Das Gehirn. Eine Einführung
Transcription
Das Gehirn. Eine Einführung
O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 2 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 3 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 Michael O’Shea Das Gehirn Eine Einführung Übersetzt von Manfred Weltecke Mit 19 Abbildungen 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Philipp Reclam jun. Stuttgart O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 4 1 Titel der englischen Originalausgabe: 2 3 4 5 6 Michael O’Shea: The Brain. A Very Short Introduction. Oxford / New York: Oxford University Press, 2005 7 8 9 10 Für meine Kinder Annie und Jack. Und für meine Tochter Linda, die starb, weil man noch nicht genug darüber wusste, was zu tun ist, wenn im Gehirn schwere Funktionsstörungen auftreten. Ich hoffe, dass unser Wissen eines Tages dazu ausreichen wird. 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18477 Alle Rechte vorbehalten © für die deutschsprachige Ausgabe 2008 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart Die Übersetzung erscheint mit Genehmigung von Oxford University Press, Oxford. The Brain – A Very Short Introduction was originally published in English in 2005. This translation is published by arrangement with Oxford University Press. © Michael O’Shea 2005 Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Printed in Germany 2008 RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart ISBN 978-3-15-018477-6 www.reclam.de O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 5 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Inhalt Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1 Nachdenken über das Gehirn . . . . . . . . . . . 2 Von Körpersäften zu Zellen: Bestandteile des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Weiterleitung von Signalen: Verbindungen herstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Vom Urknall zum Großhirn . . . . . . . . . . . . 5 Empfinden, Wahrnehmen und Handeln . . . . . . 6 Der Stoff, aus dem Erinnerungen sind . . . . . . . 7 Geschädigte Gehirne: Erfindungen und Eingriffe 8 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 44 63 91 120 145 174 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . 177 179 182 22 O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 6 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Danksagungen Ich danke Annalie Clark für ihren klugen Rat. Besonders hat sie mir dabei geholfen, die Verständlichkeit schwieriger Textstücke zu verbessern. Außerdem danke ich Dr. Liz Somerville für ihre kundige Einführung in das Fachgebiet der versteinerten Vorläufer des menschlichen Schädels. Jenny danke ich für ihre Ermutigung. O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 7 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 1 Nachdenken über das Gehirn Nehmen wir uns einen Moment Zeit, über ein ganz besonderes Organ nachzudenken: unser Gehirn. Es wiegt nur etwa 1,2 Kilogramm. Keine einzelne der hundert Milliarden Nervenzellen, aus denen es besteht, weiß, wer oder was wir sind. Schon die bloße Vorstellung, dass eine einzelne Zelle einen Gedanken fassen könnte, scheint lächerlich. Dafür ist sie ein viel zu einfaches Gebilde. Bewusste Erfahrung des eigenen Selbst hat jedoch genau dies zur Voraussetzung: Nervenzellen, die über hundert Billionen Verbindungen miteinander kommunizieren. Denkt man darüber nach, so gehört diese Tatsache zu den rätselhaftesten des Lebens. Die Vermutung, dass ein solches Organ über wundersame Eigenschaften verfügt, mag daher nicht völlig abwegig erscheinen. Während jedoch die Welt voller Geheimnisse steckt, hat die Wissenschaft keinen Platz für Wunder, und die größte Herausforderung für die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts besteht darin, die Funktion des Gehirns in rein materiellen Begriffen zu erklären. Das Nachdenken über unser Gehirn stellt selbst eine rätselhafte Angelegenheit dar, weil wir nur mit unserem Gehirn über unser Gehirn nachdenken können. Die seltsame Zirkelhaftigkeit dieses Rätsels wird deutlich, wenn man sich die aus dieser Zirkularität folgende Konsequenz klarmacht, dass nämlich unser Gehirn das komplizierteste und bewundernswerteste Objekt im gesamten uns bekannten Universum ist. Dies ist offensichtlich – und mag letztlich nicht mehr sein als – die Meinung des Gehirns über sich selbst, die Ansicht des Gehirns über das Gehirn. Es scheint demnach der Fall zu sein, dass wir in dem logischen Paradox eines selbstbezüglichen, und in diesem Fall sogar von sich selbst besessenen, Systems gefangen sind. O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 8 8 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Nachdenken über das Gehirn Vielleicht besteht die einzige zuverlässige Schlussfolgerung dieses Gedankenexperiments darin, dass sich das Gehirn so viel wie nur eben möglich auf sich selbst einbildet! Ungeachtet dieser wohlentwickelten Eitelkeit des Gehirns müssen wir dennoch zugeben, dass es seinem Besitzer einige höchst spezielle Fähigkeiten verleiht. Seine Funktionen laufen im Hintergrund sämtlicher menschlicher Handlungen, Empfindungen und Gedanken ab. Es erlaubt uns, lebhaft über die Vergangenheit nachzudenken, fundierte Urteile über die Gegenwart zu fällen und rationale Handlungsabläufe für die Zukunft zu planen. Es verleiht uns die scheinbar mühelose Fähigkeit, Bilder vor unserem geistigen Auge auftauchen zu lassen, Musik durch Hintergrundgeräusche hindurch herauszuhören, zu träumen, zu tanzen, uns zu verlieben, zu weinen und zu lachen. Vielleicht am bemerkenswertesten ist es jedoch, dass das Gehirn eine bewusste Aufmerksamkeit erzeugen kann, die uns davon überzeugt sein lässt, dass wir frei wählen können, was wir als Nächstes tun werden. Wir haben keinerlei Vorstellung davon, wie Bewusstsein in einem rein materiellen System entsteht. Es ist also sehr wohl möglich, dass wir es bei dem Versuch zu verstehen, wie genau dies im Gehirn geschieht, mit dem schwierigsten aller Probleme der Wissenschaft zu tun haben. Damit soll nicht behauptet werden, dass das Problem prinzipiell unlösbar ist, sondern nur, dass das Gehirn ein Organ mit begrenzten Fähigkeiten darstellt und dass seine Verstehensmöglichkeiten daher vermutlich ebenfalls begrenzt sind. Wo liegen jedoch die Grenzen seiner intellektuellen Fassungskraft, und können wir innerhalb dieser Grenzen nicht dennoch unbeantwortbare Fragen über das Gehirn stellen? Neurowissenschaftler geben zu, dass sie mit einem Ehrfurcht gebietenden Problem konfrontiert sind. Das zunehmende Tempo, in dem die Neurowissenschaften neue Erkenntnisse gewinnen, beweist jedoch, dass wir uns noch längst nicht in der Nähe einer möglicherweise O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 9 Nachdenken über das Gehirn 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 9 existierenden oberen Grenze unserer Verstehensmöglichkeiten befinden. Statt also angesichts der Grenzen des menschlichen Intellekts zu verzweifeln, sollten wir optimistisch sein, was unsere Bemühungen betrifft, ein umfassendes Verständnis des Gehirns und seiner äußerst rätselhaften Eigenschaften (etwa Bewusstsein oder das Gefühl zu haben, dass unser Wille frei ist) in rein physikalischen Begriffen zu erlangen. Obwohl wir dieses kurze Buch kaum begonnen haben, ist uns bereits in der Art und Weise, auf die wir uns auf »das Gehirn« bezogen haben, ein grundsätzlicher begrifflicher Fehler unterlaufen. Das Gehirn ist keine unabhängige Einheit, die für sich in großartiger Abgeschottetheit und erhabener Überlegenheit in unserem Schädel residiert. Vielmehr handelt es sich um einen Teil eines größeren Systems, dessen Ausläufer bis in jeden Winkel und jede Extremität unseres Körpers reichen, um diese zu durchdringen, zu beeinflussen und von ihnen beeinflusst zu werden. Als Rückenmark, aus dem in regelmäßigen Abständen Nerven hervorwachsen, die an jeden Teil unseres Körpers Informationen senden und von dort empfangen, reicht unser Gehirn fast die gesamte Länge der Wirbelsäule hinab. Es gibt fast nichts, das außerhalb seiner Reichweite läge. Jeder unserer Atemzüge oder Herzschläge, jedes Gefühl, jede Bewegung, einschließlich der unwillkürlichen Bewegungen (wie z. B. das Aufstellen der Nackenhaare oder die Bewegung des Speisebreis durch das Verdauungssystem), kurz: all diese Körperfunktionen unterstehen der direkten oder indirekten Kontrolle des Nervensystems, dessen wichtigster Teil das Gehirn ist. Unter diesem Blickwinkel gesehen stellt sich das Gehirn nicht einfach als eine Befehlszentrale dar. Es wird selbst mit einer ständigen Informationsflut aus dem Körper und der Außenwelt bombardiert. Spezialisierte Zellen, die man als »sensorische Rezeptorneurone« bezeichnet, versorgen das Nervensystem über sensorische Nerven mit Informa- O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 10 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Nachdenken über das Gehirn tionen. Sie liefern dem Gehirn Daten in Echtzeit (also fast ohne Verzögerung) über den Zustand des Körpers und der Außenwelt. Außerdem gelangen Informationen nicht nur über Nervenzellen in das Gehirn bzw. vom Gehirn in den Körper. Etwa 20 % des Hirnvolumens werden von Blutgefäßen eingenommen, über die Sauerstoff und Glukose für den außerordentlich hohen Energiebedarf des Gehirns herbeigeschafft werden. Der Blutstrom stellt einen alternativen Kommunikationsweg zwischen Gehirn und Körper sowie in umgekehrter Richtung dar. Die über den gesamten Körper verteilten endokrinen Drüsen geben Hormone an das Blut ab. Diese Hormone informieren das Gehirn über den Status einzelner Körperfunktionen, während das Gehirn über eigene Hormone Anweisungen in das Blut abgibt, damit dieses Blut die entsprechenden hormonellen Befehle an alle Teile des Körpers weitergibt. Behaupten wir also, das Gehirn führe x oder y aus, steht »das Gehirn« als Abkürzung für all die wechselseitig voneinander abhängigen, interaktiven Prozesse eines komplexen dynamischen Systems, das aus dem Gehirn, dem Körper und der Außenwelt besteht. Das menschliche Gehirn stellt eine höchst entwickelte und äußerst komplexe »Maschine« dar, die häufig mit der kompliziertesten der von Menschen hergestellten Maschinen, mit dem digitalen Computer, verglichen wird. Ein Gehirn und ein Computer unterscheiden sich jedoch grundlegend voneinander. Ein Gehirn ist eine am Endpunkt einer Entwicklung stehende biologische Einheit, die aus solch kleinen organischen Molekülen wie Proteinen, Lipiden, Kohlehydraten, einigen Spurenelementen und einer ziemlich großen Menge salzigen Wassers besteht. Ein moderner Computer wird aus elektronischen Komponenten und Schaltern zusammengebaut, die aus Silizium, Metall und Plastik bestehen. Kommt es also darauf an, woraus eine Maschine besteht? Im Falle von Computern lautet die Antwort »Nein«. Die Funktionen eines Computers sind O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 11 Nachdenken über das Gehirn 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 11 unabhängig von dem Medium, in dem sie ausgeführt werden. Dies bedeutet, dass jeder Rechenvorgang prinzipiell in einem beliebigen Medium durchgeführt werden kann, solange dazu Komponenten verwendet werden, die aus einem entsprechend geeigneten Material hergestellt wurden. Deshalb könnten Zahnräder und Hebel oder sogar hydraulische oder optische Geräte an die Stelle der elektronischen Bausteine moderner Computer treten. Dies würde zwar die Rechengeschwindigkeit und Einfachheit der Verwendung, nicht jedoch die Rechenfähigkeit des Computers beeinträchtigen. Es scheint äußerst unwahrscheinlich, dass das Gehirn nur Algorithmen berechnet oder dass umgekehrt Denkvorgänge ebenso gut von Zahnrädern und Hebeln anstelle von Nervenzellen ausgeführt werden könnten. Vielleicht können wir aus diesem Grund von Computern nicht erwarten, dass sie wie Gehirne arbeiten, es sei denn, wir fänden einen Weg, sie aus biologischen Bausteinen herzustellen (siehe Kapitel 7). Von Farbspuren zur Bedeutung Im Folgenden werde ich kurz eine Leistung des Gehirns unter die Lupe nehmen, die mit einer vertrauten Aktivität des alltäglichen Lebens zu tun hat, um auf diese Weise ein Verständnis für die Fragen zu gewinnen, die sich bezüglich unseres Gehirns stellen lassen und nach einer Antwort verlangen, und um spätere Kapitel vorzubereiten. Betrachten wir etwas genauer, was wir selbst zurzeit tun: Wir lesen diesen Text. Doch was genau leistet unser Gehirn in diesem Moment? Was für eine Aktivität ist das Lesen, und was muss das Gehirn tun, um diese Aktivität auszuführen? Offensichtlich muss das Gehirn zunächst lernen, wie man liest, und ebenso offensichtlich ist das Lesen selbst eine Lernmethode. Lesen regt zusätzlich unsere Einbil- O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 74 74 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Vom Urknall zum Großhirn bryo zunächst angelegt. Die beiden Hauptbestandteile des zentralen Nervensystems, das Gehirn und das Rückenmark, leiten sich von einem Streifen embryonaler Haut, der »Neuralplatte«, auf der dorsalen Mittellinie ab. Etwa drei Wochen nach der Befruchtung faltet sich die Neuralplatte zusammen und bildet eine Rinne. Daraufhin schließt sich das dorsale Ektoderm über der Neuralröhre, die sich vom Ektoderm ablöst und sich nunmehr im Inneren des Embryos befindet. Die Röhre reicht von einem Ende des Embryos bis zum anderen. Zu beiden Seiten der Neuralplatte befindet sich ein Bereich des Ektoderms, den man als »Neuralleiste« bezeichnet. Die Zellen der Neuralleiste vermehren sich und bilden später das periphere Nervensystem, das vegetative Nervensystem sowie die sensorischen Neurone der Dorsalwurzeln des Rückenmarks. Die Zellen des Neuralrohres vermehren sich ebenfalls. Aus ihnen entstehen die Neurone und Gliazellen, die das Gehirn und das Rückenmark bilden. Zunächst ist das Neuralrohr über seine gesamte Länge gleichförmig. Im Laufe der weiteren Entwicklung vermehren sich die Zellen am Vorderende des Neuralrohres jedoch wesentlich stärker als an seinem hinteren Ende. Deshalb vergrößert sich das Vorderende, und später wird aus ihm das Gehirn. Das Hinterende des Neuralrohres ist dazu bestimmt, das Rückenmark zu bilden. An seinem Vorderende schwillt das Neuralrohr zu drei Vesikeln an, aus denen die Hauptabschnitte des Gehirns entstehen: das Vorder-, Mittel- und Hinterhirn. Diese Abschnitte differenzieren sich weiter aus, und aus ihnen entstehen die Vorläufer der Hauptbestandteile des später voll entwickelten Gehirns. Zum Beispiel zeigt sich an seinem vorderen Ende zu beiden Seiten des Vorderhirns eine Blase. Aus diesen Vorwölbungen entstehen später die beiden Hemisphären des Gehirns (das sogenannte »Telencephalon«). Diese Auswölbungen auf beiden Seiten des Gehirns rollen sich in Richtung Hinterseite zusammen, bevor sie O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 75 Vom Urknall zum Großhirn 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 75 wieder zur Vorderseite, ähnlich wie die Hörner eines Widders, wachsen. Der hinterste Teil des Vorderhirns umgibt daher das Mittelhirn. Gleichzeitig differenzieren sich die embryonalen Vesikel des Mittel- und Rautenhirns. Aus ihnen entstehen sämtliche Teile des End- oder Stammhirns. Vom Rückenmark zur Großhirnrinde Das Rückenmark weist eine relativ einfache Struktur auf: Es besteht aus einem zentralen grauen Bereich, in dem sich Synapsen und die Zellkörper der Neurone befinden. Dieser Bereich wird von einer weißen Substanz umgeben. Diese besteht aus Axonen, die Informationen in beide Richtungen des Rückenmarks weiterleiten. Das Rückenmark ist aus Segmenten aufgebaut, von denen jedes über zwei Wurzelpaare verfügt: ein ventrales und ein dorsales, die das Rückenmark mit dem Körper verbinden. Die ventralen Wurzeln enthalten die efferenten (herausführenden) Axone von Motorneuronen, die dorsalen Wurzeln die afferenten (eintreffenden) Axone von sensorischen Neuronen. Die Zellkörper der sensorischen Neurone liegen in Schwellungen in der Nähe des Rückenmarks, den »dorsalen Wurzelganglien«. Die Zellkörper der motorischen Neurone befinden sich in der ventralen grauen Substanz. Sie sind in funktional verwandten Gruppen gebündelt. Motorische Neurone, die einen bestimmten Muskel mit Nerven versorgen, sind daher in Gruppen zusammengefasst. Dabei befinden sich motorische Neurone der Gliedmaßen an den Seiten des Rückenmarks, während diejenigen Neurone, die die Muskeln des Rumpfes versorgen, näher zur Mitte des Rückenmarks liegen. Dadurch, dass die Neurone entsprechend ihrer Funktion gruppiert sind, ist es leichter, Muskelgruppen zur Erzeugung koordinierter Bewegungen der Reihe nach zu aktivieren. Interneurone im Rückenmark verbinden die eingehenden sensorischen O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 76 1 Telencephalon 2 3 4 5 6 Diencephalon Mittelhirn 11 12 13 14 18 19 20 21 22 Telencephalon Rückenmark Diencephalon Entwicklung 15 16 17 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Rautenhirn Entwicklung 7 8 9 10 Rückenmark Mittelhirn Rautenhirn Telencephalon Kleinhirn Rückenmark HIRNFORM DER PRIMATEN Diencephalon Mittelhirn Rautenhirn O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 77 Vom Urknall zum Großhirn 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 77 und die abgehenden motorischen Impulse. Außerdem formen sie jene neuronalen Schaltkreise, die einfachen Reflexen zugrunde liegen, wie zum Beispiel dem bekannten Kniesehnenreflex. Man kann sich die drei Unterabschnitte des Gehirns wie eine geordnete Hierarchie vorstellen, in der das Vorderhirn das Mittelhirn und dieses wiederum das Rautenhirn steuert. Das Stammhirn (Mittel- und Rautenhirn) dient lebenswichtigen, jedoch nicht kognitiven Körperfunktionen, wie z. B. der Atmung, der Blutstromregulation sowie der Koordination der Fortbewegung. Außerdem werden durch die Strukturen des Mittelhirns auch sensorische Informationen vorverarbeitet. Eine komplexere Verarbeitung dieser Daten erfolgt jedoch dann, wenn diese teilweise verarbeiteten Informationen durch die Hierarchie an das Vorderhirn weitergegeben werden. Das Vorderhirn kann als »Kommandobrücke« angesehen werden, die die sensorischen Informationen der verschiedensten Art berücksichtigt und daraufhin Befehle gibt, Entscheidungen trifft und Urteile fällt, die auf den sensorischen Daten und der Erfahrung basieren. Die im Vergleich zu anderen Tieren größere Komplexität und Flexibilität unseres Verhaltens kann auf die höhere Cephalisation zurückgeführt werden, d. h. auf den Erwerb neuer neuronaler Funktionen, die mit den vordersten Teilen unseres Gehirns in Zusammenhang stehen. Dies zeigt sich daran, dass die relative Größe unseres Vorderhirns im Laufe der Entwicklung vergleichsweise stark zugenommen hat. Bei Fi- Abb. 8. Entwicklung des Vorderhirns. Während der Embryonalentwicklung des Säugetiergehirns vergrößert sich der vorderste Teil des Gehirns, das Telencephalon, überverhältnismäßig stark. Bei Primaten vergrößert sich das Telencephalon, indem es zunächst nach hinten und dann nach vorne wächst, bis es schließlich den Rest des Vorderhirns und das Mittelhirn vollständig umschließt. O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 78 78 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Vom Urknall zum Großhirn schen, Amphibien und Reptilien stellt das Vorderhirn nur einen sehr kleinen Teil des Gehirns dar, während es bei Säugetieren sehr viel größer ist. Beim Menschen wird es schließlich so groß, dass es nur unter der Voraussetzung in den Schädel passt, dass es sich einfaltet. Auf diese Weise entsteht das charakteristische äußere Erscheinungsbild unseres Großhirns. Das Rautenhirn besteht aus der sogenannten »Medulla oblongata«, der Brücke und dem Kleinhirn. Die im Folgenden beschriebene Brücke, die Medulla und die zahlreichen Abschnitte des Mittelhirns werden als das »Stammhirn« bezeichnet. Ein beträchtlicher Anteil der Medulla besteht aus Bündeln auf- und absteigender Axone, die den Informationsaustausch zwischen dem Gehirn und dem Rückenmark gewährleisten. In der Medulla wechseln die von der Großhirnrinde absteigenden Axone von der linken auf die rechte Seite, und umgekehrt. Dies hat zur Folge, dass die beiden Hemisphären die Bewegungen der jeweils anderen Körperseite steuern. Zahlreiche viszerale automatische Körperfunktionen, einschließlich der Atmung, des Herzschlags und des Schluckens, werden von neuronalen Zentren in der Medulla gesteuert. Direkt vor der Medulla befindet sich die Brücke (die »Pons«), die an der Übergangsstelle zwischen Mittel- und Hinterhirn liegt. Auch dieses Hirnareal steuert viszerale Funktionen und spielt eine wichtige Rolle bei der Steuerung des Gesichtsausdrucks. Die Brücke enthält ferner wichtige sensorische Zentren, unter anderem die sogenannten »Gleichge- Abb. 9. Cephalisation. Im Laufe der Vertebratenevolution wird der vorderste Teil des Gehirns immer stärker begünstigt. Die relative Größe des Vorderhirns hat in der Evolution am vergleichsweise stärksten zugenommen. In der Evolution der Hominiden hat die präfrontale Großhirnrinde (also der vorderste Teil des Vorderhirns) in nur zwei Millionen Jahren seine Größe verdreifacht. O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 79 1 Vorderhirn 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 Fisch Vorderhirn 15 16 17 18 19 20 21 22 Nagetier Vorderhirn 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Mensch O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 80 80 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Vom Urknall zum Großhirn wichtskerne« (die »nuclei vestibulares«), die Informationen über die räumliche Orientierung des Körpers unter Berücksichtigung der Schwerkraft und der Beschleunigungskräfte erhalten. Der komplizierteste Teil des Rautenhirns ist das Kleinhirn (das sogenannte »Cerebellum«). Es ist auf die Koordination von Bewegungsbefehlen spezialisiert. Bezüglich seiner Größe wird das Kleinhirn nur von den beiden Großhirnhälften übertroffen. Es befindet sich genau an der Stelle, an der das Gehirn in das Rückenmark übergeht. Von dieser strategisch wichtigen Position aus kann es überwachen, auf welche Weise komplexe Bewegungen ausgeführt werden. Das Kleinhirn hat ein sehr markantes Aussehen. Seine Oberfläche besteht aus zahlreichen, durch tiefe Fissuren voneinander getrennten, blattförmigen Windungen (»folia cerebelli«). Es wird mit sensorischen Informationen über die Position und die Bewegung des Körpers bestens versorgt und kann entsprechend Informationen leicht kodieren und speichern, die benötigt werden, um komplexe, vorher erlernte Fähigkeiten einzusetzen. Es ist dem Hirnstamm aufgelagert und ist mit dem Mittelhirn, der Brücke und der Medulla über drei paarige Kleinhirnstiele (»pedunculi«) verbunden. Diese bestehen aus Bündeln von Axonen. Das Kleinhirn verfügt über keine direkte Verbindung mit der Großhirnrinde, und obwohl es ebenfalls an der Bewegungssteuerung beteiligt ist, steuern seine Seiten anders als die Großhirnrinde jeweils die eigene Körperhälfte. Das Mittelhirn besteht aus der »Substantia nigra«, den hinteren und vorderen Hirnhügeln (»colliculi inferiores« und »superiores«) sowie aus einem Teil des als »Formatio reticularis« bezeichneten Neuronennetzwerks, das sich auch bis in die Medulla oblongata hinein fortsetzt. Die Substantia nigra ist wesentlich an der Einleitung und Durchführung willkürlicher Bewegungen beteiligt. Wurde dieser Teil des Gehirns in irgendeiner Form geschädigt, O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 81 Vom Urknall zum Großhirn 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 81 zeigen sich die Symptome der Parkinsonkrankheit. Charakteristisch für diese Krankheit ist ein Muskelzittern. Außerdem haben diese Patienten Probleme damit, sich zu Handlungen aufzuraffen. Die hinteren Hirnhügel stehen mit der Geräuschwahrnehmung in Zusammenhang, während die vorderen Hirnhügel ein Zentrum für die Verarbeitung visueller Daten sind und die Bewegungen der Augen steuern. Der Formatio reticularis fällt eine Hauptrolle bei der Aufgabe zu, den Wachzustand des Gehirns zu steuern und zu regulieren. Die beiden wichtigsten Unterabschnitte des Vorderhirns bilden das »Telencephalon« (die Großhirnrinde und die Basalganglien) sowie das evolutionär ältere »Diencephalon« (Teile des limbischen Systems, der Thalamus und der Hypothalamus). Im Diencephalon befindet sich, tief im Gehirn, eine als »Thalamus« bezeichnete paarig angelegte Struktur. Hierbei handelt es sich um eine Zwischenschaltung für visuelle, akustische und körpersensorische Informationen auf dem Weg zur Großhirnrinde. Mehr ventral gelegen befindet sich an der Verbindungsstelle von Thalamus und Mittelhirn der Hypothalamus. Trotz seiner geringen Größe ist dieses Hirnzentrum an der Steuerung einer ganzen Reihe wichtiger Körperfunktionen beteiligt, etwa an der Steuerung der Sexualfunktion, der Emotionen sowie der Deutung von Gerüchen. Außerdem reguliert es die Körpertemperatur und steuert Hunger- und Durstgefühle. Zusätzlich verbindet der Hypothalamus das Gehirn mit dem Hormonsystem des Körpers und gibt eine Reihe von Hormonen in den Blutstrom ab, die im gesamten Körper verteilt werden. Der Hypothalamus wird normalerweise einer Reihe verwandter Strukturen zugerechnet, die zuammen das »limbische System« ausmachen. Das Adjektiv »limbisch« bezieht sich dabei auf diejenigen Teile des Vorderhirns, die einen Saum (lat. limbus) um die Brücke (»Corpus callosum«) zwischen den beiden Großhirnhälften bilden. Zu O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 82 82 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Vom Urknall zum Großhirn diesem System gehören die Amygdala und der Hippocampus, also jene im Laufe der Evolution zuerst entstandenen Teile des Vorderhirns. Die Funktion dieser Strukturen hat sich im Verlauf der Evolution jedoch geändert. Bei den niederen Wirbeltieren, wie z. B. bei den Reptilien, ist der Amygdala der Geruchssinn zugeordnet. Beim Menschen hingegen ist die olfaktorische Funktion der Amygdala nur minimal vorhanden. Man nimmt an, dass dieses Areal im menschlichen Gehirn hauptsächlich mit der Steuerung der Emotionen zu tun hat. Der Hippocampus stellt ein weiteres Beispiel für die Funktionsänderung im Laufe der Evolution dar. Bei Reptilien regelt diese Struktur wahrscheinlich Reaktionen des Verhaltens (wie z. B. Flucht oder Paarung) auf Geruchsreize. Bei Säugetieren und dem Menschen spielt der Hippocampus eine wichtige Rolle bei der Bildung von räumlichen Erinnerungen. Die Gürtelwindung (»Gyrus cinguli«), ein weiterer Teil des limbischen Systems, stellt eine Verbindung zwischen dem limbischen System und der Großhirnrinde her. Der vorderste und in der Evolution zuletzt entstandene Teil des Vorderhirns besteht aus den Basalganglien und den sie umschließenden Großhirnhälften. Die Basalganglien liegen unter den zwei Hemisphären verborgen. Sie bestehen aus einer Ansammlung von drei paarig gelagerten Neuronengruppen. Ihre Aufgabe besteht darin, willkürliche Bewegungen, die in der Großhirnrinde initiiert wurden, zu steuern und zu regulieren. Mehr als irgendeine andere Hirnstruktur macht uns die Großhirnrinde zu Menschen. Hier werden Pläne ersonnen und willkürliches Verhalten ausgelöst. Auch die neuronale Grundlage der Sprache befindet sich in der Großhirnrinde. Außerdem werden hier die Sinnesdaten zu bewussten Wahrnehmungen zusammengesetzt. Sie ist der Ort unserer gesamten schöpferischen Intelligenz und unserer Einbildungskraft. Sollte unser Wille tatsächlich frei sein, dann wird sein Geheimnis in der Großhirnrinde zu finden sein. O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 83 Vom Urknall zum Großhirn 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 83 Die Großhirnrinde ist die eingefaltete Oberfläche der beiden Großhirnhälften. Sie besteht aus einer zusammenhängenden, etwa zwei bis vier Millimeter dicken Schicht. Der Fluss von Informationen an die bzw. aus der Großhirnrinde erfolgt über etwa eine Million Ein- und Ausgabe-Neurone. Es existieren jedoch über zehn Milliarden interne Verbindungen. Die Hirnrinde verbringt den größten Teil ihrer Zeit daher in einer Art Selbstgespräch, bei dem ein Teil mit anderen Teilen Daten austauscht. Die sehr ausgedehnte, starke Einfaltung der Hirnrinde macht es möglich, dass eine vergleichsweise große Hirnoberfläche im vergleichsweise kleinen Schädel Platz findet. Würde die Oberfläche der linken und rechten Großhirnhälfte »glatt gezogen«, ergäbe sich auf diese Weise eine Fläche von 1,6 Quadratmetern. Das entspräche etwa dem Vierfachen der Oberfläche des Großhirns eines Schimpansen. Eine tiefe Furche in der Mitte des Großhirns, die »Fissura longitudinalis«, teilt es in die linke und rechte Hemisphäre. Beide Seiten sind in vier Hauptlappen unterteilt, die nach den über ihnen liegenden Schädelknochen benannt sind. Die frontalen Hirnlappen sind die größten. Sie machen etwa 40 % der Gesamtoberfläche aus. Die temporalen, parietalen und occipitalen Hirnlappen machen demgegenüber jeweils etwa weitere 20 % der Hirnoberfläche aus. Die Ränder der Oberflächeneinfaltungen werden als »Gyri« bezeichnet, die diese trennenden Furchen als »Sulci«. Die tieferen von ihnen bezeichnet man als »Fissuren«. Dem ersten Eindruck nach scheinen die linke und rechte Seite des Großhirns symmetrisch aufgebaut zu sein. Auch funktional gesehen scheinen sie einander weitgehend zu entsprechen. Es bestehen jedoch einige wichtige Unterschiede zwischen der linken und rechten Hirnhälfte, die mit kognitiven, wie z. B. den für die Sprache erforderlichen Leistungen in Zusammenhang stehen. Die tiefe Fissura longitudinalis, welche die beiden Hirnhälften entlang der Mittellinie scheinbar trennt, verdeckt O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 84 84 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Vom Urknall zum Großhirn eine wichtige, als »Corpus callosum« bezeichnete Struktur, die von größter Bedeutung für die bilaterale Koordination der Großhirnrindenfunktion ist. Das Corpus callosum stellt die Kommunikationsbrücke zwischen den beiden Hemisphären des Großhirns dar. Es besteht aus einem Strang von über einer Million Nervenfasern, deren eine Hälfte von Neuronen in der rechten und deren andere Hälfte von Neuronen in der linken Hemisphäre ausgeht. Die Axone des Corpus callosum lassen die linke Hirnhälfte wissen, was die rechte tut, getan hat und möglicherweise als Nächstes tun wird, und umgekehrt. Wird das Corpus callosum durchtrennt, wie dies manchmal bei der Behandlung von Epilepsien, die auf keine andere Therapie ansprechen, durchgeführt wird, so können die beiden Großhirnhälften unabhängig voneinander arbeiten. Nach derartigen Operationen konnte mit solchen »Split-BrainPatienten« der definitive Beweis dafür erbracht werden, dass die beiden Hemisphären beim Sprechen eine unterschiedliche Rolle spielen. Split-Brain-Patienten waren in der Lage, in der rechten Hand gehaltene, für sie nicht direkt sichtbare, jedoch fühlbare Objekte zu benennen. Für diese Benennung wird die linke Hemisphäre verwendet, da sensorische Informationen von der rechten Körperseite von der linken Hirnhälfte verarbeitet werden. Mit der rechten Hirnhälfte konnten Patienten jedoch nicht benennen oder schildern, was sie in der linken Hand hielten. Diese Beobachtungen bestätigten die anfangs geäußerten Vermutungen: Obwohl beide Hemisphären über ein klares Bewusstsein der Dinge verfügen, drückt nur die linke Hemisphäre dieses Bewusstsein auch sprachlich aus. Die stark eingefaltete Oberfläche des menschlichen Großhirns kann in eine Reihe funktionaler Bereiche unterteilt werden. Am grundlegendsten und einfachsten ist jedoch eine Unterteilung in Bereiche, die sensorischen, und solche, die motorischen Funktionen dienen. Sensorische Bereiche werden anhand der Art der Informationen O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 85 Vom Urknall zum Großhirn 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 85 definiert, die sie empfangen. Verschiedene Areale des Gehirns sind auf das Empfangen und die Verarbeitung von Informationen spezialisiert, die von bestimmten Sinnesorganen und Strukturen ausgehen. So werden beispielsweise Informationen, die von den Augen eintreffen, zum hintersten Bereich des Occipitallappens geleitet. Man bezeichnet diesen Bereich als »primären visuellen Kortex«. Informationen aus dem Körper und von der Haut, sogenannte »somatosensorische Informationen«, werden zu einem Streifen des Parietallappens weitergeleitet, dem somatosensorischen Kortex. Ein wichtiges Prinzip der Anordnung dieser sensorischen kortikalen Bereiche bildet das sogenannte »Mapping« bzw. ihre jeweilige Zuordnung. Der Kortex erstellt Karten, räumliche Darstellungen der sensorischen Welt, die ihm von den Sinnesorganen übermittelt werden. Die am einfachsten verständliche Karte ist die Karte der visuellen Welt. Sie ist zweidimensional und entsteht ursprünglich im Auge, das ein Bild der Außenwelt auf die Retina projiziert. Eine neuronale Darstellung dieser Karte bleibt erhalten, während sie von der Retina zum Thalamus und von dort zum primären visuellen Kortex weitergeleitet wird. Die Karte wird für verschiedene Unterabschnitte des Kortex, die auf unterschiedliche Aspekte der visuellen Wahrnehmung spezialisiert sind, mehrfach neu aufgebaut. Auch die linke und rechte Oberfläche des eigenen Körpers wird auf den rechten und linken Hemisphären abgebildet. Diese werden als »somatosensorische Karten« bezeichnet. Sie finden sich in den breiten Kortexstreifen, die direkt hinter der Zentralfurche (dem »sulcus centralis«) liegen. Die Bewegungen des Körpers werden vom primären motorischen Kortex gesteuert. Bei diesem handelt es sich um ein Spiegelbild der oben beschriebenen sensorischen Darstellung der Körperoberfläche. Der linke motorische Bereich steuert die rechte Körperseite und umgekehrt. O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 86 86 Vom Urknall zum Großhirn 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Abb. 10. Homunculus: Diese verzerrte Darstellung des menschlichen Körpers gibt die relative Größe des Kortexbereichs wieder, der den sensorischen und motorischen Funktionen der verschiedenen Teile des Körpers zugeordnet ist. Die motorischen Bereiche befinden sich in den Streifen der Großhirnoberfläche, die direkt vor dem zentralen Sulcus liegen. An dieser Stelle befindet sich auch eine motorische Karte, eine Karte der Muskeln. Sie entspricht der verzerrten Darstellung des Körpers in den somatosensorischen Karten. O´Shea, Das Gehirn 10.6.08 Z:/WDZ/UB/Pageone/Ub18477/2800227-U.pod Seite 87 Vom Urknall zum Großhirn 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 87 Keine dieser kortikalen Karten bildet den Körper maßstabsgetreu ab, sondern sie sind auf verschiedene Art verzerrt. Die Verzerrung spiegelt dabei den Umfang der neuronalen Verarbeitungsleistung wider, der den verschiedenen Bereichen zugeordnet ist. Dies erklärt das groteske Aussehen der menschlichen Gestalt (Penfields berühmten Homunculus), die sich bei der Übersetzung der sensorischen Karte in die menschliche Körperform ergibt. Ein großer Teil des Kortex, der häufig »Assoziationskortex« genannt wird, ist weder direkt mit den motorischen Steuerungssystemen noch mit den Vorstufen der sensorischen Informationsverarbeitung verbunden. Generell gilt, dass sich die Funktion eines kortikalen Bereichs umso weniger genau definieren lässt, je weiter er von den direkten motorischen und sensorischen Funktionen entfernt liegt. Wie die Großhirnrinde des Menschen derartig groß wurde Verfolgen wir die Evolution des menschlichen Gehirns zurück, so zeigt sich schnell, dass die Frontallappen des Kortex, die etwa 40 % des Gesamtkortex ausmachen, im Vergleich am stärksten und am schnellsten gewachsen sind. Bei unseren nächsten lebenden Verwandten, den Schimpansen, macht der frontale Kortex etwa 17 % des gesamten Kortex aus. Die evolutionären Linien, die zum modernen Menschen und zu den anderen lebenden Primaten, einschließlich der Schimpansen, führen, haben sich vor etwa 14 Millionen Jahren abgezweigt. Die ältesten Hominiden mit aufrechtem Gang (die vor 3,9 bis 2,5 Millionen Jahren lebten), hatten ein Hirnvolumen von 400 bis 500 Kubikzentimetern, also nur 100 Kubikzentimeter mehr als ein Schimpanse. Homo habilis, der vor 2,5 bis 2 Millionen Jahren lebte und wahrscheinlich als erster Ho-