Workshop Nr. 8 Sexuelle Traumatisierung und Bindung

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Workshop Nr. 8 Sexuelle Traumatisierung und Bindung
Workshop Nr. 8
Sexuelle Traumatisierung
und Bindung
Die Folgen von sexueller Gewalt für die
Persönlichkeitsentwicklung und die
Beziehungsgestaltung
Referentin:
Dipl. Psych. Ulrike Werner, Kinderzentrum St. Vincent
I. Grundlagen und Definitionen
I.1. Bindung und Bindungsstörung
I.1.1. John Bowlbys Bindungstheorie
• „Bindung ist das gefühlsgetragene Band,
das eine Person zu einer anderen
spezifischen Person anknüpft und das sie
über Raum und Zeit miteinander
verbindet.
• Entwicklung im Laufe des 1.Lebensjahres
• Sichert das Überleben des Säuglings
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I.1.1. Bindung 2/
„Kreislauf der Sicherheit “9
• Beim Kind:
• Bindungsverhaltenssystem
• Neugierverhaltenssystem / Explorationsverhalten
• Bezugsperson:
•
•
•
•
sichere Basis
externer emotionaler Regulator
Fürsorgeverhaltenssystem
Feinfühligkeit
9 Scheuerer-Englisch Hrsg.(2003) Wege zur Sicherheit
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I.1.2.Bindungsqualitäten und Entwicklung
• Sichere Bindung ( B-Muster) Schutzfaktor
• Unsichere Bindung ( A, C, D) Risikofaktor
– A vermeidendes Muster
– C ambivalentes Muster
• Zusätzliches Muster
D desorganisiertes und desorientiertes Verhalten
(hochunsicher)
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I.1.3.Typen von Bindungsstörungen
differenziert nach dem Bindungsverhalten
nach Karl-Heinz Brisch7
Typ I ohne Bindung
Typ II undifferenziert
– Typ II A soziale
Promiskuität
– Typ II B Unfall-Risiko
Typ III gesteigert /
Übererregung
Typ IV Hemmung
Typ V Aggression
Typ VI Rollenumkehr
Typ VII Psychosomatik
– Typ VII A
Wachstumsretardierung
– Typ VII B mit Schrei-,
Schlaf- und Essproblematik
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I.2. Trauma
I. 2.1. Definition: Trauma 1
• „Ein psychisches Trauma ist ein vitales
Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen
Situationsfaktoren und den individuellen
Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen
von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe
einhergeht, und so eine dauerhafte
Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses bewirkt.“
(G. Fischer, Ridesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie)
• Traumatisierung als das Ereignis des Traumas
einschließlich der Folgen. ( L.-U. Besser)
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I.2.1 Klassifikation von Traumata 2
•
Verursachung
– Menschlich verursachte ( „man made disasters“)
– vs. Zufällige Traumen
•
Dauer
– Kurzandauernde (Typ-I-)Traumen
– vs. länger andauernde wiederholte Traumen
(Typ- II),
•
Unterscheidung nach Francine Shapiro
– Traumata im engeren Sinne Big-T-Traumata
– und weiteren Sinne: Small-t-Traumata
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I.2.2 Die Traumatische Zange 1
• Traumata sind plötzliche oder lange
anhaltende oder auch sich wiederholende
objektiv oder subjektiv existenziell
bedrohliche und ausweglose Ereignisse,
bei denen Menschen in die Schutzlosigkeit
der sogenannten Traumatischen Zange
(M.Huber) geraten:
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I.2.2. Die Traumatische Zange 2
Überwältigende Angst, Schmerz
Alarmreaktion des Körpers
Keine Bindungsperson
Keine
Fluchtmöglichkeit
Keine
Kampfmöglichkeit
No Flight
Hilflosigkeit
No Fight
Ohnmacht
Freeze
Ausgeliefertsein
on
i
t
ia
z
Trauma
o
ss
Di
Unterwerfung
Submission“
Fragmente
isolierte Erinnerungssplitter
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I.2.3. traumatische Gedächtnisprozesse/
Fragmentierung
• Die Zusammenarbeit von rechter Hirnhälfte mit linker Hirnhälfte ist
blockiert.
• Die einzelnen situativen Aspekte des Traumas werden als einzelne
Traumafragmente – wie Splitter eines zerbrochenen Spiegels –
isoliert bzw. dissoziiert gespeichert.
• Diese Traumafragmente erscheinen eingefroren, des bewussten
kognitiven Zugangs und damit einer Bearbeitung beraubt.
• Jedes einzelne Erinnerungsfragment kann als unbewusster Trigger
ängstigende Flashbacks oder filmartig ablaufende Erinnerung
(Intrusionen) auslösen.
• Die komplexe Dissoziation als Schutzmechanismus vor weiterer
Übererregung im Gehirn verhindert die Integration ins Gedächtnis
und in die Identität.
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I.3. Sexuelle Gewalt und
Missbrauch
Sexuelle Gewalt und sexueller Missbrauch
sind Beispiele für Man-Made und meist
langandauernde, sequentielle Traumata
(Typ II)!!
1.Definition
2.Häufigkeiten in der stationären Jugendhilfe
3.Struktur des Missbrauchs
4.Sexueller innerfamiliärer Missbrauch
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I.3.Sexuelle Gewalt und
Missbrauch
1. Definition
•
•
Sexuelle Gewalt ist eine individuelle, alters- und
geschlechtsabhängige Grenzverletzung und meint
jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind
oder einem/einer Jugendlichen entweder gegen
dessen/deren Willen vorgenommen wird oder der das
Kind oder der/die Jugendliche aufgrund körperlicher
oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich
zustimmen kann. ( Dirk Bange 1996, S.57)
Es ist sexueller Missbrauch, wenn eine Person ihre
Machtposition oder die Unwissenheit, das Vertrauen,
oder die Abhängigkeit eines Mädchens oder Jungen
zur Befriedigung der eigenen sexuellen Bedürfnisse
benutzt.
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I.3.2. Häufigkeit von sexuellen
Gewalterfahrungen in der stationären
Jugendhilfe
• Margarethe Finkel 1998:
– jedes 4. Mädchen und jeder 15. Junge in
stationärer Jugendhilfe ist sex. missbraucht
• Hartwig: 50-75% der Mädchen
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I.3.3. Struktur der Taten bei sexuellem
Missbrauch
• Struktur des Missbrauchs:
– Wiederholungstaten
– meist gezielt geplant ( Missbrauchskreislauf)
– Dauer über Wochen oder Jahre
• Sexueller Missbrauch ist in erster Linie
Machtmissbrauch, die sexuellen Handlungen
dienen als Instrument dazu.
• Meist wird eine „besondere“ Beziehung
hergestellt, die vom Täter für den
Machtmissbrauch ausgenutzt wird.
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I.3.4. Sexueller innerfamiliärer
Missbrauch
• ca. 10 % der Täter leben mit dem Kind direkt in einer
Familie.
• Bei innerfamiliärem Missbrauch bleibt der
Bindungskontext bis zum Aufdecken meist erhalten.
• Täter bleibt außerhalb der Missbrauchssituation die
Bindungsperson.
Folge:
Hochunsichere Bindungen und Bindungsstörungen
wahrscheinlich
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I.4. Neurophysiologie des
Gehirns
I.4.1. Neuroplastizität / Nutzungsabhängige
Gehirnentwicklung
• Unser Gehirn ist zeitlebens plastisch wie eine
Wachstafel,
• in der Kindheit jedoch besonders formbar, d.h.
aber auch störanfällig.
• Aus ursprünglich schmalen Pfaden werden je
nach Häufigkeit, Dauer und emotionaler
Intensität der Nutzung feste neuronale
Strukturen, die häufig genutzt werden oder
auch wieder verfallen.
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I.4.2 psychosoziale
Entwicklungsbedingungen und
Gehirnwachstum / Lernen 1
1.
2.
3.
Optimales Lernen ( Gehirn wächst!!!)
„emotionales Gedächtnis für erfolgreiches / erfolgloses
Bewältigen“
Lernen unter Angst und Stress
Rückgriff auf und Stabilisierung der aktivierten, älteren
bereits bewährten Verschaltungen
Extreme langanhaltende Angst, Stress, Trauma
(Gehirnabbau!!)
Aktivierung und Bahnung von archaischen, früh angelegten
subcortikal gesteuerten Notfallreaktionen (Erstarrung,
Hilflosigkeit)
im Hippocampus, im limbischen und präfrontalen Cortex:
Abbau bereits gebahnter, komplexer Verschaltungen
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I.4.3. psychosoziale
Entwicklungsbedingungen 2/
neurophysiologische Traumafolgen
d.h. Folgen „früher“ Traumatisierung3:
• Trifft sequentielle Traumatisierung auf ein unreifes
Gehirn so strukturiert es sich „traumatoplastisch“ (L.
Besser). Es automatisiert Überlebensreaktionen wie
– Schnelles Anfluten von Erregung / Angst
(Stressreaktion mit Flucht- o. Kampftendenzen) und
– Dissoziation (Abschalten, Wahrnehmungsveränderung),
• auf die es später reflexartig – oft schon bei kleinen
alltäglichen Anlässen – zurückgreift.
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II.Traumafolgestörungen
II.1. Übersicht 5
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II.2 Symptombild der posttraumatischen
Belastungsstörung ICD 10 F.43.1.5,6
•
•
•
•
Intrusionen: sich aufdrängende, belastende
Gedanken und Erinnerungen
Hyperarousal /Übererregungssymptome
Vermeidungsverhalten/ Konstriktion
emotionale Taubheit
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II.2. spezifische PTBS- Symptome bei
Kindern 5
• Intrusionen: wiederholtes (nicht lustvolles)
Durchspielen des traumatischen Erlebens, (Reinszenierung)
• Vermeidung: Davonlaufen Verstecken,
Erstarren, Lügen, …
• Übererregung: Verhaltensauffälligkeiten, z. T.
aggressive Verhaltensmuster;
Impulskontrollstörungen;
Konzentrationsstörungen
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II.3. Exkurs: Bindungs- und traumaorientiertes
Symptomverständnis von ADHD3
1. Unaufmerksamkeit,
dissoziative Phänomene
Konzentrationsprobleme Ausblenden und Abschalten
Informationsverarbeitungs- ,
(Wahrnehmungs) -blockaden, verzerrungen
2. Impulsivität
Traumaschema: Flucht- und
Kampfimpulse
3. Hyperaktivität
Desorientiertes
Bindungsmuster (oder
Bindungsstörung),
anhaltender Hyperarousal
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III. Mögliche Folgen von sexueller
Gewalterfahrung und sexuellem
Missbrauch
•
•
Die Folgen sexueller Gewalt sind um so
gravierender, je enger die Beziehung zw.
Opfer und Täter und je häufiger die Übergriffe
geschehen.
Die Langzeitfolgen hängen maßgeblich damit
zusammen, ob das Mädchen/ der Junge nach
der Ausbeutung emotionale Unterstützung und
Trost erfährt, ob ihm geglaubt wird.
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III.1. Auswirkungen von sexuellem
Missbrauch auf die
Persönlichkeitsentwicklung
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Vertrauensverlust
Sprachlosigkeit
Schuldgefühle
Schamgefühle
Ohnmacht
Zweifel an der eigenen Wahrnehmung
Angst
Rückzug auf sich selbst
Identifikation mit dem Aggressor
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III.1.1. Vertrauensverlust
• Täter als Bindungsperson sichere Basis fehlt unsicheres Bindungsmuster wahrscheinlich
• Verlust des Vertrauens in die Umwelt tiefes
Misstrauen
• Vertrauensverlust in sich selbst
keine Selbstwirksamkeit, Selbstwert Schweigegebot / Lügen müssen erleben sich selbst als
unglaubwürdig
• Glaube, es gibt niemand der einem glaubt / glauben
könnte
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III.1.2. Sprachlosigkeit
• Worte fehlen tatsächlich
• Schweigegebote, oft in Verbindung mit
Gehorsamsgeboten
• Reden sollen / wollen als Trigger
• „Nur selber nicht dran denken“ Verleugnung,
Unterdrückung von Gedanken, dissoziative Reaktionen
Doppeldenk ( J. Herman):
• Trotzdem versucht jedes Kind sich mitzuteilen, über
nonverbale, versteckte Hinweise, die häufig nicht
verstanden werden
• Sexuelle Gewalt war / ist gesellschaftliches Tabu „Blinde Flecken“
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III.1.3. Schuldgefühle
• Kind entwickelt eigene Schuldgefühle lebenslang
präsent
• Glaube, dass sie den Missbrauch verdient haben, weil
so etwas nur ihnen passiert
• Schuld (aktiv) lässt sich leichter ertragen als Ohnmacht.
• „…als Introjekte der Schuldgefühle des Erwachsenen“
(Sandor Ferenczi 1932)
• Verstärkung der kindlichen Schuldgefühle durch die
Umwelt
Entwicklung eines „Doppelten Selbst“ (Selbstbild voller
Selbstverachtung. Ekel, Abscheu, „Bin böse“ vs.
Hochleistungen, Erfolge) Spaltung als zentrales
Persönlichkeitsmerkmal
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III.1.4.Schamgefühle
• Der Täter ist schamlos – das Opfer übernimmt die Scham für ihn.
• Scham bleibt an dem Mädchen kleben, wie die Hände des
Missbrauchers auch noch später fühlbar sind. (Barbara Kavemann)
• „Sieht man mir das nicht an?“
Scham über die Verletzungen, die Tabubrüche, für die eigene
Existenz
Ekel vor andern, vor sich selbst
Scham verhindert die Hilfesuche des Opfers
Wichtig!!!
• Wenn die HelferInnen die Scham verstehen und erkennen, können
die Opfer darüber sprechen und diese überwinden.
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III.1.5. Ohnmacht
• Machtverhältnisse, emotionale Verstrickung und
Abhängigkeit
• Keine vorstellbaren Lebens-Alternativen
• Besonders „ohnmächtig“: Behinderte Mädchen und
Jungen
Werden zu Ja-Sagern erzogen, ohne Recht auf
Selbstbestimmung, Selbstdurchsetzung
Ohn-Macht, Verzweiflung, Anpassung
Auto-Aggression, Depression, Apathie,
Selbstmordversuche (die letzte Selbstkontrolle )
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III.1.6. Zweifel an der eigenen
Wahrnehmung
• TäterInnen sind Meister der Täuschung!!!
• Traumatische Gedächtnisprozesse (Dissoziationen) und Amnesien
verunsichern, unerklärliche Gefühle, Gedanken (angetriggerte
Trauma-Erinnerungen/ Fragmente )
• Normen, Werte: Wem soll ich glauben?
• öffentlichen und allgemeine Zweifel an den Aussagen des Kindes;
sekundäre Problematiken erhöhen die Unglaubwürdigkeit
Doppeldenk
„fehlende Zeit“ oder Nichtwissen/ -erinnern aufgrund von
Abspaltung
Verlust des Realitätsbezugs
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III.1.7.Angst
- das zentrale Lebensgefühl
• aufgrund des Verlustes der Sicherheit
(Bindungssicherheit), der körperlichen Unversehrtheit
und des Urvertrauens in die Welt
• als physiologische Folge auf die Traumatisierung, den
Dauerstress
• Schwächt und lähmt den Glauben an die eigene Stärke
und Widerstandskraft
Aufbau von Vermeidungsverhalten,
Ritualen oder Zwängen,
um Kontrolle zu gewinnen
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III.1.8. Rückzug auf sich selbst
• Schutz des innersten Selbst im Inneren
• Dissoziationen, Spaltungsmechanismen, Ablehnung des
Körpers
• Derealisation, Depersonalisation
• Entwicklung einer Phantasiewelt
• Kein Zugang mehr zu den eigenen Gefühlen ( positiv,
negativ), Wünschen, Bedürfnissen
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III.1. 9. Identifikation mit dem Aggressor 1
• Missbrauch durch eine Bindungsperson bringt
ein Kind in eine ausweglose Situation.
• Kognitive Dissonanz ( Liebe, Wunsch nach
Nähe vs. Angst, Nicht verstehen können) Rationalisieren, Normalisieren, Ent-schuldigen
des Täterverhaltens
Sichtweise des übermächtigen Täters
übernehmen, um sich ein ungebrochenes Bild
vom Täter erhalten zu können
Gefahr der Entwicklung von übergriffigen ReInszenierungen
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III.1.9.Identifikation mit dem Aggressor 2
Wichtig:
• Idealisierung und Entschuldigung der
ausbeutenden Bindungsperson nicht als
Zeichen einer positiven emotionalen
Bindung, sondern als Zeichen der
Identifikation mit dem Aggressor!!!
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III. 2. Modell der vier traumatogenen
Faktoren bei sexuellem Missbrauch
Finkelhor & Browne ( 1985)10 zitiert nach W. Weiß S. 30 ff
1.Verrat Vertrauen ist erschüttert
Misstrauen, Wut, Feindseligkeit, tiefe Trauer, Depression,
Manifestation der Opferrolle
2. Ohnmacht / Hilflosigkeit Untergrabung der Überzeugung der
eigenen Kontrollfähigkeit
Selbstbild; Angst, Panikattacken, Dissoziationen,
Zwänge, Phobien
3. Stigmatisierung Verstärkung des Zwangs zur Geheimhaltung,
Isolation, Gefühl nicht dazuzugehören Schuld, Scham
Suchtentwicklung, Autoaggressionen
4. Traumatische Sexualisierung Formung der Sexualität des
Kindes nicht dem Entwicklungsalter entsprechend,
zwischenmenschlich dysfunktional
Verwirrung der sexuellen Normen, Identität,
Verwechslung von Sexualität mit Liebe, übermäßige
Beschäftigung mit Sexualität, zwanghafte sowie aggressive
sexuelle Verhaltensweisen
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III. 3. Folgen für die Sexualität 1
Die sexuelle Traumatisierung formt die
Sexualität des Kindes auf unangemessene
Weise.
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III.3. Folgen für die Sexualität 2
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Sexualisieren von sozialen Beziehungen
exzessive sexuelle Neugierde
Offene Masturbation
Bloßstellen der Genitale
zwanghaft promiskes Verhalten
Auffälliges Verhalten während der Menstruation
Altersunangemessenes Sexualverhalten bzw. sexuelles Spiel
Verweigerung / Negierung sexueller Bedürfnisse
Prostitution
Sexuelle aggressives Verhalten
sado-masochistisches Sexualverhalten
„sexuelle Verwahrlosung“
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III.4 Selbstheilungsversuche
• Drogen- und Alkoholabhängigkeit
• Autoaggressionen , Selbstverletzungen, - verstümmelungen
• Suizidversuche, Todessehnsucht ( „Gevatter Tod“ als
Bindungsperson, die letzte Kontrolle )
• Arbeitssucht
• Exzessives „sich-spüren-Wollen“ (Gefahrensuche, Extremsport etc.)
• Re-Inszenierung alter traumatischer Situationen stellen das
Erlebte dar, mit der Hoffnung auf eine gute Wendung
• Zwangsrituale
(Klaus Vavrik 3/2007) 3
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IV. Auswirkungen von sexuellem Missbrauch
1.1. auf die Beziehung zum nicht–
missbrauchenden Elternteil 1
•
•
•
Täter versucht systematisch die Beziehung zur Mutter zu stören
Kind Verunsicherung, Misstrauen, Enttäuschung
– Schweigen des Kindes – um Mutter oder Familie zu schonen, Kummer
zu vermeiden
– Isolation, Rückzug
– Wut auf die (nicht schützende, weniger mächtige) Mutter
Nichtmissbrauchender Elternteil
– „unvorstellbar“ – blinder Fleck; „Ahnungen“ Loyalitätskonflikte
– Schweigen des Kindes als Kränkung, Vertrauensbruch erlebt
– Viele versuchen unbewusst ihre Kinder zu schützen
Ambivalenz, Unsicherheit, Angst, Schuld, Wut, Enttäuschung und
Protest;
Beziehungsstörung, Bindungsunsicherheit
Unsichere Bindungsrepräsentanz
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IV.1.2. Die Situation der Geschwister bei
innerfamiliärem sexueller Missbrauch
Immer auch die Geschwister betroffen:
• direkt auch Opfer (gleichzeitiger Missbrauch
von mehreren Geschwistern 35% Finkelhor
1984),
• indirekt über Störung der
Geschwisterbeziehung: Eifersucht aufs
Lieblingskind; Verunsicherung, Aggression
• Leben in sexualisierter Atmosphäre Zeuge
von Traumatisierung sein; als Schutzschild
gegen Übergriffe dienen müssen..
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IV.1.3. Die Beziehung zu den
Geschwistern
• Täter treibt Keil zwischen die Geschwister; Eifersucht;
Streit; Isolation, Schuld Verhinderung von Solidarität
und somit Aufdeckung
• Täter zwingt Geschwister sich gegenseitig zu
missbrauchen Opfer wird auch zum Täter
• Übermäßige Verantwortung übernehmen müssen oder
ganz abgeben
• Einsamkeit und Isolation, Rivalität, Misstrauen, Scham,
Schuld, Angst
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IV.2. Vom Opfer zum Täter
• 50 % der erwachsenen männlichen Täter
berichten von eigenen sexuellen
Gewalterfahrungen
• Als Re-Inszenierung von selbst erlebten
sexuellen Übergriffen
• Täter-Introjekt: Als Kompensation von erlebter
Ohnmacht und Kränkung
• Desorganisiertes Bindungsmuster /
Bindungsstörung: Grenze zwischen
Bindungsverhalten und Sexualverhalten kann u.
U. aufgehoben sein
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V. Pädagogische und therapeutische
Grundsätze im Umgang mit (sexuell)
traumatisierten Kindern und
Jugendlichen
• Zum Verständnis von Traumatisierten hilft die
Therapeutische Frage: 6
• Welche der präsentierten Symptomatik im Denken,
Fühlen, Verhalten, im Bereich der Körperregulation, auf
der somatoformen Ebene und Beziehungsebene könnte
ein fragmentarischer Teil eines Traumas sein?
• Oder eine Reaktion im Traumakontext, eine
Überlebensstrategie?
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IV.1. Grundsätze im Umgang mit
traumatisierten Kindern und Jugendlichen
1.Korrigierende Gruppenatmosphäre
Reagiert auf …
• Geheimhaltung
• Schuld
• Angst
• Willkür
• Ohnmacht, Objekt
• Verstecken von Gefühlen
• Beziehungslosigkeit
• Traumatische Erfahrungen…
Mit
Direkter offener
Kommunikation
Entlastung
Sicherheit
Transparenz, klaren Strukturen
Mit-, Selbstbestimmung
Akzeptanz der Gefühle,
Beziehungsangebot
Schutz vor Wiederbelegung…
(Wilma Weiß 2008)
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IV.1.2.Therapeutische Aspekte
• Verhinderung von sekundärer Traumatisierung im
Therapeutischen Setting (Erleben von erneuter
Unabwendbarkeit, Ausgeliefertsein ans Schicksal,
Ohnmacht, Hilflosigkeit, „Selbst-daran-Schuldsein“
Psychoedukation: Vermittlung von individuellem
Symptomverständnis als Überlebensstrategie, „normale
Reaktion auf unnormale Welt
Aufbau von Selbstbewussheit, Selbstkontrolle,
Mitbestimmung
Halt gebende Beziehung; Veränderung der
Bindungsrepräsentanz
Aufbau eines positiven Rollenbildes, wertschätzende
gleichberechtigte Sexualität
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IV.1.3.Kontaktgestaltung des
traumatisierten Kindes zu den Eltern
• CAVE bei nicht bestätigtem Verdacht auf
Missbrauch in der Familie, aber auch bei
bestätigtem:
• Wunsch nach Nähe des Kindes zur
Bindungsperson, bei gleichzeitiger Gefahr von
Re-Traumatisierung
• Idealisierung als Ausdruck der Identifikation mit
dem Aggressor
• Wenn ein Missbrauch nicht widerlegt wurde,
(Kind sagt nichts) besteht weiterhin die Gefahr
erneuter Übergriffe durch den Täter; die
Machtstrukturen können weiterbestehen.
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IV.2.Umgang mit ungewöhnlichen
sexuellen Verhaltensweisen
Sowohl für BetreuerInnen als auch Betreute ist
anzustreben:
• Sicherheitsheitsschaffende äußere
Rahmenbedingungen (Gruppenregeln, Normen, Werte)
• Transparenz, Enttabuisieren des Themas Sexualität/
Sexuelle Übergriffe
• Klarheit bzgl. Haltungen, Vorgehensweisen
• Konsequentes und sicheres Reagieren
• Wissen , Psychoedukation, Fortbildung
• Sensibilität und Achtsamkeit für Traumata und
Belastungsfakoren in der Vorgeschichte
• Bindungstherapeutisches Verständnis
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Literatur
1 Hüther Gerald (12/2002) Folgen traumatischer Kindheitserfahrungen auf die Hirnentwicklung.
Agsp.de / UB Veröffentlichungen
2 Fegert Jörg ( 1995) Ärztliche Diagnosemöglichkeiten in Klinik und Praxis. In Endres U. Zart war ich,
bitter war´s. Handbuch gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen. KIWi
3 Klaus Vavrik 3/2007 Neurobiologie der psychischen Verarbeitung insbesondere Traumatischer
Erfahrungen. Wissenschaftliche Sitzung Kinder- und Jugendheilkunde Wien
4 Dt.Ges.f. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie u.a. (Hrsg.): Leitlinien zur
Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter.
Deutscher Ärzte Verlag, 3. überarbeitete Auflage 2007 - ISBN: 978-3-7691-0492-9, S. 311 - 317
5 Flatten G, Gast U, Hofmann A, Liebermann P, Reddemann L, Siol T, Wöller W, Petzold ER:
Posttraumatische Belastungsstörung - Leitlinie und Quellentext. 2. Auflage, Schattauer-Verlag,
Stuttgart, New York 2004 AMWF-online
6. Besser Lutz-Ulrich Skript Psychotraumatologie und Traumatherapie Fortbildungscurriculum 20092011 in Bad Endorf
7. Karl-Heinz Brisch, Klassifikation und klinische Merkmale von Bindungsstörungen. In Monatschrift
Kinderheilkunde 2002 .150 S. 140-148; Springer Verlag
8. Weiß Wilma (2008), Philipp sucht sein Ich. 4. überarb. Aufl.
9 Scheuerer-Englisch Hermann, Suess Gerhard J., Pfeifer Walter-Karl O. (HG).( 2003) Wege zur
Sicherheit Bindungswissen in Diagnostik und Intervention. Psychosozialverlag Gießen
10[ Finkelhor, David; Browne, Angela (1985). The Traumatic Impact of Child Sexual Abuse: A
Conceptualisation. American Journal of Orthopsychiatry. 55,530-541
11 Herman Judith Lewis ( 1994/2003) Die Narben der Gewalt. Kindler Verlag
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ENDE
Herzlichen Dank für ihre
Aufmerksamkeit und Mitarbeit!!!
Begriffsdefinitionen
• Re-Inszenierung (der sexuellen Traumatisierung): ein
durch ein Trauma erlerntes Rollenverhalten, der Versuch
die unvollständige Handlung im Trauma zu einem guten
Ende zu führen.
• Abwehrmechanismen im Kontext PTBS- Vermeidung
( Dissoziation, Gefühlsabwehr..)
• Flashback: Wiedererleben der traumatischen Situation
• Traumaschema: Kampf- oder Fluchtreaktion
• Traumakompensatorisches Schema: erlerntes Verhalten
um das Trauma zu kompensieren
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