Von der Moderne zur europäischen Stadt
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Von der Moderne zur europäischen Stadt
Architektur Forum 2002 weissenhof Von der Moderne zur europäischen Stadt Stuttgart 19.-21. Juli 2002 Dokumentation | Vorträge 1 Prof. Dr. Jean-Louis Cohen Der Aufbruch in die Moderne – Internationale Tendenzen um 1925 Veranstalter 2 Prof. Karin Kirsch Die Weißenhofsiedlung – Traditionalismus contra Moderne in Stuttgart 3 Prof. Dr. Norbert Huse Denkmalpflege und Moderne Landeshauptstadt Stuttgart Gesamtkoordination: Stadtplanungsamt 4 Prof. Dr. Werner Durth Tendenzen in der Moderne – Positionen gegen die Moderne 5 Prof. Dr. h.c. Günter Behnisch Der zweite Aufbruch in die Moderne 6 Prof. Matthias Sauerbruch Moderne ohne Dogma 7 Prof. Paul Kahlfeldt Rückkehr zur Vormoderne? 8 Prof. Dr. Franz Pesch Städtebauliche Leitbilder in der Kontroverse – Was sagt und die Moderne heute? 9 Prof. Kees Christiaanse Die Stadt als Loft 10 Prof. Marc Angélil www.weissenhof.de Urbane Entropie – Gedanken zur Stadt der Gegenwart Wüstenrot Stiftung Verantwortlich für das Fachprogramm am 19. Juli 2002 Ein Beitrag zum Architektur-Weltkongress Franz Pesch Städtebauliche Leitbilder in der Kontroverse 2 Städtebauliche Leitbilder in der Kontroverse – Was sagt uns die Moderne heute? Prof. Dr. Franz Pesch Universität Stuttgart, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen, Planungsbüro in Herdecke Einleitung 75 Jahre Weißenhofsiedlung sollen auch ein Anlass zur Bilanz ihres städtebaulichen Anspruchs sein. Gehen von den städtebaulichen Idealen der Moderne heute noch Impulse aus? Gilt also hier in besonderer Weise, „... dass die Moderne noch nicht angekommen ist“, wie es Peter Eisenman formuliert hat (de Bruyn)? Oder ist der moderne Städtebau auf einen Nebenweg geraten und nun – als Vorbild untauglich – endgültig in der Sackgasse des Bauwirtschaftsfunktionalismus gefangen? Wenig zuversichtlich stimmt, dass man sich gerade dort mit Nachdruck der Möglichkeit verweigert hat, an die städtebaulichen Ideen und Visionen der 20er und 30er Jahre anzuknüpfen, wo sich in besonderem Maße die Chance dazu geboten hätte: So erstarrt das Berlin der Gegenwart im „kritisch“ rekonstruierten Raumgefüge des 19. Jahrhunderts. Und der Bundestag schreckte auf Expertenrat unlängst nicht davor zurück, der größten städtebaulichen Fantasielosigkeit seit langem den Weg zu bereiten, dem Wiederaufbau des Stadtschlosses. Angesichts dieses fehlenden Muts, auf städtebauliche Herausforderungen zeitgemäße Antworten zu finden, möchte man denen zustimmen, die heute wieder von einer Krise des Städtebaus sprechen. Das ist nichts Neues. Stadt und Krise – so offenbart ein Blick in die Literatur – scheinen gleichsam schicksalhaft ineinander verwoben zu sein. Das Interesse sollte mithin schnell auf die Frage gelenkt werden, welche Kraft, welche Perspektiven heute aus diesem Verhältnis erwachsen können. Mit meinem Vortrag möchte ich einen Beitrag zur Standortbestimmung leisten. In Verbindung mit den beiden folgenden Vorträgen, die jeweils für eine spezifische Position in Stadt und Städtebau stehen, möchte ich nach Ansätzen und Strategien fragen, mit denen Stadt und urbaner Raum im Sinne der Moderne fortentwickelt werden können, um sich nicht in einer Endlosschleife mit immer gleichen historischen Schemata zu erschöpfen. Ich möchte den Blick auf Entwurfskonzepte richten; denn Bulletins über den Zustand des Patienten „Stadt“ füllen bereits Bände. Städtebau der Moderne Verantwortlich für den Vortragstext und die darin enthaltenen Bilder ist der Autor. Anders als bei der Architektur scheint im Städtebau der Stab über die Moderne längst gebrochen. Dabei würde eine differenzierte Betrachtung der vergleichsweise langen Epoche manche historischen Verdienste offenbaren. Zunächst einmal wird in der rigorosen Kritik an den städtebaulichen Ergebnissen der Bauepoche zwischen 1920 und 1980 vergessen, aus welchem Geist heraus die Ideen des „Neuen Bauens“ entstanden sind. Auf den Trümmern des ersten Weltkriegs verstand sich die Moderne als radikales Gegenbild zur Stadt des Industriezeitalters. Franz Pesch Städtebauliche Leitbilder in der Kontroverse 3 Die Wirklichkeit der Stadt damals, das waren engste, dunkle Hinterhöfe, Kleinstwohnungen mit überbelegten Zimmern, sanitäre Mängel – allesamt Ausdruck unzumutbarer sozialer Verhältnisse. Besonders eindrucksvoll beleuchtet z. B. eine Berliner AOK-Studie der Jahrhundertwende die Lage der Kinder in den Arbeitervierteln. Sie stellte fest: „Eine in Berliner Volksschulen unter (...) Kindern von sechs Jahren und mehr durchgeführte Statistik ergab: 70 Prozent hatten keine Vorstellung von einem Sonnenaufgang, 54 Prozent kannten keinen Sonnenuntergang, 76 Prozent keinen Tau, 82 Prozent hatten noch nie eine Lerche gehört, 53 Prozent nie einen Frosch. (...) Mehrere Schüler wollten einen See gesehen haben. Als man nachforschte, ergab es sich, dass sie einen Fischbehälter auf dem Marktplatz meinten.“ Nach Gerd de Bruyn steht die „Versöhnungsabsicht sozialer Gerechtigkeit“ über allem. Das neue Bauen richtete sich gegen die alte Stadt: „Steinhäuser machen Steinherzen“, leitet Bruno Taut sein städtebauliches Programm ein und begründet seine Forderung nach einer „Auflösung der Städte“ mit der Wohnungsfrage. Taut stellte das Erlebnis des offenen Landschaftraums gegen die Enge der alten Stadt (de Bruyn, 150): Grüne Satelliten, gebildet aus Glasarchitekturen, verteilen sich über das Land. Die hoch verdichteten Elendsvierteln sind durch Wohnsiedlungen im Grünen, luftig und lichtdurchflutet, ersetzt, Fabriken sollten – in Fortführung dieser Vision bei Gropius – „helle, weite Arbeitsstätten“ sein. Nicht nur eine neue Stadt, eine neue Gesellschaft sollte entstehen. Als die Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg die Chance für die Realisierung der hochfliegenden Träume bot, knüpfte man an die bereits erprobten Konzepte der Gartenstadtbewegung an, die man mit dem Gedankengut des neuen Bauens anreichern konnte. Befördert durch die Hauszinssteuer als Finanzierungsgrundlage entstanden zwischen 1920 und 1930 als symbolträchtiges Gegenbild zur Mietskasernenstadt des Kapitalismus viele vorbildliche Arbeitersiedlungen, die sich durch eine hochwertige stadträumliche Disposition mit spannungsvollen Stadträumen auszeichnen: Bruno Tauts und Martin Wagners Hufeisensiedlung in BerlinAbbildung 1 Britz oder Ernst Mays Römerstadt in Frankfurt Beispielhafter stehen hier mitnichten allein. So entwickeln Siedlungsbau: viele dieser Siedlungen, die, wie etwa Mays Berlin Britz, Zeitschrift „Das neue Frankfurt“ auf vielfältige „Hufeisen-Siedlung“ Weise belegt, von wohnungspolitischen Amvon Bruno Taut bitionen getragen wurden, in Weiterführung des Gartenstadtgedankens neue Qualitäten als feinsinnige räumliche Experimente, die bis heute nichts von ihrer Anziehungskraft und Wirkung verloren haben. Erschöpft sich aber die städtebauliche Leistung der Moderne allein im Siedlungsbau, wie ihr immer wieder vorgehalten wird? Unter Hinweis auf drei Aspekte muss dem widersprochen werden: 1. Die neuen Siedlungen entstanden nicht nur an der Peripherie der Städte. Wo neue Wohnprojekte im Kontext älterer Quartiere gebaut wurden, sind durchaus Stadtquartiere mit Franz Pesch Städtebauliche Leitbilder in der Kontroverse 4 urbaner Atmosphäre entstanden – sei es etwa die Weiße Stadt in Berlin von Salvisberg, Fritz Schumachers Hamburger Jarrestadt, vor allem aber der Wiener Gemeindewohnungsbau – hier verdichten sich die Wohnstätten zur Wohnstadt. 2. Neben dem Siedlungsbau erlangen auch integrierte städtische Bauvorhaben Bedeutung. Dabei handelt es sich einmal um Ergänzungen im Bestand wie zum Beispiel Le Corbusiers Gebäude an der Porte Molitor in Paris oder das Verwaltungsgebäude Mies van der Rohes in Berlin. Dann müssen hier erwähnt werden die damals neuen Stadtarchitekturen wie etwa die Kaufhäuser Mendelsohns in Stuttgart, Chemnitz oder Duisburg, die neuen Lichtspieltheater wie das von Mendelsohn in Charlottenburg oder die Gebäude von Vladimir Karfik für die Firma Bata in Brünn, Anfang der 30er Jahre. Diese Beispiele verdeutlichen, dass die Architekten des "Neuen Bauens" durchaus willens waren, sich in einen urbanen Kontext zu integrieren – mehr noch, dass die entmaterialisiert scheinende Architektur – trotz ihrer Andersartigkeit – in einen Dialog mit dem Bestand treten kann. 3. Zwischen dem Beginn der zwanziger Jahre und den vierziger Jahren werden in Europa mehrere größere moderne Quartiere realisiert – etwa in Amsterdam, Mailand oder Brünn. Allesamt nach Konzepten, die belegen, dass auch der Städtebau im Sinne der Moderne urbane Räume möglich macht. In einer präzisen historischen Analyse würde man also durchaus eine Annäherung der Moderne an die überlieferte Stadt aufzeigen können. Vertreter der tschechoslowakischen Moderne konnten sich „nicht für das Konzept der wissenschaftlichen Architektur begeistern, sie versuchten vielmehr, die von Baudelaire literarisch gefeierte Faszination der modernen Großstadt in ihre Architektur zu integrieren.“ (Svácha, 1999, 216) In der Breite des Bauschaffens hat sich diese Tendenz jedoch nicht durchsetzen können. Ähnlich wie in der Formensprache der Architektur der ästhetische Purismus mit dem ökonomischen Funktionalismus eine folgenschwere Symbiose einging, führte die Verwissenschaftlichung im Städtebau gegen Ende der zwanziger Jahre zur sozusagen finalen städtebaulichen Figur – der von Norden nach Süden verlaufenden Zeile. Die Begründung ist plausibel: Die Orientierung aller Wohnungen ist optimal, Schlafzimmer nach Osten, Wohnraum nach Westen. Es sind keine schwierigen Gebäudeecken zu lösen. Heinrich Klotz hat diese Entwicklung wie folgt charakterisiert: „Seit in der Architektur der Moderne das Schöne zur Funktion des Zweckmäßigen gemacht wurde, war mit dem ersten Schritt für jede Form eine durchsichtig rationale Erklärbarkeit gewonnen; mit dem zweiten Schritt überschwemmte der von aller Rationalität übrig gebliebene Zweckrationalismus die Bauform.“ (Klotz 1994.112) Die Siedlung Westhausen in Frankfurt dokumentiert diese Haltung in Perfektion. Im Stadtmodell Le Corbusiers wird der Zweckrationalismus zum Manifest – das „Phönixsymbol“ des Plan Voisin für Paris (Rowe/Koetter) verzichtet selbst im Zentrum der Stadt auf jede räumliche Fassung und liefert damit das Layout für eine allein auf Funktionalität und Ökonomie abstellende Stadtstruktur. Was in der Architektur die Rationalisierung des Bauprozesses leisten sollte, wird im Städtebau zur stereotypen Wiederholung weniger Elemente. Im Ergebnis Franz Pesch Städtebauliche Leitbilder in der Kontroverse 5 Abbildung 2 Phönixsymbol der Stadt: Plan Voisin für Paris von Le Corbusier bedeutet das: Haus und Stadt können – getreu den fordistischen Prinzipien in der industriellen Produktion – in Serie gefertigt werden. Der Triumphzug des Bauwirtschaftfunktionalismus kann beginnen. Interessant ist jedoch, dass Le Corbusier trotz seines Sendungsbewusstseins nicht frei von Selbstzweifeln ist. Er befürchtet „dass die immensen offenen Räume, die ich in unserer imaginären Stadt erschuf, Räume, die auf allen Seiten vom offenen Himmel beherrscht wurden, tote Räume würden; ich befürchtete, dass in ihnen Langweile herrschen würde und dass die Bewohner einer solchen Stadt beim Anblick einer so großen Leere von Panik ergriffen würden.“ (Zit. nach de Bruyn, 16) Als hätte Le Corbusier es geahnt: Obwohl die Charta von Athen neben ihrem funktionalen Rigorismus auch vernetzten städtischen Strukturen Anerkennung zollte, setzen sich in der globalen Verbreitung der Nachkriegsmoderne die ökonomisch verwertbaren Leitideen durch: Unter dem Leitbild „Urbanität durch Dichte“ entstehen in den 60er und 70er Jahren schließlich in geradezu konsequenter Aufnahme der frühen Skizzen einer „Ville Contemporaine“ städtebauliche Großformen, in deren gestapelten gleichförmigen Containern jede Wohnatmosphäre erstickt wird. Obwohl es der Moderne gelungen ist, einen epochalen Beitrag zur Wohnungsversorgung zu leisten und sie Beispiele für einen kongenialen Weiterbau der europäischen Stadt geliefert hat, steht in der öffentlichen Kritik das städtebauliche Versagen im Vordergrund – Monofunktionale Großsiedlungen, Anonymität der Wohnsituation, Verkehrserzeugung der getrennten Nutzungen. Diese Kritik, von Alexander Mitscherlich 1965 unter dem Begriff der „Unwirtlichkeit unserer Städte“ auf den Punkt gebracht, brandmarkt eine der größten städtebaulichen Fehlentwicklungen der europäischen Stadt, blieb aber – wie wir wissen – nicht auf diese Fehlentwicklung beschränkt. Zu Recht trifft sie jedoch nur eine Entwicklungslinie des Städtebaus seit 1920. Auf das Städtebaukonzept insgesamt kann sie nicht angewendet werden. So stieß der Städtebau der Moderne im Spannungsfeld zwischen der sozialen Utopie einer gerechten Gesellschaft, der ästhetischen Faszination für die reinen Formen im Licht und der Rationalisierung der Stadtproduktion zunächst ins Leere. Die soziale Utopie scheiterte an den Bedingungen des Bauwirtschaftsfunktionalismus und bleibt in der Bilanz dieser Epoche – so Franz Pesch Städtebauliche Leitbilder in der Kontroverse 6 Gerd de Bruyn – als „uneingelöstes Versprechen“ stehen ... nicht ohne die Chance, verschüttete Entwicklungslinien wieder aufzugreifen und dem Konzept neuen Glanz zu verleihen. Urbanität in der zweiten Moderne Wenn heute die These formuliert wird, dass die Stadt der Zukunft im Wesentlichen die alte sein wird, müssen wir uns fragen, welche a l t e Stadt eigentlich gemeint ist. Mit anderen Worten: Auch in Städten, die mit ihrer stadträumlichen Qualität und kulturellen Aura zum Inbegriff europäischer Stadtkultur geworden sind, haben Funktionalismus und Baurationalisierung maßgeblich die heutige Erscheinungsform geprägt. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: In Prag sind 90 Prozent des Stadtgebiets erst nach 1900 besiedelt worden. Das alte Prag als Inbegriff europäischer Stadtkultur bedeckt nur einen Bruchteil der besiedelten Fläche. Bei allem Unbehagen über die Entwicklung der Stadt zur Vorstadt ist nicht von der Hand zu weisen, dass wir es hier mit dem heutigen Aggregatzustand der europäischen Stadt zu tun haben. Insofern ist die Forderung etwa von Dieter Hoffmann-Axthelm, man müsse „die Siedlung wieder in die Stadt zurückholen“ zwar gut gemeint, aber angesichts der tatsächlichen Gewichtsverteilung vielleicht doch etwas weltfremd. Ich möchte hier vier Aspekte des Städtischen herausgreifen, die bei der Neudefinition der Moderne künftig eine Rolle spielen könnten: Zwischenstadt Ein weißer Fleck auf der stadtbaukulturellen Landkarte ist der Zwischenraum, der sich zwischen den Zentren und der immer weiter entfernten Landschaft auftut, jenes amorphe Gebilde mit den planlos ausgelagerten städtischen Nutzungen und einem Sammelsurium bunt zusammengewürfelter Bauten, die nur selten in architektonischen Kategorien wahrgenommen werden können. Über den als Zwischenstadt (Thomas Sieverts) bezeichneten Schwebezustand des Urbanen gibt es inzwischen eine schier unendliche Vielzahl von empirischen Analysen und Interpretationen. Für Entwurf, Weiterentwicklung oder Korrektur, geschweige denn für eine Kultivierung dieses ungeliebten Raums finden sich hingegen wenig Anhaltspunkte, obwohl er Abbildung 3 inzwischen nicht weniger städtische Die „neuen Funktionen beherbergt als die traditionellen Stadtbilder“: Zentren, oder – um es provozierend zu formuStadteingang Hagen lieren – inzwischen vielleicht sogar authentischer ist als mancher zum Museum degenerierter historischer Stadtkern. Mit der Verflüssigung der Raumstruktur verändern sich die Verhaltensweisen der Bewohner und die Schauplätze verlagern sich. Je nach Gruppenzugehörigkeit und Lebensstil werden andere Orte gewählt – Orte, die sich nicht Franz Pesch Städtebauliche Leitbilder in der Kontroverse 7 mehr auf einen Quadranten im Zentrum der Stadt konzentrieren, sondern sich über alle Stadtregionen verteilen. So entstehen urbane Ereignisse zunehmend außerhalb der Stadträume, die ihnen bisher gewidmet waren, in Übergangszonen, auf Fabrikbrachen und Halden, unter Verkehrsbauwerken. Urbanes Leben für einige Stunden im umgebauten Kölner E-Werk, in einem alten Hotel am Hafen zwischen leerstehenden Lagerhäusern oder in einer leeren Fabrikhalle – so sieht die Realität des Sozialraums Stadt heute aus. Die aktuelle Jugendszene hat sich völlig freigemacht von urbanen Traditionen. Sie entdeckt die Zwischenräume und Nischen, in denen sie sich unbeobachtet fühlt. Techno-Diskotheken entstehen in leeren Fabriken. Jugendliche mit Skateboards und Inlineskatern treffen sich auf unwirtlichen Betonpisten und unter Hochstraßen. Wenn ein solcher Ort im Bewusstsein der Öffentlichkeit existiert, wandert die Szene nicht selten weiter. Heute sind diese ungewöhnlichen Orte oder „Uncommon places“ wie der Fotograf Stephen Shore sie in einer 1982 publizierten Fotoserie nennt, aufgegangen in ein weit verzweigtes Netz urbaner Situationen. Sie sind nicht mehr dauerhaft und nicht mehr stabil, sondern gleichen eher Blitzlichtern im auseinander fließenden städtischen Gefüge. Man könnte diese Form des Stadtlebens auch als urbane Episoden bezeichnen. Wer an ihnen teilhaben möchte, ihre Orte und Netzwerke nutzen will, muss ihre Landkarte lesen, muss ihre Codes verstehen können. Diese fast schon subversive Form der Urbanität entspricht den Lebensgewohnheiten zukünftiger Stadtbewohner und der Morphologie heutiger Stadtregionen möglicherweise viel eher als die zusammenhängenden Raumgefüge der „historischen“ Stadt. In den Konzepten zur Entwicklung der Zwischenstadt geht es um eine Inwertsetzung des Raums und die Verbesserung seiner Lesbarkeit. Eine zentrale Rolle in den städtebaulichen Entwürfen für den erweiterten urbanen Raum spielen die Freiräume – dazu exemplarisch drei Projekte • Der Ausbau der Wegenetze und Landmarken im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Emscher Park • Gestaltungsansätze für einen der dynamischen Entwicklungsräume Stuttgarts – die Airport City mit dem Filderpark • Die Gliederung der großen Agglomerationen durch Freiraumzäsuren wie in der niederländischen Randstadt. Stadtraum Aus diesem erweiterten Verständnis von Urbanität heraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Neu-Interpretation der traditionellen Stadtraums. Vordergründig scheint der öffentliche Raum kein lebenswichtiger Ort mehr für die heutige Stadtgesellschaft zu sein. Man kann ihn auf vielfältige Weise nutzen, aber man muss es nicht tun. Wenn man sein Leben entsprechend einrichtet, kann man auch zwischen Einfamilienhausgebiet und Supermarkt, zwischen Multiplexkino und Center Park und zwischen Fitnessstudio und Ferienhaussiedlung selig werden. Die nachlassende Bindung an die traditionellen Räume hat zur Konsequenz, dass sich die Qualität und Nutzung der urbanen Räume in verschiedene Richtungen entwickeln: Manche traditionelle Stadtplätze leeren sich und werden als Angstraum wahrgenommen. Franz Pesch Städtebauliche Leitbilder in der Kontroverse Abbildung 4 Lust am Stadtraum: Stuttgart, Calwer Straße 8 Doch es gibt auch andere Erfahrungen. Finden sich nicht in den meisten Städten Orte, die eine große Anziehungskraft entwickeln, gibt es nicht eine neue „Lust am Stadtraum“ wie es Klaus Humpert (1994, 30) formuliert hat, die an sonnigen Tagen die Städter in die Straßencafés treibt? Kulturelle Ereignisse, Fußballmeisterschaften oder Stadtfeste füllen die Straßen mit Leuten. Und obwohl immer wieder davon gesprochen wird, dass die politische Dimension des öffentlichen Raums in der medialen Gesellschaft hinter der hedonistischen Oberflächlichkeit verschwunden ist, zeigen gerade die jüngsten Streikwellen in Deutschland oder die Proteste gegen rechts in Frankreich, dass sich das jederzeit ändern kann. Von den Kritikern oft übersehen wird die emotionale Komponente des Stadtraums. Eine sentimentale Reverenz findet sich in Eric Rohmers Film „Vollmondnächte“, in dem der junge Schriftsteller Octave sagt: „Ich muß mich im Zentrum fühlen: Im Zentrum eines Landes, im Zentrum einer Stadt, die praktisch Zentrum der Welt sein könnte. Weißt Du, ich habe einmal in Orleans unterrichtet. Ich hätte problemlos ein Zimmer und alles finden können. Aber ich hab lieber eine Stunde mit dem Zug verschwendet, um jeden Abend nach Paris zurückzukommen. Und was habe ich gemacht? - Tja, meistens habe ich gelesen oder Radio gehört. Ich bin nach Paris zurückgefahren zum Radiohören! Aber ich wusste: Die Straße war da, die Restaurants und Bekanntschaften mit ungewöhnlichen Frauen. X-tausend Möglichkeiten, die so eine Straße hervorbrachte. Da war es möglich, da unten. Ich musste nur herabsteigen.“ (zit. N. Sens 1986, 20) Was ist heute interessant an der Gestaltung öffentlicher Räume? Es geht weniger um die Erfüllung notwendiger Programme als um die Erzeugung von Gelegenheiten. Angesichts der verbreiteten Absicht, städtische Flaniermeilen und Shopping Center als private Zonen zu deklarieren und aus dem öffentlichen Raum heraus zu lösen, kommt der Kultivierung eben jener Räume in der Stadt, die – wie Hans-Paul Bahrdt es ausdrückte – „allen und niemandem gehören“ besondere Bedeutung zu. Mit großem Erfolg haben verschieden europäische Städte – allen voran Barcelona und Lyon – systematische Konzepte für die Gestaltung des öffentlichen Raums entwickelt. Neben der sehr gelungenen Verbindung von künstlerischer Gestaltung und Nutzungsoffenheit überzeugt vor allem die über einen längeren Zeitraum durchgehaltene Umsetzungsstrategie. Auch hier zwei Beispiele für die neue Sichtweise: • Die Place de la Bourse und die Place Terreaux in Lyon zeigen das Spektrum der Möglichkeiten. Im ersten Beispiel die strenge Gliederung des Raums durch aufgereihte Franz Pesch Städtebauliche Leitbilder in der Kontroverse 9 Pflanzkübel, zwischen denen sich mitten in der Stadt Rückzugsräume und Nischen ergeben. Im zweiten hingegen ein weiter steinerner Platzraum, der mit Wasser bespielt und nachts eindrucksvoll illuminiert wird. • Der Plan des Büros West 8 aus Rotterdam für den Duisburger König-Heinrich-Platz mit seiner „Blumengracht“ ist ein klares Bekenntnis zur Inszenierung des Raums. Öffentliches Leben wird an die Ränder verlagert. Im Zentrum befinden sich die Blumen und eine bewegliche Brücke als großes Spielobjekt. Textur im Wandel Colin Rowe und Fred Koetter haben 1978 in ihrem Buch Collage City am Beispiel von Schwarzplänen deutlich herausgearbeitet, wie sich das stadträumliche Verständnis in der Moderne gewandelt hat. Die urbane Textur, in die Stadträume als stabile Gefäße für städtisches Leben eingeschrieben waren, löst sich auf in einzelne Objekte, die von der Landschaft umspült werden. Die Gebäude sind zunächst auf sich bezogen und entziehen sich dem Kontext, ganz anders als in der Gründerzeit, für die Julius Posener am Beispiel des Pariser Mietshauses feststellen konnte: „Wohl kein einziges dieser Häuser wird unseren Blick auf sich ziehen; aber keines stört uns. In ihrer Gesamtheit bilden sie eine geschlossene Straßenfront, betonen sie die Straße als einheitlichen Raum, (....). Die Wirkung ist großstädtisch, anonym aber nicht uniform“ (1982, 64). Diese auf einem weitgehenden Konsens über Gebäudevolumen, Gestaltung und Materialien Abbildung 5 beruhende selbstverständliche Unterordnung Wiedergeburt der des Einzelbauwerks gibt es heute nicht mehr. Parzelle: Sie steht möglicherweise im Widerspruch zum Tübingen, Südstadt Selbstverständnis und den Wünschen heutiger Bauherren und Nutzer. Dennoch hat es gerade im letzten Jahrzehnt immer wieder Versuche gegeben, aus einer kritischen wie respektvollen Auseinandersetzung mit der Moderne eine zeitgemäße urbane Textur abzuleiten. Es lohnt sich deshalb, einen Blick auf drei Konzepte zu werfen, die in der Tradition des Bauens auf der Parzelle stehen, diese aber neu interpretieren. • In der Südstadt von Tübingen, dem Französischen Viertel, erfolgte die Bebauung in Form mehrgeschossiger Stadthäuser auf der Parzelle. Die Bauherren sind vertraglich verpflichtet, in den Erdgeschossen Handel, Dienstleistungen oder Gemeinschaftseinrichtungen unterzu bringen. Erste Bilanzen zeigen, dass es gelungen ist, einen vergleichsweise hohen Grad an Nutzungmischung und urbane Vielfalt zu verwirklichen. • Auf den Halbinseln Borneo und Sporenburg im Amsterdamer Hafengebiet ist ein Wohngebiet mit städtischen Reihenhäusern auf schmalsten Parzellen entstanden, die es ermöglichen, in der Stadt eine privates Haus mit eigenen Freiraum (Patio und Terrasse zum Wasser oder Dachgarten) zu besitzen. In einigen Bauabschnitten wurde damit experimen- Franz Pesch Städtebauliche Leitbilder in der Kontroverse 10 tiert, jedes Gebäude von einem anderen Architekten realisieren zu lassen. • Für das Massena Areal unweit der Bibliothèque National de France hat Christian de Portzamparc einen Stadtteil entworfen, dem städtebauliche Regeln zugrunde gelegt werden, die individuelles Bauen im Quartier erlauben und sehr differenzierte Straßenräume ergeben. Der Baublock ist Ausgangspunkt des Entwurfs, seine Kantenlänge wird variiert und die Gebäudehöhe je nach Himmelsrichtung gestaffelt. So entsteht eine zugleich dichte und durchlässige Baustruktur, die – bedingt durch das Spiel von Enge und Weite – wechselnde Atmosphären und Lichtverhältnisse kreiert. Es ist bemerkenswert, dass alle drei Konzepte im Entwurf des Stadtgrundrisses ein strenges Raster wählen. Dies geschieht vor allem deshalb, weil das Raster ein stabiles Gerüst bietet in dem individuelle Freiheit gewährt werden kann, ohne dass die Geschlossenheit des Raums verloren geht. Megastrukturen Die neuen Bauaufgaben in den Städten – namentlich Shopping Malls und Entertainment Center – führen in den Innenstädten einen neuen Maßstab ein, der die vertrauten Stadtbilder radikal verwandelt. Baukunst wird zur konfektionierten Hülle degeneriert, öffentliche Räume durch Malls mit ihren klimatisierten und kontrollierten Zonen ersetzt. Diese Gebäude stellen sich aufgrund ihrer Größe außerhalb des Kontextes. Sie negieren die urbane Textur. Als eine Art Hyperarchitektur mit eigenen funktionalen und wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten scheinen sie sich dem architektonischen Entwurf zu entziehen. Als entscheidendes Problem bei der Realisierung dieser Großprojekte hat sich ihre Abwendung vom öffentlichen Raum herausgestellt. Die Einkaufsstraße verschwindet im Inneren des Komplexes, nach außen präsentieren sich die Gebäude mit Nebenflächen und Rückseiten, die kaum noch Öffnungen, geschweige denn Schaufenster aufweisen. In Guadalajara in Mexiko wird das Prinzip der großen Stadtbausteine auf die Spitze getrieben. Am nordwestlichen Rand der Stadt plant ein Unternehmer einen Stadtteil allein aus Megabauwerken – Shopping Center, Convention Center, Museen und Hotels – ausgelegt auf einen täglichen Besuch von 60.000 Menschen, entworfen von internationalen Architekturstars, ohne erkennbares städtebauliches Prinzip über einen wertvollen Naturraum verteilt. Bisher gibt es wenig Vorstellungen für den Einbau multifunktionaler Großprojekte in die Stadt. Investoren und Entwickler beharren mit ökonomischen Argumenten auf einem renditeträchtigem Grundrissschema und stereotypen Fassaden. Die Stadtplanung beschränkt sich – um die erwünschte Investition nicht aufs Spiel zu setzen – auf die Minimierung der negativen Auswirkungen über städtebauliche Verträge. Eine Konvergenz der Standpunkte wird nur selten erreicht. Rem Koolhaas hat sich mit dem Phänomen der großen Stadtbausteine vorurteilslos auseinander gesetzt und stellt fest: „In einem von Unordnung, Fragmentierung, Loslösung und Verzicht geprägten Milieu liegt die Anziehungskraft von Bigness in ihrer Fähigkeit, das Ganze wieder herzustellen, das Reale wieder zu beleben, das Kollektive neu zu erfinden und ein Maximum Franz Pesch Städtebauliche Leitbilder in der Kontroverse 11 des Möglichen einzuklagen“ (Koolhaas 2002, 578). In Almere löst das Office of Metropolitan Architecture das innerstädtische Einkaufs- und Entertainment-Center auf in Fragmente von Straßen und Baukörpern. Die entstehende Atmosphäre wird mit der Metapher des mittelalterlichen Stadtzentrums beschrieben, allerdings in einen riesigen Quader zusammengepresst und gestapelt. Städtebauliches Entwerfen heute Die Hoffnung, dass die Zukunft des urbanen Raums und der Textur in städtebaulichen Wettbewerben untersucht werden, hat sich in der Bundesrepublik kaum erfüllt. Viele Entscheidungen fielen zugunsten „robuster“ Lösungen aus – begründet durch die im Grunde auch nicht falsche Vorstellung, dass ein städtebauliches Gerüst in einer schnelllebigen Zeit wechselnde Rahmenbedingungen unverletzt überstehen muss. Was auf den ersten Blick plausibel scheint, ist aber in der Summe der Ergebnisse weniger schlüssig, da trotz hoher Ansprüche jedes einzelnen Wettbewerbs immer wieder die gleichen räumlichen Schemata prämiert werden, gleichsam Allesfresser für jede Art von Architektur, mit der Gefahr, ins Banale abgleiten. Gibt es Perspektiven, die aus diesem Dilemma herausführen? Slow City In seinem Buch „Verhaltene Geschwindigkeit“ entwirft Vittorio Magnago Lampugnani das Bild einer offenen Stadt, in der die unterschiedlichsten Typen gesellschaftlichen Lebens gleichberechtigt nebeneinander bestehen. Rückblickend auf die gescheiterten oder Papier gebliebenen Stadtmodelle der Moderne formuliert er Zweifel daran, ob der den Architekten gelegentlich eigene „Innovationswahn“ ein guter Ratgeber für die Stadtentwicklung sei. Irrtümer beim Weiterbau der Städte dürfe man sich kaum leisten. Positiv ausgedrückt: „Zeitgenössischer Städtebau entsteht also aus der Reibung zwischen der Idee einer neuen Stadt und der Substanz der alten.“ (Lampugnani 2002, 86) Eine solche Position wird etwa als Erfolg verbuchen, dass in Berlin manch schauderlichem Investment ein urbanes Kleid verpasst worden ist. Aber schon an Berliner Friedrichstraße zeigt sich, dass man mit introvertierten Kaufhäusern die urbane Straße der „goldenen“ zwanziger Jahre nicht wieder beleben kann. Nur mühsam kann überspielt werden, das die ökonomischen Bedingungen für Einzelhandelsinvestitionen und das ersehnte Stadtbild nicht mehr zur Deckung zu bringen sind. Im Hinblick auf die urbane Textur muss sich diese Position vorwerfen lassen, dass sie auf der Suche nach einer verlorenen Zeit das Stadtbild zur hohlen Form erstarren lässt. Ganz deutlich wird dieser Konflikt am Beispiel des "Planwerks Berlin", in dem anfangs ohne Respekt von der historischen Bedeutung der Ostdeutschen Nachkriegsmoderne solitäre Gebäude mit Blockfragmenten zugekleistert wurden. Nach öffentlichen Protest rückte die Senatsverwaltung partiell von diesem Konzept ab. Wie sehr sich Lampugnani, Hoffmann-Axthelm und weitere Vertreter eines traditionalistischen Franz Pesch Städtebauliche Leitbilder in der Kontroverse 12 Städtebaus auf einer Gratwanderung befinden, zeigt sich besonders an der Wiederauferstehung des pittoresken Städtebaus – Ist die neue Stadt in sei es in den Entwürfen von Rob Krier für das Kirchsteigfeld in der alten zu finden? Potsdam, wo in malerischen Straßenzügen und Fassaden eine New Urbanism Scheinwelt erzeugt wird – sei es in den Projekten des New Dade County, Urbanism, wo namentlich der Walt-Disney-Konzern heile amerikaFlorida nische Fernsehwelten als Gated Communities Realität werden lässt. Hinsichtlich dieser synthetischen Romantik gilt immer noch, was Julius Posener, zu den Versuchen Camillo Sittes festgestellt hat, Anfang des 20. Jahrhunderts die Stadt der Antike und des Mittelalters zu beschwören: Aus der Geschichte abgeleitete städtebauliche Anordnungen „mögen beides sein, typisch und beispielhaft, aber beides bezogen auf eine ganz bestimmte gesellschaftliche und historische Situation. (...) Sowie man nachahmt, verfälscht man die eigene Situation und sei sie der Vorgegebenen noch so verwandt.“ (1980, 5). Abbildung 6 Stadt und Urbanität haben eine historische Dimension, sie unterliegen ständigem Wandel in Abhängigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung. „Die Idee der neuen Stadt“ kann sich deshalb nicht in der Kopie früherer Verhältnisse erschöpfen. Schon gar nicht kann sie die historischen Errungenschaften der Moderne ignorieren, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, das Städtische auf eine Kulisse zu reduzieren. Dynamische Stadt Wenden wir uns nun jenen Stadtideen zu, die in der heutigen Stadtlandschaft mit ihren schroffen Gegensätzen einen unumkehrbaren Zustand sehen, der heutigen Stadtgesellschaft nicht wesensfremd, sondern eher auf den Leib geschnitten; entsprechend dem Bild, das Robert Musil in seinem epochalen Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ am Beginn des 20. Jahrhunderts zeichnet: „Wie alle großen Städte bestand sie aus Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstößen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander, und glich im ganzen einer kochenden Blase, die in einem Gefäß ruht, das aus dem dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen besteht.“ (Musil 1930, 10) Die Probleme der großen Agglomerationen fordern neue Visionen und Konzepte, die die alten „arkadischen“ Qualitäten intakt lassen und gleichzeitig Raum schaffen für neue urbane Entwicklungen. „Es gibt weder eine Zukunft für harmonischen Zentralismus, noch für dezentrales Laissez-Faire.“ formuliert Kees Christiaanse 1997 (S. 4). Die Entwurfsgrundsätze: • Die fraktale Struktur der heutigen Stadt wird akzeptiert, die Identitäten der Splitter aus unterschiedlichen Epochen werden zum Thema des Entwerfens. • Historische Schichten eines Ortes sollen im Entwurf sichtbar gemacht werden. Im archäologischen Sinne werden die Funde als gleichwertig verstanden. • Der Entwurfsprozess versteht sich als Regieleistung, die organisatorische Rahmen setzt, Stadt- und Landschaftsräume definiert, aber ganz bewusst Spielräume offen hält für individuellen Ausdruck und architektonische Vielfalt. Franz Pesch Städtebauliche Leitbilder in der Kontroverse 13 Neue Siedlungsbereiche sollen identifizierbar sein in ihrem Verhältnis zur bestehenden Stadt. Städtebau wird nicht gesehen als ein anderer Architekturmaßstab, sondern als eine Gestaltungsaufgabe auf einer anderen Ebene, eine urbane Partitur für Architekten Bauherren und Nutzer. Mit wohl bedachten städtebaulichen Regeln sollen Räume und Stadtbilder für Menschen erdacht werden, die anders leben (wollen) als ihre Vorfahren – gelöst von den Zwängen einer einschränkenden Gruppenzugehörigkeit, mit individueller Entfaltung in einer sozialen Gemeinschaft, in frei gewählter Nähe und Distanz zu den Nachbarn, ausgestattet mit den Möglichkeiten moderner Arbeitsmittel und Kommunikationsmedien. Es wird ein Recht auf Irrtum reklamiert, denn der große Plan wird ist nicht mehr gewollt. Die Übergänge von Städtebau und Architektur werden fließend gesehen, mit dem großen Vorteil, dass an der Schnittestelle Neues entstehen kann, was angesichts der anstehenden Aufgabe, Stadtqualität durch Stadtumbau zu erzeugen, eine der reizvollsten Aufgeben sein dürfte. Fazit Der Städtebau der Moderne hat die europäischen Städte im 20. Jahrhundert maßgeblich geformt. Er hat Stadtquartiere mit hohen Wohnstandards und gesunden Wohnverhältnissen geschaffen. Die Wohnmaschine und ihre städtebauliche Steigerung in den Großsiedlungen hat den Stadtraum der europäischen Stadt nicht bereichern können. Im Gegenteil – es werden noch manche Korrekturen erforderlich sein. Städtebauliches Entwerfen ist seit jeher auf den Stadtraum gerichtet. Hier zeigt unsere Bilanz, dass viele Verheißungen der Moderne nicht eingelöst werden konnten. Mir persönlich scheinen jedoch die Versuche, aus den uneingelösten Versprechen der Moderne den beliebigen Rückgriff in das Repertoire der Geschichte zu begründen, wenig überzeugend. Man muss allerdings einräumen, dass nach der Ernüchterung des Bauwirtschaftfunktionalismus malerisch-kitschige Bilder die Sehnsüchte vieler Menschen zu bedienen scheinen. Demgegenüber entdecke ich in der gegenwärtigen Stadt und den Experimenten jüngerer Büros hinreichend Stoff für eine Debatte um die Fortführung der Moderne im Städtebau – ohne Dogma, im Austausch mit den Bewohnern der Städte, die in den großen Plänen schon immer zu kurz gekommen sind. Diese Herausforderung reicht weit in das Selbstverständnis der heutigen Stadtgesellschaft hinein und betrifft die Regeln, die sie sich für ihr Zusammenleben gibt. Im Kern geht es also um Stadtkultur. Literatur • Blau, Eve; Platzer, Monika (Hrsg): Mythos Großstadt - Architektur und Stadtbaukunst in Zentraleuropa 1890-1937, München 1999 • Christiaanse, Kees: Die Schnittstelle zwischen Städtebau und Architektur. In: Commerell, H. • Jürgen; Freireiss, Kristin: Deutschland – Niederlande, Astoc Architekts & Planners, Berlin 1997, S. 4 • Christiaanse, Kees: Stadt als Loft. In: Topos – European Landscape Magazine, H. 38 (2002), S. 6 • Commerell, H. Jürgen; Freireiss, Kristin: Dutchtown Almere – Office for Metropolitan Franz Pesch Städtebauliche Leitbilder in der Kontroverse • • • • • • • 14 Architecture – Urban Masterplan Almere Center, Block 6. Berlin 2000 Klotz, Heinrich: Kunst im 20. Jahrhundert. Moderne – Postmodern – Zweite Moderne. München 1994 Lampugnani, Vittorio M.: Verhaltene Geschwindigkeit – die Zukunft der telematischen Stadt. Berlin 2002 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1. 1930 (zit. nach Hamburg, 1978) Posener, Julius: Vorlesungen zur Geschichte der neuen Architektur Arch + Heft 48 (1979), Heft 53 (1980) Rowe, Colin; Koetter, Fred: Collage City. Basel/Boston/Berlin 1984 Sieverts, Thomas: Was leisten städtebauliche Leitbilder? In: Becker, Heidede; Jessen, Johann; Sander, Robert (Hrsg.): Ohne Leitbild? Städtebau in Deutschland und Europa. Stuttgart/Zürich 1998, S. 21 Svácha, Rostislav: Prag, Brno und Zlin 1918-1937 – Architektur und Gesellschaft. In: Blau, Eve; Platzer, Monika (Hrsg): Mythos Großstadt - Architektur und Stadtbaukunst in Zentraleuropa 1890-1937, München 1999, S. 215