Look inside the Book

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Look inside the Book
Peter Fritz
Weltgeschehen hautnah: Ein Zeitzeuge
und politischer Beobachter berichtet.
Die Terroranschläge von New York am
11. September 2001 veränderten den
Lauf der Welt. In ihrem „Krieg gegen
den Terror“ setzten die USA auf falsche
Ziele und nahmen in Kauf, dass die
Prinzipien von Demokratie, Rechtsstaat
und Menschenrechten dabei verletzt
wurden. Neue, schwer abschätzbare
Bedrohungen für Wirtschaft und
Sicherheit sind die Folge.
Die Bilanz von Auslandskorrespondent
Peter Fritz zehn Jahre nach 9/11
zeigt die fatalen Auswirkungen der
amerikanischen Politik der Angst.
Peter Fritz
Politik der Angst
Peter Fritz, geboren 1961 in Villach,
studierte Germanistik und Geschichte
in Wien. Seit 1987 ist er beim ORF
tätig, 1992/93 und 1998–2003 war
er Korrespondent in Washington,
2003–2007 Ressortleiter Ausland
der „Zeit im Bild“, seit 2007 ist er
Leiter des ORF-Büros in Berlin.
Er ist verheiratet und Vater von
zwei Kindern. Zuletzt erschienen:
„Der ratlose Riese. Deutschland
20 Jahre nach der Wende“
Politik
der Angst
9/11
und die Folgen
Es waren Stunden, die den Lauf der Welt
veränderten. Als ORF-Korrespondent
in Washington erlebte Peter Fritz am
11. September 2001, wie eine Nation auf
dem Höhepunkt ihrer weltweiten Macht
gedemütigt wurde. Die Reaktion der USA
war eine Politik der Angst, mit Auswirkungen für die ganze Welt.
Auf erste scheinbare Erfolge in Afghanistan und Irak folgte die ernüchternde
Erkenntnis, dass der Preis die Menschenrechte waren, dass nun Kriegsrecht statt
Rechtsstaat galt. Im Sicherheitswahn
gefangen, haben die USA ihre wirtschaftliche Vormachtstellung ebenso wie ihre
moralische Integrität verloren. Im globalen
Rennen um geistigen Einfluss und kulturelle Dominanz befinden sie sich in einer
prekären Situation. Kann Amerika seinen
Abstieg als Weltmacht verhindern?
Peter Fritz zieht zehn Jahre nach den
Terroranschlägen Bilanz und macht
deutlich: Der „Krieg gegen den Terror“
hat auf falsche Ziele gesetzt.
ISBN 9783701732302
ISBN 978-3-7017-3230-2
Umschlagfotos: © Michel Setboun/Corbis (o.);
Bea Sommersguter (u.)
Umschlaggestaltung: www.boutiquebrutal.com
www.residenzverlag.at
Residenz Verlag
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Peter Fritz
POLITIK DER ANGST
9/11 und die Folgen
Residenz Verlag
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
www.residenzverlag.at
© 2011 Residenz Verlag
im Niederösterreichischen Pressehaus
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St. Pölten – Salzburg
Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks
und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.
Fotos: Bea Sommersguter
Umschlaggestaltung: www.boutiquebrutal.com
Umschlagbild: © Michel Setboun/Corbis (oben); Bea Sommersguter (unten)
Grafische Gestaltung/Satz: Gabi Adébisi-Schuster
Schrift: Miller
Lektorat: Dr. Carmen Sippl
Gesamtherstellung: CPI Moravia Books
ISBN 978-3-7017-3230-2
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INHALT
Zu diesem Buch
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Teil I: Im Zeichen des Terrors
Der lange Tag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Augenzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Virtueller Brand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Angst macht Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Leben mit der Angst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil II: Von Kabul nach Bagdad
Krieg für das Gute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ikarus im Flug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Illusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
»Altes Europa« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Besonderer Saft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
»Auftrag ausgeführt« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der Wissende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Top Secret . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Diener zweier Herren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Liste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil III: Krieg der Ideen
Ideengeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Die weltpolitische Falle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Täter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
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Teil IV: Im Schatten der Krise
Finanzabsturz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Der Mahner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
Teil V: Die neuen Konflikte
»Unveräußerliches Recht« . . . . . . . . . . . . . . . .
Schauplatz Asien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Zukunftsmusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Krieg per Automatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der ferne Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Mit smarter Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der Einzelkämpfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil VI: Welt-Unordnung
Der Sputnik-Moment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der Wolf ist da . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das ungleiche Paar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Jenseits der Angst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zu diesem Buch
Was ist passiert am 11. September 2001? Wir kennen die Fakten,
wir kennen die schreckliche Bilanz. Aber war dieser 11. September tatsächlich der Tag, der die Welt ganz entscheidend verändert hat? US-Präsident George W. Bush und sein Gefolge im
Weißen Haus haben alles darangesetzt, um diesen Eindruck zu
erzeugen. Für die Opfer der Anschläge, für die Rettungsmannschaften, für alle, die später in Afghanistan und im Irak in die
kriegerischen Folgen verwickelt waren, hat sich tatsächlich alles
in ihrem Leben geändert, und der 11. September steht als zeitlicher Ausgangspunkt all dieser Veränderungen fest.
Aber mit einigen Jahren Abstand lässt sich auch die Frage
stellen, was dieser 11. September alles nicht war. Er war nicht
Ausdruck des damals so oft beschworenen »Kampfes der Kulturen«. Er war nicht der Moment, in dem die einzige Supermacht
der Erde aufgerufen wurde, ihre Vormachtstellung gegen einen
neuen Feind zu verteidigen. Das Land, das glaubte, die einzige
verbliebene Supermacht der Welt zu sein, war zu diesem Zeitpunkt schon wieder dabei, diesen Status zu verlieren. Längst
hatte der Aufstieg Asiens begonnen, der die Welt viel stärker verändern wird, als es die Anschläge und der darauf folgende »Krieg
gegen den Terror« je vermocht hätten.
Zu den Besonderheiten der Anschläge vom 11. September
zählt das Überraschungsmoment. Niemand hatte das Szenario
vor Augen, das die Terroristen an diesem Tag mit brutaler Entschlossenheit verwirklichten. Bei näherer Betrachtung zeigt sich
allerdings, dass fast alle großen Umwälzungen der letzten Jahre
völlig überraschend gekommen sind, selbst für die jeweils handelnden Personen. Den Fall der Berliner Mauer hätte niemand in
dem Tempo vorhergesehen, in dem er sich im Jahr 1989 vollzog.
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Die Weltfinanzkrise hatten nur ganz wenige Skeptiker vorausgesagt. Die meisten anderen waren zu sehr damit beschäftigt,
ihr lukratives Spiel weiterzuspielen, und konnten daher nicht
erkennen, dass das ganze Kasino über ihnen zusammenbrach.
Der große Umbruch, der sich in der arabischen Welt anbahnt,
hat die Weltpolitik ebenfalls völlig überraschend und unvorbereitet erfasst. Die Staaten des Westens hatten es sich gemütlich
eingerichtet in ihrem Verhältnis zu den Diktatoren und Potentaten des Nahen Ostens. Einer neuen, jungen und noch schwer
einzuschätzenden Demokratiebewegung standen sie recht ratlos
gegenüber, und so konnten sie nur Schelte verteilen an die sündteuren Geheimdienste, die wieder nichts von dem bemerkt hatten,
was sich da zusammenbraute.
Wir müssen damit leben, dass sich die großen weltpolitischen
Entwicklungen oft sprunghaft vollziehen, dass uns manchmal
völlig überraschend neue Realitäten entgegentreten. Die Natur
macht keine Sprünge, sagten die Philosophen seit der Antike. Bis
ihnen dann Max Planck entgegentrat, mit dem Nachweis, dass
alles Wirken der Natur im Allerkleinsten auf Quantensprüngen
basiert.
Von beiden Dimensionen handelt dieses Buch. Von dem, was
sich über längere Zeitabschnitte anbahnt, und von dem, was völlig
überraschend in die Welt getreten ist, wie es die Ereignisse des
11. September 2001 waren. Ich habe sie miterlebt, als Leiter des
ORF-Büros in Washington und als Familienvater, der sich plötzlich mit seinen Angehörigen in einer Region wiederfand, die zur
Zielscheibe geworden war. Ich habe in den USA die Jahre erlebt,
in denen der Schock des 11. September politisch benützt wurde,
um alte Rechnungen zu begleichen und neue Realitäten zu
schaffen, mit dem Irakkrieg, der sich für die USA vom anfänglichen Triumph zur ständig offenen Wunde wandelte.
Und ich erlebe jetzt Tage, in denen zuweilen behauptet wird,
der »Krieg gegen den Terror« hätte mit dem Umbruch in der
arabischen Welt eines seiner Ziele erreicht. Man kann alles mit
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allem verknüpfen, aber nur dann, wenn man den Selbstbetrug
durch selektive Wahrnehmung auf die Spitze treibt.
Bei meinen Erkundungen zu diesem Buch bin ich einer Reihe
von faszinierenden Menschen begegnet, den meisten davon in
meinen wichtigsten journalistischen Jagdgründen Washington,
New York, Wien und Berlin. Ich möchte ihnen in diesem Buch
eine Bühne geben, auf der sie ihr Erlebtes und ihre Erfahrungen
schildern können. Von den Augenzeugen der Anschläge über
Zeitzeugen, die in Afghanistan und im Irak deren weltpolitische
Folgen erlebt haben, bis hin zu einem Mitwirkenden in entscheidenden Momenten der Krisendiplomatie. Sie alle können Elemente beisteuern, die ein Abbild der neuen weltpolitischen Verhältnisse liefern. Das Bild muss bruchstückhaft ausfallen, auch
deshalb, weil die Dinge ständig im Fluss sind.
Ich fühle mich dabei, in Isaac Newtons berühmten Worten,
wie ein Kind, das am Strand spielt und froh ist, wenn es ein paar
runde Steine und schöne Muscheln findet, während sich der
Ozean der Wahrheit unerforscht weithin zum Horizont erstreckt.
Der Ozean bezeichnet das Zukünftige. Was das Vergangene
und die Gegenwart anlangt, so ergeben die runden Steine und
die bemerkenswert geformten Muscheln der folgenden Kapitel
ein, wie ich hoffe, ansprechendes und anregendes Mosaik.
Berlin, im Februar 2011
Peter Fritz
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Teil I
IM ZEICHEN DES TERRORS
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Der lange Tag
Blau, ein endloses, tiefes Blau, von keiner Wolke getrübt. So hat
der Himmel über Washington und New York ausgesehen an diesem Tag. Wenn Sie mit Amerikanern über den 11. September
2001 reden, dann werden sie über kurz oder lang immer wieder
auch davon sprechen. Was für ein prächtiger Spätsommertag das
doch gewesen sei. Ein Tag, an dem das Alltagsleben gerade wieder begonnen hatte, an dem die Schulen wieder den Unterricht
aufnahmen nach den langen Ferienmonaten, an dem die Leute
wieder an die Arbeitsplätze strömten statt an den Strand. Einer
von ihnen hieß George W. Bush, war Präsident der Vereinigten
Staaten und ließ die Amtsgeschäfte nach einem langen RanchUrlaub in Texas recht gemütlich wieder angehen.
Er war in eine kleine Schule in Florida gefahren, um Schülern
der zweiten Schulstufe die Freuden des Lesens beizubringen. Ein
Präsident, der weit weg war, beschäftigt mit einem nur mäßig
aufregenden Pensum, das schien auch für uns Journalisten ein
paar ziemlich ruhige Tage zu verheißen.
»Peter!« Der Ton kommt ziemlich schrill und stark gepresst
durchs Handy. »Peter, schalte deinen Fernseher ein!« Am Telefon ist Irene Gangel, die Hauptsekretärin der Fernsehauslandsredaktion, eine Dame, der man nicht widerspricht. »Ein Flugzeug ist ins World Trade Center in New York geflogen!« Der von
mir schnell angeworfene Fernseher zeigt – ein Basketballmatch.
»Na, so groß kann die Story aber nicht sein«, brumme ich ins
Telefon, nach Handtuch, Gewand und Fernbedienung angelnd,
während ich zugleich das Handy am Ohr belassen muss. Ich bin
nämlich gerade aus der Dusche gestiegen, und das Handy ist das
Einzige, was ich am Leibe trage. »Doch, doch, das ist groß!«, belehrt mich Irene ungerührt. Wie gesagt, man sollte ihr nicht
widersprechen. Aber erst nach einer längeren Schrecksekunde
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fällt mir ein, dass die Kabelgesellschaft bei mir vor Kurzem die
Abfolge der Fernsehkanäle umgestellt hat. Auf dem Kanal, den
ich für CNN gehalten hatte, läuft weiter Basketball, aber nach
und nach beginnt auf jedem anderen Kanal die Silhouette der
New Yorker Zwillingstürme aufzutauchen. Die Kameras, die das
Geschehen festhalten, sind eigentlich für den Wetterbericht
gedacht, bringen normalerweise den üblichen morgendlichen
Liveblick über die Skyline in Amerikas Haushalte. Nun werden
sie hastig auf den rauchenden Nordturm des World Trade Center
fokussiert. Dicker Rauch dringt hervor, und ratlose Fernsehkommentatoren versuchen, dem, was da zu sehen ist, einen Sinn
abzugewinnen. War es ein Kleinflugzeug, das sich verirrt hat? Es
scheint die plausibelste Erklärung zu sein. Aber wer verirrt sich
im Luftraum über New York an so einem prachtvollen Schönwettertag, mit klarer Sicht über Dutzende Kilometer?
Mit vollem Schub, aber trotz des Tempos deutlich eingefangen
von den adaptierten Wetterkameras, rast des Rätsels grauenhafte
Lösung heran. Der Einschlag des zweiten Flugzeugs in den Südturm, live miterlebt von Millionen Menschen. »Now it’s clear.
That’s an attack«, sagt eine Stimme im Fernsehen. Ja, in diesem
Moment ist es allen klar. Ein Angriff auf Amerika hat begonnen,
ein Angriff mitten hinein in die stolz emporragenden Türme und
damit auch mitten hinein ins Selbstbewusstsein der Nation.
Ich sitze noch immer in meinem Schlaf- und Ankleidezimmer
in Washington, habe zwischen dem einhändigen Überziehen von
Socken und Hemd rund fünf Telefonate absolviert und fasse
einen ersten Plan. Mit Graham Scott, unserem Kameramann,
den alle Welt nur Scotty nennt, habe ich schon telefoniert. Er
wohnt mitten in der Stadt, könnte in kürzester Zeit zum Flughafen kommen. Wir verabreden, uns dort zu treffen. Alles weitere werde sich dann ergeben. »Schätzchen, ich muss nach New
York!«, rufe ich meiner Frau Bea zu, die herbeigeeilt ist und mit
mir fassungslos den zweiten Angriff verfolgt hat. »Okay«, ruft mir
Bea zu. »Ich kann dich zum Flughafen bringen.« Sie schwingt
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sich auf den Fahrersitz unseres Minivans und wir sausen los. Ich
drehe am Autoradio herum. Das sonst so zuverlässige und souveräne NPR (National Public Radio) ist vollkommen von der
Rolle, spielt nichtssagende Beiträge aus aller Welt und schaltet
zwischendurch kurz über Telefon Augenzeugen aus New York ins
Programm, die nur wenig mehr zu berichten wissen als das, was
ohnehin jeder Fernsehzuschauer sieht. Später wird NPR einen
Medienpreis für seine ausgezeichnete Berichterstattung am
11. September bekommen. Die chaotischen ersten zwei Stunden
des Programms dürften die Juroren überhört haben.
Wir rollen über den MacArthur Boulevard, die wichtigste Verbindungsstraße zwischen unserem Vorort und Washington. Der
National Airport ist unser Ziel, der Flughafen, von dem jede halbe
Stunde der »Shuttle« startet, die meistfrequentierte Flugverbindung zwischen der Hauptstadt und New York. Das Rollen wird
zum Stehen, der Verkehr in Richtung Hauptstadt stockt. Mein
Handy läutet. Scotty ist am Telefon. Er ist schon am Flughafen,
aber er hat erfahren, dass es mit dem Fliegen nichts mehr werden
dürfte. »Da ist nämlich auch hier etwas passiert, beim Pentagon«,
meint er. Näheres wisse auch am Flughafen noch keiner. Das
Pentagon, das gigantische Hauptgebäude des US-Verteidigungsministeriums, liegt genau zwischen unserer Autokolonne und
dem Flughafen, und als wir einen Hügel hinter uns bringen, der
den Blick verstellt hat, sehen wir auch schon den nächsten Boten
des Unheils an diesem Tag: Eine riesige Rauchsäule steigt über
dem Pentagon auf. Bea bleibt völlig ruhig, hält ihren Kurs in
Richtung Flughafen. Aber als wir uns dem Pentagon auf einen
halben Kilometer nähern, ist Schluss: Feuerwehrautos rasen in
Richtung Rauchsäule, aber uns beiden versperrt die Polizei den
Weg. New York scheidet als Flugreiseziel aus, so viel ist sicher.
Immer wieder habe ich vom Beifahrersitz aus versucht, mit
meinem Handy eine Verbindung nach Wien zu bekommen.
Immer wieder Besetztzeichen. Kein Wunder, denn ganz Amerika
will telefonieren in diesem Moment. Aber dann gelingt es doch.
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Ich habe die geheime Durchwahl gewählt, über die man sich
direkt in die Sendung schalten lassen kann. Redaktion und Regie
zögern etwas, ich höre die aufgeregten Rufe, die durch den
Wiener Newsroom hallen. »Der Peter Fritz ist beim Pentagon!« –
»Gibt’s nicht!« – »Doch, er sieht den Rauch!« – »Na gut, schaltet’s
ihn rein.« Auf ORF 2 ist die Sondersendung zu den Anschlägen
in vollem Gang. Noch weiß keiner, dass es die längste Sendung in
der Geschichte des ORF werden wird, länger als die vielen Stunden, die mein Sender seinerzeit für die Mondlandung aufgewendet hat. Eugen Freund, mein langjähriger Chef und Vorgänger in
Washington, sitzt am Wiener Moderatorentisch, zusammen mit
Hannelore Veit. Ich schildere meine Eindrücke, berichte vom
Rauch über der Szene und vom Großeinsatz der Feuerwehr. Was
die Ursache betrifft, so bin ich auf Informationen aus zweiter
Hand angewiesen. Ich habe im Autoradio Aussagen gehört, wonach es auch in diesem Fall ein großes Passagierflugzeug gewesen sein dürfte, das vom Westen her ins Pentagon gerast ist. Ich
gebe die Aussagen, live auf Sendung in Wien, mit aller Vorsicht
weiter. Noch kann niemand mit irgendwelchen gesicherten Informationen aufwarten.
Der Hauptschauplatz ist New York, auch in unserer Sondersendung. Die Bilder der Livekameras von der Skyline spielen die
Hauptrolle, so wie überall auf der Welt. Aber als klar wird, dass
sich auch rund um Washington etwas abspielt, da weitet sich das
Bild, und aus einer gezielten Attacke auf ein US-Symbol mit zwei
Türmen und Tausenden von Menschen wird ein viel breiter angelegter Angriff auf das Herz des amerikanischen Systems.
Es ist dieser Moment, in dem auf einmal alles möglich zu sein
scheint. Gerüchte mutieren in kürzester Zeit zu angeblichen
Neuigkeiten. Selbst das einigermaßen seriöse CNN berichtet
aufgeregt von einer Autobombe, die beim US-Außenministerium explodiert sein soll. Es dauert ziemlich lange, bis sich diese
Information als falsch und grundlos erweist. Noch bunter geht es
auf diversen Lokalsendern zu, durch die ich mich im Autoradio
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durchschalte. Das Washington Monument, der riesige Obelisk
im Zentrum der Stadt, sei gesprengt worden, heißt es da.
Es gibt in Washington keine Hochhäuser, weil nichts in der
Stadt höher aufragen soll als das Washington Monument. Aber es
gibt ein paar hohe Bürotürme gleich außerhalb der Stadtgrenzen,
in Rosslyn, nahe dem Pentagon, dort, wo wir gerade unterwegs
sind. Wir sehen Ströme von Tausenden von Menschen, die jetzt
aus diesen Gebäuden flüchten, hinaus ins Freie, auf die breiten,
aber sonst sehr wenig genutzten Gehsteige, die sich nun bis zum
Bersten füllen. Die meisten tragen das übliche, konservative Outfit der Washingtoner Büromenschen aus Politik und Verwaltung,
also Anzüge für die Herren in Grau, Schwarz oder Blau und Kostüme für die Damen, die ein wenig bunter ausfallen können, aber
ebenso unaufgeregt wirken sollen. Im üblichen Bürobetrieb soll
das geschäftsmäßige Solidität verkörpern, jetzt, im Angesicht des
Chaos, wirkt es nur noch deplatziert. Der Blick der Massen wandert ständig, von der Straße zu den Gebäuden, von den Gebäuden
in die Luft. Da könnte etwas direkt auf uns zukommen, scheint
der Blick zu verheißen, und es ist das erste Mal, dass ich hinüber
zum Fahrersitz schaue und mir denke, was für ein Leichtsinn das
ist, dass Bea und ich jetzt gemeinsam im selben Auto sitzen, mitten in einer möglichen Zielscheibe, weit weg von unseren Kindern.
Wir sind an der Polizeisperre vor dem Pentagon umgekehrt,
rollen langsam zurück in die Stadt, über die Key Bridge, die den
Hauptstadtfluss Potomac überspannt. Von dort bietet sich ein
prächtiger Blick – über das vollkommen intakte Washington Monument. Na, wenigstens etwas, denke ich mir, und als ich wenig
später wieder live auf Sendung bin, kann ich zumindest ein
Stück absolut sicherer Information beitragen. Das Washington
Monument, es steht noch.
Kurz vor zehn Uhr wirft mich Bea vor dem ORF-Büro ab. Seit
den Achtzigerjahren besitzt der ORF dieses Haus, ein typisches
»townhouse«, eine Art Reihenhaus also in (nachgemacht) altenglischer Manier, mit roter Ziegelfassade, drei Stockwerken
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übereinander, ganz engen Verbindungstreppchen dazwischen
und winzigen Zimmern. Es befindet sich außerhalb des Stadtzentrums, im traditionsreichen und gediegenen Ausgehviertel
Georgetown. Oft habe ich gelästert über die Wahl des Standortes,
hätte es für besser gehalten, näher dem Zentrum zu sitzen, wo
die Schauplätze der Macht bequem zu Fuß erreichbar wären.
Aber an diesem Tag bin ich recht froh darüber, dass wir hier
etwas weiter weg von den heißen Zentren sind, noch dazu in
einem sehr niedrigen Gebäude.
Das ORF-Korrespondententeam in Washington besteht in
diesen Tagen aus drei Personen. Neben mir als frisch ernanntem
Leiter ist Hartmut Fiedler dabei, ein alter Freund und Profi, der
aus dem Radio kommt und die dortigen Mechanismen und
Strukturen im kleinen Finger hat. Er wohnt gleich nebenan, war
als Erster im Büro und hat sich sofort in das Abenteuer gestürzt,
drei ORF-Radiokanäle praktisch gleichzeitig mit aktuellen Informationen zu versorgen. Direkt neben ihm sitzt unsere jüngste
Kollegin, die ebenfalls sofort aus ihrer Wohnung in der Nähe
herbeigeeilte Barbara Wolschek. Sie ist erst seit einem Monat in
Washington. Bis zu diesem 11. September hatte es für sie bei uns
nicht allzu viel zu tun gegeben. Erst vor Kurzem hatte sie sich bei
mir über den doch recht faden Büroalltag beklagt. Nur zu einer
größeren Fernsehgeschichte war sie in den ersten Wochen eingeteilt worden. Die hatte mit der Angst vor einem neuartigen
Stechmücken-Virus zu tun. Sowohl Scotty, der Kameramann,
als auch ich hatten ihr versichert, so ruhig werde es im Büro
nicht bleiben. Wie recht wir hatten, wussten wir bald darauf.
Und Barbara Wolschek hat seither nie wieder über Arbeitsmangel
geklagt. Sie musste praktisch aus dem Stand von einer jungen,
zur Ausbildung entsandten Nachwuchskorrespondentin zur
Kriegs- und Krisenberichterstatterin werden und hat die Herausforderung mit Bravour gemeistert.
Hartmut und Barbara hängen unter ihren Kopfhörern und
geben stoisch und professionell einen Radiobericht nach dem
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anderen durch. Die Sendeleitungen, über die unsere Tonsignale
nach Wien gehen, sind ziemlich stabil. Handy- und Festnetztelefon dagegen werden immer öfter zur Glückssache. Und E-Mails
kann man zwar verschicken und mit Glück auch empfangen,
aber es kann einen halben Tag oder länger dauern, bis die Botschaften ans Ziel kommen. Keine Frage, da wird jetzt von interessierter Seite schon um vieles intensiver mitgelesen bei allem,
was über amerikanische Drähte ins Ausland geht.
Fassungslos verfolgen wir, wie die beiden Türme des World
Trade Center in sich zusammensinken. Ich will zunächst nicht
glauben, dass das so einfach passieren kann. Ich vermute, da
wären vielleicht zusätzliche Sprengladungen in den unteren
Stockwerken der Türme versteckt gewesen. Es will mir zunächst
nicht in den Kopf, dass eine Konstruktion so zusammensacken
kann, wenn doch eigentlich nur ihr oberster Teil schwer beschädigt ist. Aber bald bestätigen Experten, dass der Einsturz eine
völlig logische Folge der Attacken sein musste. Wenn die schweren Massen eines Gebäudes einmal ins Rutschen kommen, dann
gibt es von ganz oben bis ganz unten kein Halten mehr. Die Entführer hatten ganz bewusst Flugzeuge ausgewählt, die zu Langstreckenflügen an die US-Westküste abgehoben hatten. Denn
deren Kerosintanks waren voll, die verheerende Wirkung ihrer
Explosion auf die Stahlträger des World Trade Center war damit
garantiert. Und Osama bin Laden hatte als gelernter Bauingenieur auch gewusst, dass eine derartige strukturelle Beschädigung den Einsturz praktisch zwingend zur Folge hat.
Im Obergeschoss des Washingtoner Büros steht unser Fernsehstudio. Es ist nur ein winziger Raum, dekoriert mit einer Fototapete, die das Weiße Haus bei Schönwetter zeigt. Zwei Zimmer
weiter gibt es mir einen Ruck: Ich sehe direkt von unserem Bürofenster aus, wie über dem Pentagon eine riesige Rauchsäule aufsteigt. »Doug, Scotty!« Unsere Techniker sind an Bord. Beide
sind als Meister im Improvisieren bekannt. »Wie lang ist unser
Kamerakabel?«, frage ich. »Das kriegen wir hin«, ist die Ant19
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wort, und wenig später steht unsere Studiokamera vor dem Bürofenster Richtung Pentagon. Als wir wenig später live auf Sendung gehen, kann ich ganz unmittelbar darstellen, was den Himmel über Washington jetzt dominiert. Der dicke, dunkle Rauch,
der vom Pentagon aus hochsteigt, erscheint jetzt im Bild der
Livekamera direkt über meinen Schultern, nur rund zwei
Kilometer Luftlinie von uns entfernt.
Zu den üblichen Klischees gehört es, dass in einem Nachrichtenbetrieb stets große Hektik herrscht, vor allem dann, wenn
sich die Meldungen überstürzen und überschlagen, wie an diesem denkwürdigen Vormittag im Washingtoner Büro. Das Wort
Hektik trifft die Sache aber nicht wirklich. Denn gerade in solchen
Situationen macht jeder Journalist nur noch das, was unmittelbar für den jeweiligen Zweck, für den nächsten Liveeinstieg, für
die nächste Geschichte, nötig ist. Alles, was der Alltag sonst an
Störeinflüssen bieten kann, ist ausgeblendet, man arbeitet viel
zielorientierter, ruhiger und konzentrierter. An Hektik kann ich
mich nicht erinnern, wenn ich an diesen Tag zurückdenke, sehr
wohl aber an ein äußerst diszipliniert arbeitendes Team. Und an
einen Moment des Aufatmens. Als nämlich klar wurde, dass das
vierte entführte Flugzeug, das Kurs auf Washington gehalten
hatte, nicht mehr auf uns zuflog, sondern auf einem freien Feld
in Pennsylvania zerschellt war. Auch das war eine Tragödie, das
wussten wir natürlich im selben Moment und berichteten auch
entsprechend. Aber das Gefühl, dass uns hier in Washington
nicht gleich unmittelbar der nächste Einschlag bedrohen würde,
war uns, subjektiv gesehen, doch ein kurzes Aufatmen wert.
Drei Stunden arbeiten wir vor uns hin, geben den jeweils letzten Stand der Schrecknisse weiter für Hörfunk und Fernsehen,
die in Österreich, wie überall auf der Welt, permanent auf
Sendung bleiben. Dann rufe ich das Miniteam zu einer kurzen
Besprechung zusammen. Sie besteht im Kern aus einem Satz:
»Einer von uns muss nach New York. Und ich finde, der solltest
du sein.« Ich blicke Hartmut Fiedler an. Er ist nicht sofort Feuer
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und Flamme, was ich verstehe. Denn er müsste jetzt, in dieser
Situation, seine Frau Petra und seinen kleinen Sohn Arthur in
der zur Zielscheibe gewordenen Stadt Washington allein lassen,
um selbst in die noch größere Zielscheibe New York zu eilen.
Aber dann macht er sich mit Scotty und einem Mietwagenchauffeur auf einen abenteuerlichen Weg, der ihn mit viel Glück
und Geschick noch am selben Abend nach Manhattan bringen
wird. Für den Erfolg sorgt vor allem Scotty, der an der Polizeisperre vor Manhattan schon von Weitem seine Pressekarte fürs
Weiße Haus zückt, den Beamten ganz laut das Wort »White
House« und ganz leise das Wort »Press« zuruft und damit rasch
freie Fahrt erntet. »That’s cool, man!«, ruft befriedigt der überraschte Chauffeur.
Bei Petra Fiedler zuhause in Washington versucht indes noch
am selben Abend ein Einbrecher, sich Zugang zum Haus zu
verschaffen. Petra stürzt aus dem Haus, läuft brüllend auf den
Mann los, der sich in sein Auto rettet. Petra schnappt sich eine
Mineralwasserflasche, schlägt eine Autoscheibe ein und treibt
den Einbrecher damit endgültig in eine panische Flucht. Was
man als Korrespondentenfrau halt so können muss. That’s cool,
woman.
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Augenzeugen
Der Tag hatte mit Ärger begonnen für Thomas Suppanz, einen
gebürtigen Steirer und Wahl-New-Yorker. Er hatte die U-Bahn
versäumt, würde zu spät zur Arbeit kommen an eine der besten
Adressen der Stadt. Ja, wenn man es in New York schafft, dann
schafft man es überall, wie Sinatra zu singen pflegte. Und Thomas
Suppanz hatte es geschafft. Ein schöner Posten in der Finanzwelt, und das in einem Büro mit schöner Aussicht, Südturm des
World Trade Center, 29. Stock.
Nur ein paar Kilometer Luftlinie, aber ziemlich viele Lebenswelten davon entfernt, hatte der junge Schriftsteller John Wray
seinen Tag begonnen. Zwei Jahre hatte er in einem fensterlosen
Kellerraum in Brooklyn gehaust, der eigentlich einer Rockband
als Proberaum diente. Ohne finanzielle Mittel, ohne Tageslicht,
aber mit viel kreativer Energie hatte er, buchstäblich im Untergrund, seinen Roman The Right Hand of Sleep verfasst. Ein
erster Erfolg für ihn. Er konnte es sich leisten, nach Park Slope
zu ziehen, in einen hoch gelegenen Teil von Brooklyn, der einen
prachtvollen Blick auf die Skyline von Manhattan bietet.
John Wrays Mutter stammt aus Friesach in Kärnten. Wenn er
deutsch spricht, dann mischen sich amerikanischer und kärntnerischer Akzent zu völlig neuer, sanfter Harmonie. Wenn er
englisch spricht, dann tut er das langsam, bedächtig und so, dass
man jeden seiner Sätze unverändert drucken könnte.
In Washington versuchte am frühen Morgen ein Mann, zunächst einmal alles an seinen Platz zu rücken, bevor er mit der
Büroarbeit beginnen konnte. Es war sein erster offizieller Arbeitstag auf diesem Posten. Wolfgang Ischinger war der neue
deutsche Botschafter in Washington. Er stellte sich auf einen Tag
des gemächlichen Einarbeitens ein, wollte sich zunächst einmal
in Ruhe anschauen, wer seine engsten Mitarbeiter waren, wie
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man das Telefon handhaben musste und wie die Fernbedienung
für das Fernsehgerät im Botschafterbüro funktionierte.
In Peking war schon der Abend hereingebrochen an diesem
11. September. Horst Teltschik war dort in Begleitung seines
langjährigen Chefs, des deutschen Altbundeskanzlers Helmut
Kohl. Teltschik galt als Kohls wichtigster außenpolitischer Berater. Er hatte ganz wesentlich daran mitgewirkt, dass Deutschland nicht einmal ein Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer
schon seine Vereinigung feiern konnte, allen anfänglichen Widerständen in Ost und West zum Trotz. Kohl und Teltschik waren
zu einer Konferenz über aktuelle Themen internationaler Politik
geladen. Auch Zbigniew Brzezinski, der frühere Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, war dabei.
Thomas Suppanz fuhr in die riesige U-Bahn-Station unter
dem World Trade Center ein und bekam sofort zu spüren, dass
irgendetwas anders war. Der direkte Weg nach oben ins Büro
wurde ihm versperrt, über ein Gewirr aus unterirdischen Gängen
wurde er ins Freie gelotst, Gerüchte über eine Bombe machten die
Runde. Dann, nach 20 Minuten im unterirdischen Menschenstau,
sein erster Blick ins Freie. Zuerst in die entsetzten Gesichter der
Umstehenden, dann auf den brennenden Nordturm mit dem klaffenden, dunklen Loch. Sein erster Gedanke war es, dennoch ins
Büro zu gehen. Das lag ja im anderen, noch unversehrten Südturm. Aber der Weg dorthin war blockiert, und wenige Minuten
später, als auch der Südturm getroffen war, da blieb Thomas Suppanz nur noch die eilige Flucht durch die Straßen von Manhattan.
John Wray wird von einem Freund angerufen und kann das
Gesagte zuerst nicht glauben. Dann macht er sich auf den kurzen
Weg über die Stiege, die auf das Flachdach seines Wohnhauses
führt. »Ich hatte nie zuvor bemerkt, dass die Tür am Ende dieser
Stiege wie ein Bilderrahmen genau die zwei Türme des World
Trade Center einfasst«, meint er. Jetzt stehen mit ihm Tausende
von Menschen auf den Flachdächern von Brooklyn, schauen ungläubig auf die rauchenden Türme jenseits des East River. »Viele
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haben einfach nur still vor sich hin geweint«, berichtet John
Wray. Als dann der erste Turm gefallen sei, da habe er einen der
größten Schocks seines Lebens empfunden, das gibt er unumwunden zu. »Von Brooklyn aus hat das wegen der enormen
Staubentwicklung so ausgesehen, als würde die ganze Südspitze
von Manhattan explodieren. Ich war sicher, dass es da hunderttausend Tote geben würde.« Noch heute legt sich der Schrecken
dieses Moments wie ein unterschwelliges Klirren auf seine sonst
sehr sanfte Stimme. Besonders bizarr sei ein Anblick von ganz
eigenartiger Schönheit gewesen, der im Moment des Kollapses
zu beobachten war. Plötzlich war, von Brooklyn aus gesehen,
jedes Stockwerk der einstürzenden Türme von einer Aura aus
Regenbogenfarben umgeben. Es waren die Fensterscheiben, die
unter hohem Druck von dem Gebäude ausgestoßen wurden,
noch in der Luft millionenfach zersplitterten und damit für ein
nie zuvor gesehenes, kaleidoskopartig funkelndes Farbenspiel
sorgten. »Ich bin mir sicher, dass ich nie wieder etwas so konkret
Apokalyptisches zu sehen bekomme«, resümiert John Wray.
Sein neuestes Buch heißt Lowboy (deutsch: »Retter der Welt«)
und handelt von einem geistig verwirrten Sechzehnjährigen, der
im New Yorker U-Bahn-Netz unterwegs ist, besessen von dem
Gedanken, er könne die Welt vor der globalen Erwärmung retten.
Ich frage ihn, ob in dem Buch auch etwas von dem Gefühl mitschwingt, das der 11. September 2001 nach New York getragen
hat. »Ja, ganz sicher«, meint er. Fast jedes Stück amerikanischer
Gegenwartsliteratur hätte jetzt etwas davon, er sei da keine Ausnahme. »Dieses Gefühl, dass da immer Unheil lauert, das Wissen
um die ständige Verwundbarkeit, das wird immer durchklingen.«
Es ist ein Gefühl, das New York und den New Yorkern erhalten
bleibt. John Wray formuliert es gekonnt poetisch: »It’s in the
wallpaper«, meint er, man bekommt es als New Yorker nicht
mehr aus der Tapete heraus.1
In Washington hat sich Wolfgang Ischinger, der neue Mann
in der deutschen Botschaft, seinen ersten Arbeitstag ganz anders
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vorgestellt. Als sein Assistent ins Büro stürzt und ihm zuruft, er
möge den Fernseher einschalten, da gelingt ihm das nur mit
Mühe. Er hat die Tücken der Fernbedienung noch nicht im Griff.
Dann sieht er die Wiederholung des Angriffs auf New York, und
zeitgleich sieht er aus dem riesigen Panoramafenster seines Botschafterbüros in Washington, wie zwei Kilometer Luftlinie von
ihm entfernt die Rauchsäule über dem Pentagon zu wachsen beginnt. Er lässt sich sogar zum Pentagon chauffieren, so nahe man
ihn heranlässt, und er spürt selbst aus Hunderten Metern Entfernung die enorme Hitzestrahlung, die vom Brandherd ausgeht.
Seine Frau sitzt währenddessen im Keller der Residenz. Das Gebäude liegt nahe der Einflugschneise des Flughafens, noch weiß
niemand, wie groß die Gefahr noch ist. Dann beginnen die Telefone heißzulaufen. Besorgte Angehörige erkundigen sich nach
dem Schicksal von Vermissten, und zwar zu Tausenden.2
Am Abend dieses Tages, der lang und hektisch verlaufen war,
setzt sich Wolfgang Ischinger hin und verfasst ein »Kabel« an
seine Zentrale, das Auswärtige Amt in Berlin, selbstverständlich
versehen mit der höchsten Dringlichkeitsstufe »citissime nachts«,
die bedeutet, dass der zuständige Abteilungsleiter nachts aufzuwecken ist.
»betr.: USA: terroranschläge
zur unterrichtung –
der größte terroranschlag in der us-geschichte bedeutet für
us-politik und öffentlichkeit ein ›zweites pearl harbor‹. nach diesem angriff auf das herz amerikas wird das tägliche leben der
amerikaner und ihr selbstverständnis von ihrem platz in der
welt nicht mehr so sein wie zuvor. (…)
ohne zweifel werden die usa von uns und anderen engen alliierten politisch und praktisch uneingeschränkte solidarität
erwarten. Ich habe mündlich unsere bereitschaft zu voller solidarität bereits nachdrücklich geäußert. Das angebot der bundesregierung, räumgerät zur verfügung zu stellen, haben wir an usregierung übermittelt. « 3
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In Peking schauen sich Horst Teltschik und Zbigniew Brzezinski gemeinsam auf einem Hotelfernseher die dramatischen
Bilder aus New York an. Ziemlich stumm bleiben die beiden, bis
Brzezinski seinen Blick auf Teltschik richtet. »Na, Herr Teltschik«,
schnarrt Brzezinski, »was würden Sie dem amerikanischen Präsidenten jetzt raten?«
Horst Teltschik denkt lange nach und antwortet dann: »Eine
sehr schwierige Frage.« 4
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Virtueller Brand
Rund 36 Stunden bin ich durchgehend wach geblieben am
11. und 12. September, große Teile davon live auf Sendung, dann
naht zum ersten Mal die Chance auf ein paar Stunden Schlaf. Ich
sinke in einen tiefen, traumlosen Schlummer. Nicht einmal eine
Stunde lang. »Peter!« Eine aufgekratzte, ausgeschlafene Stimme
ist am Telefon. Sie gehört dem Chef vom Dienst der Nachtschicht im Wiener ORF-Newsroom, nennen wir ihn Schall.
»Peter! Das Empire State Building brennt!« Meine Gehirnzellen
bemühen sich, möglichst schnell wieder von null auf hundert zu
kommen. Das hat ja gerade noch gefehlt. Ist das jetzt die zweite
Welle der Anschläge? Seit dem Fall der Zwillingstürme ist das
Empire State Building wieder das höchste Gebäude von New
York. Als Ziel könnte es verlockend sein. Ich rase hinunter in
mein Kellerbüro, schalte auf das Livebild aus New York und sehe
ein völlig intaktes Empire State Building dort stehen. Mit viel
Fantasie könnte man Rauchschwaden zu sehen glauben. Es handelt sich um dichten Nebel, der gerade über Manhattan einfällt.
Auf dem »Ground Zero«, der Unglücksstelle am World Trade
Center, wurden riesige Scheinwerferbatterien aufgestellt, die den
Helfern die Arbeit erleichtern sollen. Noch hoffen sie, Überlebende aus dem dicht gepressten Schutt holen zu können. Dichter Nebel, angestrahlt von Scheinwerfern, das ist es, was mein
Kollege Schall als Anzeichen für ein brennendes Empire State
Building interpretiert hat.
Ich rufe Schall an und erkläre ihm seine Sinnestäuschung.
In diesem Moment mischt sich ein weiterer Kollege aus dem
Wiener Newsroom, nennen wir ihn Rauch, in die Konversation
ein. Er moderiert die nächste Etappe der Sondersendung. »Aber
wenn du jetzt eh schon wieder wach bist, kannst du ja gleich auf
Sendung erklären, warum das so komisch aussieht«, meint er.
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Und so muss ich, Schall und Rauch sei’s gedankt, noch einmal all
meine verbliebene Gedankenschärfe aufbieten, um dem Fernsehpublikum um fünf Uhr früh Wiener Zeit telefonisch zu erläutern, warum es gerade nicht brennt auf dem aktuellen Livebild
aus New York, obwohl man meinen könnte, dass es vielleicht danach aussähe. Eine Reportage aus der virtuellen Realität. Auch
eine neue, aber nur wenig bereichernde Erfahrung.
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