herden, G. & Pallack, A. (2000): Zusammenhänge
zwischen verschiedenen Fehlerstrategien in
der Bruchrechnung. In: Journal für Mathematik-Didaktik 21, 259–279
Herden, G. & Pallack A. (2001): Vergleich von
rechnergestützten Programmen zur Bruchrechnung — Nachhilfelehrer Computer. In:
Journal für Mathematik-Didaktik 22, 5–28
Klein, G. (2002): Das Ableitungsmodul. In:
www.matheprisma.de
Pallack, A. (2002): Nachhilfelehrer Computer —
Untersuchungen zum unterrichtsbegleitenden
Rechnereinsatz im Bruchrechenunterricht. In:
texte zur mathematischen forschung und lehre
16. Hildesheim: Franzbecker
z
Gestaltungs- und Bewertungskriterien zur Beurteilung von Mathematik-Software für die Grundschule
— am Beispiel von Matheland
Monika Schoy, Weingarten
Der Einsatz neuer Medien hat auch im Mathematikunterricht der Grundschule längst seinen festen Platz. Alle denkbaren Arten von Lernprogrammen überfluten den Lehr- und
Lernmittelmarkt. Die wenigsten halten, was sie versprechen, und sind aus pädagogischfachdidaktischen Gesichtspunkten sinnvoll.
In diesem Vortrag sollen das Computerprogramm Matheland vorgestellt und Erfahrungen
im Umgang mit dieser Software in der Grundschule dargelegt werden. Dabei sollen vor
allem Gestaltungs- und Bewertungskriterien, die den Lernprozess und die Lernprozesssteuerung, die Motivation und die Selbstständigkeit betreffen, analysiert werden.
Matheland ist „eigentlich“ eine schulbegleitende Lernumgebung, die für den Nachmittagsmarkt von Grundschülerinnen und -schülern vorgesehen ist. Leider gibt es (noch)
keinen Softwaremarkt für den Mathematikunterricht der Grundschule, der seine Gestaltungsgrundsätze an dem Einsatz im Unterricht orientiert. Das heißt nicht, dass Lernsoftware per se nicht auch für den täglichen
Unterricht in der Schule geeignet wäre. Das
Mathematik-Softwareprogramm Matheland
wurde im Sommersemester 2002 in einer
zweiten Klasse eingesetzt. Die hohe Motivation der Kinder für Computerspiele wird hier
unmittelbar mit konkreten lehrplan- und alltagsbezogenen Lerninhalten verbunden.
Ein komplexes, leider pseudorealistisches
Problem kann gelöst werden, indem es in
viele kleine Subprobleme aufgegliedert wird.
Im Programm enthalten sind auch dynamische Prozesse.
1
Softwarebeschreibung
Der Eingangsbildschirm zeigt eine Dschungellandschaft mit einem aus Häusern bestehenden Dorf. Matheland war einst ein sehr
reiches Land. Es besaß sogar einen Schatz.
Leider wurde dieser Schatz gestohlen, und
das Orakel, das das Land beschützen soll,
verfällt mitten im Dschungel. Geier bewachen
den Tempel, in dem Informationen über den
Verbleib des Schatzes zu finden sind. Der
Tempel befindet sich auf dem höchsten Berg
im Dschungel.
Etwas außerhalb des Dorfes wohnt Fredo,
der Pizzabäcker. Im Dorf selbst gibt es ein
Lagerhaus, einen Zirkus (nur in der Version
für Kl. 1/2), einen Lebensmittelladen und eine
Spielhölle. Um sich im Dorf bewegen zu können, benutzt man das Inseltaxi. Das jedoch
kostet Geld. Geld verdienen kann man nur im
Lagerhaus und im Kaufladen.
Die Spielhölle ist dazu da, um gegen den
Champion zu gewinnen. Hier verdient man
kein Geld.
Matheland in den Versionen Kl. 1/2 und Kl.
3/4 ist für Schüler der Kl. 1–5 geeignet. Die
Programmversion für Kl. 3/4 baut inhaltlich
und bedienungstechnisch stark auf der Version von Kl. 1/2 auf.
Positiv zu erwähnen ist, dass in der Version
von Kl. 1/2 ein Eingangstest durchgeführt
wird, der das Vorwissen der Schüler erheben
soll. Das Raketenmännchen hilft den Kindern
im ersten und zweiten Schuljahr, sich im
Programm zurecht zu finden. Alle geforderten Operationen werden im Eingangstest visuell am 100er-Feld gestützt. In der Version
Kl. 3/4 wird (leider) auf einen solchen Eingangstest verzichtet.
2
Lerninhalte
Die Aufgaben in Matheland sind quantitativ
umfangreich und inhaltlich vielseitig. Sie reichen vom einfachen Kopfrechnen über die
schriftlichen Grundrechenarten, das Rechnen
mit den Größenbereichen Geld und Längen,
Sachaufgaben, Schätzaufgaben, Aufgaben
aus der Planimetrie und Raumgeometrie bis
hin zum logisch-kombinatorischen Denken.
Letzteres allerdings wird nur sehr wenig geschult, dann nämlich, wenn Einkaufswünsche
143
Monika Schoy
dem zur Verfügung stehenden Geld angepasst werden müssen oder verschiedene Lösungsmöglichkeiten beim Arbeiten mit Wegenetzen zum richtigen Ergebnis führen können.
Wer in Matheland den Schatz finden und den
Spielhöllen-Champion bzw. die Geier schlagen will, muss über ein sicheres, anwendungsbreites Wissen verfügen und sich bei
Fehlern zu helfen wissen.
Wie aber können Lehr-Lern-Arrangements so
gestaltet werden, dass auf der Seite der Lernenden auch in der Grundschule vermieden
wird, lediglich mathematische Fertigkeiten
statt mathematisches Verständnis zu fördern? Die Gefahr besteht nämlich darin, dass
der Mathematikunterricht in der Grundschule
meistens eben gerade mehr Wert auf mathematische Fertigkeiten statt auf mathematisches Verständnis legt und damit zu einem
sogenannten „trägen“ Wissen (inert knowledge) führt. Die Handlungsmöglichkeiten, die
ein Programm den Schülern bietet, geben
Aufschluss über die Frage nach den im Programm geforderten und geförderten Kompetenzstufen. Hierauf soll im nächsten Abschnitt eingegangen werden.
3
(Interaktive) Handlungsmöglichkeiten
Für den Einsatz von Lernsoftware in der
Grundschule ist es in besonderem Maße
wichtig, dass die Schüler möglichst wenig
Vorwissen im Umgang mit dem Computer
und der speziellen Software haben müssen.
Bereits nach kurzer Zeit sollte es den Schülern möglich sein, die Arbeitsaufträge, die
das Programm stellt, zu bearbeiten, ohne
dass es sich dabei lediglich um ein Reiz-Reaktions-Lernen handelt. Matheland stellt viele
interaktive Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Allen Lernstationen im Programm
gemeinsam ist der sichtbare Wille der Programmierer, die Handlungen möglichst nahe
an den enaktiven Erfahrungen der Grundschüler zu orientieren. So können an den
verschiedensten Stellen im Programm Einkaufsbelege mit einem virtuellen Stempel
versehen, falsche Ergebnisse mit einem Radiergummi ausradiert, Rechnungen mit einem Bleistift geschrieben, Beträge mit Geld
bezahlt, Einkaufswaren ein- und ausgepackt
werden etc.
Weitere Handlungsmöglichkeiten sollen an
dieser Stelle beispielhaft näher beschrieben
werden:
144
•
In der Lagerhalle
In der Lagerhalle kann man Geld verdienen.
Dazu muss man Aufgaben zum Umgang mit
Würfelbauwerken bearbeiten. Es wird zunächst gefragt, wie viele Kartons in einem
Kartonstapel fehlen (die Ansicht kann gedreht werden). Danach muss der Schüler erkennen, welches Bauteil in den Kartonstapel
eingesetzt werden muss, um den Kartonstapel zu einem quaderförmigen Stapel zu ergänzen. Für die Lösung der Aufgabe gibt es
hier eine Auswahl von vier Vorschlägen. Das
Arbeiten mit Würfelbauwerken ist an dieser
Stelle effektiver, als dies mit statischen Visualisierungen in einem Schulbuch geschehen
kann.
Visuelle Wahrnehmungsfähigkeiten wie visuomotorische Koordination, visuelle Gliederungsfähigkeit, Figur-Grund-Diskrimination,
Wahrnehmungskonstanz und Formerfassung
sowie visuelles Operieren, visuelles Speichern und visuelles Erinnern spielen bei der
Bearbeitung der Aufgaben eine wesentliche
Rolle.
Leider findet sich das Erstellen und Interpretieren von Bauplänen, was als ein wesentlicher Zugang zur Raumgeometrie in der
Grundschule anzusehen ist, in keinem Aufgabenmodul wieder.
•
Im Kaufladen
Drei verschiedene operative Übungsformate
im Umgang mit Sachsituationen zum Thema
Geld finden sich im Kaufladen wieder.
Zunächst einmal können Bestellungen via
Einkaufslisten erledigt werden. Dazu werden
die einzelnen Waren zusammengetragen,
deren Preise ermittelt und addiert. Hier erweist sich die Handlungsorientierung oft als
zu langatmig, nämlich dann, wenn man z. B.
9 Päckchen Gummibärchen einzeln in den
Korb legen soll. Interessant dagegen ist es,
dass das Geld nicht immer für die gesamte
Bestellung reicht, und dadurch der Einkaufskorb in seiner Zusammenstellung optimiert
werden soll. Das vorhandene Geld muss
ausreichen und alle gewünschten Waren sollen im Einkaufskorb repräsentiert sein. Die
Aufgaben sind offen gestellt und lassen mehrere Lösungsmöglichkeiten zu.
Bei der Registrierkasse werden Kassenzettel
durch die Kinder kontrolliert und gegebenenfalls korrigiert. Kinder machen das sehr gerne. Sie fühlen sich als Experten, die Fehler
finden können und nicht immer selbst diejenigen sind, die Fehler verursachen.
Gestaltungs- und Bewertungskriterien zur Beurteilung von Mathematik-Software
Das Faxgerät druckt nicht alle Rechnungsbelege vollständig aus. Hier müssen die Kinder
die fehlenden Zahlen eintragen.
In geringem Maße wird beim Lesen der Einkaufszettel auch die Lesefähigkeit gefördert,
wobei die Aufgaben auch über Symbole gelöst werden können.
•
Das Inseltaxi
In Matheland gibt es ein Pferdetaxi, das jeden Mitspieler von einem Ort zum anderen
bringt. Das kostet jedoch Geld, so dass der
Schüler sanft gezwungen wird, sich sein
Geld zunächst einmal im Lagerhaus oder
Kaufladen zu verdienen, bevor er sich in der
Spielhölle vergnügen oder den Weg zum
Tempel wagen kann. Hat man sich sein Geld
verdient, findet man dieses in seinem Geldbeutel wieder. Der Geldbetrag für das Taxi
muss genau bezahlt werden. Ist kein passendes Kleingeld vorhanden, so muss man
sein Geld mit der Geldwechselmaschine eintauschen. Wie man den Geldbetrag für die
Taxifahrerin, oder besser: Taxireiterin, zusammenstellt, ist egal. Es gibt somit viele Lösungen. Man „öffnet“ per Mausklick den
Geldbeutel, steckt Geld in den Geldwechsler
und legt die Geldstücke einzeln in die Hand
der Reiterin. Und schon reitet man los...
•
Spielhölle
In der Spielhölle gilt es, den Champion an einem der vielen Spielautomaten oder bei dem
Spiel „Vier gewinnt“ zu schlagen. Angeboten
werden einfache und schwierige Aufgaben
aus dem Bereich der vier Grundrechenarten.
Auch Schätzaufgaben sind in dieses Modul
eingebaut, zum Beispiel dann, wenn gefragt
wird, welches Ergebnis dem eigentlichen Ergebnis am nächsten kommt. Es gibt Sachaufgaben, bei denen nicht das Ergebnis,
sondern die durchzuführende Operation gesucht wird. Somit geht es an dieser Stelle
nicht um die Durchführung dieser Operation,
sondern um das Erfassen und Modellieren
der Sachsituation. Schüler mit mangelnder
Lesekompetenz können sich die Sachaufgaben im Programm auch vorlesen lassen. Der
Schüler entscheidet selbst, wie lange er im
Übungsmodus arbeitet, bevor er mit dem
Champion der Spielhölle in einen Wettkampf
tritt.
•
Beim Pizzabäcker
Die Aufgaben beim Pizzabäcker Fredo sind
für Grundschüler sehr komplex. Der Pizzabäcker hat ein großes Problem. Die Tiere im
Dschungel wollen seine Pizzen fressen. Das
erschwert die Auslieferung der Pizzen an die
Kunden im Dschungel. Die Schüler erhalten
einen Plan des Dschungels mit Häusern,
Flüssen, Bergen, den Raubtieren etc. Sie
müssen zunächst den jeweils kürzesten Weg
zu den Häusern und die Zeit, die sie für diese
Wege benötigen, ermitteln. Dabei kommt es
aber auch darauf an, ob der Weg nur über
Wiesen oder aber durch einen Fluss, ein Gestrüpp oder über die Berge führt. Diese Unwegsamkeiten benötigen mehr Zeit und die
Pizzen müssen zu einem bestimmten Termin
an den Häusern abgeliefert werden. Manchmal ist der kürzeste Weg also nicht zwangsläufig der schnellste. Man berechnet die
Wegstrecke, die dafür benötigte Wegzeit und
vergleicht diese Ergebnisse mit dem Auslieferungsplan für die Pizzen, wobei noch die
Wege der Raubtiere zu berücksichtigen sind.
Auch diese Aufgabe ist so offen gestellt,
dass mehrere Lösungen richtig sein können.
Zwar handelt es sich hier um eine sehr komplexe Aufgabe, aber leider lassen alle Aufgaben jeglichen Bezug zur Realität vermissen,
denn wo fressen Krokodile die Pizzen eines
Pizzabäckers? Außerdem kommt es zu Missverständnissen beim Lesen des Kartenmaterials. Die Schüler wissen beispielsweise
nicht, ob eingetragene Hindernisse auf der
Karte als eigenes Feld betrachtet werden
müssen oder nicht. Positiv zu erwähnen ist
dagegen, dass eine Beispielaufgabe vorgegeben wird, und man in kleinen und großen
Schritten agieren und rechnen kann. Diese
qualitative Differenzierung wird vom Schüler
selbst gewählt.
•
Das Orakel
Das Orakel widmet sich den Inhalten der Bildungspläne in Bezug auf die ebene Geometrie.
Es müssen bereits bestehende Muster durch
Drehen, Spiegeln, Färben von Musterbausteinen vervollständigt werden. Außerdem
sollen Bruchstellen in der Orakelmauer repariert werden.
Während bei den Aufgaben zum Vervollständigen von geometrischen Mustern unmissverständlich klar wird, was gemacht werden
soll und wie die Aufgabe mit dem inhaltlichen
Kontext des Orakels in Verbindung steht,
suggeriert das zweite Aufgabenmodul den
Eindruck, dass die Flächenberechnungen
etwas mit den fehlenden Steinen in der Mauer zu tun haben. Dies provoziert bei den
Schülern eine Vermengung der Begriffe Körper und Fläche; eine Schwierigkeit, die sich
durch die gesamte Grundschule zieht. Die visuellen Darstellungen der Mauerschäden
haben zudem keine rechteckigen, sondern
unregelmäßige, vieleckige Grundflächen.
Hier zeigt das Programm nach Meinung der
145
Monika Schoy
Autorin Schwächen in Konsequenz und fachlicher Richtigkeit der Aufgabenstellungen
bzw. der inhaltlichen Zuordnung von Aufgaben zu ihrem inhaltlichen Kontext.
•
Bei den Geiern
Die Geier präsentieren sich ziemlich eingebildet und provozierend. Aussagen wie „du
warst nicht schlecht, aber...“, „du wirst mich
nie schlagen“, „auf Nimmerwiedersehen“ stehen hier auf der Tagesordnung. Die Kinder
fühlen sich durch die Geier provoziert und
möchten diese gerne schlagen. Aber die Geier sind ziemlich gut und deshalb schwer zu
schlagen.
Gerechnet werden hier Blitzrechenaufgaben
verschiedenen Typs. Es geht nicht nur um
Kopfrechenaufgaben zu den Grundrechenarten in der üblicher Form. Operative Variationen sind eingebaut. Operatorzeichen müssen eingesetzt, Schätzungen gemacht werden etc.
Die für die Kinder motivierenden Gespräche
können leider auch bei mehrmaligem Versuch, die Geier zu schlagen, nicht abgestellt
werden. Dies ist ein Kritikpunkt, der sich
durch das gesamte Programm zieht. Wiederholungen von Erklärungen, Anmerkungen
etc. können in den seltensten Fällen abgestellt werden. Aus praktischer Sicht eine große Schwäche des Programms.
Während in diesem Abschnitt das Prinzip der
Interaktivität des Lernprogramms anhand von
Beispielen erläutert wurde, gibt es noch eine
Reihe weiterer didaktischer Prinzipien, die
bei der Gestaltung von Matheland eine Rolle
spielen.
Didaktische Prinzipien
4
Matheland versucht, eine Reihe didaktischer
Prinzipien umzusetzen. In diesem Abschnitt
sollen die Prinzipien der Differenzierung, der
Selbstständigkeit, des organisatorischen Hilfesystems und der inhaltlichen Fehleranalyse, der Offenheit und der Lernprozessrückmeldung näher beleuchtet werden. Auf den
sehr wichtigen Punkt der Lernprozesssteuerung soll im Abschnitt der Bewertungskriterien nochmals explizit eingegangen werden.
•
Differenzierung
Möglichkeiten der Differenzierung sind in einem erfolgreichen Unterricht unverzichtbar.
Ein gutes Lernprogramm zeichnet sich dadurch aus, dass die Lehrperson nicht nur
quantitativ, sondern auch qualitativ differenzieren kann. Eine qualitative Differenzierung
146
findet bei Matheland leider nur durch den
Eingangstest in der Version Kl. 1/2 statt.
Quantitative Differenzierungen bietet das
Programm in beiden Versionen durch seine
große Anzahl an Aufgaben. Jeder Schüler
entscheidet selbst, wie lange er bestimmte
Aufgabentypen bearbeitet. Darüber hinaus
wird bei den Schülern auch die Durchhaltefähigkeit trainiert, denn wer zu früh aufgibt
und dadurch kein Geld verdient, ist nur beschränkt handlungsfähig. Um bestimmten
Aufgabenvorlieben entgegen zu wirken, kann
man sein Geld nicht immer mit demselben
Aufgabentyp verdienen. Es kann schon mal
passieren, dass eine Stimme sagt: „Hier gibt
es nichts mehr zu tun. Mach´ doch was anderes.“ Auf diese Art wird man sanft dazu gezwungen, möglichst viele verschiedene Aufgabentypen zu bearbeiten. Das Gesamtziel,
den Schatz zu finden, kann man auch dann
erreichen, wenn nicht sämtliche Aufgaben
gelöst werden, so dass für jeden Schüler eine Auswahlmöglichkeit bei der Bearbeitung
der Aufgaben besteht.
Insgesamt sollten Aspekte der Differenzierung jedoch vor allem in der Version Kl. 3/4
mehr Berücksichtigung finden.
•
Selbstständigkeit
Selbstständig erfolgreiches Lernen ist eines
der höchsten Ziele unterrichtlichen Lehrens.
Das Programm Matheland ermöglicht eine
gewissen Selbstständigkeit und Selbststeuerung, wenngleich die Art der Selbstständigkeit recht kleinschrittig angelegt ist. Modellierungsprozesse kommen quasi überhaupt
nicht vor. Lediglich beim Orakel wird versucht, den Schülern die Verknüpfung einer
Situation mit einem mathematischen Ansatz
nahe zu bringen. Man könnte dies als eine
Art Informationssequenz betrachten. Allerdings wird der Modellierungsprozess hierbei
nicht vom Schüler selbst durchgeführt. Vom
Aufbau einer echten Problemlösekompetenz
des Schülers ist das Programm sicherlich
noch weit entfernt. Hingegen unterstützen
das im Programm eingebaute Hilfesystem
und der Versuch einer Fehleranalyse die
Selbstständigkeit der Schüler zusätzlich positiv.
•
Das organisatorische Hilfesystem und
die inhaltliche Fehleranalyse
Matheland hat ein recht gutes Hilfesystem,
und dennoch zeigen sich eine Reihe von Kritikpunkten und Verbesserungswünschen.
Im Programm gibt es verbale Aufgabenbeschreibungen, die immer wieder erfragt werden können (und sich leider auch immer wieder identisch wiederholen). Allerdings wird
Gestaltungs- und Bewertungskriterien zur Beurteilung von Mathematik-Software
nur das Aufgabenverständnis im Hinblick auf
die vorliegende Sachsituation und nicht das
Verständnis der mathematischen Inhalte unterstützt.
Neben den verbalen Aufgabenbeschreibungen gibt es auch ein inhaltlich gestuftes Hilfesystem: Rückmeldungen wie zum Beispiel
„die einzelnen Preise stimmen noch nicht
ganz. Rechne noch mal nach“, „du hast beim
Addieren einen Fehler gemacht“, „das ist
wohl ein bisschen zu viel“ treten an vielen
Stellen im Programm in Erscheinung. Zunächst wird vom Programm festgestellt, dass
das Ergebnis einer Aufgabe nicht korrekt ist,
bevor im zweiten Schritt der Fehlerort näher
spezifiziert wird. Dennoch werden Fehler nur
aufgedeckt, nicht erklärt oder im Übungsprogramm weiter fortgeführt. Nach mehreren
Fehlversuchen wird das richtige Ergebnis
kommentarlos eingeblendet, und der durch
Lösung der Aufgabe angestrebte finanzielle
Verdienst für den Schüler ist gestrichen. Erklärungshilfen werden dem Schüler nicht geliefert. Die Möglichkeit, sich mit einem Fehler
intensiver zu beschäftigen, wird dem Schüler
nicht angeboten. Das Aufgabenmaterial wird
nicht auf verschiedene Fehlertypen abgestimmt.
Eng verbunden mit dieser Phase ist die Phase des Unterstützens und Ausblendens: Das
Kind kann aktiv die Hilfe des Experten zu Rate ziehen. Mit zunehmender Kompetenz des
Lernenden werden die Hilfen ausgeblendet,
und der Schüler kann um so mehr Geld im
Lagerhaus und im Kaufladen verdienen, je
weniger Hilfen und Vorgaben er in Anspruch
nimmt.
•
Offenheit
Auch dem Prinzip der Offenheit versucht Matheland Rechnung zu tragen. Bedenkt man
doch, dass es sich um Grundschüler handelt,
und dass man bei der Umsetzung des Prinzips der Offenheit immer eine Gratwanderung zwischen zu viel und zu wenig Offenheit
beschreitet.
Matheland bietet den Schülern beispielsweise an, Aufgaben, die im Programm gestellt
werden, auf dem Notizblock der Hilfsfigur
Mac Mathe zu rechnen. Es stehen die Normschreibweisen der schriftlichen Rechenverfahren, aber auch einfache Hilfsrechnungen
zur Verfügung. Ja, es ist sogar möglich, eigene Aufgaben zu den schriftlichen Grundrechenarten im Programm zu rechnen und kontrollieren zu lassen. Die Lehrerin kann dadurch das Schulbuch mit in die Übungssequenz integrieren und das Mathematikheft
durch den Computer ersetzen.
Das Prinzip der Offenheit zeigt sich immer
auch dann, wenn Aufgaben mehrere Lösungswege zulassen. Auch diesen Aspekt
versucht Matheland umzusetzen: der Pizzabäcker Fredo kann auf verschiedenen Wegen zu seinen Zielen kommen, das Inseltaxi
kann auf unterschiedlichste Arten bezahlt
werden, die Einkaufslisten lassen mehrere
Optimierungsprozesse zu, wenn es darum
geht, möglichst viel für das vorhandene Geld
einzukaufen, ohne einen Artikel zu vernachlässigen. In Fällen wie diesen kann man sogar davon sprechen, dass Matheland Ansätze instruktionaler Strategie (vgl. Baumgartner
1995) zulässt und sogar provoziert.
Aber was nützt das vermeintlich beste Lernprogramm, wenn die Nutzer dieses Programms negative Erfahrungen gemacht haben und nicht damit arbeiten wollen? Im
nächsten Abschnitt werden Meinungen über
Matheland zusammengetragen. Dabei wird
darauf hingewiesen, dass es sich um sehr
subjektive und punktuelle Bewertungen handelt.
5
Bewertungskriterien und
Bewertungen
Was aber halten nun die verschiedene Interessengruppen von Matheland? Wie bewerten Schüler, Lehrer und Fachdidaktiker das
Programm?
Zwar gibt es zur Beurteilung von Lernsoftware viele Kriterien-Kataloge. Diese sind jedoch meistens sehr allgemein gehalten und
erzeugen beim Benutzer nur eingeschränkt
ein objektives Urteil. Lehr- und lerntheoretische Aspekte, die Akzeptanz bei Lehrern,
Schülern und Eltern bleiben meistens unberücksichtigt. Auch liegen keine empirischen
Befunde über die Effektivität dieser Programme in der Grundschule vor. Im Zusammenhang mit dem Einsatz von Matheland in
einer zweiten Klasse wurden Schüler und die
die Klasse unterrichtende Lehrerin darüber
befragt, was sie vom Einsatz von Matheland
im Unterricht halten. Rückmeldungen von Eltern zu Matheland liegen der Autorin zur Zeit
noch nicht vor. Es seien hier nun die Meinungsbilder tabellarisch zusammengestellt.
147
Monika Schoy
5.1
Schülermeinungen
• „positiv“
– Es macht Spaß.
– Die Aufgaben habe ich gut verstanden.
– Den Zauberer zu fangen, fand ich witzig.
– Die Zirkus-Künstler rechnen lustig.
– Tempel: Das Orakelmuster ist cool.
– Lagerhaus: Man kann Geld verdienen.
– Ich kontrolliere den Kassenzettel selbst.
– Es gibt schwierige Aufgaben.
– Die Pizzabäckeraufgaben sind neuartig.
• „negativ“
– Die Geier waren immer besser als ich.
– Das Taxi fahren ist blöd. Ich laufe lieber.
– Das Labyrinth bei Fredo ist manchmal
unlogisch.
5.2
Lehrerinnenmeinung
• „positiv“
– Hohe Motivation der Schüler.
– Das Hilfesystem funktioniert.
– Versuch einer Fehleranalyse.
– Bearbeitung eigener Aufgaben.
– Körperrotationen sind möglich.
– Arbeitsprotokolle sind möglich.
• „negativ“
– Die Sequenzen dauern zu lange.
– Viele unnötige Animationen.
– Sprechtexte kann man nicht ausschalten.
– Bei Rechnen mit Größen werden die Einheiten vorgegeben.
– Die Pausenaufforderung ist für den Unterricht ungeeignet.
Sowohl bei den Schülern, als auch auf der
Seite der Lehrerin überwiegen in deren Meinungsbildern die positiven Aspekte der Lernsoftware Matheland. — Im nächsten Abschnitt werden weitere didaktische Anmerkungen im Hinblick auf die Bewertung aufgezeigt.
5.3 Didaktische Gesichtspunkte
einer Bewertung
• Die Lernform des Programms ist relativ
offen. Es gibt viele spielerische Elemente,
vielfältige Wahlmöglichkeiten und sehr
148
viele unterschiedliche Übungsformen und
Aufgabenformate.
• Die Lernprozesssteuerung ist vorhanden,
aber weiter verbesserungswürdig. Zwar
gibt es eine individuelle Fehleranalyse,
aber „intelligente“ Fehleranalysen und
Hilfsfunktionen kann auch dieses Programm nicht bieten. Es fehlen eine Anpassung der Aufgaben an Fehlerquellen
sowie Erklärungsmodelle oder Hilfsfunktionen für Fehlerquellen. Das Programm
markiert falsche Endergebniszahlen und
beschränkt sich auf den Hinweis, dass
man einen Fehler gemacht hat. Im zweiten Schritt dann wird angegeben, an welcher Stelle in der Rechnung ein Fehler
vorliegt. Wichtig wäre an dieser Stelle eine ausführlichere Rückmeldung an den
Schüler, aber auch an die Lehrperson.
Hinweise sowohl auf die Fehlerstelle als
auch auf die Fehlerart sowie weitere
Denk- und Arbeitsimpulse sollten zum
Standard gehören.
• Eng verbunden mit diesem Aspekt der
Lernprozesssteuerung ist das Lernprotokoll für Schüler und Lehrperson. Zwar bietet das Programm die Möglichkeit, eigene
Aufgaben zu schriftlichen Rechenverfahren zu bearbeiten und ausdrucken zu lassen, aber diese Funktion betrifft nicht alle
Aufgabenmodule des Programms und
kann inhaltlich nur als erster Schritt eines
aussagenreichen Lernprotokolls gesehen
werden. Wichtige Grundsätze für eine
Verbesserung des Programms in dieser
Hinsicht könnten folgende Aspekte sein:
Auch bei vorzeitigem Ausstieg aus dem
Programm sollte ein Lernprotokoll erstellt
werden können. Die Speicherung eines
solchen muss automatisch erfolgen. Im
Lernprotokoll enthalten sein sollten vollständige biographische Angaben über
den Schüler und eine umfassende Fehleranalyse seines Arbeitens. Dass eine
individuelle Fehleranalyse und effektive
Lernprozesssteuerung möglich sind, zeigen die Ausführungen von Hennecke (vgl.
Hennecke 2002).
• Die Flexibilität der Lernsoftware ist bezüglich der Handlungsmöglichkeiten, die den
Schüler betreffen, recht hoch. In Bezug
auf den Lehrer jedoch zeigen sich hier
große Mängel des Programms für den
Einsatz im Unterricht. Die Lehrperson hat
keine Möglichkeit, die Lerneinheit, den
Schwierigkeitsgrad, den Lernumfang, die
Bearbeitungszeit, den Hilfegrad, die Hilfeart o. ä. zu beeinflussen. Das Programm
bietet der Lehrperson nicht einmal einen
Gestaltungs- und Bewertungskriterien zur Beurteilung von Mathematik-Software
Überblick über die erreichbaren Leistungen und Lerninhalte des Programms. Es
fehlt jegliche Transparenz für die Lehrperson. Dadurch stellt sich die Frage nach
dem didaktischen Ort für den Einsatz des
Programms im Rahmen des Unterrichts.
Da das Programm mit wenigen Ausnahmen keine Informationssequenzen für die
Schüler bereithält, müssen die Schüler eigentlich alle Inhalte bereits beherrschen,
bevor sie mit dem Lernprogramm vertieft
und gefestigt werden können. Ist Matheland dann eigentlich nur zum Ende des
Schuljahres als „die etwas andere
Übungsmethode“ einsetzbar? Solange
sich das Programm in seiner jetzigen
Form präsentiert, trifft diese Befürchtung
zu. Die Integration des Computers in den
alltäglichen Unterricht wird durch diese
mangelnde Flexibilität und Interaktivität für
die Lehrperson immens erschwert.
• Die Lernverstärkung des Programms ist
variantenreich und kindgerecht. Viele positive Rückmeldungen sprechen für einen
Einsatz des Programms im Unterricht. Die
negativen Rückmeldungen wirken dennoch ermunternd, wenngleich sich manche verbalen Elemente aus pädagogischer Sicht zunächst als denkwürdig darstellen (in Version Kl. 3/4). In der Praxis
jedoch stellt sich heraus, dass Schüler
dieser Altersstufe durch die teilweise entmutigenden, fast bösartigen Aussagen
der Figuren im Programm eher provoziert
und zur Leistung angestachelt werden.
Oberstes Ziel wird es für die Schüler, diese Figuren zu schlagen.
• Das Programm schafft es, viele Motivationselemente wie z. B. Farbgebung, Bilder, Grafiken, Ton, Spielformen, verbale
und nonverbale Animationen etc. positiv
umzusetzen. Bei den Schülern kommen
diese Merkmale sehr positiv an. Aus didaktischer Sicht wäre hier allerdings weniger oft mehr.
• Die technische Handhabung des Programms erweist sich als erfreulich praktikabel. Selten kommt es zu einem Programmabsturz. Die Schüler klicken sich
per Maus-Steuerung problemlos durch
das Programm.
• Inhaltlich besticht das Programm durch
seine Vielseitigkeit. Es werden viele Bereiche der Mathematikbildungspläne abgedeckt. Der geometrische Bereich „Bauen, Baupläne lesen und erstellen“ ist nicht
im Programm umgesetzt. Wünschenswert
wäre es auch, wenn zusätzlich Aufgaben
zu Bereichen wie beispielsweise dem Ge-
dächtnistraining, dem Konzentrationstraining, dem logischen Denken etc. angeboten werden würden.
6
Zusätzliche Verbesserungswünsche
Weiterhin wünschenswert für die Gestaltung
von Lernsoftware ist die Berücksichtigung
folgender Aspekte:
• In hochwertigen Softwareprogrammen
müssen Aufgaben enthalten sein, die die
Artikulation des Vorgehens bei der Bearbeitung der Schüler erfordern. Lern- und
Problemlösestrategien sollen angeboten
und explizit gemacht werden. Aufforderungen könnten sein: Begründe dein Vorgehen! Wie hast du gerechnet? Gibt es
solche Ergebnisse im Alltag? Viel zu oft
ist es doch auch so, dass Ergebnisse mathematisch zwar richtig sind, jedoch keinen Realitätsbezug aufweisen.
• Wenn sich der Mathematikunterricht zum
Ziel gesetzt hat, dass Schüler auf die Bewältigung des Alltags vorbereitet werden
sollen, dann sollten die inhaltlichen Kontexte solcher Programme auch nahe am
Alltag stehen. Dies verfolgen Konzepte
wie das situationsorientierte Lernen (anchored instruction) (vgl. Vanderbilt 1990).
Optimal ist es, wenn Schüler das Gelernte
auf neue Situationen im Alltag anwenden.
Dies ist aber durch die fiktive Geschichte
in Matheland nicht möglich. Das bedeutet,
dass die Kinder sich sogenanntes träges
Wissen aneignen, das nicht auf alltägliche
Probleme anwendbar ist.
• Neben dem Konzept des situationsorientierten Lehrens spielt der CognitiveApprenticeship-Ansatz von Collins, Brown
& Newmann (1989) in der zukünftigen
Softwareentwicklung ein wichtige Rolle.
Gemäß diesem Ansatz sollen die Lernenden im Rahmen eines spezifischen Methodenrepertoires bis hin zum selbstgesteuerten Lernen geführt werden. Das
Methodenrepertoire umfasst 6 Stufen
(deutsche Übersetzung): Modellieren, Begleiten, Unterstützen, Artikulieren, Reflektieren und Explorieren. Modellierungsprozesse jedoch kommen in Programmen für
die Grundschule kaum vor. Auch in der
Grundschule kann man dem Lernenden
mathematische Fakten in einem Lehrteil
erklären, so wie einige Programme aus
der Sekundarstufe dies bereits versuchen.
In der Grundschule könnte es so ausse-
149
Monika Schoy
hen, dass ein Experte eine Problemlösung vormacht und sein Vorgehen verbalisiert. Hier wird der Modellierungsprozess
zwar nicht vom Lernenden selbst vollzogen, aber es ist ein erster Schritt dahin,
Modellierungsprozesse sichtbar zu machen. Matheland versucht dies bei der Berechnung von Flächeninhalten. Ein solches Vorgehen stellt eine Ausnahme im
Programm dar.
• Ein weiteres Qualitätsmerkmal für hochwertige Computerprogramme ist eine umfangreiche Interaktivität für Lernende und
Lehrende. Die Lernenden sollen viel mehr
zum Handeln, Ausprobieren, Experimentieren und systematischen Vorgehen angeregt werden. Sie sollen Sachverhalte
dadurch besser verstehen, indem sie sich
aktiv damit auseinander setzen. Lehrende
benötigen mehr Handlungsspielräume
und Steuerungsmöglichkeiten beim Einsatz des Programms im Unterricht.
• Als letzter Punkt sei das soziale Lernen
beim Lernen mit einer Software angesprochen. Kommunikation kann dann erfolgen, wenn Kinder die Aufgaben mindestens zu zweit bearbeiten. Aufgaben
müssen so gestellt werden, dass sie kooperativ besser und schneller gelöst werden können, als wenn ein Schüler sich alleine an die Bearbeitung der Aufgaben
macht. Nur dann ist die Forderung nach
kooperativem Lernen sinnvoll. So ist das
Programm aber nicht aufgebaut. Es stellt
sich somit die Frage, wie der Übergang
von virtueller zu realer Welt initiiert und erreicht werden kann.
Zusammenfassung
Der Einsatz von neuen Medien hat im Mathematikunterricht der Grundschule längst
seinen festen Platz. Trotz großer Euphorie
und Begeisterung beim Einsatz von Computerprogrammen in der Grundschule darf nicht
vergessen werden, dass Computer nur in einem bestimmten (vom Autor ihnen zugewiesenen, d. h. einprogrammierten) Rahmen intelligent, flexibel und kreativ auf die Handlungen der Kinder reagieren können. Viel zu
viele Programme sind ausschließlich auf der
Basis des Reiz-Reaktions-Lernens aufgebaut
und entsprechen damit nicht den aktuellen
Erkenntnissen der Lerntheorie, die die behavioristische Sichtweise des Lernens für eher
überholt sehen und die die konstruktivistischen Lerntheorien betonen. Lernprogramme, die diese neue Sichtweise des Lernens
150
betonen, sind in der GS eher selten. Die
Lernsoftware Matheland macht erste Schritte, um über das reine Reiz-Reaktions-Lernen
der Schüler hinaus zu gehen. Neben vielen
positiven Aspekten des Programms gibt es
leider auch sehr viele Schwachstellen, die
einen Einsatz im täglichen Unterricht nur bedingt möglich machen.
Literatur
Baumgartner, P. (1995): Didaktische Anforderungen an (multimediale) Lernsoftware. In: Issing,
L. J. & Klimsa, P. (Hrsg.): Information und Lernen mit Multimedia. Weinheim: Beltz, 241–252
Collins, A., Brown, J. S. & Newmann, S. E. (1989):
Cognitive appprenticeship: Teaching the crafts
of reading, writing, and mathematics. In: Resnick, L. B. (Hrsg.): Knowing, learning and instruction. Essays in the honour of Robert Glaser. Hillsdale, N. J.: Erlbaum, 453–494
Cognition and Technology Group at Vanderbilt
(1990): Anchored instruction and its relationship to situated cognition. In: Educational Researcher 19 (6), 2–10
Cornelsen Verlag (2001): MATHELAND. Eine
Lernsoftware für die Grundschule für die Klassen 1+2 und 3+4
Dörr, G. (2001): Spaß mit Mathe — eine multimediale Lernumgebung. In: Mathematik lehren
92, 14–16
Hennecke, M. (2002): Fehlerdiagnose in intelligenten Lehr-Lern-Systemen. In diesem Band
Monnerjahn, R. (1995): Gestaltungsgrundsätze
des Mathematikübungsprogramms FELIX für
die Primarstufe. In: Beiträge zur Didaktik der
Mathematik 3/1995, 75–86
Thomé, D. (1989): Kriterien zur Bewertung von
Lernsoftware. Heidelberg: Huething
Unterbruner, G. (2001): Interaktivität — ein wichtiges Kennzeichen guter Lernprogramme. In:
Mathematik lehren 92, 43–45
z
Modellierung in der Schule *
Jens Weitendorf, Norderstedt
Das Projekt hat zum einen das Ziel, Schülerinnen, Schüler und Lehramtstudierende an
die Modellierung heran zu führen und die Relevanz von Mathematik in der realen Welt zu
zeigen und auf der anderen Seite, den Dialog zwischen den universitären Fachbereichen
Mathematik und Erziehungswissenschaft, der Schule und der Berufswelt zu fördern. Um
obiges zu erreichen, werden Probleme aus der Realität von Leuten vorgestellt, die sich
beruflich mit den Problemen befassen, und diese werden dann von den Schülerinnen
und Schülern mit den Studierenden im Unterricht bearbeitet. Die Lösungen werden den
Fachleuten vorgestellt und mit ihnen diskutiert. Das Projekt ist auf drei Jahre ausgelegt.
Ich berichte über das zweite Jahr aus der Sicht eines der beteiligten Lehrer. Die beteiligten 8 Schülerinnen und 8 Schüler sind aus einem Mathematik Leistungskurs im 12. Jahrgang.
Modellierung wird hier im klassischen Sinne verstanden, wie sie zum Beispiel in (Kaiser
1995) beschrieben ist.
Ich stelle im folgenden zunächst die Probleme kurz vor und dokumentiere daran anschließend einige Lösungen der Schülerinnen und Schüler.
1
Das Hubschrauberproblem
Den Schülerinnen und Schülern wurde eine
Excel-Tabelle mit 109 Skiorten aus Südtirol
gegeben. Zu jedem Ort war auch die Anzahl
der Unfälle in einem Zeitraum gegeben. Daneben erhielten sie eine Karte und ein darunter gelegtes Koordinatensystem, in dem die
Orte eingetragen waren.
Die nächste Abbildung zeigt die Excel-Tabelle mit den entsprechenden Angaben.
Abb. 1: Das Skigebiet mit Koordinatensystem und Orten
151
Jens Weitendorf
O rt e
A b te i
A h rn t a l
A ld e in
A lg u n d
A lt re i
A n d ria n
A uer
B a rb ia n
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D e u t s c h n o fe n
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F e ld t h u rn s
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F r e i e n fe l d
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J e n e s ie n
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K a s t e lb e ll
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K la u s e n
K u rt a t s c h
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X
1 1 2 ,5 0
1 2 4 ,2 5
7 4 ,7 5
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7 6 ,7 5
6 3 ,5 0
6 1 ,2 5
8 4 ,0 0
7 3 ,5 0
6 2 ,0 0
7 5 ,0 0
9 3 ,0 0
1 1 4 ,7 5
1 1 1 ,7 5
7 9 ,2 5
1 1 4 ,2 5
6 6 ,5 0
8 9 ,7 5
8 8 ,7 5
7 9 ,2 5
1 1 4 ,5 0
6 0 ,5 0
1 0 ,0 0
7 ,7 5
1 3 2 ,2 5
6 1 ,2 5
1 4 1 ,2 5
7 1 ,0 0
6 5 ,7 5
7 6 ,2 5
3 6 ,5 0
8 8 ,0 0
1 0 6 ,0 0
8 7 ,5 0
6 5 ,2 5
6 5 ,7 5
2 1 ,7 5
Y
5 3 ,5 0
9 8 ,2 5
2 2 ,7 5
5 6 ,7 5
1 3 ,2 5
3 8 ,5 0
1 9 ,7 5
5 0 ,2 5
3 6 ,7 5
2 6 ,0 0
8 5 ,7 5
6 3 ,5 0
7 5 ,0 0
4 6 ,0 0
2 8 ,5 0
6 3 ,7 5
3 1 ,2 5
5 8 ,2 5
7 0 ,5 0
7 8 ,7 5
7 8 ,7 5
4 4 ,7 5
4 9 ,7 5
6 4 ,5 0
7 4 ,0 0
5 2 ,2 5
7 0 ,7 5
4 0 ,5 0
2 6 ,2 5
3 7 ,0 0
4 7 ,7 5
4 6 ,7 5
7 5 ,7 5
5 4 ,2 5
1 5 ,0 0
1 0 ,0 0
4 5 ,5 0
N
53
26
12
3
4
2
15
8
96
4
10
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78
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8
3
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21
13
20
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12
3
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22
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1
1
O rt e
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P a rt s c h in s
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S a rn t a l
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5 6 ,5 0
3 4 ,0 0
5 1 ,7 5
7 3 ,0 0
1 0 1 ,5 0
8 ,5 0
6 4 ,2 5
2 8 ,2 5
5 6 ,0 0
6 4 ,2 5
7 1 ,2 5
5 4 ,7 5
9 3 ,5 0
1 0 6 ,5 0
6 0 ,7 5
4 5 ,0 0
9 3 ,7 5
6 9 ,0 0
1 2 1 ,2 5
4 9 ,7 5
1 0 9 ,5 0
7 0 ,5 0
7 6 ,5 0
4 7 ,5 0
1 4 ,2 5
1 3 0 ,2 5
1 2 3 ,5 0
4 7 ,7 5
1 2 2 ,2 5
7 0 ,5 0
8 0 ,7 5
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6 6 ,0 0
1 1 3 ,7 5
7 1 ,7 5
Y
5 0 ,5 0
4 8 ,2 5
4 6 ,5 0
3 0 ,2 5
2 9 ,2 5
6 7 ,7 5
5 2 ,0 0
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3 9 ,7 5
5 4 ,2 5
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1 8 ,0 0
7 1 ,7 5
7 2 ,2 5
8 4 ,5 0
4 1 ,0 0
5 1 ,0 0
6 9 ,7 5
1 6 ,2 5
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5 5 ,2 5
7 6 ,0 0
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8 2 ,2 5
5 1 ,7 5
4 5 ,0 0
6 7 ,5 0
1 0 3 ,2 5
3 1 ,7 5
7 4 ,5 0
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4 2 ,5 0
7 1 ,0 0
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N
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4
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29
42
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S t . M a rt in i, T .
S t . P a n k ra z
S t . U lric h
S t erz in g
S t i lfs
T a u fe r s
T e ren t e n
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W e l s c h n o fe n
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X
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2 7 ,5 0
1 2 ,5 0
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1 1 1 ,0 0
6 0 ,2 5
1 1 1 ,7 5
5 1 ,7 5
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7 4 ,0 0
1 0 ,5 0
4 ,0 0
1 0 0 ,7 5
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5 6 ,0 0
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1 3 6 ,2 5
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5 5 ,0 0
4 6 ,0 0
9 1 ,5 0
8 6 ,2 5
9 6 ,0 0
9 7 ,2 5
8 4 ,2 5
6 2 ,7 5
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1 2 7 ,5 0
8 8 ,0 0
1 1 4 ,5 0
1 0 3 ,0 0
Y
5 6 ,5 0
4 7 ,2 5
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6 7 ,5 0
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7 0 ,5 0
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4 9 ,0 0
7 2 ,2 5
3 1 ,2 5
6 0 ,0 0
4 6 ,5 0
N
14
21
1
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2
6
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10
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5
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3
9
18
13
21
1
4
3
36
4
107
Abb. 2: Excel-Tabelle mit Ortskoordinaten und Unfallhäufigkeit
Die Aufgabe der Schülerinnen und Schüler
war es nun, eine optimale Position für die
drei Hubschrauber zu finden.
so einfach auf die Fragestellung bezüglich
dreier Hubschrauber übertragen. So haben
sie das Gebiet willkürlich in drei Teile geteilt
und für jeden dieser Teile den Schwerpunkt
unabhängig berechnet.
2
Die dritte Gruppe ist von folgender Fragestellung ausgegangen:
Lösungen des Hubschrauberproblems
Die Schülerinnen und Schüler haben im wesentlichen drei verschiedene Lösungen angeboten. Eine Gruppe hat sich zum Ziel gesetzt, dass ein Hubschrauber innerhalb von
höchstens 20 Minuten am Ziel sein sollte. Sie
haben durch Ausprobieren drei Kreise ermittelt, deren Flächen das Gebiet überdecken.
Aus dem Internet wurde die zusätzliche Information gewonnen, dass die Geschwindigkeit von Hubschraubern ca. 150 – 200 km/h
beträgt. Die Zeit ließ sich sogar auf 16 Minuten reduzieren. Nach eigenen Angaben haben die Schülerinnen und Schüler bei ihrer
Lösung die topographischen Besonderheiten
und die Unfallhäufigkeit vernachlässigt.
Eine zweite Gruppe hat sich die Frage gestellt, wie man am besten die drei Hubschrauber im Verhältnis zur Anzahl der Verletzten und des Flugweges platziert. Sie haben das Problem zunächst auf einen Hubschrauber reduziert und den „Schwerpunkt“
berechnet. Diese Berechnung lässt sich nicht
152
„Wo müssen die drei Hubschrauber innerhalb
Südtirols stationiert werden, damit die zurückzulegende Gesamtstrecke, wenn alle
Skigebiete einmal angeflogen werden, minimiert wird. (Problem: die Anzahl der Verletzten ist nicht gleichmäßig auf die Skigebiete
verteilt. Ein Skigebiet mit 100 Verletzten
muss 100x so oft angeflogen werden wie ein
Skigebiet mit einem Verletzten. Die Distanz
zwischen der Helikopterbasis und dem Skigebiet mit 100 Verletzten müsste also erheblich kleiner sein als die Distanz zwischen der
Helikopterbasis und dem Skigebiet mit einem
Verletzten.)
Ziel ist es also nicht nur die zurückzulegende
Gesamtstrecke alleine zu minimieren, sondern die Anzahl der Verletzten in der Rechnung zu berücksichtigen. Hierfür muss die
Summe der Produkte aus jeweils der Entfernung zum nächsten Helikopter multipliziert
mit der Anzahl der Verletzten in diesem Skigebiet minimiert werden.“ (Original Schülerzitat)
Modellierung in der Schule
Die Gruppe hat sich zunächst auf einen Hubschrauber beschränkt und das Problem mit
Hilfe eines Delphi-Programms gelöst. Sie
haben dazu das Gebiet in Pixel aufgeteilt,
wie sie durch die Abbildung 1 vorgegeben
waren, und für jeden der 19200 Pixel die entsprechende Rechnung durchgeführt und mit
den anderen verglichen. Diese Berechnungen können mit einem herkömmlichen PC
leicht durchgeführt werden. Bei der Erweiterung auf drei Hubschrauber ergibt sich aber
ein Problem. Die Anzahl der Rechnungen
wächst auf 192003, was wiederum eine Rechenzeit von ca. 23 Jahren erforderlich machen würde. Dieses Problem wurde von der
Gruppe dadurch gelöst, dass nicht mehr alle
möglichen Punkte in Betracht gezogen wurden, sondern nur zufällig ausgewählte. Die
Schüler konnten dabei eine gewisse Konvergenz erkennen, wie die folgende Abbildung
zeigt.
Bei den Lösungsversuchen der Schülerinnen
und Schülern hat sich gezeigt, dass diese
Problemstellung doch zu komplex war. Viele
sind über die Formulierung der Fragestellung
nicht hinaus gekommen. Andere haben versucht, eine Formel für die Strahlenbelastung
auf zu stellen, doch diese Formeln wiesen
zum Teil erhebliche Fehler auf. Mehreren
Gruppen ist an diesem Beispiel bewusst geworden, dass man ohne Computerbenutzung
nicht zu konkreten Lösungen kommen kann.
Nur eine einzige Gruppe hat den Versuch einer konkreten Lösung unternommen. Sie haben folgende vereinfachende Annahmen
gemacht:
1) Der Tumor ist punktförmig.
2) Das Problem wird nur 2-dimensional behandelt.
3) Man strahlt nur aus 8 symmetrisch verteilten Richtungen.
4) Die Strahlung aus jeder
Richtung hinterlässt die
gleiche Dosis im Körper,
der als kreisförmig angenommen wird. Die exponentielle Abnahme der
Strahlung wird berücksichtigt; die Streuung allerdings nicht.
Abb. 3: Gesamtflugstrecke in Abhängigkeit von der Anzahl der zufälligen Berechnungen
4
3
Strahlentherapieplanung
bei Krebskranken
Für dieses Problem gibt es bisher keinen Algorithmus. Vor einer Therapie versucht ein
Physiker experimentell durch eine Simulation
eine optimale Bestrahlung zu bestimmen.
Um eine Tumorzelle zu töten, wird eine
Strahlendosis von ca. 70 Gray benötigt. Um
eine Gefährdung gesunden Gewebes zu minimieren, muss aus mehreren Richtungen
gestrahlt werden. Die Tumorzellen liegen
dann in den Schnittpunkten der Strahlen, um
so eine hinreichend große Dosis zu erhalten.
Wenn sich in der Nähe des Tumors Risikogewebe befindet, ist darauf zu achten, dass
dieses mit höchstens 2 – 3 Gray belastet
wird.
Zu den obigen Bedingungen
haben die Schüler ein DelphiProgramm geschrieben, das
den Strahlungsanteil jeder
Richtung in Abhängigkeit der
Lage des punktförmigen Tumors in dem Kreis berechnet.
Ausrichtung und
Vergleich von Molekülen
Bei diesem Problem geht es darum, zwei
ähnliche Moleküle zu vergleichen. Mit Hilfe
des Programms ViewerLite ist die folgende
Abbildung erzeugt worden, die auch den
Schülerinnen und Schülern neben dem Programm vorlag. Die beiden unten dargestellten Moleküle zeigen eine gewisse Ähnlichkeit. Das Problem, das sich nun stellt, ist die
Frage, wie ähnlich sind die beiden, oder anders ausgedrückt, lässt sich ein Maß für die
Ähnlichkeit finden. Diese Frage hat für die
chemische Industrie eine große Relevanz, da
man oft nach Stoffen sucht, die verglichen
mit einem vorgegebenen die gleiche Wirkung
haben, für die nur ein Teil des Moleküls verantwortlich ist, aber preiswerter in der Herstellung oder verträglicher sind.
153
Jens Weitendorf
mathematischen
Gesichtspunkt
aus betrachtet
am
weitesten
bezüglich einer
Lösung des gestellten
Problems
vorgedrungen.
Besonders bei
der einen Gruppe ist deutlich
geworden, dass
es beim Modellieren wichtig
und meistens
auch nötig ist,
die Kreisläufe
mehrmals zu
durchlaufen.
Dabei ist deutlich geworden,
dass der RealiAbb. 4: Die zwei gegebenen Moleküle dargestellt mit ViewerLite
tätsbereich und
der Bereich der
Mathematik
Für dieses Problem war nur eine Schülerwahrscheinlich
nicht
so
eindeutig
getrennt
gruppe zu begeistern. Sie haben aber auch
werden
können
wie
das
im
Modell
in (Kaiser
keine Lösung gefunden, sondern sich haupt1995)
dargestellt
ist.
sächlich mit dem Programm vertraut gemacht. Ihnen ist bewusst geworden, dass
Abbildungsmatrizen einen Lösungsansatz
darstellen. Es ist ihnen aber nicht gelungen,
ihren Ansatz im dreidimensionalen zu konkretisieren.
Das konkrete Material und die Schülerlösungen inklusive der von den Schülern entwickelten Programmen findet man im Internet
unter:
www.math.uni-hamburg.de/home/
struckmeier/modellierung
5
Literatur und Abbildungen
Schlussbemerkungen
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass
Schülerinnen und Schüler im Rahmen der
oben dargestellten Projekte eigenständig mathematische Überlegungen anstellen, ohne
dass eine starke Führung notwendig ist. Dies
gilt in erster Linie für das Hubschrauberproblem. Die beiden anderen Probleme waren zu
komplex, als dass die Schülerinnen und
Schüler ohne eine große Hilfestellung von
außen, sehr weit gekommen sind. Immerhin
war es aber möglich, die Problematik zu erfassen und adäquate Fragestellungen zu
entwickeln.
Des weiteren hat sich gezeigt, dass man für
die konkrete Lösung realitätsbezogener
Probleme um einen Einsatz von Rechnern
nicht umhin kommt. Als erfolgreich hat sich
dabei erwiesen, dass einige Schüler neben
der Kenntnis eines CAS auch Programmierkenntnisse hatten. Diese Schüler sind vom
154
Kaiser, Gabriele (1995): Realitätsbezüge im Mathematikunterricht — Ein Überblick über die
aktuelle und historische Diskussion. In: Schriftenreihe der ISTRON-Gruppe. Bd. 2. Hildesheim: Franzbecker, 66–84
Abbildungen 1 und 2 wurden von Herrn Prof. Dr.
Ortlieb, Hamburg, zur Verfügung gestellt.
Abbildung 3 wurde von einer Schülergruppe mit
Excel erzeugt.
Abbildung 4 wurde von Herrn Mietzner, BASF
Ludwigshafen, zur Verfügung gestellt.
*
Ein Projekt der Universität Hamburg in
Zusammenarbeit mit Schulen in Hamburg und Schleswig-Holstein, gefördert
durch die Volkswagenstiftung
z
Grundfragen der Evaluation multimedialen Lernens
Gerald Wittmann, Würzburg
Der Begriff „Evaluation“ wird im Kontext multimedialen Lernens vielfach verwendet, mit
jeweils unterschiedlichen Bedeutungen. Eine einheitliche Begriffsfestlegung gibt es nicht.
In diesem Beitrag werden deshalb Grundfragen der Evaluation multimedialen Lernens
diskutiert, bezogen sowohl auf Lernsoftware für den Mathematikunterricht als auch auf
Forschungsprojekte im Hochschulbereich.
1
Einführung und Begriffsklärung
Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Publikationen zur Evaluation multimedialen Lernens,
und zwar sowohl Untersuchungsberichte
(seit den 80er Jahren) als auch methodologisch orientierte Aufsätze und Lehrbücher
(seit den 90er Jahren). Drei Beispiele zeigen
die Bandbreite von Konzepten auf, die jeweils hinter dem Terminus „Evaluation“ stehen:
• Der Begriff wird einerseits mit einer sehr
weiten Bedeutung für jegliche Form der
Erhebung von Benutzerdaten verwendet.
So sprechen Wottawa & Thierau (1998,
32) von einer „Kontextevaluation“ und
meinen damit eine Befragung potentieller
Anwender oder eine Erfassung von Rahmenbedingungen, die noch im Umfeld der
Projektplanung angesiedelt ist und der eigentlichen Realisierung vorausläuft.
• Baumgartner (1997, 132) hingegen hebt
besonders die Bewertungsposition hervor
und sieht gerade darin eine Abgrenzung
der Evaluationsforschung von den klassischen Sozialwissenschaften, die dem
Postulat der Wertfreiheit verpflichtet sind:
„Entscheidend für Evaluationen ist der
Prozeß der Bewertung, d. h. die Bestimmung des Wertes der untersuchten Sache.“
• Schulmeister (2002, 411) konstatiert die
„Nicht-Evaluierbarkeit von Multimedia“
und fasst damit seine vernichtende Kritik
an den Methoden und Ergebnissen zahlreicher Untersuchungen zur Evaluation
multimedialen Lernens zusammen.
Obwohl der Terminus „Evaluation“ mit höchst
unterschiedlichen Bedeutungen belegt wird,
lassen sich dennoch drei Kriterien ausmachen, die als allgemeine Kennzeichen wissenschaftlicher Evaluation angesehen wer-
den können (vgl. Wottawa & Thierau 1998,
14):
• Evaluation hat — wie schon in der Wortbedeutung von „Evaluation“ erkennbar ist
— stets mit einer Bewertung zu tun: „Evaluation dient als Planungs- und Entscheidungshilfe und hat somit etwas mit der
Bewertung von Handlungsalternativen zu
tun.“ (ebd. 14)
• „Evaluation ist ziel- und zweckorientiert.
Sie hat primär das Ziel, praktische Maßnahmen zu überprüfen, zu verbessern
oder über sie zu entscheiden.“ (ebd. 14)
Hierin unterscheidet sie sich von sozialwissenschaftlicher Grundlagenforschung
(vgl. Bortz & Döring 1995, 96ff).
• Evaluation muss stets dem aktuellen
Stand wissenschaftlicher Techniken und
Forschungsmethoden genügen (vgl. Wottawa & Thierau 1998, 14).
Auch der Begriff „Multimedia“ ist nicht eindeutig zu fassen (vgl. Klimsa 2002; Schulmeister 2002, 19ff). In der Literatur findet
man
• Definitionen, die sich ausschließlich auf
den Medieneinsatz stützen (Multimedia
als Zusammenspiel mehrer Medien, egal
welcher Art),
• Definitionen, die technische Aspekte in
den Vordergrund rücken (Multimedia als
Einsatz des Computers zur Integration
von Text, Bild, Film und Ton),
• Definitionen, die sich an den Besonderheiten des Lernprozesses orientieren
(multimediales Lernen zeichnet sich durch
die Möglichkeit zur Interaktivität und zu
einer nicht-linearen Vorgehensweise aus).
Auch wird nicht immer deutlich unterschieden, ob letztlich die Software oder das Lernen mit dieser Software evaluiert werden soll
(für eine diesbezügliche Klärung vgl. Fricke
2002).
155
Gerald Wittmann
2
Prinzipielle Probleme der
Evaluation multimedialen
Lernens
Die Evaluation multimedialen Lernens bringt
einige prinzipielle Probleme mit sich, die bei
der Erforschung anderer, „traditioneller“ LehrLern-Formen so nicht gegeben sind. Drei davon werden im Folgenden kurz skizziert: die
rasche technische Entwicklung, die Interaktivität und die eingeschränkte Auskunftsfähigkeit von Versuchspersonen bei Befragungen.
Rasche technische Entwicklung
Die rasche technische Entwicklung im Multimediabereich — in Bezug sowohl auf die
Hardware als auch die Software (und damit
verbundene Benutzerkonzepte) — kann Probleme bereiten: Da Studien in der Regel unter aktuellen Bedingungen ablaufen, sind sie
nach kurzer Zeit überholt. Dies betrifft nicht
nur technische Voraussetzungen, sondern
auch Vorkenntnisse und -erfahrungen der
Testpersonen. Schulmeister (2002, 388) fordert deshalb, „heutige Entwicklungen im Bewußtsein historischer Prozesse, aber auch
vor der Folie von Visionen zukünftiger Entwicklungen zu betrachten.“
Aufgrund der raschen technischen Entwicklung ist jegliche Evaluation multimedialen
Lernens zudem in hohem Maße anfällig für
Neuigkeitseffekte: Neue Hard- und Software
sind den Probanden in der Regel nicht bekannt; die Möglichkeit, sie im Rahmen einer
Studie kennen zu lernen, bringt häufig eine
entsprechend hohe Motivation mit sich. Problematisch ist jedoch auch die Durchführung
von Langzeitstudien, von denen man erwartet, dass sie Neuigkeitseffekte ausschalten
könnten: Die Rahmenbedingungen ändern
sich manchmal so schnell, dass diese Studien bei ihrem Abschluss bereits überholt
sind.
Interaktivität
Als Interaktivität bezeichnet Baumgartner
(1997, 133) „die Möglichkeit, daß Benutzer
nicht bloß Rezipienten sind, sondern in den
medial vermittelten Informations-, Kommunikations- und Lernprozeß gestaltend eingreifen. Dies betrifft sowohl die Gestaltung der
Inhalte, ihre Reihenfolge als auch die Zeit,
die mit einzelnen Phasen des Prozesses zugebracht wird.“ Das Vorhandensein dieser Interaktionsmöglichkeiten erweist sich als ein
entscheidendes Kriterium zur Abgrenzung
neuer Medien gegenüber herkömmlichen
Medien, bei denen der Lernende nur inner-
156
halb einer linearen Informationsabfolge auswählen kann.
Jegliche Form der Interaktivität bringt aber
gleichzeitig auch eine Individualisierung von
Lernwegen mit sich. Für die Evaluation einer
multimedialen Lehr-Lern-Umgebung hat dies
folgende Konsequenzen:
• Baumgartner (1997, 138; Hervorhebung
im Original) zufolge „geht es gerade nicht
um die inhaltliche statische Qualität des
Materials, sondern darum, wie weit es in
der Lage ist, Lernprozesse durch Interaktion anzustoßen und zu unterstützen. Die
abstrakte inhaltliche Analyse von Software ist daher wenig sinnvoll.“ Insofern
haben auch übliche Kriterienkataloge ihre
Grenzen (vgl. 4).
• Zudem „ist es beim mediengestützten Lernen gerade wichtig, das Augenmerk der
Evaluation nicht nur auf den Lerneffekt einer einzelnen Kurseinheit (Wissenstransfer) zu legen. Das würde bedeuten, im alten
Paradigma
der
(sequentiellen)
Vermittlung theoretischen Wissens zu
bleiben.“ (ebd. 138). Da eine multimediale
Lehr-Lern-Umgebung praktisch unbegrenzt viele Lerninhalte unstrukturiert anbieten kann, muss die Meta-Ebene der
individuellen Lernorganisation ebenfalls
mit in die Evaluation einbezogen werden.
Noch in weitaus höherem Maße stellt sich
diese Problematik bei multimedialen LehrLern-Umgebungen, die soziales Lernen ermöglichen oder gar fördern sollen.
Auskunftsfähigkeit von Versuchspersonen
Bei Befragungen jeglicher Art ist die Validität
der Auskünfte, die Versuchspersonen geben,
besonders zu prüfen. Wie eine von Schulmeister (2002, 398f) durchgeführte Reanalyse von Untersuchungsberichten zeigt, stimmen beispielsweise die benötigte Lernzeit
und die gemessenen Lernerfolge nicht mit
den Selbsteinschätzungen der Probanden
überein. Mögliche Ursachen hierfür sind typische Neuigkeitseffekte im Bereich multimedialer Lehr-Lern-Umgebungen und eine mangelnde Reflexionsfähigkeit der Versuchspersonen in Bezug auf ihr Lernverhalten. Zudem
ist häufig ungeklärt, welche der mittels einer
Befragung erhobenen Einstellungen langfristig stabil sind, also nicht dem Einfluss der
Versuchsanordnung unterliegen, und welche
wirklich auf das Untersuchungsdesign zurückzuführen sind. Relevant sind nicht die
Einstellungen als solche, sondern die Frage,
inwiefern sie sich unter dem Einfluss der
Grundfragen der Evaluation multimedialen Lernens
Lehr-Lern-Umgebungen ändern (vgl. ebd.
400).
unabhängig voneinander. In der Praxis zeigen sich aber häufig zwei Kombinationen:
Akzeptanzstudien (Studien, die der Frage
nachgehen, inwieweit Versuchspersonen mit
einer bestimmten Lehr-Lern-Umgebung zurecht kommen und sie annehmen) dürfen
generell nicht überbewertet werden (vgl.
Baumgartner 1999, 205f). Die Akzeptanz einer Lehr-Lern-Umgebung durch die Lernenden ist zwar wichtig, kann jedoch nicht als alleiniger und entscheidender Faktor für deren
Bewertung herangezogen werden.
• Eine formative Evaluation in Form einer
Selbstevaluation liegt vor, wenn Projektmitarbeiter eine von ihnen im Rahmen ihres Projekts entwickelte (und eventuell
noch weiter zu entwickelnde) Lehr-LernUmgebung bereits in einem relativ frühen
Stadium evaluieren, mit dem Ziel, neue
Erkenntnisse für die weitere Entwicklung
zu gewinnen.
3
Evaluationsmodelle
Im Folgenden werden Kategorien der Evaluation multimedialen Lernens aufgezeigt.
Grundsätzlich lassen sich — im Hinblick darauf, welche Rolle der Evaluation bei der Entwicklung einer Lehr-Lern-Umgebung zukommt — zwei verschiedene Evaluationsmodelle unterscheiden (vgl. Bortz & Döring
1995, 106ff; Wottawa & Thierau 1998, 31ff
und 62ff):
• Eine summative Evaluation oder Produktevaluation findet abschließend statt. Sie
dient der Qualitätskontrolle und dem Erkenntnisgewinn. Gegenstand der Evaluation ist die fertiggestellte Lehr-Lern-Umgebung. Es wird verschiedentlich betont,
dass eine Evaluation stets auch eine Bewertung der Projektergebnisse nach vorab festgelegten Bewertungskriterien einschließen muss (vgl. Baumgartner 1999,
199ff).
• Eine formative Evaluation oder Prozessevaluation wird parallel zur Entwicklung
einer Lehr-Lern-Umgebung durchgeführt,
mit dem Ziel, diese zu verbessern. Sie
dient der Qualitätssicherung, der Ermittlung von Schwachstellen und der Optimierung der Lehr-Lern-Umgebung. Die Ergebnisse der Evaluation fließen also in
den noch laufenden Entwicklungsprozess
ein. Deshalb wird hier auch von einer
Evolution oder von Monitoring gesprochen.
• Um eine summative Evaluation in Form
einer Fremdevaluation handelt es sich,
wenn das Lernen mit bereits auf dem
Markt befindlichen Lehr-Lern-Umgebungen evaluiert wird. Ziel der Evaluation ist
in der Regel eine Beschreibung und Bewertung des Produkts, eventuell in Verbindung mit einer Charakterisierung möglicher Einsatzgebiete.
4
Evaluationsmethoden
Im Folgenden werden fünf Evaluationsmethoden vorgestellt, die in der Praxis nicht selten auch im Sinne einer Methodentriangulation miteinander kombiniert werden.
Rezensionen
Rezensionen sind subjektive, wenngleich
fachlich fundierte Einschätzungen einzelner
Personen (Expertenevaluation). Es wird weder ein genau messbares noch ein reproduzierbares Ergebnis erwartet: „Im Gegenteil:
Gerade im Verarbeiten von subjektiven Erfahrungen und Einschätzungen besteht der
eigentliche Sinn von Softwarerezensionen“
(Baumgartner 2002, 432). Rezensionen beruhen auf den Erfahrungen und dem Fachwissen des Testers. Es handelt sich hierbei
stets um eine als Fremdevaluation durchgeführte summative Evaluation.
Kriterienkataloge
• eine Fremdevaluation „von außen“.
Kriterienkataloge können sowohl im Rahmen
einer Expertenevaluation (Beurteilung einer
Lehr-Lern-Umgebung durch Experten, insbesondere bei der Vergabe von Awards oder
Gütesiegeln) als auch bei einer Benutzerbefragung zum Einsatz gelangen. Kriterienkataloge eignen sich sowohl für eine summative,
als auch für eine formative Evaluation und
können in der Praxis insbesondere Anwendern Entscheidungskriterien für die Anschaffung von Software liefern.
Die Frage, ob es sich um summative oder
formative Evaluation handelt, und die Frage,
wer die Evaluation durchführt, sind prinzipiell
Die Vorzüge von Kriterienkatalogen liegen
auf der Hand: Ihr Einsatz ist einfach zu organisieren sowie methodisch sauber und nach-
Ferner lässt sich danach unterscheiden, wer
die Evaluation durchführt,
• eine Selbstevaluation wird von Projektmitarbeitern durchgeführt, die schon an der
Entwicklung beteiligt sind oder waren,
157
Gerald Wittmann
vollziehbar durchzuführen. Es gibt aber auch
einige problematische Aspekte (vgl. Fricke
2000):
• Experten sind sich häufig weder bei der
Auswahl und Gewichtung von Kriterien
noch bei der Frage, in welchem Maße
diese Kriterien von einer bestimmten
Lehr-Lern-Umgebung erfüllt werden, einig.
• Da der Lernerfolg, der in einer Lehr-LernUmgebung erzielt wird, von einer Vielzahl
von Kriterien und deren Wechselwirkung
abhängt, ist die Bedeutung einzelner Kriterien für den Lernerfolg häufig gering
(Unterschied von statistischer Signifikanz
und praktischer Signifikanz).
• In der Regel fehlen empirische Untersuchungen, die die Validität der Kriterien belegen.
• Es können differenzielle Methodeneffekte
auftreten: Die Effektivität einer Lehr-LernUmgebung ist von den jeweiligen Rahmenbedingungen (z. B. konkrete Lerninhalte, Lernstil der Versuchspersonen) abhängig. Hierdurch wird die Erwartung,
dass stabile Zusammenhänge zwischen
den von Kriterienkatalogen erfassten
Merkmalen einer Lehr-Lern-Umgebung
und dem Lernerfolg bestehen, zumindest
teilweise zunichte gemacht.
Methodenvergleich
Im Zuge eines Vergleichs verschiedener
Lehr-Lern-Methoden wird in der Regel der
Lernerfolg in einer klassischen Versuchsanordnung gemessen (Vortest, Versuchsdurchführung mit Vergleichsgruppen, Nachtest).
Der Lernerfolg lässt sich dabei aus der Differenz von Vortest und Nachtest ermitteln. Ein
Methodenvergleich erfasst also mit dem
Lernerfolg den Kern einer jeden Evaluation
multimedialen Lernens, und der „Mehrwert“
multimedialer Lehr-Lern-Umgebungen sollte
infolge des Methodenvergleichs klar zu Tage
treten.
Diese auf den ersten Blick bestechende Eigenschaft wird aber sowohl durch grundlegende forschungsmethodologische Einwände (die sich gegen jegliche Form des Methodenvergleichs richten) als auch durch in der
Praxis nicht immer überzeugende, manchmal
sogar trivial erscheinende Forschungsergebnisse getrübt (vgl. Schulmeister 2002, 393ff):
• Der zu messende Effekt ist in jedem Fall
lernzielabhängig: Je stärker die Lernziele
ausdifferenziert werden, desto eher sind
Unterschiede zwischen Vergleichsgruppen zu erwarten. Je besser ein vorab for-
158
muliertes Lernziel und eine bestimmte
Lehr-Lern-Umgebung zusammen passen,
desto eher wird diese im Methodenvergleich gut abschneiden. Ferner besteht
die Gefahr, dass Zirkeleffekte auftreten:
Die Formulierung von Lernzielen und
Lernerfolgstests kann die Gestaltung der
Lehr-Lern-Umgebung und die Untersuchungsmethodik beeinflussen.
• Positive Ergebnisse von Vergleichsstudien sind häufig auf Konfundierungseffekte zurückzuführen: Dem zu untersuchenden Medium wird ein Effekt zugeschrieben, der eigentlich einer anderen, nicht
kontrollierten Variablen (z. B. der zugrunde liegenden Methode) zukommt (Verwechslung von Medium und Methode; vgl.
Schulmeister 2002, 394f und 402f). Typische nicht kontrollierte Variablen sind der
Neuigkeitseffekt, das Engagement der
Lehrpersonen oder/und der Vorbereitungsaufwand sowie die individuellen
Lernstile der Versuchspersonen.
• Als Ausweg erscheint eine Erhöhung der
Anzahl der zu kontrollierenden Variablen
und damit auch der Vergleichsgruppen.
Eine vollständige Differenzierung wird jedoch niemals gelingen, selbst wenn noch
so viele Variablen erfasst werden, und eine hochgradige Differenzierung im Variablenbereich nivelliert die zu messenden
Effekte der einzelnen Variablen. Jede Erhöhung der Variablenanzahl hat zudem —
eine maximale Anzahl von Testpersonen
vorausgesetzt — eine Verkleinerung der
Gruppengröße zur Folge.
• Die Hereinnahme des Lernstils als unabhängiger Faktor hat häufig nicht die gewünschte Wirkung, weil Lernende nicht
immer die für sie optimale Lernform wählen. Hier stößt eine Differenzierung nach
Lernstilen an ihre Grenzen, insbesondere
dann, wenn die Versuchsanordnung bereits eine Menge unterschiedlicher Lernstile unterhalb der kontrollierten Ebene
zulässt.
Befragung von Versuchspersonen
In einer Befragung kommen die Versuchspersonen selbst zu Wort. Für die Durchführung einer Befragung gibt es prinzipiell zwei
verschiedene Möglichkeiten:
• Schriftliche Befragungen können sowohl
in herkömmlicher Form „mit Papier und
Bleistift“ als auch mittels Online-Formular
erfolgen. Insbesondere letzteres erleichtert in der Praxis die Durchführung der
Befragung erheblich.
Grundfragen der Evaluation multimedialen Lernens
• Interviews bieten im Unterschied zu
schriftlichen Befragungen die Möglichkeit
des Nachfragens und sind damit häufig
tiefgründiger, aber in der Regel weniger
standardisiert, was mit einem hohen Arbeitsaufwand bei der Auswertung erkauft
wird.
Generell liefern Befragungen keine Informationen über den Lernerfolg als solchen, können aber
• im Sinne einer „Kontextevaluation“ (Wottawa & Thierau 1998, 32) helfen, die Rahmenbedingungen für ein Projekt abzustecken, in dem beispielsweise Vorkenntnisse und -erfahrungen der Versuchspersonen erhoben werden;
• Aufschluss über das Verhalten von Versuchspersonen im Umgang mit der LehrLern-Umgebung geben, indem hierfür relevante Daten (z. B. Nutzungsdauer) abgefragt werden;
• motivationale und andere affektive Faktoren des multimedialen Lernens aufzeigen,
die in Beschreibungen und Erzählungen
der Versuchspersonen zu Tage treten.
Befragungen können unabhängig von der Art
der Durchführung quantitativ oder qualitativ
ausgewertet werden (für entsprechende Verfahren der quantitativen oder qualitativen Inhaltsanalyse bzw. Interpretation vgl. Bortz &
Döring 1995). Zu beachten ist dabei, dass es
sich um Selbstauskünfte der Versuchspersonen handelt, deren Validität zu prüfen ist (vgl.
2).
Beobachtung von Versuchspersonen
Um die Beobachtung von Versuchspersonen
im Umgang mit der Lehr-Lern-Umgebung zu
fixieren, zu archivieren und einer späteren
Auswertung zugänglich zu machen, existieren prinzipiell zwei verschiedene Möglichkeiten, die häufig auch miteinander kombiniert
werden:
• Eine Videoaufzeichnung von Versuchspersonen vor dem Computer zeigt, wie
eine oder mehrere Versuchspersonen mit
der Lehr-Lern-Umgebung arbeiten. Einzelarbeit vor dem Bildschirm wird häufig
mit der Methode des lauten Denkens
kombiniert, während in Gruppenarbeitsphasen meist die Gespräche der Gruppenmitglieder aufgenommen werden.
• Bildschirmprotokolle (z. B. mit Lotus
Screencam) oder Log-Files (z. B. von Serverzugriffen) spiegeln sowohl die Vorgaben der Lehr-Lern-Umgebung als auch
die darauf erfolgenden Reaktionen der
Versuchspersonen wider.
Beobachtungen von Versuchspersonen können
• der Erhebung begleitender Daten dienen
(Bildschirmprotokolle und Log-Files),
• Benutzerkonzepte aufzeigen,
• fallstudienartig Einblicke in Aspekte des
eigentlichen Lernprozesses vor dem
Computer geben (Videoaufzeichnungen).
Jede Beobachtung von Versuchspersonen
zieht eine aufwändige Auswertung nach sich:
Es gilt, eine geeignete informationsreduzierende und -sortierende Form der Transkription oder Codierung zu finden, die eine Kategorienbildung ermöglicht.
5
Evaluation am Beispiel
eines BMBF-Projekts
Wie eine Evaluation multimedialen Lernens
in der Praxis durchgeführt werden kann, welche Chancen sie in sich birgt und wo sie an
Grenzen stößt, wird nun an einem konkreten
Beispiel aufgezeigt.
Projektbeschreibung
Im Rahmen des vom Bundesministerium für
Bildung und Forschung (BMBF) geförderten
Verbundprojektes „Entwicklung einer dezentralen internetbasierten Lehr-Lern-Umgebung
für das Lehramtsstudium Mathematik“ wird
derzeit an der Universität Würzburg eine
Wissensbasis zur Didaktik der Geometrie erarbeitet. Sie soll zur Ergänzung einer gleichnamigen Lehrveranstaltung eingesetzt werden und Studierenden das Nacharbeiten von
Lehrveranstaltungen sowie das Selbststudium kleinerer Teil- oder Themenbereiche ermöglichen. Dabei sollen die Möglichkeiten
des Mediums „Internet“ gezielt genutzt werden. Es geht deshalb nicht nur um die Erstellung der Wissensbasis, sondern auch darum,
Wege aufzuzeigen, wie dieses Medium in der
Lehrerausbildung sinnvoll genutzt werden
kann (vgl. Ludwig & Wittmann 2001).
Die Wissensbasis zur Didaktik der Geometrie
ist in verschiedene Module gegliedert, die
sich einerseits mit jahrgangsstufen- und inhaltsübergreifenden Leitlinien oder Aspekten
des Geometrieunterrichts befassen (z. B.
Beweisen und Argumentieren, Konstruieren),
andererseits jahrgangsstufen- und inhaltsspezifisch einzelne Teilgebiete des Geometrieunterrichts behandeln (z. B. Raumgeometrie in Klasse 5/6).
Die einzelnen Module können wiederum aus
mehreren Teilmodulen bestehen. Jedes Mo-
159
Gerald Wittmann
dul bzw. Teilmodul ist einheitlich strukturiert
und enthält folgende Elemente: Eine kurze
Übersicht, Theorie (zur Didaktik der Geometrie), Beispiele (mit Unterrichtsbezügen),
Übungen und Aktivitäten für die Studierenden sowie Materialien zum Download, Literaturhinweise und Links. Einen besonderen
Schwerpunkt bilden die Übungen und Aktivitäten, die ein breites Spektrum umfassen: Es
gibt Arbeitsaufträge,
• die interaktiv direkt am Computer bearbeitet werden können;
• die nicht unmittelbar am Computer stattfindende Aktivitäten fordern (z. B. Anfertigen und Ausprobieren von Lernmitteln,
Analysieren von Schülertexten);
• die Impulse für Diskussionsbeiträge von
Studierenden entweder im Rahmen traditioneller Seminare oder in virtuellen Diskussionsforen liefern (vgl. Weigand 2001).
Evaluation
Die im Rahmen des Projekts durchgeführte
Evaluation folgt dem Modell der formativen
Evaluation: Sie dient einerseits der Weiterentwicklung der Wissensbasis und anderseits der Konzeption entsprechender Lehrveranstaltungen, in denen die Wissensbasis
eingesetzt werden kann — beide Aspekte
stehen in engem Zusammenhang.
Eine erste Akzeptanzstudie fand bereits statt
(vgl. Ludwig & Wittmann 2001). Die Ergebnisse lassen sich in zwei Punkten zusammenfassen:
• Die Gestaltung der Seiten und der Stil der
Texte stießen durchweg auf sehr positive
Resonanz. Das authentische Bildmaterial
wird von den Studierenden aufgrund des
Praxisbezugs geschätzt und wirkt — wie
auch die Animationen — motivierend.
• Die Frage, mit welchem Medium die Studierenden lieber arbeiten würden, wurde
sehr differenziert beantwortet: Die Studierenden würden die Wissensbasis zur Einführung in ein Stoffgebiet u. a. wegen der
medialen Vielfalt einem Skript vorziehen,
zu einer intensiveren Arbeit und zur Prüfungsvorbereitung aber doch lieber mit einem traditionellen Skript oder einem Buch
arbeiten. Etwaige Erwartungen (oder Befürchtungen) einer ungebremsten Euphorie unter den Studierenden in Bezug auf
neue Medien treffen demnach nicht zu.
Die Akzeptanzstudie lieferte einen wichtigen
Beitrag für die weitere Ausgestaltung der
Wissensbasis. Die internetgestützte Wissensbasis wird auch langfristig keineswegs
Fachzeitschriften und Lehrbücher ersetzen,
160
sondern diese ergänzen. Ein Themenbereich
muss und kann dort nicht erschöpfend abgehandelt werden, vielmehr steht ein motivierender und problemadäquater Zugang zur
Didaktik der Geometrie im Vordergrund.
Eine ausführlichere Praxisstudie startet demnächst. Die Wissensbasis wird im WS
2002/03 in die übliche Lehrveranstaltung „Didaktik der Geometrie“ integriert. Die Lehrveranstaltung ist aufgrund der Rahmenbedingungen gegliedert in Vorlesung und Übung
(je 2-stündig). Diese Veranstaltungen bleiben
im Wesentlichen erhalten und spielen die
Rolle von Präsenzphasen. Die virtuellen Phasen beinhalten in erster Linie die individuelle
Vor- und Nachbereitung von Lehrveranstaltungen. Einzelne Lehrveranstaltungen (insbesondere Übungen) können auch am Computer stattfinden; es bleibt im Einzelfall zu
entscheiden, ob als Präsenzphase („Tutoring“) oder als virtuelle Arbeitsphase.
Die Evaluation der Veranstaltung muss bei
den Zielen der Veranstaltung ansetzen. Die
Problematik für die Evaluation liegt nun gerade darin, dass diese nur teilweise „Wissensziele“ sind (z. B. „Kenntnis von Zielen,
Inhalten und Methoden des Geometrieunterrichts“). Insbesondere diejenigen Lernziele,
die sich am Einsatz der multimedialen Wissensbasis festmachen lassen, und die die
Lehrveranstaltung von einer „üblichen“ Vorlesung mit Übung unterscheiden, beziehen
sich primär auf Einstellungen (z. B. „Erwerb
eines reflektierten Bildes von Geometrie und
Geometrieunterricht“).
Im Einzelnen werden folgende Evaluationsinstrumente herangezogen:
• Die Diskussionsbeiträge von Studierenden im Online-Diskussionsforum werden
ausgewertet im Hinblick darauf, wie die
Studierenden argumentieren, ob ihre Argumentationen einen Bezug zu den in der
Wissensbasis zur Verfügung gestellten
Materialien (also den „Lernangeboten“)
erkennen lassen und welchen Reflexionsgrad die Argumentation aufweist.
• Ähnliches gilt für eine gegen Ende der
Lehrveranstaltung stattfindende OnlineKlausur, die gleichzeitig eine wesentliche
Grundlage für den Leistungsnachweis liefert.
• Online-Fragebögen erfassen zeitnah das
Lern- und Arbeitsverhalten der Studierenden und können sofortige Rückmeldungen über die Akzeptanz der Wissensbasis
und ihrer Inhalte (etwa auch Umfang und
Schwierigkeitsgrad der zu bearbeitenden
Grundfragen der Evaluation multimedialen Lernens
Aufgaben) sowie über eventuell damit auftretende Probleme geben.
• Die Auswertung von Log-Files liefert begleitende Informationen über die Nutzung
der Wissensbasis durch Studierende. Sie
dient zum Teil auch der Validierung der
Selbstauskünfte der Studierenden.
• Mit den Studierenden geführte offene Interviews beziehen sich auf deren Lernerfahrungen. In Ergänzung zu den OnlineFragebögen erlauben sie ein Nachfragen
bei individuellen Besonderheiten und können damit tiefer gehende und auf den
Einzelfall bezogene Erkenntnisse liefern.
Insbesondere können die Studierenden
auch Aspekte ansprechen, die von den
Entwicklern nicht antizipiert wurden.
Die geplante Evaluation erfasst wichtige Aspekte davon, wie Studierende ihr eigenes
Lernverhalten im Rahmen einer solchen
Lehr-Lern-Umgebung beschreiben, wie es
tatsächlich abläuft und worin Unterschiede
zwischen Selbsteinschätzung und tatsächlichem Ablauf bestehen. Ein weiterhin offenes
Problem bleibt allerdings die Erfassung von
Lernerfolgen und deren Bewertung. Die internetgestützte Wissensbasis bildet nur einen
Teil der Lerngelegenheiten im Rahmen der
gesamten Lehrveranstaltung, und die Lehrveranstaltung ist wiederum ein Baustein im
Studium der Mathematikdidaktik. Welche
langfristigen Lernprozesse hier angestoßen
werden, lässt sich — zumindest vorerst im
Rahmen einer formativen Evaluation — nicht
erheben.
Literatur
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Lernens: 4 Thesen. In: Simon, H. (Hrsg.)
(1997): Virtueller Campus. Forschung und Entwicklung für neues Lehren und Lernen. Münster: Waxmann, 131–146
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Lernsoftware. In: Issing & Klimsa (2002), 427–
442
Bortz, J. & Döring, N. (1995): Forschungsmethoden und Evaluation für Sozialwissenschaftler.
Berlin, Heidelberg, New York: Springer
Fricke, R. (2000): Qualitätsbeurteilung durch Kriterienkataloge. Auf der Suche nach validen Vorhersagemodellen. In: Schenkel, P., Tergan, S.O. & Lottmann, A. (Hrsg.) (2000): Qualitätsbeurteilung multimedialer Lern- und Informationssysteme. Nürnberg: BW Bildung und Wissen, 164–189
Fricke, R. (2002): Evaluation von Multimedia. In:
Issing & Klimsa (2002), 445–463
Issing, L. J. & Klimsa, P. (Hrsg.) (2002): Information und Lernen mit Multimedia und Internet.
Lehrbuch für Studium und Praxis. 3. Aufl.
Weinheim: Beltz PVU, 427–442
Klimsa, P. (2002): Multimedianutzung aus psychologischer und didaktischer Sicht. In: Issing &
Klimsa (2002), 5–17
Ludwig, M. & Wittmann, G. (2001): Eine internetgestützte Wissensbasis zur Didaktik der Geometrie. Entwicklung und Pilotstudie. In: mathematica didactica 24, 82–92
Schulmeister, R. (2002): Grundlagen hypermedialer Lernsysteme. Theorie – Didaktik – Design.
3. Aufl. München: Oldenbourg
Weigand, H.-G. (2001): Internet-gestützte Kommunikation in der Lehramtsausbildung. In:
Journal für Mathematik-Didaktik 22, 99–122
Wottawa, H. & Thierau, H. (1998): Lehrbuch Evaluation. 2. Aufl. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Verlag Hans Huber
Dieser Beitrag entstammt dem Verbundprojekt
„Entwicklung einer dezentralen internetbasierten
Lehr-Lern-Umgebung für das Lehramtsstudium
Mathematik“, das vom BMBF im Rahmen des
Programms „Neue Medien in der Bildung“ gefördert wird. Am Verbundprojekt sind neben der Universität Würzburg (Projektleitung: Prof. Dr. HansGeorg Weigand) die Universitäten Münster und
Erlangen-Nürnberg sowie die TU Braunschweig
beteiligt.
161
Gruppentheorie — anschaulich mit dem Computer
z
Bert Zimmer, Karin Richter & Wilfried Herget, Halle a. d. Saale
Die Erstellung von Lehrmaterialien für die universitäre Mathematikausbildung insgesamt
und von Lehr- und Lernprogrammen im Besonderen stellt hohe Anforderungen an die
Veranschaulichung der abstrakten Inhalte. Der Artikel diskutiert Konsequenzen für die
Veranschaulichung, die sich aus mathematischen Sachverhalten einerseits und dem Einsatz neuer Medien andererseits ergeben. Es wird ein Lernmodul zur Molekülsymmetrie
vorgestellt, mit dem grundlegende gruppentheoretische Inhalte speziell für das Internet
aufbereitet und veranschaulicht werden.
1
Einleitung
Zweifellos ist ein gruppentheoretisch orientierter, axiomatischer Aufbau für die Strukturierung in der Mathematik und in den Naturwissenschaften durchaus wertvoll — liefert er
doch eine sichere, in sich schlüssige und
elegante Ausgangsbasis für alle weiteren
Überlegungen. Allerdings stehen die Studierenden bei der Erarbeitung der abstrakten
Gruppenbegriffe vor großen Hindernissen.
Bereits in seinen Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert
schreibt Felix Klein in Bezug auf die abstrakte Definition der Gruppe über die Festlegung
der Gruppenaxiome: „Andererseits wird die
Sache für den Lernenden dadurch innerlich
sehr erschwert, daß er vor etwas Abgeschlossenes gestellt wird und nicht weiß,
wieso man überhaupt zu diesen Definitionen
kommt, und daß er dabei sich absolut nichts
vorstellen kann.“ (Klein 1926, 335)
Die moderne universitäre Mathematikausbildung wird geprägt von dem Spannungsfeld
zwischen wissenschaftlicher Exaktheit, Anwendungsfähigkeit und Zugänglichkeit. Als
erschwerend für das Verständnis erweist sich
der abstrakte Charakter, der — von Ausnahmen abgesehen — in den mathematischen
Inhalten der universitären Lehre dominiert.
Die Erstellung von Lehrmaterialien und von
Lehr- und Lernprogrammen für die universitäre Ausbildung birgt daher große Herausforderungen in sich. Einer dieser Herausforderungen, der Veranschaulichung abstrakt-mathematischer Inhalte, wird sich der Artikel im
Folgenden zuwenden. Als Gegenstand der
Veranschaulichung stehen dabei grundlegende gruppentheoretische Inhalte und die wissenschaftsstrukturierende Anwendung gruppentheoretischer Prinzipien im Blickpunkt.
Der vorliegende Artikel besteht aus drei Teilen: Im ersten Teil wird der Begriff Veran-
162
schaulichung diskutiert und die schematische
Veranschaulichung als besondere Form der
Veranschaulichung abstrakt-mathematischer
Inhalte untersucht. Der zweite Teil diskutiert
Möglichkeiten und Grenzen des Veranschaulichens mit neuen Medien. Der dritte Teil
stellt ein Internet-Lernmodul zur Symmetrie
molekularer Strukturen vor, in dem grundlegende Inhalte der Gruppentheorie speziell für
das Internet aufbereitet wurden. Neben der
Diskussion des inhaltlichen Konzepts des
Lernmoduls wird unter anderem beispielhaft
erörtert, wie sich die Funktionalitäten des
neuen Mediums Computer auf die Veranschaulichung abstrakt-mathematischer Inhalte auswirken.
2
Über die Veranschaulichung abstraktmathematischer Inhalte
2.1 Zum Begriff der
Veranschaulichung
Der Begriff Veranschaulichung unterliegt in
der fachdidaktischen Diskussion verschiedenen Bedeutungszuweisungen. Eher lernpsychologische Begriffsauffassungen verknüpfen Veranschaulichung mit der Entwicklung
mathematischer Anschauung und betrachten
Veranschaulichung als individuellen inneren
Prozess der lernenden Person, vgl. diesbezüglich etwa (Bauersfeld 1983) und (Profke
1994). Da es uns darum geht, Lehrmaterialien für das bessere Verständnis gruppentheoretischer Inhalte zu untersuchen, soll Veranschaulichung hier dagegen auf die Darstellung und Präsentation mathematischer Inhalte beschränkt werden. Diese Auffassung folgt
dem umgangssprachlichen Tenor des Begriffes und findet sich auch in der Literatur. So
bezeichnet Claus die „bildliche (ikonische)
Gruppentheorie — anschaulich mit dem Computer
Präsentation mathematischer Sachverhalte“
(Claus 1989, 46) als Veranschaulichung. Wille kennzeichnet das „Veranschaulichen bekannter mathematischer Sachverhalte oder
Problemstellungen“ als einen der Aufgabenbereiche, in die „praktisch jedes anschaulich
mathematische Arbeiten einzuordnen ist“,
und setzt diesen Aufgabenbereich mit dem
„Finden anschaulicher Darstellungen gegebener mathematischer Inhalte“ gleich (Wille
1982, 41).
So gesehen stellt sich Veranschaulichung als
Transfer eines mathematischen Sachverhaltes von der Inhaltsebene in die Darstellungsebene dar, wobei im Idealfall der abstrakte
Charakter des mathematischen Sachverhaltes in einen anschaulichen Charakter wechselt. Veranschaulichung kann jedoch nicht
losgelöst von den Lernenden erfolgen und
lässt sich auch nicht allein auf einen Transferprozess beschränken. Grundsätzlich wird
das Veranschaulichungsangebot an den
vermutlichen Vorstellungen (Vorkenntnisse,
Erwartungen und Erfahrungen) der Lernenden orientiert und entsprechend ausgerichtet
(Abb. 1).
ist. Dazu bezieht sie die ihr bekannten Vorkenntnisse und Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler ein, zugleich orientiert sie
ihre Vorstellung (was anschaulich ist und
was veranschaulichend wirkt) an den vermutlichen Vorstellungen der Schülerinnen und
Schüler und variiert ihre Veranschaulichung
entsprechend (vgl. auch Profke 1994, 27). Im
Unterricht agiert die Lehrkraft veranschaulichend unter Zuhilfenahme von verschiedenen Unterrichtsmedien. Die tatsächliche Reaktion der Lernenden auf die Veranschaulichung (Wirken oder Nichtwirken der Veranschaulichung) führt zu einer reagierenden
Korrektur der Veranschaulichung, mit der
spontan die Darstellung der Lerninhalte an
den Vorstellungen der Lernenden genauer
ausgerichtet wird. Es entsteht ein Anpassungsprozess, bei dem das Veranschaulichungsangebot sukzessive individuell (weiter-) entwickelt wird. Es lässt sich deshalb in
diesem Zusammenhang von einer individualisierten
Veranschaulichung
sprechen
(Abb. 2).
Eine solche regulative Möglichkeit der Veranschaulichung steht bei der Veranschaulichung für das Lehren mit
neuen Medien nicht ohne
Weiteres und nur eingeschränkt zur Verfügung:
Das Lehren mit neuen Medien beabsichtigt und ermöglicht, mathematische
Inhalte für Lernende unterschiedlichster Voraussetzungen aufzubereiten. Daher kann die Lehrkraft die
Veranschaulichung der mathematischen Inhalte nur
ihren eigenen Erwartungen
von den Vorstellungen der
Lernenden entsprechend
anpassen. Andererseits ist
die unmittelbare individuelle Reaktion der Lernenden
auf die Veranschaulichung
nicht ohne Weiteres verAbb. 1: Veranschaulichung als Transfer von der Inhaltsebene auf die Darstelfügbar und geeignet auslungsebene, bei dem der abstrakte Charakter des mathematischen Sachverhalts einen anschaulichen Charakter annimmt, und Orientieren an den wertbar. Die Lehrmateriavermutlichen Vorstellungen der Lernenden.
lien müssen also von vornherein ein breites SpekVeranschaulichung spielt zweifellos eine weSpektrum an Veranschaulichungsangeboten
sentliche Rolle im Rahmen des Lehr- und
offerieren, das der Vielschichtigkeit des
Lernprozesses — sowohl bei der Erarbeitung
menschlichen Lernens gerecht zu werden
von Lehrmaterialien als auch in der einzelversucht. Mit anderen Worten: Die Lehrkraft
nen, konkreten Unterrichtssituation.
generalisiert ihre Orientierung an den verSo kann man davon ausgehen, dass eine
mutlichen Vorstellungen der Lernenden, es
Lehrkraft den mathematischen Inhalt so auffindet eine generalisierte Veranschaulichung
bereitet, dass es nach ihrer Vorstellung für
statt (Abb. 2).
ihre Schülerinnen und Schüler anschaulich
163
Bert Zimmer & Karin Richter & Wilfried Herget
Abb. 2: Individualisierte Veranschaulichung als individueller Anpassungsprozess des Veranschaulichungsangebots im
Unterricht (linke Seite). Generalisierte Veranschaulichung beim Lernen (rechte Seite) sollte aus verschiedenen
Veranschaulichungsangeboten bestehen, die den unterschiedlichen Formen des Lernens gerecht werden.
2.2 Gegenstand der
Veranschaulichung
„Das Lernen von Mathematik durch einen
Menschen besteht neben der Entwicklung
von Fertigkeiten ganz allgemein gesprochen
darin, in immer vollständigerer Form und
größerer Tiefe wie Breite mathematische Begriffe zu entwickeln …“ (Dörfler 1983, 44)
Bei der nachfolgenden Betrachtung der mathematischen Inhalte als Gegenstand der
Veranschaulichung steht die axiomatische
Auffassung der Mathematik im Blickpunkt.
Diese Fokussierung ergibt sich zwangsläufig
aus der engeren Betrachtung gruppentheoretischer Inhalte und des axiomatischen Aufbaus der Gruppentheorie.
Die Suche nach der Struktur mathematischer
Inhalte führt zu den mathematischen Begriffen. Unabhängig von der fachdidaktischen
Diskussion über die Wesensart mathematischer Begriffe — Claus z. B. stellt die Merkmale (Eigenschaften) des Begriffes in den
Vordergrund (Claus 1989, 110), Dörfler dagegen hebt die mit dem Begriff verbunden
Handlungen und Beziehungen als wesensbestimmend hervor (Dörfler 1983, 47f) — bilden mathematische Begriffe Bausteine der
mathematischen Theorie. Begriffe stehen in
Beziehungen zueinander, sie bilden eine vernetzte Begriffsstruktur. Die Beziehungen zwischen den Begriffen werden als mathematische Regeln verstanden. Regeln, das sind
„Aussagen (Axiome und Sätze), Definitionen,
Kalküle und Handlungsanweisungen“ (Claus
1989, 119).
Die Gesamtheit der Begriffsstruktur und der
sie durchdringenden Regeln bildet die ma-
164
thematische Theorie. Abkürzend lässt sich
dieser Zusammenhang als ein Beziehungsgefüge Begriffe – Regeln – Strukturen – Theorie charakterisieren.
Während in der Schulmathematik hauptsächlich die Veranschaulichung von Begriffen und
von Regeln praktiziert wird, tritt spätestens in
der Mathematik der universitären Lehre die
Veranschaulichung der hierarchischen Begriffsstruktur und die Veranschaulichung einer ganzen Theorie hinzu. Begründet wird
dieses aus dem Charakter der vermittelten
Mathematik: In der Schule sind überwiegend
empirische mathematische Inhalte vorherrschend; nur vereinzelt kommt es zur Darstellung mathematischer Theorien in der Komplexität, die den Lernenden während der universitären Mathematikausbildung begegnet.
Aus diesem Grund besitzt die schematische
Veranschaulichung für die universitäre Lehre
einen besonders hohen Stellenwert. Die
Struktur abstrakter Begriffe und der sie verbindenden Regeln (für die eine direkte Veranschaulichung kaum möglich erscheint)
lässt sich durch eine Schematisierung bildhaft darstellen (s. Abb. 3) und somit veranschaulichen. Natürlich muss die bei einer
Schematisierung i. d. R. erforderliche Vereinfachung auch kritisch hinterfragt werden.
Mit der Schematisierung komplexer Begriffsstrukturen ist eine zweistufige Veranschaulichung verbunden. Zum einen werden die
einzelnen Begriffe veranschaulicht durch die
Darstellung und Einordnung ihrer Position in
die Begriffshierarchie. Des Weiteren erfährt
die inhaltliche Vernetzung der Begriffe eine
Veranschaulichung durch die Darstellung als
Beziehungsgefüge. Über das zusätzliche dy-
Gruppentheorie — anschaulich mit dem Computer
Abb. 3: Schematische Veranschaulichung der Struktur grundlegender gruppentheoretischer Begriffe. Die inhaltliche
Strukturierung ergibt sich aus dem Kontext des Lehrmaterials zur Molekülsymmetrie, dem das Schema entstammt. Die farbige Abstufung kennzeichnet die mathematischen Inhalte, deren Kenntnis für das Verständnis
des Symmetriekonzepts unerlässlich ist bzw. deren Kenntnis vertiefenden Charakter aufweist. Die dargestellten
Beziehungen veranschaulichen systematisierende Zusammenhänge des Lehrmaterials (z. B. werden vertiefende Isomorphiebetrachtungen u. a. mit Hilfe von Verknüpfungstafeln vermittelt).
namische Moment durch die Verwendung
neuer Medien wird nachfolgend noch zu berichten sein.
3
Über die Veranschaulichung mit neuen Medien
Der Begriff der neuen Medien wird in großem
Maße von der technischen Entwicklung geprägt. War vor 20 Jahren der Mathematikfilm
ein viel diskutiertes neues Medium, liegt der
Blickpunkt heute eher auf dem Lehr- und
Lernmedium Internet. Während die technische Entwicklung die Welt der Lernmedien
regelmäßig mit einer ständig zunehmenden
Funktionalität geradezu revolutioniert, gelingt
es nur sehr schwer, die neuen Medien so zu
nutzen, dass der Wissenserwerb für die Lernenden sowohl vereinfacht, als auch intensiviert wird. Bereits in (Zimmer 2002a) wurden
dafür mehrere Gründe dargelegt: Der Umgang mit veränderten Medien erfordert auch
die Veränderung bestehender didaktischer
Konzepte. Ein abstrakt-mathematischer In-
halt wird i. d. R. nicht bereits dadurch weniger abstrakt, dass er mit einem neuen Medium dargestellt wird. Es bedarf eines neuen
didaktischen Konzepts, um die Spezifika der
neuen Medien derart zu nutzen, dass der
mathematische Inhalt eine innovative Form
der Veranschaulichung erfährt. Regelmäßig
erweist sich, dass auch bei dem Einsatz neuer Medien die konventionellen didaktischen
Probleme bestehen (Zimmer 2002a).
Für eine Diskussion über die Veranschaulichung mit neuen Medien empfiehlt sich daher sehr, zuvor die konventionellen Medien
auf ihre Veranschaulichungsfunktion und
Veranschaulichungsmöglichkeiten zu untersuchen, um anschließend die mit den neuen
Medien verbundenen Fortschritte und Einschränkungen würdigen zu können.
3.1 Veranschaulichung mit
konventionellen Medien
Jede Veranschaulichung ist an die Sinnwahrnehmung der Lernenden gebunden. Aus
der auditiven, visuellen und haptischen Wahrnehmung lässt sich ein
Schema
entwickeln
(Abb. 4), das die hauptsächlich zur Veranschaulichung mathematischer Inhalte genutzten konventionellen Medien zuordnet.
Die Bedeutung der einzelnen Medien für die jeweilige Veranschaulichung wird
Abb. 4: Konventionelle Medien, mit deren Hilfe Mathematik veranschaulicht wird.
165
Bert Zimmer & Karin Richter & Wilfried Herget
geprägt durch den mathematischen Gegenstand, der zu veranschaulichen ist. Eine umfänglichere Kategorisierung der Veranschaulichungsmedien findet sich u. a. bei (Peterssen 1994).
3.2 Erweiterte Möglichkeiten der
Veranschaulichung
Der Computer als Moderator der neuen Medien ist ebenso an die menschliche Sinneswahrnehmung und wohl auch an die gebräuchlichen Darstellungsmöglichkeiten gebunden. Deshalb lässt sich die Veranschaulichung mit neuen Medien grundsätzlich auf
die Veranschaulichung mit konventionellen
Medien zurückführen. Eine genaue Analyse
der konventionellen und neuen Medien im
Hinblick auf ihre veranschaulichende Wirkung offenbart daher keine qualitativ neue
Darstellungsform. Dennoch erweitern die
neuen Medien mit ihrer optimalen Ausnutzung und vernetzenden Organisation der
konventionellen Medien die Möglichkeiten
zur Veranschaulichung.
Eine Veranschaulichung mit konventionellen
Medien betont jeweils einen einzelnen Veranschaulichungsaspekt: Ein Bild veranschaulicht durch ikonische Darstellung, eine verbale Beschreibung eines Sachverhaltes veranschaulicht durch Sprache oder durch Schrift
(Abb. 5, linke Seite). Veranschaulichungen mit
konventionellen Medien sind eingeschränkt
miteinander kombinierbar: In einem Lehrbuch
kann die Veranschaulichung durch ein Bild
gekoppelt werden mit der Veranschaulichung
durch einen beschreibenden Text. Das heißt,
mehrere Veranschaulichungsangebote treten
gleichzeitig und parallel auf (Abb. 5, Mitte).
Anders dagegen die Veranschaulichung mit
neuen Medien: Eine Veranschaulichung mit
neuen Medien kombiniert nicht nur mehrere
konventionelle Medien in einem Veranschaulichungsangebot, sondern vernetzt diese zusätzlich untereinander (Abb. 5, rechte Seite).
Bilder, Texte, Schemata usw. können miteinander in Wechselwirkung treten, wie später
am Beispiel der so genannten dynamischen
Medien-Korrelationen deutlich wird.
Eine Veranschaulichung mit konventionellen
oder mit neuen Medien hat unmittelbare
Auswirkungen auf den in den Vorstellungen
der Lernenden ablaufenden Lernprozess. Die
Veranschaulichung mit konventionellen Medien trägt dabei vorwiegend monodirektionalen Charakter: Die Lernenden erfahren die
Wirkung des Veranschaulichungsangebots
und beziehen sie in ihren Lernprozess mit
ein. Eine Rückwirkung auf die Veranschaulichung selbst ist eher gering: Ein Modell kann
von verschiedenen Seiten betrachtet, ein Bild
kann ausgemalt, ein Text kann laut und leise
gelesen werden (Abb. 6, linke Seite). Ähnli-
Abb. 5: Die Veranschaulichung mit konventionellen und neuen Medien. Bei der Veranschaulichung mit konventionellen
Medien wird zumeist ein Veranschaulichungsaspekt betont (links). Veranschaulichungen mit konventionellen
Medien sind eingeschränkt miteinander kombinierbar (Mitte). Bei der Veranschaulichung mit neuen Medien
werden die konventionellen Medien vernetzt und treten in Wechselwirkung zueinander (rechts).
Abb. 6: Die Wirkung und Rückwirkung der Veranschaulichung mit konventionellen und neuen Medien auf den
Lernprozess
166
Gruppentheorie — anschaulich mit dem Computer
ches tritt auch bei der Kombination mehrerer
Veranschaulichungen mit konventionellen
Medien zu Tage: Die Lernenden können
zwar verschiedene Veranschaulichungsangebote in ihren Lernprozess integrieren (entweder ein Bild im Buch betrachten oder den
beschreibenden Text verinnerlichen oder beides nacheinander), dennoch überwiegt die
monodirektionale Wirkung der Veranschaulichungskombination auf den Lernprozess
(Abb. 6, Mitte). Die Veranschaulichung mit
neuen Medien besitzt dagegen einen bidirektionalen Charakter: Die Lernenden integrieren das Veranschaulichungsangebot in ihren
Lernprozess; gleichzeitig aber können sie auf
das Veranschaulichungsangebot einwirken
und es ihren individuellen Vorstellungen entsprechend anpassen. Zusätzlich ermöglichen
die neuen Medien eine individuelle Neuorganisation des der Veranschaulichung zugrunde liegenden Mediennetzes in Abhängigkeit
von der jeweiligen Lernsituation (Abb. 6,
rechte Seite).
3.3 Möglichkeiten und Grenzen
der Veranschaulichung
Sowohl die erweiterten Möglichkeiten, als
auch die Grenzen der Veranschaulichung mit
neuen Medien lassen sich verdeutlichen,
wenn die neuen Medien in Verbindung zu
solchen (Un-) Worten wie Interaktivität, Dynamisierung und Individualisierung gesetzt
werden:
• Lernende reagieren üblicherweise auf die
jeweiligen Angebote der — herkömmlichen und neuen — Medien gleich: Wenn
ich einen Satz im Buch nicht gleich verstehe, lese ich ihn noch einmal (oder lege
das Buch vielleicht ganz zur Seite). Für
die konventionellen Medien aber gilt, dass
sie in der Regel nicht umgekehrt auch auf
die Lernenden reagieren können. Dies ist
bei neuen Medien in deutlich größerem
Umfang möglich: Das Lernmedium kann
(im Prinzip) auf die Rückmeldungen (das
Verhalten) der Lernenden reagieren. Wille
sprach bereits 1982 in Verbindung mit
Computergrafik von einer „Rückgewinnung der Spontaneität … durch freies interaktives Arbeiten“ (Wille 1982, 70). Interaktivität ist dabei also bidirektional aufzufassen: Das Lernmedium reagiert auf
die Lernenden.
• Die Veranschaulichung mit allen — herkömmlichen und neuen — Medien kann
dynamischen Charakter tragen. Mit den
neuen Medien erwachsen jedoch zusätzliche Aspekte der Dynamisierung. Diese
Dynamik kann in Form interaktiver Eingriffe der lernenden Person auftreten, aber
auch ein konventionelles Medium kann in
wechselseitige Beziehung mit anderen
Medien der Veranschaulichung treten
(z. B. in Form der später diskutierten dynamischen Medien-Korrelation).
• Daraus ergibt sich ein deutlich stärkerer
individueller Aspekt der Veranschaulichung mit neuen Medien: Computergestützte Lehr- und Lernprogramme können
dem individuellen Lernverhalten Rechnung tragen und Veranschaulichung individualisieren. Die lernende Person kann
aus einem umfänglichen Angebot die ihm
zugängliche Veranschaulichung eigenständig auswählen und sie nach Bedarf
verkürzen oder ausdehnen (vorausgesetzt, es gibt ein entsprechend breites Angebot).
In der nachfolgenden Diskussion wird an
konkreten Beispielen gezeigt, wie diese interaktiven und dynamischen Aspekte der neuen
Medien in die Veranschaulichung gruppentheoretischer Inhalte integriert werden können.
Neben diesen offensichtlich erweiterten und
erweiternden Möglichkeiten der neuen Medien schränkt die Verwendung dieser Medien
zugleich die Veranschaulichung auch ein
bzw. stößt an altbekannte Grenzen:
• So ist die fehlende haptische Komponente
der medialen Darstellung anzumerken.
Modelle werden zweidimensional dargestellt und virtuell dynamisiert (später wird
dafür der Begriff der virtuell-dreidimensionalen Modelle gebraucht), doch es fehlt
das Erlebnis des realen Begreifens.
• Die Veranschaulichung mit neuen Medien
kann — trotz der Möglichkeiten zur Interaktivität und Individualisierung — wegen
der Distanz zwischen Lehrenden und Lernenden nur eine generalisierte Veranschaulichung sein; dies ist unabhängig
davon, ob mathematische Inhalte für die
Schule oder die universitäre Lehre veranschaulicht werden. Das erweist sich gerade für die Vermittlung abstrakt-mathematischer Inhalte als problematisch, da
somit die Wirkung der Veranschaulichung
nicht ohne Weiteres überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden kann. Damit
wächst — wie auch beim Lernen mit dem
herkömmlichen Lehrbuch — die Verantwortung der lernenden Person bezüglich
ihrer Selbstkontrolle und Selbstregulation.
• Die der Veranschaulichung zuträgliche Individualisierung des Lernens zeigt zu-
167
Bert Zimmer & Karin Richter & Wilfried Herget
gleich Grenzen des Machbaren auf.
Schon Plato beschreibt in seinem Höhlengleichnis den schweren Weg der Erkenntnis und des Wissenserwerbs, den
die Lernenden nur unter Mühen und
Selbstüberwindung bereit sind zu gehen,
und benennt die Notwendigkeit der Führung und Begleitung der Lernenden. Mit
einer Individualisierung des Lernens muss
demzufolge eine verstärkte Selbstmotivation einhergehen, damit die Lernenden
sich auch abstrakt-mathematischen Inhalten zuwenden und sich diese erfolgreich
erarbeiten. Es ist durchaus fraglich, ob die
erweiterten Funktionalitäten der neuen
Medien derart motivierend wirken können.
Der Einsatz eines neuen Lehr- und Lernmediums in einer Unterrichtssituation verändert
in Abhängigkeit von der Gruppengröße den
Wirkungscharakter des Mediums für die Veranschaulichung. Während bei der Partnerarbeit die Situation noch als unkritisch erscheinen mag, wird bei größerer Gruppenstärke
die Distanz zwischen Medium und der einzelnen lernenden Person größer. Die veranschaulichende Wirkung des neuen Mediums
erstreckt sich dann nur auf Teilbereiche: Die
bidirektionale Interaktion kann nur noch monodirektional vom Medium auf die Lernenden
stattfinden; Dynamik ist den Lernenden nur
noch in Form von Wechselbeziehungen innerhalb des neuen Mediums (beispielsweise
zwischen Bildern) zugänglich. Auch der individualisierende Aspekt des neuen Mediums
geht verloren, die Veranschaulichung erhält
schwerpunktmäßig nur mehr darbietenden
Charakter.
4
Ein Internet-Lernmodul
für gruppentheoretische
Inhalte
Im Rahmen des vom Bundesministerium für
Bildung und Forschung geförderten Leitprojektes Vernetztes Studium Chemie (www.vs-c.de)
entstand im Teilprojekt Anorganische Chemie ein Lernmodul Molekülsymmetrie. Mit
diesem Internet-Lernmodul sollen sich Studierende der Fachrichtung Chemie im Hauptund Nebenfach die für das Studium der Chemie unerlässlichen Kenntnisse über das
Symmetriekonzept der Moleküle aneignen.
Die mathematische Grundlage für die Molekülsymmetrie bilden dabei Inhalte und Prinzipien der Gruppentheorie.
Bereits früher wurde über das didaktische
und mediale Konzept des Lernmoduls und
168
dessen Realisierung berichtet (Zimmer
2002a). Der Schwerpunkt der folgenden Diskussion liegt auf der Veranschaulichung der
gruppentheoretischen Inhalte. Es stellt sich
dabei heraus, dass eine Verbindung von
Symmetriebetrachtungen mit den multimedialen Möglichkeiten des Internets die Veranschaulichung der abstrakt-mathematischen
Sachverhalte deutlich bereichern kann.
4.1 Didaktische Überlegungen
Der hier vorgestellte Lernmodul unterscheidet sich von bisherigen Darstellungen gruppentheoretischer Sachverhalte im Internet
sowohl bezüglich des Umfangs der vermittelten Inhalte als auch in der Art ihrer Aufbereitung: Mathematischer Gegenstand des Lernmoduls sind hier nicht nur einzelne Begriffe,
sondern umfangreiche inhaltliche Zusammenhänge der Gruppentheorie. Hinzu kommen die gezielte Ausrichtung und Aufarbeitung für das Medium Internet und eine Vielzahl implementierter multimedialer und interaktiver Darstellungselemente.
Die Inhalte des Lernmoduls prägen die Methoden der Veranschaulichung. Die inhaltliche Struktur des Lernmoduls folgt einem
Veranschaulichungsprinzip, das als Prinzip
der indirekten Veranschaulichung bezeichnet
werden soll: Die Molekülsymmetrie analysiert
und klassifiziert Symmetrieeigenschaften von
Molekülen. Aus den Symmetrieeigenschaften
können dann chemische Eigenschaften der
Moleküle abgeleitet werden. Das Instrumentarium der mathematischen Gruppentheorie
bildet dabei die Grundlage für die molekülsymmetrische Ordnung und Klassifikation.
Mit dem Studium der Molekülsymmetrie wird
somit der zugehörige mathematische Kern
von den Studierenden in seiner Anwendung
erfahren und akzeptiert. Zusätzlich gewinnen
die Studierenden mit der Anwendung einen
anschaulichen Zugang zur abstrakten Gruppentheorie. Zusammengefasst ergibt sich hier
also aus dem Studium einer naturwissenschaftlichen Theorie eine Veranschaulichung
der zugrunde liegenden mathematischen
Strukturen.
Dieses Prinzip der indirekten Veranschaulichung, bei der die Vermittlung der mathematischen Inhalte vordergründig sekundären
Charakter trägt, steht dem vertrauten Prinzip
der direkten Veranschaulichung gegenüber,
bei dem die Veranschaulichung und die
Vermittlung des mathematischen Sachverhaltes primäres Anliegen ist (Profke 1994,
13, beschreibt es als Übertragung eines
fremden Sachverhalts in einen vertrauten Be-
Gruppentheorie — anschaulich mit dem Computer
griff.) Über die direkte Veranschaulichung
konkreter mathematischer Sachverhalte —
Begriffe, Regeln, Begriffsstrukturen —, bei
der die Besonderheiten der Veranschaulichung mit dem Medium Internet zur Geltung
gelangen, wird im Weiteren noch ausführlich
berichtet.
Speziell die abstrakt-mathematischen Begriffe und Strukturen der Gruppentheorie erfordern besondere Formen der Veranschaulichung. Als eine dafür geeignete Veranschaulichungsmethode erweist sich die schematische Veranschaulichung der strukturellen Zusammenhänge und Beziehungen. Die schematische Veranschaulichung erhält im Lernmodul durch die mediale Funktionalität des
Internets eine zusätzlich dynamische Komponente. In Form von dynamischen MedienKorrelationen eröffnen sich den Studierenden
interaktive Zugänge zur schematischen Veranschaulichung: Die so genannte MouseOver-Funktionalität verwendend, wird beim
Überstreichen von markierten Textstellen
oder markierten Bildausschnitten in einem
zugehörigen Bild oder Schema zusätzliche
Information als Text oder Bild eingeblendet
oder hervorgehoben. Hier wird also der abstrakte Gegenstand inhaltlich verknüpft mit der
ikonischen oder symbolischen Erklärung, die
visuell zugänglich ist.
Eine tragende Funktion der modellhaften
Veranschaulichung von abstrakt-mathematischen Inhalten stellen die virtuell-dreidimensionalen Modelle im Lernmodul dar. Diese
Körper- und Molekülmodelle sind interaktiv
frei drehbar und können die verschiedenen
Symmetrieelemente und Symmetrieoperationen darstellen und animieren. Die Bezeichnung virtuell-dreidimensionales Modell beruht
auf der scheinbaren Dreidimensionalität: Den
Studierenden liegt ein zweidimensionales
Bild in perspektivischer Darstellung vor, das
sie selbst geeignet bewegen können. Auf
diese Weise erzeugen sie schließlich in ihren
Vorstellungen ein dreidimensionales Modell.
4.2 Das inhaltliche Konzept des
Lernmoduls
Das Lernmodul Molekülsymmetrie besteht
aus sechs Kapiteln. Nach einer Einführung in
den behandelten Gegenstand vermittelt das
zweite Kapitel den Studierenden die Grundlagen molekülsymmetrischer Betrachtungen
(Tab. 1). Dabei werden wesentliche mathematische Sachverhalte wie beispielsweise
die Hintereinanderausführung von Operationen von den Studierenden in ihrer Anwendung erfahren (vgl. Tab. 1) und somit veran-
schaulicht, noch bevor die eigentliche mathematische Definition erfolgt.
Die Kapitel 3 (s. Tab. 1) und 6 (s. Tab. 3,
nächste Seite) enthalten spezielle Programme, die die Fähigkeit der Studierenden trainieren sollen, in molekularen Strukturen
Symmetrieelemente zu bestimmen und darKapitel 1: Einführung
Wesentlicher Inhalt:
• Einführung in das Symmetriekonzept in den
Naturwissenschaften
Kapitel 2: Symmetrieelemente und Symmetrieoperationen
Wesentliche Inhalte:
• Definition von Grundbegriffen (z. B. Symmetrieelement und -operation)
• Einführung der Schoenflies-Nomenklatur
• Symmetrieoperationen der Identität, Drehsymmetrie, Spiegelungssymmetrie, Inversionssymmetrie, Drehspiegelungssymmetrie
Vermittelte mathematische Sachverhalte (Auswahl):
• Hintereinanderausführung von Symmetrieoperationen
• Potenzbildung von Symmetrieoperationen
• Gerade und ungerade Symmetrieoperationen
• Mengen von Symmetrieoperationen
• Abgeschlossenheit von Mengen von Symmetrieoperationen
• Restklassenbildung
• Koexistierende Symmetrieelemente
(Vorbereitung der Untergruppen)
Kapitel 3: Symmetrietrainer (1)
Wesentlicher Inhalt:
• Interaktive Trainingsprogramme zur Symmetrieerkennung, Symmetriekonstruktion und
Symmetrieanalyse
Tab. 1: Inhaltliche Struktur des Lernmoduls
Molekülsymmetrie – Kapitel 1–3
aus insbesondere die Punktsymmetrie des
Moleküls ableiten zu können.
Nach der anwendungsorientierten Vermittlung der Grundlagen der Molekülsymmetrie
wird in Kapitel 4 (s. Tab. 2, nächste Seite)
das gruppentheoretische Rüstzeug vermittelt.
Der molekülsymmetrische Zugang ermöglicht
für die abstrakt-mathematischen Inhalte einen anschaulichen Zugang: Die Studierenden erleben die Gruppentheorie unter dem
Aspekt der Symmetrieklassifizierung und erkennen ihre Notwendigkeit.
Die Klassifikation der molekularen Strukturen
mit dem Instrumentarium der Punktsymmetriegruppen in Kapitel 5 (siehe Tab. 3) vermit-
169
Bert Zimmer & Karin Richter & Wilfried Herget
Kapitel 4: Grundlagen der Gruppentheorie
Wesentliche Inhalte:
• Mengentheoretische Grundlagen
• Gruppenaxiome
• Beispiele für Gruppenstrukturen
• Ordnung einer Gruppe, Ordnung eines Elements
• Verknüpfungs- und Gruppentafeln
• Untergruppen und Untergruppengraphen,
Satz von Lagrange
• Zyklische Gruppen, Erzeugung von Gruppen,
Erzeugendensysteme
• Isomorphie
• Vertiefende Beispiele: Kleinsche Vierergruppe,
Drehgruppe des Tetraeders
Tab. 2: Inhaltliche Struktur des Lernmoduls
Molekülsymmetrie – Kapitel 4
Kapitel 5: Punktsymmetriegruppen
Wesentliche Inhalte:
• Ableitung der Punktsymmetriegruppen in der
Molekülsymmetrie
• Klassifizierung der Moleküle durch die gruppentheoretische Einteilung
• Algorithmisches Verfahren zur Bestimmung der
Punktsymmetriegruppe eines Moleküls
Kapitel 6: Symmetrietrainer (2)
Wesentlicher Inhalt:
• Interaktives Trainingsprogramm zur Bestimmung
der Punktsymmetriegruppe von Molekülen
Tab. 3: Inhaltliche Struktur des Lernmoduls
Molekülsymmetrie – Kapitel 5 und 6
telt und veranschaulicht den Studierenden
schließlich die Anwendung gruppentheoretischer Ordnungsprinzipien.
4.4 Die direkte Veranschaulichung im Lernmodul
Im Mittelpunkt der
folgenden Betrachtungen stehen die
exemplarische Darstellung und Veranschaulichung konkreter gruppentheoretischer Inhalte. Die
Diskussion wird sich
dabei auf solche
Beispiele beschränken, in denen mit
den medialen Möglichkeiten des Internets eine neue Form
170
der Veranschaulichung entsteht. Dies wird im
Wesentlichen mit den bereits erwähnten dynamischen Medien-Korrelationen und den
virtuell-dreidimensionalen Modellen erreicht.
Schematische Veranschaulichung mit
dynamischen Medien-Korrelationen
Eine dynamische Medien-Korrelation wird im
Lernmodul verwendet, um die schematische
Darstellung eines Untergruppengraphen der
Punktsymmetriegruppe C3v mit der zugehörigen Gruppentafel zu verbinden (Abb. 7).
Der Untergruppengraph ordnet in einem Diagramm (Abb. 7, links) die Untergruppen der
Punktsymmetriegruppe anhand der Gruppenordnung. Wird mit dem Mauszeiger auf eine
Untergruppe im Graphen gezeigt, so werden
in der Gruppentafel (rechts) die Elemente
dieser Untergruppe farblich hervorgehoben.
Es entsteht somit eine enaktiv-visuelle Wechselbeziehung zwischen dem Schema des
Graphen und der Gruppentafel. Auf diese
Weise wird zum Beispiel veranschaulicht,
dass die Elemente der Untergruppen ebenfalls eine Untergruppentafel in der Gruppentafel bilden und dort auch direkt abgelesen
werden können.
Das Schema der grundlegenden gruppentheoretischen Begriffe (Abb. 3) ist im Lernmodul als dynamisierte schematische Veranschaulichung realisiert. Die schematische
Darstellung systematisiert wesentliche Inhalte des Kapitels 4 des Lernmoduls (Tab. 2).
Die Studierenden erfahren dabei die mit den
Begriffen verbundenen Inhalte als Festigung,
indem mittels dynamischer Medien-Korrelation der jeweilig (mit dem Mauszeiger) ausgewählte Begriffsgegenstand erläutert wird
(Abb. 8).
Zentrales Anliegen des Lernmoduls ist es,
den Studierenden ein Verfahren zur Bestimmung der Punktsymmetriegruppe eines Moleküls zu vermitteln (Kapitel 5, Tab. 3).
Abb. 7: Dynamische Medien-Korrelation zwischen Untergruppengraph und Gruppentafel
der Punktsymmetriegruppe C3v
Gruppentheorie — anschaulich mit dem Computer
Abb. 8: Dynamisierte schematische Veranschaulichung der Beziehungsstruktur grundlegender gruppentheoretischer
Begriffe. Mit Hilfe der Mouse-Over-Funktionalität können die Studierenden sich einzelne Inhalte des Schemas
interaktiv anzeigen lassen (z. B. den Begriffsinhalt der Isomorphie).
Abb. 9: Dynamisiertes Ablaufschema zur algorithmischen Bestimmung der Punktsymmetriegruppe eines Moleküls
(Schema angelehnt an Steinborn 1993, 198).
Dieses algorithmische Verfahren kann in
Form eines Ablaufschemas veranschaulicht
werden (Abb. 9), das allerdings sehr formalisiert erscheint. Im Lernmodul wird nun die
Veranschaulichung des Verfahrens mittels
dynamischer Medien-Korrelationen ergänzt:
Die Studierenden können einen Pfad im
Schema mit der Maus verfolgen und zu jeder
Stufe des Algorithmus spezifische Erläuterungen angezeigt bekommen, die zusätzlich
farbig unterlegt sind. Somit wird die stark
formalistische Darstellungsweise durch farbig
abgehobene, erklärende Textinformationen
aufgebrochen, das Schema gestaltet sich für
die Studierenden zugänglicher und nachvollziehbarer.
Veranschaulichung mit
virtuell-dreidimensionalen Modellen
Mit dynamischen Medien-Korrelationen lässt
sich der mathematische Gegenstand inhaltsorientiert und von unterschiedlichen Ansätzen her veranschaulichen. Dagegen führt der
modellhafte Charakter der virtuell-dreidimen-
171
Bert Zimmer & Karin Richter & Wilfried Herget
sionalen Modelle zu einer exemplarischen
Veranschaulichung der gruppentheoretischen
Inhalte. Dementsprechend werden im Lernmodul die zu vermittelnden mathematischen
Sachverhalte inhaltlich formuliert und anschließend mit einem virtuell-dreidimensionalen Modell illustriert.
Die Veranschaulichung der Potenzbildung
von Symmetrieoperationen erfolgt mit einem
Molekülmodell des Cyclopentadienylanions
C5 H 5− . Die Studierenden können sich dazu
verschiedene Potenzen von Symmetrieoperationen animiert darstellen lassen. Die Veränderung des Ausgangsmodells durch Hintereinanderausführung ein und derselben
Symmetrieoperation lässt sich anhand eines
Vergleichsmodells (rechte Seite) wahrnehmen
(Abb. 10). Auf ähnliche Weise wird im Lernmodul veranschaulicht, dass die Hintereinanderausführung zweier verschiedener Symmetrieoperationen wieder einer Symmetrieoperation entspricht.
Als Nebeneffekt eröffnet sich mit der Veranschaulichung der Potenzbildung von Symmetrieoperationen ein Zugang zur Äquivalenzklassenbildung.
Abb. 10: Veranschaulichung der Potenzbildung von
Symmetrieoperationen. Die Symmetrieoperationen und ihre Potenzen werden im linken Modell animiert dargestellt: Nach dem Betätigen
eines Buttons führt das Molekülmodell eine
Drehbewegung aus, die der gewählten Potenz
entspricht. Anhand des rechten Vergleichsmodells lässt sich die Veränderung erfassen.
(Zur besseren Vergleichbarkeit wird ein Wasserstoffatom dunkler eingefärbt.)
Der Schritt von einer mengentheoretischen
Auffassung der Gruppen als Menge von vertrauten Gruppenelementen (z. B. Zahlengruppen) hin zu einer abstrakten Gruppenauffassung (z. B. Gruppen von Operationen) stellt
für viele Studierenden ein Problem dar (Dubinsky et al. 1994). Mit Hilfe eines virtuelldreidimensionalen Modells ist es möglich, in
eindringlicher Weise die Gruppe der Drehsymmetrieoperationen des Prismamoleküls
C6 H 6 zu veranschaulichen (Abb. 11). Die
172
Studierenden erhalten nicht nur eine Vorstellung von den abstrakten Gruppenelementen,
sie können zusätzlich die Gruppenoperation
(Hintereinanderausführung von Symmetrieoperationen) in ihrer Anwendung erfahren.
Abb. 11: Veranschaulichung der Drehsymmetriegruppe
des Prismamoleküls. Die abstrakten Gruppenelemente können animiert dargestellt werden:
Die Symmetrieoperationen werden in ihrer Wirkung gezeigt (Drehbewegung um die entsprechende Symmetrieachse).
Das Ausfüllen einer Gruppentafel wird mit
dem Lernmodul am Beispiel der Drehsymmetriegruppe einer vierzähligen Symmetrieachse im Oktafluorotantalatanion [ TaF8 ] 3−
veranschaulicht. Die Studierenden wählen die
zu verknüpfenden Symmetrieoperationen in
der Eingangszeile und in der Eingangsspalte,
erfahren deren Wirkung am Ausgangsmodell
und erkennen im Vergleichsmodell die resultierende Symmetrieoperation als Tafelelement (Abb. 12).
Abb. 12: Veranschaulichung der Entstehung einer Gruppentafel. (Zur besseren Vergleichbarkeit wird
ein Fluoratom rot eingefärbt.)
5
Abschluss
Das Lernmodul Molekülsymmetrie wurde im
Verlauf zweier Akzeptanzstudien von Studierenden erprobt. Über das Design und die Ergebnisse wurde in (Zimmer 2002a) und (Zimmer 2002b) ausführlich berichtet. Es überrascht kaum, dass bei einem Vergleich zwischen einer rein axiomatischen Vermittlung
auf herkömmliche Weise und einer Vermitt-
Gruppentheorie — anschaulich mit dem Computer
lung mit der molekülsymmetrischen Anwendung nicht zuletzt die multimedialen Veranschaulichungen zu einem besseren Verständnis gruppentheoretischer Inhalte beitragen.
„Mathematikunterricht und Informatik“. Hildesheim: Franzbecker, 62–71
Zimmer, B. (2002b): Über die Veranschaulichung
grundlegender Inhalte der Gruppentheorie. In
Vorbereitung
Erkennbar ist, dass die Vermittlung mathematischer Inhalte mit neuen Medien neue
und erweiterte Möglichkeiten der Veranschaulichung bietet. Das allerdings bedeutet
zugleich, dass es gilt, darauf angepasste und
dafür geeignete neue inhaltliche und neue
didaktische Konzepte zu entwickelt werden.
Literatur
Bauersfeld, H. (1983): Subjektive Erfahrungsbereiche als Grundlage einer Interaktionstheorie
des Mathematiklernens und -lehrens. In: Bauersfeld, H.; Bussmann H.; Krummheuer, G.; Lorenz, J.-H. & Voigt, J.: Lernen und Lehren von
Mathematik. Köln: Aulis, 1–56
Claus, H. J. (1989): Einführung in die Didaktik der
Mathematik. Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft
Dörfler, W. (1983): Qualität mathematischer Begriffe und Visualisierung. In: Kautschitsch, H. &
Metzler, W. (Hrsg.): Anschauung als Anregung
zum mathematischen Tun. 3. Workshop zur
„Visualisierung in der Mathematik“. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky, 44–64
Dubinsky, E.; Dautermann, J.; Leron, U. & Zazkis,
R. (1994): On learning fundamental concepts
of group theory. In: Educational Studies in
Mathematics 27, 267–305
Klein, F. (1926): Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert. Teil I.
Berlin: Springer 1926. Nachdruck: Berlin, Heidelberg & New York: Springer 1979
Peterssen, W. H. (1994): Anschaulich unterrichten. München: Ehrenwirth
Profke, L. (1994): VERANSCHAULICHUNGEN …
nicht nur Visualisieren. In: Kautschitsch, H. &
Metzler, W. (Hrsg.): Anschauliche und experimentelle Mathematik II. 11. und 12. Workshop
zur „Visualisierung in der Mathematik“. Wien:
Hölder-Pichler-Tempsky, 13–30
Steinborn, D. (1993): Symmetrie und Struktur in
der Chemie. Weinheim: VCH
Wille, F. (1982): Die mathematische Anschauung:
Ihre Ziele, Möglichkeiten und Techniken. In:
Kautschitsch, H. & Metzler, W. (Hrsg.): Visualisierung in der Mathematik. 1. Workshop zur
„Visualisierung in der Mathematik“. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky, 35–78
Zimmer, B.; Bruhn, C. & Steinborn, D. (2002a):
Lernen mit dem Internet im Selbststudium:
Symmetrie molekularer Strukturen — eine
Lerneinheit und Erfahrungen. In: Herget, W.;
Sommer, R.; Weigand, H.-G. & Weth, T.
(Hrsg.): Medien verbreiten Mathematik. Bericht
über die 19. Arbeitstagung des Arbeitskreises
173
Die Elektronische Kreide:
Erfahrungen und Perspektiven
Siegfried Zseby, Berlin
Die „Elektronische Kreide“ ist ein an der FU Berlin entwickeltes Werkzeug, mit dem Informationen z. B. in Form von Schrift, Grafiken oder Bilddateien mit Hilfe eines Grafiktabletts präsentiert werden können. Dabei können unterschiedliche Präsentationsmodi gewählt werden:
Die Informationen können direkt im Klassenraum erstellt und präsentiert werden (FrontalModus). Eine Unterrichtseinheit kann aufgezeichnet und später dynamisch (wie ein Film)
oder statisch (als PDF-Datei) verwendet werden (Konserve-Modus). Aktuell erstellte Informationen können live über das Internet übertragen werden (Broadcast-Modus).
Mit geringem Aufwand lassen sich damit effiziente Präsentationen realisieren. Es soll
insbesondere demonstriert werden, welche Vorteile die Elektronische Kreide gegenüber
PowerPoint hat.
1
Was ist E-Kreide?
Die Elektronische Kreide (E-Kreide) ist ein an
der FU Berlin entwickeltes Werkzeug, mit
dem Informationen z. B. in Form von Schrift,
Grafiken oder Bilddateien mit Hilfe eines Grafiktabletts präsentiert werden können.
2
Die verschiedenen Modi
2.1 Frontal-Modus
Im Frontal-Modus kann mit einem Stift auf
dem Grafiktablett ähnlich wie an der Tafel
oder am Whiteboard geschrieben oder gezeichnet werden. Die Farbe des Hintergrundes kann ebenso wie die Schriftfarbe aus der
Palette
gewählt werden.
Während als
Voreinstellung
ein schwarzer
Hintergrund
vorgegeben
wird, der an
die klassische
Kreidetafel erinnert,
erscheint mir ein
weißer Hintergrund vorteilhafter.
Abb. 2
Abb. 1
E-Kreide vereint die Vorteile der klassischen
Kreidetafel mit den multimedialen Möglichkeiten eines Teleteaching-Systems.
Abb. 3
Während der Präsentation lassen sich vorbereitete Grafiken einfügen. (Abb. 2).
174
Die elektronische Kreide: Erfahrungen und Perspektiven
Außerdem kann man Vorlagen nutzen, die
man dann während der Präsentation ergänzt
(Abb. 3).
tet, die mit den Servern kommunizieren. Zur
Zeit benötigen die drei Datenströme ISDN
mit Kanalbündelung (128 kbps).
Hierzu gehören auch vorbereitete Koordinatensysteme oder geometrische Figuren.
Das Videofenster kann geschlossen werden,
wenn der Betrachter Bandbreite sparen will.
Dann ist nur noch ein ISDN-Kanal (64 kbps)
erforderlich. Wer nur das Audiosignal empfangen will, kommt sogar mit einem langsamen Modem (15 kbps) aus.“
2.2 Konserve-Modus
Der Konserve-Modus ist am ehesten einer
PowerPoint-Präsentation vergleichbar. Bei
der Produktion einer Konserve haben wir
zwei Möglichkeiten, ähnlich der Aufzeichnung eines Konzerts:
Natürlich können auch die im Konserve-Modus erstellten Dateien im Internet angeboten
und somit dynamisch und statisch betrachtet
werden.
die Live-Aufzeichung,
die Studio-Aufzeichnung.
Die Live-Aufzeichnung des Boards (der Tafel) erfordert keinerlei Zusatzarbeit, da jede
im Frontal-Modus erstellte Präsentation automatisch gespeichert wird. Darüber hinaus
kann man Mikrofon und Videokamera zur
Aufzeichnung verwenden.
Die Studio-Aufzeichnung bietet erwartungsgemäß einige Vorteile, die man für eine professionelle Erstellung einer Unterrichtseinheit
nutzen möchte, erfordert aber andererseits
einen zeitlichen Aufwand, der nur durch hohe
Motivation des Autors zu erbringen ist.
Neben der Speicherung mitsamt der Dynamik, d. h. der zeitlichen Abfolge der Ereignisse wie im Film, lässt sich das „Tafelbild“ zusätzlich als PDF-Datei speichern. Dies ist eine recht nützliche Option, da sich der Nutzer
eventuell nur die Ergebnisse (im Sinne einer
Wiederholung) ansehen möchte. Wir können
dann bei der Wiedergabe wählen zwischen
dynamischer Wiedergabe der Ereignisse
und
statischer Wiedergabe des Tafelbildes
(PDF).
2.3 Broadcast-Modus
Im Broadcast-Modus wird eine Live-Präsentation über das Internet übertragen. Eine
geeignete Ausrüstung dafür ist ein PC, der
unter Linux als Webserver konfiguriert ist.
Wie bei der Live-Aufzeichnung für den Konserve-Modus kann man auch hier Mikrofon
und Videokamera verwenden.
In der Programmbeschreibung erhält man
folgende Hinweise:
„Auf dem Vortragsrechner wird das Tafelprogramm von E-Kreide gestartet, das automatisch Tafel-, Audio- und Videoserver startet.
Auf Empfängerseite werden über den Webbrowser entsprechende Java-Applets gestar-
3
Erfahrungen
3.1 Frontal-Modus
Den Frontal-Modus habe ich an unserer
Fachhochschule in zwei Lehrveranstaltungen
eingesetzt: im Mathe-Vorkurs und in der Analysis.
Dabei drängt sich der Vergleich mit der normalen Kreidetafel auf. Der einzige Vorteil der
Kreidetafel scheint mir zu sein, dass der Lehrer an der Tafel mehr in Bewegung ist, was
durchaus die Lebendigkeit des Frontalunterrichts steigern kann.
Abgesehen davon ist die Elektronische Kreide jedoch in wesentlichen Punkten überlegen:
Für eine normale Präsentation stehen die
wesentlichen Werkzeuge zur Verfügung:
Tastatur, Schreib- und Zeichengerät mit
skalierbarer Strichstärke, Rücknahmeund Radierfunktion, Einfügen von Bildern
und Vorlagen.
Die Position des Lehrers am Notebook
ermöglicht ihm, sowohl sein Tafelbild als
auch die Schüler im Blick zu behalten.
Die Elektronische Kreide ermöglicht eine
sehr „hygienische“ Arbeit: Sie hinterlässt
weder auf der Kleidung noch an den Fingern Spuren. Auch die üblichen KreideWasser-Wechselwirkungen entfallen.
Im Gegensatz zur normalen Tafel hat man
praktisch unbegrenzt viel Platz. Der Rückgriff auf das gesamte Tafelbild ist jederzeit
möglich.
Jede Präsentation wird automatisch gespeichert. Die dynamische Speicherung
vermittelt einem das Gefühl, dass nichts
verloren geht. Praktisch wird man sich jedoch kaum eine Präsentation ein zweites
Mal dynamisch ansehen wollen. Demge-
175
Siegfried Zseby
genüber ist die Speicherung als (statische) PDF-Datei von wesentlich größerem praktischem Nutzen. Eine Ausnahmesituation ergibt sich höchstens, wenn
man am aufgenommenen Ton interessiert
ist. Dann bleibt einem nichts anderes übrig, als auf die dynamische Aufnahme zurückzugreifen.
3.2 Konserve-Modus
Den Konserve-Modus habe ich innerhalb der
Finanzmathematik ausprobiert, die an unserer Fachhochschule innerhalb der Analysis
oder zumindest in zeitlicher Nähe mit dieser
behandelt wird.
Ich habe dazu drei Unterrichtseinheiten erstellt, die die Themen
Einmalige Zahlungen,
Regelmäßige Zahlungen und
Einmalige und regelmäßige Zahlungen
behandeln. Der zeitliche Umfang jeder dieser
Lektionen liegt zwischen 10 und 20 Minuten.
Diese Art der Präsentation erinnert etwas an
„Telekolleg“-Sendungen, allerdings habe ich
dabei auf die Videomöglichkeit verzichtet und
nur das Tafelbild und den Ton aufgezeichnet.
Diese Unterrichtseinheiten habe ich für drei
verschiedene Adressatengruppen verwendet:
Tagesstudenten,
Abendstudenten, normalerweise berufstätig,
Bachelor-Studiengang in Kooperation mit
Siemens.
Die mehrfache Verwendung des Materials
war für mich ein kleiner Trost für den enormen Aufwand, der bei der Erstellung der Unterrichtseinheiten erforderlich war. Die Tonqualität bleibt leider noch hinter meinen Wünschen zurück.
Eine wesentliche Erfahrung war der Unterschied zwischen einer Präsentation im Frontal-Modus und einer vorbereiteten Konserve.
Bei der Konserve erwarten die Teilnehmer
nahezu Studioqualität. Insbesondere das Timing muss angemessen sein. Lange Pausen
werden nicht toleriert. Die Aufmerksamkeit
wird durch Anwesenheit und Körpersprache
des Lehrers stark beeinflusst. Vor der Darbietung müssen eine entsprechende Ankündigung und eventuell einige Leitfragen die
nötige Konzentration erzeugen, eine ausführliche Nachbereitung ist unerlässlich.
Über die normale Finanzmathematik hinaus
habe ich noch eine weitere Präsentation erstellt: „Finanzmathe Extra“, in der ich auf die
176
Zusammenhänge zwischen Zinseszinsrechnung und der musikalischen Tonleiter eingehe. Da unsere Fachhochschule auf ihre internationalen Kontakte sehr stolz ist, habe
ich neben der deutschen Version auch jeweils eine in englischer, französischer, spanischer und italienischer Sprache aufgenommen. Die Ergebnisse findet man im Internet:
http://www.lehre.fhw-berlin.de/echalk/
3.3 Broadcast-Modus
Der Broadcast-Modus wurde zunächst nur
für Linux-Server bereitgestellt. Da ich an unserer Fachhochschule einen eigenen LinuxServer (mit Apache-Webserver) betreibe, war
es mir möglich, auch diesen Modus auszuprobieren.
Dabei habe ich von meinem Büro aus — allerdings ohne Video und ohne Ton — einige
Minuten lang mit der Elektronischen Kreide
ein Tafelbild erstellt und den Prozess live
über das Internet in einen großen Hörsaal mit
PC-Projektion für die ca. 100 Teilnehmer am
Mathe-Vorkurs bzw. in einen PC-Raum mit
15 PCs übertragen. Inwieweit bei einer größeren Teilnehmerzahl Probleme mit der
Bandbreite auftreten, habe ich nicht getestet,
da es mir nur auf die prinzipielle Möglichkeit
der Nutzung des Broadcast-Modus ankam.
Auch hierbei wird die live erstellte Präsentation aufgezeichnet und kann später dynamisch oder als PDF-Datei angesehen werden.
Da es sich beim Mathe-Vorkurs um Studienanfänger handelte, war dies für die Studierenden ein beeindruckender Start, der ihnen
das Gefühl vermittelte, auf dem neuesten
Stand der Technik und in guten Händen zu
sein.
4
Perspektiven
Die Entwickler der Elektronischen Kreide haben offenbar viel Feedback erhalten. Es gibt
viel zu loben, aber wenn man sich damit intensiv beschäftigt, dann steigen natürlich
auch die Ansprüche. Neben der stabilen Version für den normalen Anwender existiert
immer auch eine „Forschungsversion“, in der
zusätzliche Features ausprobiert werden. Einige Tendenzen sollen hier genannt werden.
Handschrift
Die Tendenz geht dahin, auch bei recht feiner Strichstärke, bei der die Schrift norma-
Die elektronische Kreide: Erfahrungen und Perspektiven
lerweise etwas „krakelig“ wirkt, eine Glättung
vorzunehmen. Außerdem soll die Schrifterkennung, die ja bereits bei elementaren Rechenoperationen funktioniert, wesentlich erweitert werden. Insbesondere Formeln sollen
dadurch einfacher einzugeben sein als etwa
mit einem Formeleditor.
Editor
Die gesamte Präsentation, also die Erzeugung des Tafelbildes mit allen Tastaturtexten, Handschriften und eingefügten Bildern,
wird jeweils im Unterverzeichnis „board“ in
der Datei „events“ gespeichert. Diese Datei
kann man — mit etwas Geschick — editieren
und damit die Präsentation entweder zerstören oder verbessern. So habe ich beispielsweise für meine Finanzmathematik-Konserven Fehler bei der Aufzeichnung herausoperiert und mit Hilfe mühevoller Excel-Operationen die Geschwindigkeit korrigiert. Dies war
eine Arbeit, die normalerweise nur PC-begeisterte Schüler oder Lehrer nach der Pensionierung freiwillig erledigen würden. Hierfür
wird es demnächst Werkzeuge geben: Editoren, die die Nachbearbeitung des (dynamischen) Boards und des Tons ermöglichen,
vergleichbar den Schneidegeräten bei sonstigen Bild- und Tonaufzeichnungen.
Applets
Da die gesamte Software auf Java basiert,
soll die Einbeziehung von Applets in Zukunft
erleichtert werden.
Mathematica
Die Zusammenarbeit mit Mathematica funktioniert bereits: Formeleingabe und Plotten der
Funktionen, auch 3D, sind sehr eindrucksvoll. Zusammen mit der Handschrifterkennung soll dabei noch mehr Komfort erzielt
werden.
5
Fazit
Welchen Stellenwert hat nun die Elektronische Kreide im Spektrum alter und neuer
Medien? Kann man von einem „Killer-Medium“ sprechen, oder wird sie vielleicht gar
nicht akzeptiert werden?
Nach meinen Erfahrungen denke ich, dass
jeder, der sich einige Wochen lang auf dieses neue Medium eingelassen hat, es in seinen Präsentationswerkzeugkasten integrieren wird.
Die Voraussetzungen sind verführerisch einfach:
Notebook,
PC-Projektor,
Grafiktablett (40 Euro, anno 2001 an einer
Tankstelle!),
Software (ca. 100 Euro).
Man muss ja nicht auf die bekannten Präsentationsmedien verzichten:
Die gute alte Kreidetafel, die auch ein Whiteboard sein kann, ist in der Diskussion immer
ein probates Mittel, um einen Gedankengang
mit wenigen Strichen zu erläutern.
Der OH-Projektor steht meistens irgendwo
herum und hat gegenüber dem PC den Vorteil, dass er nicht so häufig abstürzt — die
Lampen sind immer noch ein nicht zu unterschätzendes Risiko —, und Folien lassen
sich vorbereiten und live ergänzen.
PowerPoint ist inzwischen so weit verbreitet,
dass man auf alle Fälle damit umgehen können sollte. Es hat sich als Standard etabliert
und leistet für eine sequenzielle Präsentation
von kurzen Texten und Grafiken gute Dienste.
Und die Elektronische Kreide?
Ich meine, sie hat als Option unter den Medien ihren Platz und kann in mancher Hinsicht zusätzlichen Komfort bieten. Die Speichermöglichkeit, insbesondere als PDF-Datei, ist recht nützlich; sie lässt sich mit einem
Schnappschuss des Tafelbildes vergleichen.
Die Bedienung ist verhältnismäßig einfach.
Man wird darüber diskutieren, welche Grundfarbe die Tafel haben soll (Standard ist
schwarz, wie die Kreidetafel; ich bevorzuge
weiß, wie das Whiteboard), wie man generell
die Farben einsetzen soll, wie ein E-Tafelbild
aussehen soll und ob man Bild und Ton aufzeichnen sollte. Man kennt die „beliebten“
OH-Präsentationen mit kleiner Schreibmaschinenschrift oder unleserlicher Handschrift.
Ebenso erfordert der angemessene Umgang
mit der Elektronischen Kreide nicht nur technische Kenntnisse, sondern auch didaktische
Professionalität.
Mein Fazit: Die Elektronische Kreide ist weder notwendig noch hinreichend für eine gute
Präsentation und für guten Unterricht, aber
sie kann dabei helfen, gute Absichten besser
zu realisieren. Sie ist einen Versuch wert.
Referenzen
http://www.ekreide.de/
http://www.lehre.fhw-berlin.de/echalk/
177
Geometrie am Notebook in der 7. Jahrgangsstufe ∗
z
Claudia Hagan, Veitshöchheim
Am Gymnasium Veitshöchheim wurde im Schuljahr 2001/2002 mit einer 7. Klasse ein
Notebook-Projekt gestartet. Sowohl auf technischer und organisatorischer Ebene, als
auch auf der methodisch-didaktischen Ebene in den jeweiligen Fächern stellt dies eine
große Herausforderung dar. Der Schwerpunkt des folgenden Artikels ist der Geometrieunterricht; es wurde viel mit DynaGeo gearbeitet. Dabei ergaben sich interessante Fragestellungen: Wie muss der Konstruktionsbegriff — der im Lehrplan der 7. Jahrgangsstufe im bayerischen Lehrplan eine zentrale Stellung einnimmt — modifiziert werden? Dynamik einzufordern, dennoch klassisch (ohne Makros) zu konstruieren, erweist sich dem
mächtigen Werkzeug DGS nicht angemessen, ist methodisch-didaktisch nicht sinnvoll.
Schulaufgaben und Prüfungen am Notebook stellen eine weitere Herausforderung dar,
müssen ganz anders geplant und korrigiert werden; auch erhält das Medium „Notebook“
und der Unterricht hiermit einen ganz anderen Stellenwert — nämlich Alltagsunterricht
mit Prüfungsrelevanz. Hieraus ergeben sich weitere Folgeaspekte...
Zuerst stelle ich an Hand einer PowerpointPräsentation das Notebook-Projekt am
Gymnasium Veitshöchheim vor. Es werden
die Erfahrungen geschildert, die mit
Schwerpunkt Mathematik im letzten Schuljahr in der ersten Notebook-Klasse gewonnen wurden. Auch wenn die technischen
und organisatorischen Herausforderungen,
die wir als Schule bewältigt haben, um das
Projekt überhaupt in die Wege zu leiten,
nicht zur methodisch-didaktischen Diskussion gehören, sollen diese nicht unerwähnt
bleiben — nicht zuletzt deshalb, weil dabei
den Teilnehmern und Lesern (um der leichteren Lesbarkeit willen wird im folgenden
auf die explizite Nennung der weiblichen
Form verzichtet) sicher auch klar wird, warum wir am Anfang des Projektes noch kein
ausgereiftes methodisch-didaktisches Konzept hatten, sondern sich Vieles (Lösungen
und offene Fragen) erst im Laufe des ersten Notebook-Jahres ergaben.
Im Anschluss werden offene Fragen sowie
Probleme fachlicher, methodischer und didaktischer Art in der Arbeitsgruppe gemeinsam diskutiert und teilweise gelöst.
Präsentation des NotebookProjektes am Gymnasium
Veitshöchheim
Allgemeines zum Projekt
Im Schuljahr 2001/2002 begann am Gymnasium Veitshöchheim eine 7. Jahrgangsstufe als Notebook-Klasse. Die Entscheidung, ob man in diese Klasse will, wurde
etwa ein halbes Jahr vorher von den Eltern
getroffen; finanzielle Unterstützung konnte
nach Überprüfung der Situation gegeben
werden; alle hatten die Möglichkeit ein
zinsgünstiges Darlehen in Anspruch zu
nehmen und monatlich zu zahlen. Die Notebooks selbst waren von den Eltern zu finanzieren, Software wurde weitgehend von
Firmen gesponsert, die Einrichtung der Notebooks wurde von der Schule und einer
externen Firma als Sponsoring übernommen, die Netzumstrukturierung und damit
verbundene Baumaßnahmen übernahm der
Sachaufwandsträger.
Jeder Schüler hat sein eigenes Arbeitsgerät, die Software ist weitgehend lokal installiert, so dass auch zu Hause damit gearbeitet werden kann. Das Klassenzimmer ist im
ersten Jahr über Funknetz an das LAN der
Schule angebunden, inzwischen sind die
Notebookzimmer fest verkabelt. Im Klassenzimmer ist ein Scanner, ein Smartboard
sowie ein Laserdrucker, der über das
Netzwerk ansprechbar ist.
* Teilnehmende der AG „Geometrieunterricht am Notebook in der 7. Jahrgangsstufe“ unter der Leitung von Claudia Hagan: HansJürgen Elschenbroich, Frank Förster, Thomas Gawlick, Matthias Hofer, Eckhard Löbbert, Margit Schleyer
178
AG „Geometrie am Notebook in der 7. Jahrgangsstufe“
Das Notebook wird im Alltagsunterricht,
nicht nur für spezielle Projektstunden verwendet — hier liegt wohl ein wesentlicher
Unterschied zum sonst üblichen Computereinsatz in Schulen. Auch kann man durch
die ständige Verfügbarkeit des Gerätes
Hausaufgaben am Notebook einfordern. Es
gibt das Konzept der Leitfächer; hier wurde
Biologie, Erdkunde, Deutsch, Englisch und
Mathematik ausgewählt. Der Begriff Leitfach wurde anfangs so verstanden, dass in
diesen Fächern das Notebook sehr häufig /
fast in jeder Unterrichtsstunde eingesetzt
wird. Inzwischen konnte die Definition in die
Richtung modifiziert werden, dass sich ein
Leitfach nicht nur durch den Umfang des
Notebook-Einsatzes auszeichnet, sondern
dadurch, dass man sich als Leitfachlehrer
verstärkt mit methodisch-didaktischen Fragen beschäftigt und evaluiert, in welcher
Form der Notebook-Einsatz in der jeweiligen Fachdisziplin sinnvoll ist.
Da in Biologie und Erdkunde, unabhängig
davon, ob konventionell oder am Notebook
unterrichtet wird, viele Arbeitsblätter verteilt
werden, erklärt sich hieraus, dass das Notebook fast in allen Unterrichtstunden zum
Einsatz kam — wenn nicht in Form von
wirklich neuen Wegen wie Internet-Recherche, Nachschlagen in digitalen Atlanten
oder Lexika, dann als Heftersatz (vorgefertigte Arbeitsblätter ausfüllen oder Textmitschrift in Word). Herkömmliche Folien oder
Dias, die der Lehrer vorführt, wurden beispielsweise durch Powerpoint-Präsentationen ersetzt. Auch die Sprachen konnten
dadurch, dass zusätzlich zu neuen Methoden (auf die hier nicht näher eingegangen
wird) das Notebook statt Hefteinträge benutzt wird, einen hohen Einsatz verzeichnen. Da speziell in Algebra das Einüben
von Rechenfertigkeit eine große Rolle spielt
und dies weitgehend schriftlich an die Tafel
und ins Heft erfolgt, lässt sich hieraus
schon schließen, dass der Notebook-Einsatz in Mathematik maximal bei 60% liegen
kann, und das nur, wenn Geometrie fast
ausschließlich am Notebook erfolgt. Hierauf
wird noch eingegangen.
Weitere Herausforderungen an das Projekt
zeigten sich im Laufe des Schuljahres:
Eine vollständig vernetzte Schule, bei der
die Geräte permanent im Einsatz sind,
braucht ein noch besser strukturiertes, ausfallsichereres Netz und ein besseres Wartungskonzept; dies kann nicht mehr nebenbei von Lehrern erledigt werden. Auch wird,
wenn Leistungserhebungen am Notebook
stattfinden, eine Protokollierung nötig, damit
Unterschleif rekonstruierbar ist. Aufrüstungen im Serverbereich und Baumaßnahmen
sind nötig. Hier waren wir jetzt erfolgreich,
nach einer jetzt noch zu bewältigenden
Übergangszeit, wird im Laufe des nächsten
Jahres verstärkt externe Unterstützung gewährleistet.
Wenn der Unterricht weitgehend am Notebook stattfindet, muss man auch anstreben,
dass Prüfungen am Notebook geschrieben
werden dürfen. Der momentane Stand ist,
dass diese am Notebook gehalten werden
dürfen; die Einhaltung des Lehrplanes
muss jedoch gewährleistet sein.
Es wurden viele Kontakte geknüpft, einerseits um technische Rahmenbedingungen
zu verbessern, um Sponsoren zu gewinnen
bzw. zu erhalten. Andererseits bestehen in
den einzelnen Fächern inzwischen Kontakte zu verschiedenen Universitäten, um nun
stärker auf die methodisch-didaktischen
Fragen einzugehen.
Somit sind inzwischen die Rahmenbedingungen weitgehend geregelt, die Weiterführung des Projektes ist gewährleistet. Inzwischen gibt es eine weitere Notebook-Klasse; und insgesamt vier Klassenzimmer sind
als Notebook-Zimmer vorbereitet, und zwar
mit Computertischen und Festverkabelung.
Während im ersten Jahr die organisatorischen und technischen Fragen einen großen Zeitrahmen in Anspruch nahmen, können wir uns jetzt verstärkt den methodischdidaktischen Fragen widmen und das Projekt weiter ausbauen. In jedem Falle haben
die Schülerinnen und Schüler der 7. Jahrgangsstufe erreicht, dass sie sich Grundfertigkeiten am Computer im Laufe des ersten
Schuljahres quasi nebenbei erworben haben. Sie sind in jedem Falle den Schülern
der Parallelklassen in diesem Punkt weit
voraus.
Mathematikunterricht am Notebook
Am Anfang war noch keineswegs klar, ob
Prüfungen überhaupt am Notebook stattfinden dürfen; auch muss ein Schulwechsel
oder ein Wechsel in eine Nicht-NotebookKlasse im laufenden Schuljahre ohne Nachteile für den Schüler möglich sein.
Daher muss das Konzept so gewählt werden, dass wir trotz Beschreitung neuer Wege und Methoden uns an den Lernzielen
des im Moment noch sehr eng gefassten
bayerischen Lehrplanes orientieren und
diesen einhalten. Aus diesem Grunde wird
179
Claudia Hagan
Algebra weitgehend klassisch unterrichtet,
da gerade die Unterrichtsinhalte der 7.
Jahrgangsstufe Basiswissen für die weiteren Schuljahre darstellen. Ich erachte es als
unverantwortlich, hier zu früh Derive einzusetzen. Da ich als Leitfachlehrerkraft mich
um viel Notebook-Einsatz bemühen musste, fand Geometrie fast ausschließlich am
Notebook statt.
In den ersten sechs Wochen verwendete
ich das Notebook als Ergänzung zum konventionellen Unterricht. Mir ist klar, dass es
sich hier nicht um didaktischen Mehrwert
handelt, sondern Ziel war, dass die Schüler
schnell den Umgang mit dem Notebook und
dem Schulnetz erlernen; außerdem musste
ich diese Phase nutzen, um das Netz in
meinem Fach auszutesten, damit man
schnell merkt, wo Engpässe sind und Nachbesserungen nötig sind. So wurden Aufgabenblätter — statt diese konventionell zu
kopieren — über das schulinterne Netz zur
Verfügung gestellt. Teilweise wurden in Algebra-Einführungsstunden Word-Dokumente ausgeteilt, die zu ergänzen waren. Auch
wurde in dieser Phase manchmal spontan
der Taschenrechner auf dem Notebook genutzt sowie Mediothek, Internet oder Encarta als Nachschlagewerk benutzt.
Von Anfang an fand in Mathematik die Zusammenarbeit mit der Mathematik-Didaktik
der Uni Würzburg statt. Von Herrn Roth,
der dort seine Doktorarbeit schreibt, bekam
ich sowohl Materialien, als auch die Möglichkeit der fachdidaktischen Diskussion;
ferner übernahm er einige Unterrichtsstunden bzw. nahm an einigen meiner Stunden
teil. Aus Zeitgründen war es jedoch unmöglich, alle seine Anregungen im Unterricht
gleich im ersten Jahr umzusetzen und auszutesten. Wesentlicher Punkt war die Dynamik sowohl in Algebra, z.B. beim Termverständnis oder beim Variablenverständnis, als auch in der Geometrie. Hier ging es
dann um das dynamische Entdecken und
Begründen im Zugmodus sowie um die
Einhaltung der Dynamik beim Konstruieren.
Auch war die Frage von Bedeutung, ob die
Schüler, wenn sie ausschließlich am Notebook konstruiert haben, dann auch mit Zirkel und Lineal konstruieren können; dies
konnte jedoch im letzten Schuljahr nicht
mehr evaluiert werden.
In Algebra wurde gelegentlich Excel eingesetzt, z.B. bei Termwertberechnungen —;
hier zeigte sich jedoch, dass die Schüler
damit noch überfordert waren. Es ging zuviel Unterrichtszeit verloren, so dass dieser
Aspekt ins Computerpraktikum ausgelagert
180
wurde, damit sie erst mal mit dem Programm etwas vertrauter wurden. Das dynamische Termverständnis wurde an Hand
von Arbeitsblättern von Herrn Roth über
mehrere Unterrichtsstunden hinweg trainiert
und geprüft. Die Unterrichtsform war hierbei
Freiarbeit. Ferner wurden in Algebra gelegentlich Multiple-Choice Aufgaben aus dem
Internet zum Einüben von binomischen
Formeln und zum Faktorisieren von Termen
genutzt. Dies war methodisch eher als eine
Auflockerung in dieser doch recht langwierigen und manchmal langweiligen Übungsphase gedacht. Hier könnte man genauer
untersuchen, ob es den schwächeren
Schülern, die mit dem Faktorisieren noch
nicht selbstständig klar kommen, beim Verständnis hilft, wenn sie den Zwischenschritt
nehmen können, aus einer Auswahl von
Antworten die richtige zu finden und erst in
einer zweiten Phase selbstständig rechnen
müssen.
In Geometrie ist im derzeitig gültigen Lehrplan neben dem Entdecken vieler Gesetzmäßigkeit ein wesentliches Lernziel das
Konstruieren, d.h. das handwerkliche Umgehen mit Zirkel und Lineal. Um diesem
Lernziel, über das wir auch fachschaftsintern diskutierten, gerecht zu werden, habe
ich die Schüler zwar nicht auf dem Papier,
aber sehr viel am Notebook konstruieren
lassen, d.h. ohne in DynaGeo Makros zu
verwenden. Es war klar, dass Stegreifaufgaben in Geometrie am Notebook stattfinden. Die letzte Schulaufgabe durfte dann
am Notebook gehalten werden, so dass wir
beim Konstruieren in DynaGeo bleiben
konnten.
Das Kapitel „Grundbegriffe der Geometrie“
unterrichtete ich konventionell, parallel fand
in dieser Phase im Computerpraktikum die
Einführung in DynaGeo statt, so dass die
Schüler mit dem Programm vertraut wurden. Die Sequenz „Winkelsätze am Dreieck, Viereck und n-Eck“ erfolgte unter Verwendung vorgefertigter Materialien von
Herrn Roth ausschließlich dynamisch am
Notebook, teilweise im Frontalunterricht
(d.h. nur der Lehrer arbeitet am Notebook,
die Schüler denken mit und füllen ihre Arbeitsblätter handschriftlich aus) und teilweise in Freiarbeit. Es handelt sich also um eine Sequenz, die wir auch in einer „NichtNotebook-Klasse“ durchführen können. Die
Erfahrung zeigte jedoch, dass in der Notebook-Klasse, in der die Schüler mit dem
Programm und dem Gerät vertraut sind und
wo sich nicht zwei Schüler einen Rechner
teilen müssen, viel effektiver und zügiger
gearbeitet wird.
AG „Geometrie am Notebook in der 7. Jahrgangsstufe“
Winkelübertragung und Parallelenkonstruktion erfolgte ausschließlich in DynaGeo.
Hierbei stellte sich die didaktische Frage,
ob man den Unterschied Zeichnen – Konstruieren begreifen kann, wenn man nie
physikalisch einen Zirkel zum Konstruieren
in der Hand gehabt hat; dies müsste man
— sofern es überhaupt noch von Bedeutung ist im neuen Lehrplan — untersuchen.
Es zeigt sich hier bereits, dass man mehr
Zeit braucht und viel genauer arbeiten
muss, wenn man in DynaGeo konstruiert,
als mit Zirkel und Lineal (Vergleich mit der
Parallelklasse). Über die Parallelenkonstruktion wurde eine Stegreifaufgabe am
Notebook gehalten. Hier wurde dann auch
das Konzept im Leitfachteam erarbeitet,
worauf man achten muss bei Leistungserhebungen am Rechner (Einsammelvorgang, Austeilen, Datensicherung ...); hierauf kann jedoch jetzt nicht genauer eingegangen werden. Auch hier zeigte sich, dass
das Korrigieren am Notebook aufwändig ist
bzw. dass man auch hier noch Wege finden
muss, dies professioneller zu bewältigen.
Hier werden wir versuchen, weitere Erfahrungen zu gewinnen; langfristig muss dieses Thema sicher auch in die Lehrerausbildung im Seminar oder in die Lehrerfortbildung einfließen.
Die Konstruktionen zur „Achsenspiegelung,
Mehrfachspiegelungen, besondere Linien
im Dreieck“ erfolgen ausschließlich in DynaGeo ohne Verwendung von Makros, um
den Aspekt des Konstruierens zu betonen.
Bei allen Konstruktionen wird weitgehend
auf Dynamik geachtet. Manchmal ist es, um
eine Überforderung der Schüler zu vermeiden, nötig, bei der ersten Konstruktion Abstriche bezüglich der Dynamik zu machen.
Hierzu ein Beispiel: Bei der Konstruktion
des Höhenschnittpunktes kann man den
Fall, dass der Höhenschnittpunkt außerhalb
des Dreiecks liegt und man daher mit Geraden statt mit Strecken arbeiten muss, zuerst außer Acht lassen und dann durch den
Zugmodus die Schüler hierauf stoßen. Später kann man eine verbesserte Konstruktion
mit den Schülern durchführen oder diesen
eine austeilen und den Unterschied erkennen lassen. Bei der Konstruktion der Innenwinkelhalbierenden im Dreieck ist uns die
Dynamik nicht in dem Maße gelungen; es
traten Sprungstellen auf. Es fällt auf, dass
die Schüler gezwungen sind, sehr genau zu
arbeiten, und dass viel mehr Zeit für das
Konstruieren benötigt wird als auf dem Papier. Auch hätte man von Anfang an stärker
auf Konventionen achten müssen, etwa gegebene Größen in einer bestimmten Farbe,
genaue Beschriftung aller Objekte, um
mehr Übersichtlichkeit zu erlangen, Ausblenden oder Linien gestrichelt zeichnen...
Dies ist besonders im Zusammenhang mit
Leistungserhebungen von Bedeutung.
Beim Thema „Punktspiegelung, Drehung
etc.“ wählte ich den Weg über „die Verkettung von Spiegelungen“. Hier zeigte sich,
dass viele Schüler beim Konstruieren am
Notebook überfordert waren. Die Aufgabenstellung wurde meist analog einem
Hefteintrag in einem Word-Dokument notiert oder als fertiges Arbeitsblatt ausgeteilt.
Lösungsideen wurden meist umgangssprachlich in der Textbox in DynaGeo notiert. Auf die formale Konstruktionsbeschreibung wurde aus Zeitgründen in dieser Phase verzichtet. Die Idee, dass das Lesen des
Konstruktionstextes, der in DynaGeo mitgeloggt wird, die Konstruktionsbeschreibung
ersetzen könnte, erwies sich als Überforderung der Schüler; zumindest hätte man
hierfür weitere Unterrichtszeit investieren
und dies thematisieren und vertieft üben
müssen.
Angeregt durch ein Gespräch mit den Klassenelternsprechern, die besorgt waren, weil
sie als Eltern nicht kontrollieren können, ob
ihre Kinder klar kommen, bzw. wussten,
dass ihre Kinder nicht so recht wissen, wie
sie vorzugehen haben beim Konstruieren,
habe ich dann einige Wochen vor der
Schulaufgabe wesentliche Grundaufgaben
nochmals mit Konstruktionshilfen und Hinweisen als Musterlösungen konzipiert und
konstruiert, so dass die Schüler hier genügend üben konnten und mehr Sicherheit
gewonnen haben.
Die letzte Mathematikschulaufgabe enthielt
eine Algebraaufgabe, die auf dem Papier
zu lösen war; die drei Geometrieaufgaben
waren mit DynaGeo zu bearbeiten. Durch
die Wiederholungsaufgaben waren die
Schüler auf eine der drei Geometrieaufgaben genau vorbereitet; es war bekannt,
dass es eine Aufgabe geben wird, die einer
dieser Wiederholungsaufgaben entspricht
und abprüft, ob bereits genau Bekanntes
umgesetzt werden kann. Da es sich um die
erste Schulaufgabe in Mathematik am
Notebook handelte, erfolgte die Aufgabenstellung und die Korrektur bei Grenzfällen
eher wohlwollend. Es läuft noch keine Protokollierungssoftware, daher zwei Aufsichten, Doppelstunde, damit hinterher Zeit für
die Datensicherung ist, vorher für das Austeilen der Aufgaben ... Beim Korrigieren von
einer Schulaufgabe zeigte sich, was sich
bei der Stegreifaufgabe bereits andeutete:
181
Claudia Hagan
Es ist wesentlich aufwändiger als auf dem
Papier. Auch traten ein paar Bugs im Programm auf, etwa dass das Log-File bei einer umständlichen Konstruktion nicht mehr
da war. Ich stellte außerdem fest, dass sich
ausgeblendete Linien nicht auf einmal wieder einblenden lassen, sondern man alle
einzeln einblenden muss — ein erheblicher
Zeitaufwand. Letzteres soll jedoch bei der
nächsten Version von DynaGeo mit berücksichtigt werden.
Lösungsansätze und Ideen
Dass das Konstruieren mit einem DGS,
wenn man wirklich jeden einzelnen Schritt
genau wie auf dem Papier durchführt, wesentlich aufwändiger ist, wird von den Fachdidaktikern und Mathematikern bestätigt.
So werden viel mehr Linien gezeichnet, etwa ganze Kreise und nicht nur ein Kreisbogen. Dadurch ist es unübersichtlicher, wenn
man die Linien eingeblendet lässt. Blendet
man sie aus, ist der Konstruktionsgang aus
Schülersicht nicht so leicht nachvollziehbar;
Werkzeuge wie Rückblende verlieren einen
Teil ihrer Mächtigkeit. Daher ist es methodisch nicht sinnvoll, alles am Notebook zu
konstruieren. Ferner ist es auch mathematisch nicht sinnvoll, den Anspruch auf Dynamik zu haben, aber ohne Makros zu konstruieren, hier sei etwa das Beispiel der
springenden Winkelhalbierenden erwähnt.
Achtet man bei allen Konstruktionen auf
Dynamik, so betrachtet man nicht ein Objekt, sondern eine ganze Klasse von Objekten. Dies erfordert wesentlich mehr geistige
Wendigkeit; der Schüler muss sich gleichzeitig in viel mehr Aspekte hineindenken.
Zum einen wird er mit einem neuen Lerninhalt konfrontiert, oft auch mit neuen Begriffen, er kämpft mit der Durchführung der
Konstruktion und muss noch abstrahieren,
damit die Lösung auch dynamisch stimmt.
Man sollte daher die Verwendung des DGS
zum Entdecken von Sachverhalten auf dynamischer Basis trennen vom Konstruieren.
Eine Weg ist, DynaGeo an Hand vorgefertigter Arbeitsblätter (z.B. die CDs von Herrn
Elschenbroich) zu nutzen, um neue Lerninhalte zu erarbeiten und die Schüler entdeckend Ergebnisse gewinnen zu lassen;
hierbei wird dynamisch gearbeitet. Konstruktionen können klassisch mit Zirkel und
Lineal ausgeführt werden, die dynamische
Sicht bei entdeckenden Aufgaben wirkt sich
auch positiv auf das klassische Konstruieren aus. Das Notebook kann dabei exemplarisch eingesetzt werden; hierbei wird die
182
Genauigkeit geschult; der größere Zeitaufwand kann bei exemplarischem Einsatz akzeptiert werden und wirkt sich unter Umständen positiv auf das Verständnis aus. Es
kann beim erstmaligen Konstruieren von
der Dynamik Abstand genommen werden
und die Konstruktion an einem Objekt mit
bestimmten festdefinierten Maßen durchgeführt werden; auch ist es möglich, nur teilweise dynamisch zu arbeiten. Anschließend
kann man durch Anwenden des Zugmodus
auf das Problem eingehen, dass eine Konstruktion nicht dynamisch ist. Der Lehrer
kann den Schülern eine verbesserte Konstruktion unter Verwendung von Makros
vorlegen oder diese mit den Schülern
durchführen. Hier ist dann die Dynamik erkennbar, und es lässt sich vielleicht sogar
das Denken in Modulen schulen, wenn
nicht mehr jeder einzelne Schritt durchzuführen ist. Das Log-File in DynaGeo ist
dann auch für Schüler leichter zu lesen und
der Gedankengang der Lösungsschritte erkennbar.
Ferner bleibt zu hoffen, dass der neue
Lehrplan mehr Freiraum lässt, so dass er
sich einerseits einhalten lässt, andererseits
sich aber auch Schwerpunkte geeignet setzen lassen und damit in Zukunft mehr Zeit
bleibt, neue Lernformen auszuprobieren.
Herr Gawlick hat sich die Mühe gemacht,
die Aspekte, die für ihn am interessantesten
waren, zusammen zu fassen. Dieses möchte ich nun zitieren:
„C. Hagan berichtet über den GeometrieUnterricht auf Notebook-Basis in Klasse 7.
Gemäß dem bayerischen Lehrplan stand
dabei das Konstruieren von Figuren und
Kongruenzabbildungen im Vordergrund.
Dabei wurde aus Kompatibilitätsgründen
darauf geachtet, dass die selben Aufgaben
wie mit Papier und Bleistift behandelt werden. Gerade dadurch wurde aber deutlich,
dass das dynamische Konstruieren nichtsdestoweniger seine eigenen Schwierigkeiten mit sich bringt: Während man etwa den
Radius von Hilfskreisen auf dem Papier so
wählen kann, dass er nach Augenmaß
passt, ist es bei dynamischen Konstruktionen vonnöten, ihn so auf die Basiselemente
der Konstruktion abzustimmen, dass die
Konstruktion zugfest bleibt. Und auf Papier
äquivalente Konstruktionen verhalten sich
diesbezüglich beim Verziehen durchaus unterschiedlich: Wählt man etwa in der klassischen Dreikreiskonstruktion der Winkelhalbierenden alle Kreise gleich groß, springt
diese Konstruktion bei deterministischen
DGS, sobald der Winkel überstumpf wird.
AG „Geometrie am Notebook in der 7. Jahrgangsstufe“
Wählt man dagegen den Radius des zweiten und dritten Kreises doppelt so groß, tritt
dies erst ein, wenn es mathematisch unvermeidlich ist, nämlich sobald der Vollwinkel überschritten und wieder mit dem Nullwinkel begonnen wird. Darüber hinaus erweisen sich in der unterrichtlichen Behandlung des Standardstoffes auch einige der
üblichen statischen Elementarisierungstechniken (wie etwas das Arbeiten mit
Strahlen statt mit Geraden, um Schnittpunkte und Winkelfelder eindeutig zu machen) in
der dynamischen Geometrie als nicht mehr
tragfähig.
Dass diese Phänomene in einem Unterricht
gemäß der curricularen Vorgaben auftraten,
zeigt, dass der Begriff der dynamischen
Konstruktion präzisiert werden muss. Entsprechende Anpassungen von Lehrplänen
und Schulbüchern sind notwendig, um die
bei der Dynamisierung des Standardcurriculums auftretendenden Schwierigkeiten zu
umschiffen.“
Schlussbemerkung
Am Ende bleibt die Frage „Was war die
Message?“
Hier lässt sich sagen, dass wir bei unserem
Notebook-Projekt zwar anfangs noch kein
ausgereiftes methodisch-didaktisches Konzept hatten (es noch immer nur in kleinen
Ansätzen haben), da wir auf sehr vielen
Ebenen parallel tätig waren, um das Projekt
überhaupt starten und durchziehen zu können. Ich denke, es hat sich gelohnt! Man
kann andere Schulen nur ermutigen, sich in
Neuland zu wagen, neue Wege zu beschreiten, ohne darauf zu warten, bis alles
schon komplett durchdacht und überlegt ist;
eine gewisse Spontaneität, Kreativität und
Flexibilität im Unterricht ist für alle Beteiligten eine Bereicherung. Bei der technischen
Realisierung empfehle ich, in der ersten
Phase gewisse Abstriche ähnlich wie bei
der methodisch-didaktischen Konzeption zu
machen; hier hatten wir uns arbeitsmäßig
zu viel aufgebürdet. Den technischen Bereich sehe ich als den problematischsten;
langfristig werden derartige Projekte und
sinnvoller Computereinsatz im Unterricht im
großen Rahmen nur möglich sein, wenn im
technischen Sektor ein Outsourcing stattfindet. Wir hoffen, durch unser Engagement
mit dahin gewirkt zu haben, dass sich diese
Erkenntnis bei den Entscheidungsträgern
durchsetzt.
Die Gespräche in der Arbeitsgruppe sowie
zahlreiche informelle Unterhaltungen haben
gezeigt, wie wichtig und bereichernd es
sein kann, wenn Leute unterschiedlicher
Richtung zusammenarbeiten — ohne Überheblichkeit, sondern offen und ehrlich. Lehrer stehen im Alltag, für methodisch-didaktische Überlegungen bleibt meist nur in exemplarisch vorbereiteten Unterrichtsstunden Zeit. Will man aber die gesamte Unterrichtsmethode umstellen, etwa auf mehr
Computereinsatz, so ist es unmöglich, jede
Stunde selber zu planen und zu durchdenken. Hier bedarf es — wie sich in der Arbeitsgruppe gezeigt hat — Hilfestellungen
sowohl von Didaktikern, als auch von Programm- und Medien-Entwicklern. Umgekehrt bin ich überzeugt, dass auch die Anregungen aus der Praxis positiv in die Universitäten, die ja die zukünftigen Lehrer
ausbilden, einfließen werden.
183
PISA und Neue Technologien ∗
z
Anselm Lambert, Saarbrücken
Klar ist: der heutige Mathematikunterricht, aufgepeppt mit Neuen Technologien, ist nicht
die Lösung der uns und allen von der PISA-Studie vor Augen geführten Probleme. Dennoch können Neue Technologien einen wertvollen Beitrag leisten, die uns gestellten Aufgaben zu meistern. Kurzfristig wirkende Lösungen sind nicht zu erwarten.
In Variation über ein bekanntes Zitat lässt
sich gerade im Zusammenhang mit Neuen
Technologien sehr gut beginnen mit: „PISA
zwingt uns zum Nachdenken über Dinge,
über die wir auch ohne PISA schon längst
hätten nachdenken müssen“, und wir können ergänzen: „und auch nachgedacht haben“. So ist der vorliegende Beitrag der AG
„PISA und Neue Technologien“ zu verstehen gemäß eines Spiralprinzips didaktischen Mahnens: wiederholen, vertiefen,
weiterentwickeln. Das meiste des hier Gebotenen ist weit bekannt, was es aber leider
nicht überflüssig macht, erneut darauf hinzuweisen.
Im internationalen PISA-Test schnitten die
deutschen Schülerinnen und Schüler bekanntlich knapp unter mittelmäßig ab. Sie
waren auf die ihnen dort gestellten Probleme nicht hinreichend durch ihren alltäglichen Mathematikunterricht und die von ihnen dort zu bearbeitenden Aufgaben vorbereitet. Die in den internationalen PISA-Aufgaben abgebildete Aufgabenkultur zeichnet
eben gerade kein Bild der deutschen Aufgabenkulturpraxis, auch wenn diese PISAAufgaben ein treffendes Bild eines von Vielen mitgeträumten Aufgabenkulturwunsches
abgeben und die in der PISA-Studie formulierten Ziele mathematischer Grundbildung
sicher von den meisten Lehrkräften bereitwillig und mit innerer Überzeugung unterschrieben würden. Eines der dort formulierten Ziele ist das auf Freudenthal zurückgehende „Mathematik als Sprache zur Beschreibung der Phänomene in unserer
Wirklichkeit“ einsetzen zu können. Was
heißt das für den Mathematikunterricht, der
darauf vorbereiten soll? Das heißt: Es müssen bewusst vollständige Modellbildungsprozesse ( ||: Modellieren, Mathematisieren,
Kalkulieren, Interpretieren, Validieren :|| )
durchlaufen werden; wir müssen weg von
einer Betonung der Kalküle und ihres Einschleifens. Sicher tragen Kalkülfertigkeiten
und die daraus resultierenden Fähigkeiten
ihren Teil zu gelingenden mathematischen
Prozessen bei: Kalküle befreien zum Denken. Aber das Rattern von Tonleitern und
das sequenzielle Abarbeiten kleiner Fingerübungen machen noch keinen Pianisten.
Mathematiker sagen hier: Es ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung.
Neue Technologien begünstigen komplexe,
wirklichkeitsnähere, weniger reduktionistische Aufgaben: Computeralgebrasysteme
ermöglichen Kalkulationen, die händisch
unüberschaubar wären; Tabellenkalkulationen ermöglichen strukturiertes Verarbeiten
sonst zu großer Datenmengen. So können
auch anwendungsbezogene Aufgaben mit
wirklichkeitsnäherem Material durchgeführt
werden. Wirklichkeitsnähe heißt auch, dass
die Wahl des geeigneten Werkzeugs mit
zur Modellierung und Mathematisierung
gehört. Wir dürfen hier nicht in die gleiche
Schubladenpraxis verfallen, die wir im klassisch fehllaufenden Mathematikunterricht
bedauern. Also nicht: jetzt machen wir Tabellenkalkulation und dann ein paar Aufgaben damit, ein andermal Computeralgebrasysteme und dann einige Aufgaben damit
usw. usf. Eben gerade nicht „usw. usf.“ Wir
sollten bekanntlich aus Fehlern lernen, um
uns empor zu irren. So wie Schülerinnen
und Schüler in unserer Zielvorstellung, verwirklicht durch ein Spiralprinzip, die ihnen
nahegebrachte Mathematik im Ganzen nutzen, also die geeigneten mathematischen
Methoden selbst bestimmen, sollten sie die
Neuen Werkzeuge im Ganzen nutzen, als
Teil der Modellbildung das geeignete Werkzeug selbst bestimmen.
∗ Teilnehmende der AG „PISA und Neue Technologien“ unter der Leitung von Rolf Neveling: Andreas Büchter, Heinz Laakmann,
Anselm Lambert, Holger Lang, Timo Leuders, Dorothee Maczey, Rolf Neveling, Mareike Oberthür, Reinhard Oldenburg, Uwe Peters, Michael Schneider, Hans-Dieter Stenten-Langenbach, Jens Weitendorf
184
AG „PISA und Neue Technologien“
Neue Technologien als integriertes Werkzeug begünstigen offene Aufgaben. Offene
Aufgaben gerade auch mit Neuen Technologien vergrößern die Unterrichtsformenvielfalt: expositorischer Frontalunterricht,
dessen Dominanz im Alltag ein echtes Defizit ist, ist nicht mehr so leicht möglich. Im
Unterricht sind alle Beteiligten zu mehr
Kommunikation, zu Verständigung und Kooperation (ein wichtiges Ziel von Allgemeinbildung) gezwungen, einerseits unter
den Schülerinnen und Schülern, andererseits zwischen Lernenden und Lehrkraft.
Aber auch für die Kommunikation unter
Lehrerinnen und Lehrern bergen die Neuen
Technologien das Potenzial zum Aufbrechen verkrusteter Strukturen. Die Veränderung des Mathematikunterrichts vollzieht
sich unter dem Eindruck Neuer Technologien so schnell, dass einzelkämpferische
Selbstfortbildung schnell an natürliche
Grenzen stößt. Hier müssen die einzelnen
Lehrkräfte sich im Alltag im Erfahrung-Sammeln und -Auswerten gegenseitig unterstützen und ergänzen. Darüber hinaus benötigen sie eine substanzielle Unterstützung von außen durch Fortbildungsmaßnahmen als Reflexionsebenen. Diese Fortbildungen sollten vor Ort in den Schulen
stattfinden.
Wir sollten uns immer wieder das Spiralprinzip als tragfähiges Grundgerüst didaktischen Handelns in Erinnerung rufen, als
Hilfe gegen Schubladisierung und Vergessen. Die Mathematik der Sekundarstufe I ist
zu sehr auf die Vorbereitung der Mathematik in Sekundarstufe II fixiert, die wiederum
zur Uni schielt. Wir müssen den eigenen
unabhängigen Wert der zu vermittelnden
Inhalte (wieder) weiter herausstellen. „Spiralprinzip“ sollte ja gerade nicht heißen,
dass wir jetzt etwas machen, weil wir es
später mal brauchen, sondern dass wir jetzt
etwas Fundamentales machen, das wir
später erneut aufgreifen und weiter vertiefen. So dürfen wir etwa Termumformungen
nicht deshalb unterrichten, weil wir sie ein
paar Jahre später in den Kurvendiskussionen benötigen, sondern weil sie von eigenem Wert sein können. Welchem eigentlich
in Anbetracht von CAS? Erinnern wir uns
also auch an die nach wie vor unbeantwortete und heute mehr denn je drängende
Frage danach, wie viel Termumformung der
Mensch den eigentlich benötige? Die verstärkte Wiederbesinnung auf das Spiralprinzip benötigt keine Veränderung der
Lehrpläne oder Rahmenrichtlinien, es müssen nur die Schwerpunkte wieder zurechtgerückt werden.
Schulbücher sind eine wichtige Stütze im
Alltag. Mit Freude ist festzustellen, dass
aus einigen Werken vom breiten Einzug offener Aufgaben zu berichten ist. So können
Schulbücher als täglicher Anreiz zum Umdenken dienen. Neue Technologien sollten
stärker im Verbund mit konkreten Unterrichtsmaterialien zur Verfügung stehen.
Schulbücher sollten als wichtige Logistikzentrale der tagtäglichen Unterrichtsgestaltung konkrete Beispiele sinnvollen Einsatzes Neuer Technologien bereithalten. Wegen der Schnelllebigkeit der Entwicklung ist
dies auf ständig aktualisierten Ergänzungsseiten zum Schulbuch im Internet wünschenswert.
Ein wichtiges Resultat der PISA-Studie ist
die Feststellung, dass es deutschen Schülerinnen und Schülern häufig an der Fähigkeit (an innerer Bereitschaft, an fachlicher
Kompetenz und an Kreativität) fehlt, sich
ihnen unbekannten Problemen zu stellen.
Mit der Antarktisaufgabe aus PISA können
wir leicht die Beobachtung machen, dass
sie von Schülerinnen und Schülern eines
sechsten Schuljahres bereitwilliger angegangen wird, als von Schülerinnen und
Schülern eines neunten Schuljahres, die
nicht mehr so recht wissen, welches der in
der Schule gelehrten Verfahren sie denn
hier nun abrufen und abrechnen sollen.
Dies ist ein Problem, das wir nicht allein mit
Neuen Technologien lösen, sondern nur mit
einer insgesamt veränderten Unterrichtsund speziell Aufgabenkultur, zu der dann
allerdings Neue Technologien wie oben
skizziert ihren spezifischen Beitrag leisten
können.
LLP können zur Behebung individueller Defizite und somit zur Absicherung von Standards sinnvoll eingesetzt werden, ebenso
zur inneren Differenzierung in einzelnen
Unterrichtsphasen, aber sie können nicht
generell den Unterricht ersetzen.
Neue Technologien können — richtig eingesetzt — ihren Beitrag zu einer Verbesserung des Mathematikunterrichts leisten; sie
sind aber (ebenso wenig wie ein Wildwuchs
zentraler Prüfungen) nicht die Lösung all
unserer von PISA aufgezeigten Probleme.
Ziel einer allgemeinbildenden Schule und
damit auch ihres Mathematikunterrichts ist
(um eine häufig in Vergessenheit zu geraten drohende Trivialität zu bemühen) Allgemeinbildung. Mathematik als sachliche
Sprache ist allgemeinbildend. Mathematik
ist ein wichtiger und unverzichtbarer
Schlüssel zum Verständnis der Welt. Die
185
Anselm Lambert
Sprache „Mathematik“ beschreibt Welt und
schreibt uns Welt vor. Mathematik tritt in
den in ihr formulierten Modellen deskriptiv
und normativ zu Tage. Auch das müssen
die Schülerinnen und Schüler erfahren und
erleben. Dort, wo Neue Technologien dieses unterstützen, leisten sie ihren Beitrag
zu unserem allgemeinbildenden Unterricht.
So können heute auch Inhalte wie Bevölkerungsentwicklung und Zuwanderung oder
Häuserkauf und Bankkredite oder Steuersätze und Staatsschulden im Mathematikunterricht thematisiert werden. Solche Themen waren früher zu komplex, da sie die
Möglichkeiten händischer Bearbeitung weit
überschritten. Solche Themen sind aber in
der Lage, die Bedeutung von Mathematik
186
als sachlicher Sprache in deskriptiven Modellen zum Diskutieren wichtiger Probleme
oder die Bedeutung von Mathematik als
Wirklichkeitserzeuger mittels normativer
Modelle klar zu machen. Wir können auf
diesem Wege im Mathematikunterricht zur
Mündigkeit erziehen und den Lernenden
den Weg zur gestaltenden, konstruktiven,
engagierten und reflektierenden Teilnahme
und Teilhabe an der Gesellschaft eröffnen.
Ein wichtiges Ziel eines allgemeinbildenden
Mathematikunterrichts ist, seinen Beitrag
zum „Verstehen der Welt“ zu leisten. Die
Erinnerung an Mathematik, als der nicht enden wollende Versuch, Vernunft in die Welt
zu bringen, lässt diesen Beitrag in Variation
über ein bekanntes Zitat enden.
z
Computerunterstützter Mathematikunterricht in der
Lehreraus- und -fortbildung ∗
Hubert Weller, Lahnau
Wer mit der Ausbildung von jungen Lehrern zu tun hat, weiß, dass diese zunächst einmal
das Skript von Unterricht fortführen, das sie selbst erlebt haben. Das ist in der Regel lehrerzentrierter Frontalunterricht mit vielen Papier-und-Bleistift-Aktivitäten. Der Einsatz von
Computerprogrammen wird häufig wegen organisatorischer Probleme, oder weil das für
Schüler „zu schwer“ ist, überhaupt nicht in Betracht gezogen. Auf der anderen Seite wissen wir, dass der angemessene Einsatz von Computern im Mathematikunterricht ein Katalysator für einen schüleraktiven Unterricht sein kann.
Wie können wir den jungen Lehrern eigene Erfahrungen im Einsatz von Computern im
Unterricht vermitteln?
1
Unterstützung durch die
Kultusministerien
Von offizieller Seite wird die Integration der
Medien in den Unterricht inzwischen nicht
nur unterstützt, sondern sogar ausdrücklich
gefordert. Beispiele für diese Initiativen sind
e-nitiative in Nordrhein-Westfalen, n21 in
Niedersachsen oder schule@zukunft in
Hessen. Dabei ist zu beobachten, dass in
den Schulen nicht nur die Einrichtung von
PC-Räumen gefördert wird, die vielleicht
sporadisch im Unterricht genutzt werden
können, sondern „in weiterführenden Schulen sind für die Aufgaben der Medienerziehung Computer und ein Internetzugang
auch in den einzelnen Klassenräumen sinnvoll.“ Die Entwicklung wird also in Zukunft
dahin gehen, dass die neuen Technologien
in jedem Klassenraum ständig verfügbar
sein werden. Die Lehrerinnen und Lehrer
müssen Kompetenzen erwerben, die einen
sinnvollen Einsatz im Unterricht ermöglichen. „Diese Kenntnisse können aber nur
dann im Unterricht wirksam werden, wenn
sie Bestandteil der didaktischen Kompetenz
der Lehrerinnen und Lehrer im Fachunterricht werden.“ Aber welche Kompetenzen
müssen von den Lehrenden entwickelt werden? Diese Frage lässt sich nur beantworten im Zusammenhang mit der Frage: „Welche grundlegenden Inhalte lernen Schüler
in der Zukunft mit Hilfe welcher Medien in
welchen Organisationsformen?“
2
Die Arbeit in der Schule
Wenn Schülerinnen und Schüler angeboten
wird, mit neuen Werkzeugen zu arbeiten,
dann nehmen sie das in der Regel gut an.
Insbesondere müssen sie die Möglichkeit
haben, selbst zu entscheiden, welches
Werkzeug sie für eine bestimmte Problemstellung nutzen wollen. Eine anfangs beobachtbare Neugier („was kann ich denn alles
noch so machen?“) weicht bald einer sachlichen zielgerichteten Nutzung des Werkzeugs zur Bearbeitung eines Problems. Der
Unterricht wird in der Regel anspruchsvoller
(„früher haben wir mehr gerechnet, heute
reden wir mehr über Mathematik“), die Phasen lehrerzentrierten Unterrichts müssen
zugunsten von selbstständigem Arbeiten
der Schülerinnen und Schüler reduziert
werden. Kalkülfertigkeiten verlieren an Bedeutung, Grundlagen werden wichtiger, insbesondere die Möglichkeit des Experimentierens und realitätsorientierte Fragestellungen machen den Unterricht interessanter.
Ein wichtiger Punkt ist aber die ständige
Verfügbarkeit der Werkzeuge: die Schülerinnen und Schüler müssen bei der Arbeit in
der Schule und zu Hause, bei Klassenarbeiten und auch im Abitur das Werkzeug
zur Verfügung haben. Hier ist ein wesentlicher Punkt: jeder Lehrer kennt die organisatorischen Schwierigkeiten, wenn der
schuleigene PC-Raum genutzt werden soll!
Ist der Raum auch frei? Wenn ich ihn dann
nutzen kann, dann sollen die Rechner aber
auch intensiv, d.h. die ganze Stunde einge-
∗ Teilnehmende der AG „Computerunterstützter Mathematikunterricht in der Lehreraus- und -fortbildung“ unter der Leitung von H. Weller: D. Aßmus, A. Filler, D. Haftendorn, G. Heintz, P. Kirsche, I. Lehmann, E. Malitte, H. Müller-Sommer,
K. Richter, G. v. Saint-George, W. Schulz, S. Stachniss-Carp, K. Tschacher, P. Ullrich, K. P. Wolff
187
Hubert Weller
setzt werden. Oft steht die Einrichtung der
PC-Räume einem Unterricht ohne PC-Einsatz entgegen. Welcher Lehrer hat schon
die Möglichkeit, seinen gesamten Mathematikunterricht in einem Raum mit PCs
zu organisieren? So kann man auch verstehen, warum bei Lehrern die Zustimmung
zu neuen Medien nicht zwangsläufig die
persönliche Bereitschaft zur intensiven Nutzung nach sich zieht.
hältnissen in der Ausbildungsschule in hohem Maße abhängig. Wird der Einsatz
neuer Technologie von der MathematikFachkonferenz unterstützt, dann sind die
Voraussetzungen erheblich besser als an
einer Schule, in der ein Referendar als „Einzelkämpfer“ den Unterricht mit neuen Technologien organisieren möchte.
4
3
Lehrerausbildung
Es ist schon erstaunlich, wie viele Lehramtstudenten in den ersten Semestern noch
nie etwas von Computer-Algebra-Systemen
und Dynamische-Geometrie-Software gehört haben. Diese Studenten müssen die
Gelegenheit haben, eigene Erfahrungen mit
diesen Programmen zu sammeln. Diese
darf natürlich nicht beschränkt sein auf das
Erlernen der Bedienung, sondern muss von
Anfang an orientiert sein an der Bearbeitung interessanter mathematischer Problemstellungen. Je mehr Werkzeuge zur
Verfügung stehen, desto differenzierter
kann ein Problem auf unterschiedlichen
Ebenen bearbeitet werden.
Hier ist es sicher wünschenswert, dass in
der Lehrerausbildung an der Hochschule
verstärkt mit neuen Werkzeugen gearbeitet
wird. Darüber hinaus habe ich die Erfahrung gemacht, dass Studenten einem Einsatz in der Schule zunächst sehr skeptisch
gegenüber stehen, auch wenn sie selber
gerne damit gearbeitet haben. Erst wenn
sie z.B. während eines Schulpraktikums erfahren konnten, wie ein Unterricht mit dem
Einsatz von CAS organisiert werden kann
und wie die Schüler selbstständig mit diesen Werkzeugen umgehen, sind sie überzeugt von der Sinnhaftigkeit eines solchen
Unterrichts.
Im Referendariat sind momentan die Verhältnisse ähnlich: die meisten Referendare
haben noch nie mit CAS oder DGS selbst
gearbeitet; einen Unterricht, in dem Schüler
neue Werkzeuge nutzen konnten, haben
sie in den seltensten Fällen „live“ erlebt. Die
Forderung nach Integration der neuen Medien in die Seminararbeit wird jetzt allmählich umgesetzt. Hier ist aber der zeitliche
Rahmen sehr eng, die didaktisch-methodische Vorbereitung der Unterrichtstätigkeit
steht im Zentrum der Ausbildung. Bei der
Umsetzung von Unterrichtsideen, die neue
Werkzeuge nutzen, ist aber jede Referendarin und jeder Referendar von den Ver-
188
Lehrerfortbildung
Wer engagiert in der Lehrerfortbildung arbeitet, weiß, dass Veränderungen nur sehr
mühsam erreicht werden können, so dass
man manchmal tatsächlich das Gefühl haben kann, dass die Wirkung der Fortbildung
die gleiche ist wie die eines Tropfens auf
einen heißen Stein. Erfreulich ist aber die
Tatsache, dass zunehmend ganze Fachkonferenzen Fortbildungsbedarf anmelden.
Ein landesweites Konzept, wie es etwa im
SINUS-Programm oder bei Methodenfortbildung umgesetzt wird, ist für die Nutzung
neuer Werkzeuge im Mathematikunterricht
jedoch — zumindest in Hessen — nicht in
Sicht. „Da von den neuen Lehr- und Lernmedien nur geringe eigene Innovationskräfte erwartet werden, wird deren curriculare
Verankerung gewünscht.“ Vielleicht kann
auf diese Art und Weise „die Fortbildungsbereitschaft der Lehrerinnen und Lehrer
stimuliert werden“, wie es derzeit in BadenWürttemberg oder Sachsen der Fall ist.
Dort wird die Nutzung eines graphikfähigen
Taschenrechners verbindlich vorgeschrieben.
5
Fazit
In den Diskussionen in der Arbeitsgruppe
wurden die folgenden Anregungen, Forderungen bzw. Fragen festgehalten:
• Eine eigene Veranstaltung „Computer
im Mathematikunterricht“, wie sie an
verschiedenen Hochschulen angeboten
wird, muss langfristig überflüssig werden. Wünschenswert ist die Nutzung
und die Reflexion des Einsatzes der
neuen Werkzeuge in den üblichen Didaktik-Veranstaltungen
(oder
auch
Fach-Veranstaltungen) zu integrieren.
• Wenn möglich, sollten Vorlesungen und
Übungen integriert angeboten werden.
• Die Vermittlung mathematischer Inhalte
und die Diskussion der didaktischen
AG „Computerunterstützter Mathematikunterricht in der Lehreraus- und -fortbildung“
Konzepte muss im Vordergrund stehen
(keine Veranstaltung zum reinen „Handling“ einer Software). Es darf keine
Technikdiskussion geführt werden. An
einfachen Beispielen sollten die Studenten die Mächtigkeit der Werkzeuge entdecken.
• Die Grenzen des Computereinsatzes im
Unterricht müssen immer im Auge behalten werden.
• Können interaktive Lernprogramme für
die Lehrerausbildung an den Hochschulen genutzt werden?
• Welche Lernprogramme sind für den
Unterricht in der Hauptschule sinnvoll?
• Die Medienkompetenz der Lehrerinnen
und Lehrer im Schuldienst muss gefördert werden. Inzwischen werden immer
mehr Fortbildungen für ganze Fachkonferenzen nachgefragt.
Literatur
Borneleit, P. u. a. (2001): Expertise zum Mathematikunterricht in der gymnasialen Oberstufe. In: Journal für Mathematik-Didaktik 22,
73–90
Vollstädt, W. (2002): Zukünftige Entwicklung von
Lehr- und Lernmedien. Studie der Cornelsen-Stiftung „Lehren und Lernen“. Berlin:
Cornelsen
Weller, H. (2002): Computeralgebra in der Schule — „Wie ein Tropfen auf den heißen
Stein...“. In: Computeralgebra Rundbrief 31,
12–15
189
Tagungsprogramm
Freitag, 27. 09. 2002
Vormittags Anreise im Landesinstitut für Schule (LfS),
Paradieser Weg 64, 59494 Soest, Tel. 02921-6831, Fax 02921-683-228
Mittagessen im LfS
12.30
13.30
Eröffnung
Hauptvortrag
13.45 –
14.45
Horst Hischer,
Saarbrücken
Mathematikunterricht und Neue Medien – oder: Bildung ist das
Paradies!
Sektionsvorträge (30 min Vortrag + 15 min Diskussion)
D011
Raum 24/25
15.00 –
15.45
Zseby, Siegfried
Die elektronische Kreide
15.50 –
16.35
Heintz, Gaby
Zimmer, Bert
Einsatz von DGS am Beispiel von Cinderel- Gruppentheorie mit dem Computer
la
16.35 –
17.05
17.05 –
17.50
17.55 –
18.40
Löbbert, Eckhard
Lernumgebung zum Orientierungswissen
Hypothesentest
Kaffee- bzw. Teepause
Leuders, Timo
Raumgeometrie mit dem Computer —
Schülerprojekte in 2 bis 5 Raumdimensionen
Gawlick, Thomas
DGS als Trägermedium für interaktive Arbeitsblätter zur Differenzialrechnung
18.45
Hartmann, Mutfried
Formen multimedialen Lehrens - ein Vergleich
Pallack, Andreas
Zur Integration von LLP in den Mathematikunterricht
Abendessen
Sektionsvorträge (30 min Vortrag + 15 min Diskussion, 5 min Wechsel)
D011
20.00 –
20.45
20.45 – ...
190
Raum 24/25
Heske, Henning & Wesker, Heinz
Weitendorf, Jens
Stationen lernen mit neuen Medien im Ma- Modellierung
thematikunterricht der Sek. II
Gemütlicher Ausklang im „rostigen Kegel“ und im „Kaminzimmer“, handgemachte Musik, ...
Samstag, 28. 09. 2002
08.00
Frühstück
Hauptvortrag
Martin Hennecke,
Hildesheim
09.00 –
10.00
Fehlerdiagnose in intelligenten Lehr-Lern-Systemen
Sektionsvorträge (30 min Vortrag + 15 min Diskussion, 5 min Wechsel)
D011
Raum 24/25
Oldenburg, Reinhard
Wittmann, Gerald
Ein Prototyp zur Integration von CAS und Grundfragen der Evaluation multiDGS
medialen Lernens
10.05 –
11.50
10.50 –
11.10
Kaffee- bzw. Teepause
Elschenbroich, Hans-Jürgen
Dynamisch Funktionen entdecken
11.10 –
11.55
11.55 –
12.40
12.40
Schoy, Monika
Gestaltungs- und Bewertungskriterien von
Mathematik-Software für die Grundschule
am Beispiel von "Matheland"
Krivsky, Stefanie
Motivationsmöglichkeiten von Lehr- und
Lernprogrammen
Mittagessen
Sektionsvorträge (30 min Vortrag + 15 min Diskussion, 5 min Wechsel)
D011
Raum 24/25
14.00 –
14.45
Maczey, Dorothee
Lambert, Anselm
Über die Wirkung von DGS in der Lehr- Begriffsbildung im Mathematikunterricht
amts-Ausbildung
15.00
Arbeitsgruppen mit einer geeigneten Einführung
Thema
Leitung
1
Geometrieunterricht am Notebook in der 7. Jahrgangsstufe
Hagan, Claudia
2
Computerunterstützter Mathematikunterricht in der
Lehreraus- und -fortbildung
Weller, Hubert
3
PISA und Neue Technologien – Konsequenzen und konstrukti- Neveling, Rolf
ve Vorschläge
18.30
Abendessen
19.30 –
20.15
Fortsetzung der Arbeitsgruppen
20.30 ...
Abendprogramm: zu Fuß (ca. 15 min) Ausflug in das „Brauhaus Christ“ in der Soester
Altstadt
...danach
... Ausklang im LfS
191
Sonntag, 29. 09. 2002
08.00
Frühstück, Zimmerräumen
Hauptvortrag
09.00
10.00
– Wolfgang Fraunholz,
Koblenz
Möglichkeiten und Grenzen problemorientierten Arbeitens beim computergestützten Lernen, dargestellt
an einer Lernumgebung zur Linearen Algebra
Sektionsvorträge (30 min Vortrag + 15 min Diskussion, 5 min Wechsel)
D011
Raum 24/25
10.05
10.50
Sorgatz, Andreas
– Lehmann, Eberhard
Mathematiklernen durch Erstellen von A- Das Computeralgebra-System "MuPAD
nimationen
Pro 2.5"
10.50
11.15
–
11.15
12.15
–
Kaffee- bzw. Teepause
Ergebnisse der Arbeitsgruppen, Tagungsbilanz, Abschlussdiskussion
12.15
13.30
Mittagessen, Kaffee bzw. Tee
Tagungsende
Teilnehmerinnen- und Teilnehmerliste
Aßmus, Daniela
[email protected]
[email protected]
Barzel, Bärbel
[email protected]
Bender, Peter
Büchter, Andreas
[email protected]
[email protected]
Christmann, Norbert
[email protected]
Dachtler, Margrit
[email protected]
Daubert, Kurt
[email protected]
Detering, Eike A.
[email protected]
Duffner, Martin
[email protected]
Eichler, Andreas
[email protected]
Elschenbroich, Hans-Jürgen
[email protected]
Fankhänel, Kristine
[email protected]
Altmann, Rainer
192
Filler, Andreas
[email protected]
Flick, Eva
[email protected]
Förster, Frank
[email protected]
Fraunholz, Wolfgang
[email protected]
Friebe, Wolfgang
[email protected]
Frisch, Wolfgang
Gawlick, Thomas
[email protected]
Griebel, Stephan
[email protected]
Günther, Klaus
[email protected]
Hafenbrak, Bernd
[email protected]
Hagan, Claudia
[email protected]
Hartmann, Mutfried
[email protected]
Heintz, Gaby
[email protected]
Hennecke, Martin
[email protected]
Herget, Wilfried
[email protected]
Heske, Henning
[email protected]
Hischer, Horst
[email protected]
Hofer, Matthias
Hoja, Gerold
[email protected]
[email protected]
Junek, Heinz
[email protected]
Kirsche, Peter
[email protected]
Klaner, Kurt M.
[email protected]
Klöppner, Göde
[email protected]
Krivsky, Stefanie
[email protected]
Kronfellner, Manfred
[email protected]
Kunze, Antje
[email protected]
Laakmann, Heinz
[email protected]
Lambert, Anselm
Lang, Holger
[email protected]
[email protected]
Lehmann, Eberhard
[email protected]
Lehmann, Ingmar
Lessor, Mark
[email protected]
Leuders, Timo
[email protected]
Löbbert, Eckhard
[email protected]
Maczey, Dorothee
[email protected]
Malitte, Elvira
[email protected]
Manthey, Hasso B.
[email protected]
Merkel, Caroline
[email protected]
Meyer, Jörg
[email protected]
Müller-Sommer, Hartmut
[email protected]
[email protected]
193
194
Neveling, Rolf
[email protected]
Oberthür, Mareike
[email protected]
Oldenburg, Reinhard
[email protected]
Pallack, Andreas
Peters, Uwe
[email protected]
[email protected]
Richter, Karin
[email protected]
Schleyer, Margit
Schneider, Michael
[email protected]
Schoy, Monika
[email protected]
Schulz, Wolfgang
[email protected]
Schwarze, Monika
[email protected]
Schwill, Andreas
Sigusch, Nadine
[email protected]
[email protected]
Sommer, Rolf
[email protected]
Sorgatz, Andreas
[email protected]
Stauff, Heinrich
Stachniss-Carp, Sibylle
[email protected]
[email protected]
[email protected]
[email protected]
Stenten-Langenbach, Hans-Dieter
Sudhoff, Werner
[email protected]
Thies, Silke
[email protected]
Tschacher, Karel
[email protected]
Ullrich ,Peter
[email protected]
Von Saint-George, Guido
[email protected]
Weber, Wolfgang
[email protected]
Weigand, Hans-Georg
[email protected]
Weigel, Wolfgang
[email protected]
Weitendorf, Jens
[email protected]
Weller, Hubert
[email protected]
Wesker, Heinz
[email protected]
Weth, Thomas
[email protected]
Wittmann, Gerald
[email protected]
Wolff, Klaus P.
[email protected]
Ziller, Jörg
[email protected]
Zimmer, Bert
[email protected]
Zseby, Siegfried
[email protected]