legenden der popkultur prof. dr. marcus s. kleiner

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legenden der popkultur prof. dr. marcus s. kleiner
LEGENDEN DER
POPKULTUR
PROF. DR. MARCUS S.
KLEINER
12. Mai 2016
Prof. Dr. Marcus S. Kleiner
SRH HOCHSCHULE DER POPULÄREN KÜNSTE BERLIN
(Professorenprofil von Prof. Dr. Marcus S. Kleiner)
Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft
STUDIENGANGSLEITER MASTER ERLEBNISKOMMUNIKATION
(Studiengang M.A. Erlebniskommunikation)
Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft
http://medienkulturanalyse.de/wp/
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Legenden der Popkultur
KEYNOTE – ZUR FILMVORFÜHRUNG: „AMY – THE GIRL BEHIND THE NAME“ (2015)
DOK.FEST – 9. MAI 2016
I.
CLUB 27
Live fast, die young. Willkommen im Club 27.
Dieser Club ist Legende. Mehr noch: ein moderner Mythos.
Berühmte Pop- und Rockmusiker, aber auch Schauspieler, sind hier Stammgäste.
Schon der Eintrittspreis ist atemraubend und spektakulär: man muss mit 27 Jahren, nach einem
exzessiven Lebensrausch und einer außergewöhnlich einflussreichen Schaffensphase, erschöpft,
ausgeschöpft, einsam, rast- und ratlos sterben. Durch eine Überdosis oder ein Gewehr, im Auto
oder im Swimmingpool.
Zum Club 27 gehören Künstler, die die Popgeschichte prägen und die dabei selbst Popgeschichte
geworden sind: das sind vor allem Brian Jones (†1969), Jimi Hendrix (†1970), Janis Joplin
(†1970), Jim Morrison (†1971), Kurt Cobain (†1994) und schließlich Amy Winehouse (†2011).
Amy Winehouse erlag der Faszination des Todes, dieses universellen Ultimos (Michel Foucault),
als der eines künstlerischen Intensitätsbeschleunigers. In einem frühen Interview sagte sie: „Life is
short, do it, you know, because life is short.“
Ihr kurzes Star- und Rauschleben, in dem sie nie zu sich kam, weder als Mensch noch als Künstlerin, endete am 23. Juli 2011 in ihrer Wohnung in Camden, London – natürlich mit 27 Jahren. Amy
starb an den Folgen einer Alkoholvergiftung – angeblich mit 4,6 Promille im Blut.
Bereits ihr Tod wurde zum Ausgangspunkt unterschiedlicher Legendenbildungen, die allerdings in
einem Amy-Archetypus kulminieren: Amy als Sinnbild eines genial-kaputten Popstars und damit
zugleich des Club 27.
Der Tod eines bedeutenden Popstars ist immer zugleich die Geburtsstunde seiner zweiten Karriere, die von diesem einen toten Popstar-Leben endlos zehren muss und sich dabei nicht erschöpfen
darf. Erschöpfung führt zum kollektiven Vergessen und zur endgültigen Auslöschung – zumindest
bis zur nächsten Retro-Welle. Dieses Privileg der zweiten Karriere durch den Tod und nach dem
Tod ist nur wenigen Musiker_innen aus der Popmusikgeschichte vorbehalten.
Amy ist eine von ihnen. Nach ihrem Tod schafften es ihre Alben und Singles für geraume Zeit wieder in die internationalen Charts, ebenso die im Dezember 2011 posthum erschienene Single „Our
Day Will Come“ und das Kompilations-Album „Lioness: Hidden Treasures“.
Angeblich hat sich Amy, um zu ihrer Todeslegende zurückzukehren, an ihrem Todestag außerordentlich mit Wodka betrunken und dabei YouTube-Videos von sich selbst angesehen, bis sie aufhörte zu atmen und ins Koma fiel, aus dem sie nicht mehr erwachte.
Ein absurder Tod. Der letzte Blick in die Welt als ein Blick auf eine digitale Ich-Konserve, die endlos weiterlebt, auch wenn sie selbst in diesem Moment zugrunde geht. Das Künstler-Ich als mediale Klagemauer für das sich nicht finden könnende individuelle Ich.
Ganz egal, ob diese Geschichte wahr ist oder nicht: sie ist der vorläufige Endpunkt zu einem Leben mit zu vielen Anhaltspunkten, das, ganz kafkaesk, stets ein Warten auf die Geburt war, die
nicht eintrat.
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Nur acht Jahre währte die musikalische Karriere von Amy Winehouse, mit der sie die Popmusik für
einen kurzen, aber unwiederholbaren Moment verändert hat. In diesen acht Jahren und mit nur
zwei Alben, „Frank“ (2003, nationaler Durchbruch) und „Back to Black“ (2006, internationaler
Durchbruch), die sich zu ihren Lebzeiten über 25. Millionen mal verkauften, ist sie zu einem unvergesslichen Pop-Mythos geworden.
II.
POP & MYTHOS
Ein Mythos ist eine Erzählung, die aus der Jetztzeit des Erzählens herausfällt und unzeitgemäß
sowie ortungslos das Welt- und Selbstverhältnis von Menschen und Kulturen spektakulär darstellt.
Mythen sind, wie auch Popkulturen, sinnstiftende Erzählweisen. Der Club 27 ist eine solche sinnstiftende Erzählung über das Leben und Sterben von außergewöhnlichen Popmusiker_innen.
Mythen erzählen leidenschaftlich und emotional von anderen Lebens- und Denkformen. Ihre begehrenswerten oder angsteinflößenden Helden leben ein Leben, das uns fasziniert und uns vor
Augen führt, wie wir (manchmal) gerne leben möchten, ohne jemals so leben zu können. Amy
kann aus dieser Perspektive als Sinnbild für eine mythisch-moderne Pop-Heldin bezeichnet werden.
Die Frage nach der Wahrheit der Erzählung ist in mythischen Erzählungen irrelevant. Mythen erzählen und begründen nicht. Das mythische Erzählen passt außerordentlich gut zur Popkultur, weil
ihre Bezugspunkte ebenfalls weder die rationale Unterscheidbarkeit von wahr und falsch noch die
moralische von erlaubt und verboten sind. Popkulturen sind spektakuläre, seduktive und suggestive Kulturen des Storytelling, die anhand von großen Erzählungen und außerordentlichen Persönlichkeiten (modernen Legenden) das Welt- und Selbstverständnis von Menschen und Kulturen reflektieren, (re-)konstruieren und inszenieren. Für Popkulturen gilt: Wer braucht die Wahrheit, wenn
er seduktive und suggestive Mythen hat?
III.
AMY WINEHOUSE – DIE KÜNSTLERIN.
EIN MODERNER POP-MYTHOS
Wer aber war Amy Winehouse und was hat sie zu einem modernen Pop-Mythos gemacht?
In der öffentlichen Auseinandersetzung mit Amy sind es vor allem neun Themen, mit denen man
diese Fragen zu beantworten versucht:
Die geniale Musikerin (authentisch, traditionsbewusst): Amy Winehouse schrieb fast alle Songs
selbst. Ihre Songs beruhen fast ausschließlich auf ihren persönlichen Lebenserfahrungen. Sie orientierte sich am 1960er-Soul und verbindet diesen mit dem Neo-Soul der 2000er Jahre. In einem
Interview reflektierte sie ihre Rolle als Musikerin wie folgt: „I’m a musician. I’m not someone who’s
trying to be diplomatic, you know, trying to get my 15 minutes. I’m just a musician who is honest.“
Ihre außergewöhnliche Stimme: zärtlich-rauh, die Stimme als Instrument (2003-2008); kaputtkrächtzend, die Stimme als Lebensspiegel (zunehmend nach 2008).
Amy als Modeikone – Vergangenheit in der Gegenwart: Beehive-Style; 60ties-Mode; markantes
Make-up; Zusammenarbeit mit dem britischen Modelabel Fred Perry und erste eigene Modelinie.
Die unglücklich Liebende: ein Liebesleben, als ob der Joy Divison-Song „Love Will Tear Us Apart“
(1980) in Dauerschleife in ihrem Kopf lief. Sie schien die Liebe als permanente Leidens- und Verlusterfahrung zu erleben. In Songs wie zum Beispiel „Back to Black“ (2006, „We only said goodbye
with words / I died a hundred times / You go back to her / And I go back to black“) oder „Love Is a
Losing Game“ (2006, „Though I battle blind / Love is a fate resigned / Memories mar my mind /
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Love is a fate resigned“) verarbeitete sie ihre Erfahrungen. Ihre Musik fungierte hier als eine Art
öffentliche Selbsttherapie.
Das Persönliche als Grundthema – Veröffentlichung des Privaten, Privatisierung des Öffentlichen,
um Musik als öffentliche Therapie möglich zu machen. In einem Interview sagte sie hierzu: „I only
write about stuff that happened to me… stuff I can’t get past personally. Luckily, I’m quite selfdestructive.“
Ihre Selbstzerstörung und deren öffentliche Inszenierung: Alkohol; Drogenmissbrauch (hier spielt
vor allem ihr Ex-Ehemann Black Fiedler eine entscheidende Rolle); Junkie; psychische Probleme;
Autoaggressionen; Bulimie. Ihre Lebensgestaltung schien auf einer reflektiert-rauschhaften Destruktivität zu beruhen. Über diese rauschhafte Lebensgestaltung bemerkte sie in einem Interview:
„My justification is that most people my age spend a lot of time thinking about what they’re going to
do for the next five or ten years. The time they spend thinking about their life, I just spend drinking.“
Sie wurde von Selbstzweifel und Selbsthass geplagt: „I cheated myself / Like I knew I would / I told
you I was trouble / You know that I'm no good“ (You Know I’m No Good, 2006).
Ihr dominanter Vater: Ihr Vater wurde häufig als selbstsüchtiger Ausbeuter-Vater dargestellt, der
genau so schuldig an ihrem frühen Tod war, wie ihr Ex-Ehemann Black Fiedler.
Ihre Kritik an der Popmusikindustrie: Wie alle Mitglieder aus dem Club 27 steht auch Amy dem
System, das sie groß, bekannt und zum Mythos gemacht hat, kritisch gegenüber. „Macht kaputt,
was Euch kaputt macht“ (Ton, Steine, Scherben – 1970) oder in den Worten von Amy: „I don’t care
about all that pop stuff and I couldn’t go to the Smash Hits poll winners’ party without bringing a
gun.“ Haltung war Amy Winehouse wichtiger als Anpassung.
Diese Aufzählung fasst zwar die bekannten medialen Erzählungen und Bilder zur Künstlerin Amy
Winehouse zusammen. Allerdings bleibt fraglich, ob wir dadurch auch einen annähernd echten
Eindruck von Amy Winehouse als Menschen unabhängig von ihrem Popstar-Image erhalten.
Amy Winehouse hat nichts neu gemacht, aber vieles anders und erscheint daher als unverwechselbar und einmalig.
Sie ist eine der interessantesten Originalkopien der Popmusikgeschichten, die durch intuitives Mixing und Sampling von Popmusikkulturen und Künstler-Images einen vermeintlich authentischen
Wirklichkeitseindruck zur Künstlerin Amy Winehouse erzeugt hat.
IV.
AMY – DER FILM
Der unter anderem Grammy- (Kategorie: Bester Musikfilm) und Oscar-prämierte (Kategorie: Bester
Dokumentarfilm) britische Dokumentarfilm „Amy. The Girl Behind The Name“ aus dem Jahr 2015
versucht die zuvor beschriebe Lücke in der Auseinandersetzung mit Amy Winehouse zu schließen
und den Menschen hinter dem Künstler-Image zum Vorschein kommen zu lassen. Er bezieht sich
dabei auf die Jahre 1998-2011. Regie führte der britische Filmemacher Asif Kapadia, der vor allem
durch den erfolgreichen Dokumentarfilm „Senna“ aus dem Jahr 2010 über das Leben der Formel1-Legende Ayrton Senna bekannt geworden ist.
Der Film beginnt mit einem privaten Amateurvideo aus dem Jahr 1998. Amy Winehouse ist zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt. Dieser Filmeinstieg definiert die innere Ordnung der Erzählung: Die
Heldengeschichte vom rasanten Aufstieg eines großen Talents, ihr dramatischer Fall und der frühe
Tod einer tragischen Künstlerin wird anhand von zumeist unbekannten privaten Material (Fotos,
Filme, O-Töne etc.) aus dem familiären, freundschaftlichen und beruflichen Umfeld von Amy
Winehouse erzählt. Dieses Material wird weder beschriftet noch eingeordnet.
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Zentral ist für Kapadia hierbei, der in seinem Dokumentarfilm konsequent privat bleibt, aus dem
zumeist unbekannt Privaten (unter anderem die Amateurfilme) sowie dem neu recherchiertPrivatem (etwa seine Interviews) öffentlich das unbekannt Private („The girl behind the name“) so
authentisch wie möglich zu rekonstruieren.
Entstanden ist hierbei eine melancholische-schöne, schonungslos offene und intensiv-intime filmische Abschiedsparty für Amy Winehouse.
Es stellt sich die Frage, ob es Kapadia wirklich gelingt, „The girl behind the name“ zu entdecken
oder, ob der Film doch wieder nur das Bekannte in anderen Bildern zeigt?
Ich bin gespannt, wie Sie diese Frage nach der Filmvorführung beantworten, denn was einen Dokumentarfilm immer auszeichnet ist einerseits der Kommunikationsprozess zwischen Autor, Film
und Zuschauer; andererseits der kreative Umgang mit der Wirklichkeit.
Eine klare Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Fiktion ist im Dokumentarfilm kaum möglich –
und auch nicht notwendig. Vielmehr erzeugt der unauthentische Authentizitätswille von Kapadia
einen dritten Ort der filmischen Konstruktion und Rekonstruktion einer Frau und Künstlerin mit dem
Namen Amy Winehouse – die als Stellvertreterin ihrer Generation, als Sinnbild für den Club 27 und
als lebensweltliche Chimäre erscheint. Hierbei schreibt der Film „Amy“ wesentlich den Mythos der
modernen Legende Amy Winehouse weiter.
Die Musik von Amy Winehouse ist, diesseits jeder journalistischen und filmischen Auseinandersetzung mit Amy Winehouse, Soul-Food. Ob auch der Film „Amy“ für Sie zu Soul-Food wird, entscheiden Sie.
Lassen Sie mich jetzt mit den Worten von Amy Winehouse schließen: „Life happens. There is no
point in being upset or down about things we can’t control or change.“
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich wünsche Ihnen jetzt einen eindrucksvollen und ausdruckstarken Abend mit Amy.
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