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Jubiläumsausgabe | Rückblick Wissen | Januar 2014
zum Thema
«Neue Krankheiten –
Darm»
Auszüge aus OTX World:
Wissen und
Wissenschaft
aus den letzten
99 Ausgaben
von OTX World
Nr. 46
März
2009
Nr. 60
September
2010
zum Thema
Nr. 77
Februar
2012
«Neue Krankheiten –
ADHS»
Auszüge aus OTX World:
zum Thema
«Neue Krankheiten –
Stress»
Nr. 28
März
2007
Nr. 36
März
2008
Nr. 37
April
2008
Auszüge aus OTX World:
Nr. 17
Jan./Feb.
2006
zum Thema
Nr. 26
Januar
2007
Nr. 32
Oktober
2007
«Wissenschaft und
Forschung»
Nr. 33
Nov./Dez.
2007
Auszüge aus OTX World:
Nr. 52
Oktober
2009
Nr. 19
April
2006
Nr. 73
Oktober
2011
Nr. 49
Juni/Juli
2009
Nr. 82
Juli
2012
Nr. 46
März
2009
Nr. 90
März
2013
Nr. 51
September
2009
Nr. 91
April
2013
Nr. 72
September
2011
Nr. 84
September
2012
Nr. 89
Februar
2013
Nr. 92
Mai
2013
Nr. 94
Juli
2013
Nr. 97
Oktober
2013
«Neue
Krankheiten»
WISSEN
Auszug aus
OTX World Nr. 100
Januar 2014
Neue, «erfundene» Krankheiten?
Jedes Jahr tauchen neue Strömungen, Syndrome, Krankheitsdefinitionen und Grenzwerte in der
Medizinwelt auf, die nicht nur in der Laienpresse viel Staub aufwirbeln. Auch unter Fachleuten
führen sie nicht selten zu Streit. Oft stellt sich erst nach Jahren heraus, ob es sich dabei um eine
neue Wortschöpfung oder um eine veritable Erkrankung handelt.
Dr. med. Markus Meier
Ärztefo
Pill
WISSEN
Ein hochkomplexer Sch
lauch
erhalten
Den Darm gesund
ld, mit je anderen
elle Serie in OTX Wor
del» – lautet die aktu
hbühl Schmid
del für den Fachhan
erden. Daniela Brec
«Tipps vom Fachhan
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rten. Diesmal
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sani
Darm
Themen und Expe
Welsch
wie sinnvoll eine
Athena Tsatsamba
erie Lyss erklärt,
von der Dropa Drog
.
unternehmen kann
einen gesunden Darm
Unser Darm kann viel
mehr al
Foto: zVg
Erfolg haben
wird. Wer langfristig
anpassen,
en beigemessen
auch seine Ernährung
ut beruhigen. Sie stopp
gen-Darm-Schleimha
regu- möchte, sollte nicht zwingend notwendig ist.
en die Übelkeit und
Diät
eine
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wobe
die
das Erbrechen, nehm
z. B.
shaushalt. So hilft
igkeit
Flüss
den
lieren
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aus der Tabakpflanz
Präparate empfehlen
wie z. B.
spagyrische Essenz
Bei den Welche
n mehrere Präparate,
indel und Übelkeit.
be- Wir kombiniere
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parat, mit Symsich Schüssler-Salze
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säurebakterien
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währt. Während Nr.
Flüs- biolact, um
wie ein Film
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Entzündungen stopp
Weis- zuzuführen
n Übelkeit hilft auch
schleimhaut und dicht
n- auf die Darm
und lösen
sigkeitshaushalt. Gege
) sehr gut. Bei Entzü
e werden gebunden
ser Germer (Veratrum verwende ich gerne Schlechte Keim aus. In einer weiteren Phase
mehr
tionen
Infek
Reize
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wieder auf
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ittelunverträglichdie Darmkulturen
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Nahr
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und
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Propolis
nervöGleichgewicht der
einem chronischen,
rt ein natürliches
da
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(Gelse- und förde
besonders wichtig,
ist Wilder Jasmin
besiedelung. Das ist
sen Magen-Darm
Zusatzstoffen,
auswirkt, Darm
vielen
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das
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(Mandragora) eigne
Lebensmitteln entha
die mittlerweile in
nicht
ehlenswert. Alraune
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Schmid ist Inhab
ordert ist, sodass
sich bei emotional
Daniela Brechbühl
einer Un- überf
werden können. Wer
(Nux vomica) bei
Lyss in Lyss.
ins Blut transportiert
leidet,
den, die Brechnuss
der Dropa Drogerie
bei Stress. mehr
ischer Müdigkeit
Genussmitteln und
ezusätzlich unter chron
verträglichkeit von
eder das Aminosäur
empfehlen wir entw
dem
.
in dieser
l oder L-Glutamin
Magenbei
ffene
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tome
Betro
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sich
Symp
n
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Wie sollte
Was sind typische
ernähren?
Darm
Darm-Beschwerden?
n-Darm- Phase
Schonkost angesagt.
versuchen, seinen
werden im Mage
n Beschwerden ist
die- Wie kann jeder
Chronische Besch
einem Bei akute
smittel gehören in
Druckgefühl und
,
gesund zu erhalten?
fe und fette Leben
Trakt sind mit einem
Jahr über versuchen
den Speiseplan.
Betroffene Schar
hlsein verbunden.
auf keinen Fall auf
Man sollte das ganze
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ieren oder,
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zu
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Bouil- krankmach
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leiden unter kram
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n über diffuse – unr, ganz auszuschal
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und
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Bauc
harten
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aushalt aus.
er- und Elektrolyth
man sich nicht einse
erzen. Im Gegensatz
Gemüse.
definierbare Schm
, wie lon den Wass
ste Getränke dass
frischem Obst und
tion die Symptome
n um künstlich gesüs
saisongerecht mit
henlich troffene sollte
treten bei einer Infek
stattdessen schoeiden und sich zwisc
und Übelkeit, plötz
en Bogen machen,
.
Jeder sollte Stress verm
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Durchfall, Erbrechen
en und entspannen
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werden.
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und besonders heftig
sollten reduziert
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s
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Immunsy
erbrechen.
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sich im Magen-Da
tem aus.
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eine Darmsanierung
Was sind die Ursa
ist gerade für Perso
nEine Darmsanierung
Beschwerden?
kommen wegen Mage
regelmässig Genussder Regel auf eichen
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die
Wie
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Akute Beschwerd
chro- sinnvoll,
ssig essen und
täglich in Ihre Drog
die Beschwerden
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Darm-Problemen
nicht
nem Infekt. Verlaufen
e Ursa- mittel konsu enience-Food greifen. Wir empn ab und lässt sich
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nisch, können sie
sein oder häufi
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en. Wenn eine Mage
seits stressbedingt
ihnen dann ein umfa
itteln, genau mess
Mittlerweile hat
chen haben, einer
Nikotin fehlen
ungsergänzungsm
ist, dann häufiger.
wie Alkohol oder
runder Basis von Nahr
re- im Umlauf
s auf
Es Essen
durch Genussmittel
ist eine
, dass wir Darmsanie
Krux
chleimhaut aufbaut,
n-Darm-S
Auch die Qualität des
Magedem
sich herumgesprochen
Darm
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in ruhigen ZeiBakte
verursacht werden.
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| September 2010
Nachbehandlung
OTX World | Nr. 60
Auf natürlicher Basis
die Ma- da der
pflösend wirken und
Essenzen, die kram
Foto: zVg
Den Darm natürlic
h
sanieren
schen zwei bis drei
Monaten. «Mit einer
Darmsanierung wird
auf
sanft
Darmökosystem renov e Art und Weise das
iert», sagt Winkler.
Ursprünglich aus
der
Raumfahrt
Eine andere Varia
nte zum Abführen
und zur
Reinigung des Darm
s ist die Colon-Hydro-Th
rapie. Diese Thera
epie kommt ursprüngli
ch
der Raumfahrt, da
die Astronauten meist aus
wegen
zu wenig Bewegung
und Ernährungsumst
ellung
Verdauungsproblem
e bekamen. Es ist
Dr. med. Rudolf Wink
ein geschlossenes Darm
ler, Allgemeinintern
spülungssystem:
ist und
ausgebildeter Komp
Zur Vorbereitung wird ein
lementärmedizinier,
Kunststoffröhrchen
sagt: «Vor
hundert Jahren wäre
in den
Mastdarm eingeführt
eine Darmsanierung
. Es
noch kaum
vonnöten gewesen.»
system mit dem Beha ist über ein Schlauchndlungsgerät verbu
nden,
und dieses regelt die
Wasserzufuhr, den
Dr. med. Rudolf Wink
Druck
und die Temperatu
ler führt eine Praxi
r des Wassers. Währ
s in der klärt er
Stadt Bern, ist Allge
enddem
Wasser in den Darm
mittels eines bioen
meininternist und
ergetischen Tests ab,
fliesst, wird das Wass
ausgebil- ob eine
deter Komplementär
dank einer Bauchmas
bestimmte Nahrungs
er
mediziner. In seine
sage
mittelunverträgr Praxi
gleichmässig im Cofinden sich Geräte
lon verteilt. Verhärtete
für die Colon-Hydro-Th s lichkeit oder Allergie besteht.
Kotbestandteile, die
In einem weiteera- ren Schritt
pie, für die Vega-Test
teilweise seit Jahren in
werde bei gewissen
ung oder Dunkelfeld
den Darmzotten und
Patienten abgemik- führt, vorzu
roskopie; im Arzn
-krypten lagern, würden
eischrank stehen homö
gsweise zu Hause.
dadurch heraus und
Dort nehmen die
opa- Patienten
thische und pflan
in den
Abfluss geleitet.
Basensubstanzen,
zliche
beispielsweise BitNahrungsergänzungsp Präparate, aber auch tersalze, ein.
Durch die Entleerung
Es sei eine sanfte Abfü
räparate. Beinahe
mit der
bei je- die nicht
hrmethode, Thera
dem Patienten, den
zu stundenlangen
er behandelt, führt
pie könnten Flüssigkeit Colon-HydroKlositzungen oder
er eine akutem
natürliche Darmsanie
seinla
gerungen in
der Schleimhaut
Stuhldrang führt.
rung durch: «Häufig
entfernt, überblähte
wird
die Darmflora und
Darmschlingen normalisie
deren Auswirkung
rt und die Arbe
auf die Klingende
Gesundheit massiv
it des
Darms vereinfacht
unterschätzt», sagt
werden. Die Thera
Winkler. Die Präpa Namen
Unbestimmte Besch
pie dauere
insgesamt 45 bis 60
rate, die neben den
werden wie Bauchschm
Minu
Abführmitteln einzen, Verdauungspro
er- genommen
Regel sechsmal in einem ten und werde in der
werden, haben kling
bleme, Asthma, Aller
Abstand von einer
ende Namen che
gien, wie Uva Ursi
chronische Müdigkei
Woangew
t oder Stimmungs
endet. Winkler hat
labilität Albicansan (Bärentraubenblätter-Kapseln),
seien vielfach auch
die Beobachtung
gemacht, dass vor
auf ein gestörtes Darm
oder
allem wohlbeleibte,
öko- Basis von Rizin Rizol Zeta – letzteres ist auf wich
system zurückzufü
übergehren. Ausserdem leide
tige Menschen mit
usöl und beinhaltet
träger Darmtätigk
unser mut, Nelke
Öle von Wer- gut
Darm an Schadstoffe
eit
auf die Colon-Hydro-Th
n, Schwarzkümme
n aus der Umwelt,
l, Beifuss, Wallan zu nuss und
viel Stress, an unge
erapie ansprächen
Meist wende er die
Majo
.
sunder Ernährun
Behandlung nur bei
g. «Vor ausgerichte ran. Diese Präparate sind darauf
hundert Jahren wäre
Patienten an, die an einem
t, Parasiten, Hefep
eine Darmsanierung
ernsthaften Verdauun
ilze und schädlinoch che Bakte
kaum vonnöten gewe
problem leiden, wie
gsrien im Darm zu entfe
sen.» Denn damals
beispielsweise chron
rnen. In seinen
hätten Behandlun
sich die Menschen
ischer
Verstopfung.
gen hätten sich diese
naturbelassen ernäh
rt und Jahre hinw
Mittel über Eine
Schadstoffe seien
eg bewährt, so Wink
in einem geringen
natürliche Darmsanie
Ausmass ren und
ler. Das Abführung hingegen eigne
vorhanden gewesen.
sich für jedermann
Eliminieren schäd
: «Man spricht davon
licher Keime dauer
Aber was genau ist
laut Winkler unge
t 80 Prozent der
eine Darmsanierung
fähr einen Monat.
Menschen ab 40 Jahre , dass
? Eine kommen
Sanierung des Darm
Dana
ch
n keine
optimale Darmflora
die Probiotika zum
s beginne mit einer
in sich tragen», so
Zuge, um den AufErnäh- bau der
rungsumstellung.
Winkler.
Aus diesem Grun
Darmflora voranzutre
Winkler achtet darau
d empf
iben. Dr. Winkler
f, dass wendet für
seine Patienten mögl
immer eine natürliche ehle er grundsätzlich
diesen
ichst
Darmsanierung.
dukte essen, viele Früch naturbelassene Pro- Beispiel Symb Teil der Darmsanierung zum
iolact an, das mehr
te und Gemüse, je
nach Bifido-Ba
heitlich aus
Blutgruppentyp mehr
kterien und Lakto
oder weniger Getre
-Bazillen besteht.
Fisch, Fleisch, Eier
ide, Diese gehör
en zu den Leitkeime
und Milchprodukte.
n in der DarmMeist flora. Der
Aufbau dauert gemä
ss Winkler zwiOTX World | Nr. 77
| Februar 2012
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«100 – eine stolze Zahl,
ein stolzes Team.
Auf die nächsten Hundert!»
Ausführliche Berichte
ch
_Umbru
OTX_28
5:22 Uhr
007
12.3.2
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15:22
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März 2007
| Nr.28 |
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Nach zehn Jahren sind wir alle schlauer – auch
OTX World. Denn so lange dauert es meistens
in der Medizin, bis sich neue Erkenntnisse so
gut etablieren, dass sie als ein von allen akzeptiertes Wissen Niederschlag in die Fachliteratur
finden. Klassisches Beispiel dafür ist momentan
der Expertenstreit um das sogenannte Eisenmangelsyndrom, dem Eisenmangel ohne Anämie. Kämpfer an vorderster Front ist der Allgemeinmediziner Dr. med. Beat Schaub aus
Binningen, der mit tausenden von Fallstudien
feststellte, dass rund 150 vom Eisen abhängige
Körperfunktionen früher aus dem Ruder laufen,
als es die simple Messung des Hämoglobins anzeigen kann. Denn die Natur spart bei der lebensnotwendigen Sauerstoffversorgung zuallerletzt. Das Eisenspeicher-Protein Ferritin ist ein
viel feinerer und früher reagierender Indikator
für Eisenmangel als Hämoglobin. Er zeigt den
Mangel an, lange bevor eine Anämie auftritt.
Anfeindungen und
langjähriger Streit um Grenzwerte
Schaub wurde jahrelang angefeindet, weil er bei
den von ihm 2005 beschriebenen Symptomen
des Eisenmangelsyndroms (z. B. Erschöpfung,
Kopfschmerzen, Nackenschmerzen, Schwindel,
Depression usw.) sehr rasch Eiseninfusionen
verschrieb – notabene mit Erfolg. Später stritten
sich Labors, Hämatologen und sonstige EisenExperten wegen der uneinheitlichen FerritinGrenzwerte, bei denen man mit einer Eisensubstitution beginnen sollte.
Tatsache ist, dass es in den vergangenen fünf
Jahren immer mehr universitäre Studien gab,
welche die Therapie-Empfehlungen von Schaub
legitimieren. Dazu gehört die Arbeit von Dr.
med. Pierre-Alexandre Krayenbühl vom UniversitätsSpital Zürich, der 2011 einen positiven
Effekt der Eisengabe auf die Müdigkeit bei
Frauen mit leeren Eisenspeichern fand – trotz
fehlender Blutarmut.¹
Minenfelder für OTX World
In den bis jetzt publizierten 99 Ausgaben von
OTX World musste die Redaktion immer wieder entscheiden, ob und wann sie auf solche
neuen Strömungen wie das Eisenmangelsyndrom einsteigt und wenn ja, welche Haltung sie
einnimmt. Dazu ein paar Beispiele:
Das Thema Reizdarm im eigentlichen Sinne
fand in OTX Word praktisch nicht statt. Ein
Hauptgrund ist sicher, dass es sich dabei um eine
Ausschlussdiagnose und nicht um eine eigent-
liche Krankheit handelt. Dafür standen MagenDarm-Probleme generell im Fokus und wie man
Durchfall, Verstopfung, Blähungen und Co. mit
Schulmedizin, Komplementärmedizin und
Ganzheitsmedizin bekämpfen kann. 2009 gab
beispielsweise der Kindergastroenterologe Prof.
Dr. med. Christian Braegger vom Kinderspital
Zürich Auskunft über die positiven Resultate
von Probiotika und Präbiotika in Studien bei
Kindern, die sich mit Rotaviren infiziert hatten.
Probiotika verkürzten die Durchfallerkrankung
um einen Tag.
Auch die natürliche Darmsanierung war mehrfach ein Thema und spezielle Therapien wie die
Colon-Hydro-Therapie, die in der Raumfahrt
bei obstipierten Astronauten zum ersten Mal angewandt wurde.
ADHS – bei Kindern und Erwachsenen
Auch bei der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) scheiden sich die
Geister. Ursprünglich war diese Störung vor allem bei Kindern ein Thema. Tageszeitungen und
Gesundheitsmagazine propagierten flächendeckend Ritalin® (Methylphenidat) als neues WunFortsetzung
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viele depressive Männer durch das ärztliche
Die Probleme treten nicht zwangsläufig auf
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Viele der sexuellen Probleme gehen auf die Ermacht Probleme.
krankung zurück und nicht auf die Therapie.
Sexuelle Schwierigkeiten mit Libidoverlust
Erfolgreiche Kombinationstherapie
sind ein häufiges Symptom der Depression.
Buch-Tipp
In der Therapie steht ein breites Spektrum
Falls unter Medikation Schwierigkeiten beim
von Medikamenten und Psychotherapien zur
Sex auftreten, sollte ein Wechsel des PräparaHolger Reiners:
Verfügung. Die beiden Therapien ergänzen
tes in Erwägung gezogen werden.
Die gezähmte Depression.
Kösel, ISBN: 978-3-466sich. Antidepressiva verbessern und stabilisieMänner, die den Verdacht haben, eine Depres30763-0, CHF 34.80
ren die akute Situation. Die Psychotherapie ist
sion könnte hinter ihrer gereizten Stimmung
wichtig zur Analyse und allfälligen Lösung der
lauern, sollten sich auf jeden Fall mit ihrem
Frederic F. Flach:
Lebensprobleme. Es gibt kein spezielles AntiArzt beraten. Die Therapie kann wie bei Hugo
Depression als Lebensdepressivum für den Mann. Die neueren AntiM. das Leben in fröhlichere und entspanntere
chance. Seelische Krisen
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depressiva, die sogenannten SSRI (Selektive
Bahnen lenken.
und wie man sie nutzt.
Serotonin-Reuptake-Inhibitoren) oder SSNRI
Rowohlt,
(Serotonin- und Noradrenalin-Reuptake-InhiISBN: 978-3-499-61111-7,
Die Gesundheitsbegriffe
Beatrice
Valentini
bitoren)
werden
heute
bevorzugt
eingesetzt.
CHF 16.70
Die stimmungsaufhellende Wirkung des kör-
Männer und Depression
Sich stellen statt flüchten
Was gesunde Menschen auszeichnet
OTX World | Nr.32 | Oktober 2007
«Heutzutage ist es nicht mehr
selbstverständlich, dass ein PrintProdukt seine 100. Ausgabe erlebt
und erst noch sehr erfolgreich ist.
Deshalb freut es mich umso mehr,
dass ich dieses gut gemachte
Fachmagazin seit Juni 2013 mitprägen und nun feiern darf.»
Markus Meier
Chefredaktor
Sanatrend AG
4
27
sowohl der modernen Medizin wie der WHO kranken. «Sie treffen die
Wirklichkeit nicht», sagt Prof. Dr. med. Volker Fintelmann. Längst habe die Salutogenese einen
neuen Ansatz aufgestellt. «Die Zukunft der modernen Medizin liegt darin, den dreidimensionalen
Menschen – die Einheit von Leib-Seele-Geist wiederzuentdecken.»
Jürg Lendenmann
dermittel, um «Zappelphilippe» zu zähmen.
Die genauso wichtige psychologische und soziale Betreuung der Kinder (und der Eltern) ging
oft vergessen. Die Gewichtung dieser zwei Therapie-Säulen löste ebenfalls einen grossen Expertenstreit aus.
OTX World berichtete im März 2007 anlässlich
des Ärztefortbildungskurses der Lungenliga Zürich über ADHS – nicht polemisch und mit
einem Ausblick auf eine zukünftige TherapieOption. Denn zwei Jahre später bekam Ritalin®
mit Strattera® (Atomoxetin) zumindest in der
Second-line-Behandlung einen weiteren Konkurrenten. Im Juli 2009 bewilligte Swissmedic
zudem für erwachsene ADHS-Patienten die Behandlung mit Concerta®-Retardtabletten, die
ebenfalls Methylphenidat enthalten. Als Begründung hatte sich die wissenschaftliche Erkenntnis
durchgesetzt, dass ein Teil der Kinder mit diagnostiziertem ADHS die Symptome auch im Erwachsenenalter haben.
Wegen der Oxford-Durham-Studie² und der
Adelaide-Studie³ berichtete OTX World 2008
über Nahrungsergänzungsmittel mit Omega-3und Omega-6-Fettsäuren. Sowohl die englischen als auch die australischen Forscher hatten
nachgewiesen, dass sich mit den Fettsäuren EPA
und DHA bei den betroffenen Kindern die
ADHS-Symptome reduzieren lassen.
Stress, Burn-out und
Erschöpfungsdepression
Entsprechend den Entwicklungen in Gesellschaft und Wirtschaft nehmen psychische Erkrankungen stark zu – speziell Depressionen
und das Burn-out-Syndrom. Dementsprechend
oft berichtete OTX World zu diesen Themen
und musste sich anfänglich den Vorwurf anhören, dass Burn-out ein Randphänomen bei
Topmanagern und eine «erfundene Krankheit»
sei. Doch die Akzeptanz des Zusammenhangs
zwischen Stress, Burn-out und Erschöpfungsdepression wuchs mit den Jahren und die Bereitschaft zur Prävention und Therapie stieg.
Im Jahr 2000 belegte eine seco-Studie, dass die
Schweizer Wirtschaft durch die Folgen von
Mehr Risiko und weniger Vorsorge
Männer und Frauen haben unterschiedliche Erkrankungsrisiken. Gleichzeitig ist die Wahrnehmung für gesundheitliche Fragen bei Männern deutlich geringer. Männer sind risikobereiter,
leben ungesünder und kümmern sich weniger um das eigene körperliche und seelische Wohlbefinden. Dabei würde sich ein bisschen mehr Achtsamkeit lohnen.
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krankmachendem Stress jährlich 4,2 Mia. Franken verliert. Kein Wunder legten sich Suva,
Gesundheitsförderung Schweiz, Verein «stressnostress» sowie andere Organisationen und
Kliniken mächtig ins Zeug, um gute Erklärungen zur Problemstellung sowie Lösungsansätze und Therapien zu erarbeiten. OTX World
stellte anfangs 2006 einige dieser Angebote
mit Selbsttests und vielen Informationen auf
den entsprechenden Homepages vor.
Der bekannte Arbeitsmediziner Dr. med. Dieter
Kissling aus Baden warnte in derselben Ausgabe, dass gemäss einer schweizerischen Studie
Menschen, die nicht gut mit ihrem Stress umgehen können, sechs Mal höhere medizinische
Kosten verursachen als diejenigen, die nicht gestresst sind.
Dies ist für OTX World auch in Zukunft ein Anreiz, über Stressbewältigung, Burn-out und Erschöpfungsdepressionen zu schreiben – nicht
nur, weil eine der betroffenen Patientengruppen
den «helfenden Berufsgruppen» im Gesundheitswesen angehört.
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Quellen
1 Krayenbuehl PA et al., Intravenous iron for the treatment
of fatigue in nonanemic, premenopausal women with low
serum ferritin concentration. Blood 2011;118(12):3222-3227.
2 Richardson AJ, Montgomery P, The Oxford-Durham study:
a randomized, controlled trial of dietary supplementation
with fatty acids in children with developmental coordination
disorder. Pediatrics 2005;115(5):1360-1366.
3 Sinn N, Bryan J. Effect of supplementation with polyunsaturated fatty acids and micronutrients on learning and
behavior problems associated with child ADHD. J Dev Behav
Pediatr 2007;28(2):82-91.
«Wenn Sie Visionen haben, gehen Sie
zum Arzt» – mit dieser Replik beantwortete der einstige deutsche Bundeskanzler
Helmut Schmidt die Frage eines Journalisten nach seiner Vision für die Zukunft.
Diese Zeit ist endgültig vorbei. So darf
eine deutsche Trendforscherin auch in
einem seriösen, unabhängigen, immer
spannenden Schweizer Pharma-Magazin
regelmässige Beiträge publizieren. Einem
Magazin, das sich traut, aus aktuellen
Entwicklungen Chancen für die Zukunft
abzuleiten.
«Qualifiziert ahnen», so nennt Zukunftsforscher Matthias Horx diese Tätigkeit, die
viel mit Marktentwicklungen und noch
mehr mit den Bedürfnissen der Menschen
zu tun hat. Indem wir uns auch an dieser
Stelle mit den wichtigsten Neuerungen
aus der Welt von Gesundheit und Krankheitsbekämpfung beschäftigen, indem
wir Beispiele und Kuriositäten aus dem
In- und Ausland zusammentragen und
diese mit den Ergebnissen qualitativer
und quantitativer Marktforschung zusammenbringen, können wir dabei helfen,
Entwicklungen vorauszusehen und Trends
richtig einzuordnen.
Die Macher von OTX World haben ihr Gespür für Trends bereits eindrucksvoll bewiesen: 100 Ausgaben zeugen davon,
dass sie mit den Inhalten in Heft und Internet, mit Veranstaltungen und weiteren
Publikationen einen Nerv getroffen haben. Dabei herrschte niemals Stillstand.
Weiterentwicklung ist Trumpf. Denn auch
für OTX World gibt es eine lebendige Vision: Marketing und Kommunikation modern und zukunftsorientiert zu verbinden.
Dazu meine herzliche Gratulation. Ich
freue mich auf die Zukunft.
Herzlich,
Ihre Corinna Mühlhausen
OTX World | Nr. 100 | Januar 2014
5
41
«Neue Krankheiten –
Darm»
Auszug aus
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OTX World Nr. 46
März 2009
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Der Darm ist nicht nur für das Verwerten der
Nahrung zuständig, er schützt auch den Körper vor Infektionskrankheiten. Die gastrointratestinale Mikroflora ist die erste von drei
Schutzbarrieren im Darm, die das Eintreten
von gesundheitsschädigenden Mikroorganismen in den Organismus verhindern. Im Dünndarm sind nur wenige Bakterien vorzufinden,
der Dickdarm hingegen ist dicht besiedelt.
100 000 Milliarden Mikroorganismen, davon
400 unterschiedliche Arten, bilden zusammen
die Darmflora. Das sind zehn Mal mehr Bakterien als Zellen im gesamten menschlichen
Körper. Die weiteren Barrieren sind die Darmschleimhaut und das Immunsystem im Darm.
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Durchfall und Erbrechen sind immer ein Zeichen dafür, dass aufgrund einer geschwächten
Abwehr im Darm schädliche Erreger – Bakterien oder Viren – in den Körper eingedrungen
sind. Durch die heftige Reaktion mit Durchfall
und Erbrechen kann sich der Körper rasch von
den krankmachenden Erregern befreien. Ist die
Darmflora wieder im Gleichgewicht, verschwinden auch die Beschwerden.
In den letzten Jahren hat sich diesbezüglich ein
neues Forschungsfeld eröffnet: die Darmflora,
ihre Zusammenarbeit mit Probiotika und deren Effekte auf die Gesundheit. Probiotika sind
oral aufgenommene lebende Mikroorganismen, die stabil gegenüber Gallen- und Magensäure sind und somit die Darmflora regulieren
können. Dabei spielen die sogenannten Milchsäurebakterien (Bifidobakterien, Laktobazillen
und Streptococcus thermophilus) eine tragende Rolle.
Die vermehrte Zufuhr dieser Bakterien über
probiotische Nahrungsmittel kann das Gleichgewicht in der Darmflora wiederherstellen. In
den letzten Jahren konnte diese Wirkung mit
mehreren Studien, insbesondere bei Kindern
mit durch Viren ausgelösten Magen-Darm-Erkrankungen, belegt werden.
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«Neue Krankheiten –
Darm»
Auszug aus
WISSEN
OTX World Nr. 60
September 2010
Den Darm gesund erhalten
Foto: zVg
«Tipps vom Fachhandel für den Fachhandel» – lautet die aktuelle Serie in OTX World, mit je anderen
Themen und Experten. Diesmal geht es um Magen-Darm-Beschwerden. Daniela Brechbühl Schmid
von der Dropa Drogerie Lyss erklärt, wie sinnvoll eine Darmsanierung ist und was jeder aktiv für
einen gesunden Darm unternehmen kann.
Athena Tsatsamba Welsch
Daniela Brechbühl Schmid ist Inhaberin
der Dropa Drogerie Lyss in Lyss.
Was sind typische Symptome bei MagenDarm-Beschwerden?
Chronische Beschwerden im Magen-DarmTrakt sind mit einem Druckgefühl und einem
allgemeinen Unwohlsein verbunden. Betroffene
leiden unter krampfartigen Zuständen, einem
harten Bauch, und sie klagen über diffuse – undefinierbare Schmerzen. Im Gegensatz dazu
treten bei einer Infektion die Symptome, wie
Durchfall, Erbrechen und Übelkeit, plötzlich
und besonders heftig auf. Betroffene leiden unter schlagartigem Durchfall, ihnen wird schlecht
und sie müssen oft erbrechen.
Was sind die Ursachen von Magen-DarmBeschwerden?
Akute Beschwerden beruhen in der Regel auf einem Infekt. Verlaufen die Beschwerden chronisch, können sie ganz unterschiedliche Ursachen haben, einerseits stressbedingt sein oder
durch Genussmittel wie Alkohol oder Nikotin
verursacht werden. Auch die Qualität des Essens
wirkt sich auf das Befinden aus. Wer gesund, aber
zu schnell isst und dabei viel Luft schluckt, kann
ebenso Magen-Darm-Probleme bekommen.
Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es
auf natürlicher Basis?
Auf natürlicher Basis empfehlen wir spagyrische
Essenzen, die krampflösend wirken und die Ma-
gen-Darm-Schleimhaut beruhigen. Sie stoppen
das Erbrechen, nehmen die Übelkeit und regulieren den Flüssigkeitshaushalt. So hilft z. B. die
spagyrische Essenz aus der Tabakpflanze (Tabacum) gegen Schwindel und Übelkeit. Bei den
Mineralessenzen haben sich Schüssler-Salze bewährt. Während Nr. 3 akute Beschwerden und
Entzündungen stoppt, reguliert Nr. 8 den Flüssigkeitshaushalt. Gegen Übelkeit hilft auch Weisser Germer (Veratrum) sehr gut. Bei Entzündungen und Infektionen verwende ich gerne
Propolis und bei Nahrungsmittelunverträglichkeit Okoubaka. Bei einem chronischen, nervösen Magen-Darm ist Wilder Jasmin (Gelsemium), das sich auf das Nervensystem auswirkt,
empfehlenswert. Alraune (Mandragora) eignet
sich bei emotionalen und nervösen Beschwerden, die Brechnuss (Nux vomica) bei einer Unverträglichkeit von Genussmitteln und bei Stress.
Wie sollten sich Betroffene in dieser
Phase ernähren?
Bei akuten Beschwerden ist Schonkost angesagt.
Scharfe und fette Lebensmittel gehören in dieser Phase auf keinen Fall auf den Speiseplan.
Meist haben Betroffene sowieso kein Verlangen
nach Essen. Bei Durchfall gleicht fettfreie Bouillon den Wasser- und Elektrolythaushalt aus. Betroffene sollten um künstlich gesüsste Getränke
einen grossen Bogen machen, stattdessen schonende Kräutertees trinken.
Ein grosser Teil des Immunsystems befindet
sich im Magen-Darm-Trakt, wie sinnvoll ist
eine Darmsanierung?
Eine Darmsanierung ist gerade für Personen
sinnvoll, die gestresst sind, regelmässig Genussmittel konsumieren, unregelmässig essen und
häufig zu Convenience-Food greifen. Wir empfehlen ihnen dann ein umfassendes Programm
auf der Basis von Nahrungsergänzungsmitteln,
das die Magen-Darm-Schleimhaut aufbaut, regeneriert und schützt sowie auch die Bakterienkolonien im Darm stabilisiert und aufbaut. Als
Gesundheitsprophylaxe raten wir Erwachsenen,
jährlich eine Darmsanierung mit einer Dauer
von 50 Tagen durchzuführen. Bei chronischen
Beschwerden dauert die Darmsanierung länger,
da der Nachbehandlung ein grösseres Gewicht
beigemessen wird. Wer langfristig Erfolg haben
möchte, sollte auch seine Ernährung anpassen,
wobei eine Diät nicht zwingend notwendig ist.
Welche Präparate empfehlen Sie?
Wir kombinieren mehrere Präparate, wie z. B.
Activomin, ein Huminsäurepräparat, mit Symbiolact, um verschiedene Milchsäurebakterien
zuzuführen. Activomin setzt sich wie ein Film
auf die Darmschleimhaut und dichtet diese ab.
Schlechte Keime werden gebunden und lösen
keine Reize mehr aus. In einer weiteren Phase
baut Symbiolact die Darmkulturen wieder auf
und fördert ein natürliches Gleichgewicht der
Darmbesiedelung. Das ist besonders wichtig, da
die Darmschleimhaut mit vielen Zusatzstoffen,
die mittlerweile in Lebensmitteln enthalten sind,
überfordert ist, sodass selbst Vitalstoffe nicht
mehr ins Blut transportiert werden können. Wer
zusätzlich unter chronischer Müdigkeit leidet,
dem empfehlen wir entweder das Aminosäurepräparat Aminovital oder L-Glutamin.
Wie kann jeder versuchen, seinen Darm
gesund zu erhalten?
Man sollte das ganze Jahr über versuchen,
krankmachende Symptome zu reduzieren oder,
noch besser, ganz auszuschalten. Wichtig ist,
dass man sich nicht einseitig ernährt, sondern
saisongerecht mit frischem Obst und Gemüse.
Jeder sollte Stress vermeiden und sich zwischendurch Erholungszeiten gönnen und entspannen.
Auch Genussmittel sollten reduziert werden.
Ballast abbauen, Kräutertees trinken, sich an der
frischen Luft bewegen, all das wirkt sich positiv
auf den Darm und das Immunsystem aus.
Wie viele Menschen kommen wegen MagenDarm-Problemen täglich in Ihre Drogerie?
Das hängt von der Saison ab und lässt sich nicht
genau messen. Wenn eine Magen-Darm-Grippe
im Umlauf ist, dann häufiger. Mittlerweile hat
sich herumgesprochen, dass wir Darmsanierungen anbieten. So kommen auch in ruhigen Zeiten Kunden zu uns und wollen mehr darüber
erfahren. Besonders wichtig ist, dass bei einer
Darmsanierung keine Nebenwirkungen auftreten, Betroffene sind in dieser Phase sogar weniger müde und strotzen vor Energie.
Q
7
«Neue Krankheiten –
Darm»
Auszug aus
WISSEN
OTX World Nr. 77
März 2012
Ein hochkomplexer Schlauch
Unser Darm kann viel mehr als nur verdauen. Er ist ein wichtiger Bestandteil unserer Immunabwehr, er produziert essenzielle Substanzen und er reguliert entscheidend unseren Wasserhaushalt. Überdies gibt er einem Billionenheer von nützlichen Bakterien eine Heimstatt. Ein
einfacher und doch komplexer Schlauch, der gepflegt werden sollte.
Klaus Duffner
Keine Augen, keine Ohren, keine Beine, kein
Herz – primitive Tiere wie Schwämme oder
Quallen müssen mit einer ziemlich einfachen
Grundausstattung zurechtkommen. Aber eines
fehlt keinem dieser Minimalisten: eine Einstülpung ihrer Körperoberfläche zur Aufnahme der
Nahrung. Wurden am Anfang des tierischen Lebens die unverdaulichen Nahrungsreste noch
durch die Mundöffnung entlassen, folgte als
nächster evolutiver Schritt mit dem After ein
Durchbruch «nach hinten». Aus diesem einfachen Bauprinzip, einer Einstülpung mit zwei
Öffnungen, hat sich im Laufe der Zeit der Darm
entwickelt. Er ist entwicklungsgeschichtlich betrachtet unser ältestes Organ, viel älter als Haut,
Herz, Lunge oder Hirn.
Schicht für Schicht
Obwohl sich der Darm als Teil des Verdauungstrakts im Prinzip wie ein langer, flexibler
Schlauch durch den Körper zieht, ist er alles andere als primitiv. Verschiedene Zellschichten
mit jeweils ganz bestimmten Funktionen liegen
wohlgeordnet übereinander. Das Innere des
Darmes ist dabei von einer Schleimhautschicht
(Tunica mucosa) ausgekleidet. Sie ist in der Lage,
sich ständig zu erneuern und ist Sitz zahlreicher
Drüsen sowie schmaler Muskelbänder. Die dort
sitzenden Becherzellen geben in regelmässigen
Abständen ihren mit Schleim gefüllten Inhalt ins
Darminnere ab und gewährleisten so die Gleitfähigkeit des Darminhaltes. Es folgt eine Bindegewebsschicht, in der ein dichtes Netz aus Blutund Lymphgefässen verläuft, sowie ein den
Darm umschliessendes sehr dichtes Nervenfasergeflecht mit mehr als 100 Millionen Nervenzellen. Da diese Neuronen ähnlich organisiert sind wie im Gehirn, spricht man auch vom
Bauch- oder Darmhirn. Es entscheidet selbstständig, wie lange die Darmpassage bestimmter
Nahrungsmittel dauert. Befinden sich darunter
unverträgliche oder gar giftige Stoffe, helfen die
wellenartigen Bewegungen zweier Darmmuskelschichten (eine Ring- und eine Längsmuskelschicht) sie möglichst schnell wieder loszuwerden. Auch für die stetige Durchmischung des
Nahrungsbreis und den dauernden Kontakt der
Schleimhautschicht mit den Nährstoffen im
Dünndarm sind diese beiden starken Muskel-
8
stränge verantwortlich. Die beiden äusseren
Schichten des Darmes bestehen schliesslich aus
einer nochmaligen bindegewebigen Verschiebeschicht (Adventitia) und einem dünnen, vom
Bauchfell stammenden Überzug (Tunica serosa).
Von oben nach unten
Nach der mechanischen Zerkleinerung durch
die Zähne wird damit begonnen, unser Essen
chemisch in seine Bestandteile – Eiweisse, Fette
und Kohlenhydrate – zu zerlegen. Das beginnt
bereits im Mund, setzt sich im Magen fort und
wird dann im drei bis fünf Meter langen Dünndarm weiter fortgesetzt. Im Dünndarm erfolgt
auch die Verdauung des Nahrungsbreis und die
Aufnahme der molekularen Nährstoffe. Dafür
benötigt er eine grosse Aufnahmefläche in Form
von Falten, Ausstülpungen, Zotten und Krypten.
Die Schleimhautoberfläche des Dünndarms
wird durch diese «Faltenlandschaft» um das 300bis 600-Fache vergrössert. Für den gesamten
Darm ergibt sich damit eine unglaubliche Oberfläche von 400 bis 500 Quadratmetern. Die zerlegten Nahrungsbestandteile werden nach der
Aufnahme durch die Dünndarmschleimhaut in
die Blutbahn weitergeleitet. Der Dünndarm hat
aber noch eine weitere wichtige Aufgabe zu erfüllen, denn dort wird dem Verdauungssaft der
grösste Teil des Wassers (ca. 7 Liter pro Tag) wieder entzogen. Im deutlich kürzeren Dickdarm,
wird dann zusammen mit Mineralien ein weiterer Liter Wasser herausgepresst. Obwohl der
Dickdarm mit eineinhalb Metern Länge vergleichsweise kurz ist, bleiben in ihm die nicht
verwertbaren Nahrungsreste über 12 bis 60
Stunden vergleichsweise lange erhalten.
Bollwerk gegen Keime
Die reibungslose Nahrungsverwertung ist nicht
alles: Der Darm ist ein wichtiges Zentrum unserer Immunabwehr. In der Schleimhaut des Dickdarmes sitzen mehr als 70 Prozent unserer Abwehrzellen. Täglich gelangen, vorwiegend mit
der Nahrung, unzählige Keime und bisweilen
auch Giftstoffe in unser Inneres. Ein ausgeklügeltes System aus Verteidigungsspezialisten sorgt
dafür, dass sie unschädlich gemacht werden. Zudem werden Abwehrstrategien entwickelt, die als
Information an das gesamte Körperimmunsys-
tem weitergetragen werden. Gleichzeitig bevölkern Billionen nützlicher Bakterien und Pilze
unseren Darm, vor allem unseren Dickdarm.
Auch sie unterstützen die Immunabwehr. Bakteriologen haben bisher rund 600 unterschiedliche
Stämme in unserer Dickdarmflora ausgemacht.
Sie helfen, schwer verdauliche Ballaststoffe über
Fäulnis- und Gärungsprozesse zu verarbeiten.
Allerdings unterscheidet sich die Zusammensetzung der Darmflora von Mensch zu Mensch
deutlich. Neuen Studien zufolge soll es unter den
winzigen Darmbewohnern drei Grundtypen geben. Während die Mikroben von Typ 1 Zucker
und Proteine besonders gut spalten und verschiedene Vitamine produzieren, soll Typ 2 be-
spielsweise Keimen des Dickdarmbereiches,
sich Zugang zu den höheren Bereichen des
Dünndarmes zu verschaffen, kann es zu einer
sogenannten Dysbiose kommen. Diese Fehlbesiedelung führt zu pathologischen Veränderungen, insbesondere des Bürstensaumepithels
der Dünndarmschleimhaut. Als mögliche Folge
kann die Enzymaktivität negativ beeinflusst und
die Resorption wichtiger Nahrungsbestandteile
gestört werden. Ein typischer Störfaktor kann
dabei eine systemische Antibiotikatherapie sein.
Sie räumt zwar mit den Pathogenen auf, macht
aber auch nicht vor den «guten» Darmbakterien
halt. In einer amerikanischen Untersuchung
wurden erwachsene Freiwillige mit einem Antibiotikum behandelt. Ergebnis: Mindestens ein
Drittel der Bakterienarten hatte die Behandlung
nicht überlebt. Ausserdem änderte sich die Zusammensetzung der Mikroorganismen. Die zuvor eher selteneren Arten hatten sich vermehrt
und die weit verbreiteten waren dezimiert. Zwar
erholten sich die meisten Arten innerhalb von
vier Wochen wieder, trotzdem kann eine solche
Disbalance zu Durchfall oder in schlimmeren
Fällen zu Darmentzündungen führen.
Foto: © marilega, Fotolia.com
Ernährung überprüfen
sonders gut die Energie aus Zucker-ProteinKomplexen gewinnen und Vitamin B1 und
Folsäure verwerten. Schliesslich zeichnet sich
Typ 3 durch Bakterien mit zahlreichen Transportkanälen zur besonders guten Proteinverdauung aus.
K.o. für die Darmflora
Ganz gleich, welchem «Bakterien-Typ» man
nun eine Heimat gibt, unsere Darmflora sollte
gehegt und gepflegt werden. Ihr Einfluss auf
unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden
wird häufig unterschätzt. Vor allem, wenn die
Balance gestört wird, können unangenehme
Verdauungsprobleme auftreten. Gelingt es bei-
Sollte sich infolge einer Antibiotikatherapie ein
Durchfall einstellen, was bei etwa jedem dritten
Patienten der Fall ist, empfiehlt sich als erste
Massnahme, den Flüssigkeits- und Elektrolytverlust auszugleichen. Dazu stehen fertige
Elektrolytlösungen in spezieller Zusammensetzung besonders für Kinder, aber auch für Erwachsene bereit. Auch Hefepräparate können
den Heilungsprozess und die Regeneration des
Darmes fördern. Das Extrakt unterstützt die natürliche Darmflora und die Ernährung der
Darmschleimhaut. Wer jedoch grundsätzlich
seinem Darm, und damit seinem Körper etwas
Gutes tun will, sollte seine Ernährung überprüfen und gegebenenfalls umstellen: Viel Abwechslung mit ausreichend Gemüse, Obst,
Milchprodukten, Ballaststoffen, Fisch und weniger Fett, Alkohol und Süssigkeiten, masshalten beim Essen, sich Zeit nehmen beim Kochen
und Essen, natürliche Lebensmittel verwenden
und ausreichend trinken. Auch regelmässige
Bewegung nutzt dem Darm sehr. Dabei bringen
ihn schon kleine Veränderungen wieder in
Schwung: Kürzere Wege zu Fuss oder mit dem
Velo erledigen, Treppen laufen, statt mit dem
Fahrstuhl fahren oder am Wochenende sich einen ausgedehnten Spaziergang gönnen. Dann
werden die Verdauungssäfte, das Darmhirn, die
Immunabwehr und die vielen Untermieter für
ein gutes Bauchgefühl sorgen.
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9
«Neue Krankheiten –
Darm»
Auszug aus
WISSEN
OTX World Nr. 77
März 2012
Den Darm natürlich sanieren
Es ist eine Krux mit dem Darm. Einmal bläht er, ein andermal ist er verstopft, dann wieder sind
Krämpfe an der Reihe. Dr. med. Rudolf Winkler empfiehlt allen Menschen mit Darmproblemen
eine natürliche Darmsanierung. Wie das vor sich geht und welche Therapieform ursprünglich aus
der Raumfahrt kommt, erfahren Sie hier.
Katharina Schwab
Foto: zVg
schen zwei bis drei Monaten. «Mit einer Darmsanierung wird auf sanfte Art und Weise das
Darmökosystem renoviert», sagt Winkler.
Ursprünglich aus der Raumfahrt
Dr. med. Rudolf Winkler, Allgemeininternist und
ausgebildeter Komplementärmedizinier, sagt: «Vor
hundert Jahren wäre eine Darmsanierung noch kaum
vonnöten gewesen.»
Dr. med. Rudolf Winkler führt eine Praxis in der
Stadt Bern, ist Allgemeininternist und ausgebildeter Komplementärmediziner. In seiner Praxis
finden sich Geräte für die Colon-Hydro-Therapie, für die Vega-Testung oder Dunkelfeldmikroskopie; im Arzneischrank stehen homöopathische und pflanzliche Präparate, aber auch
Nahrungsergänzungspräparate. Beinahe bei jedem Patienten, den er behandelt, führt er eine
natürliche Darmsanierung durch: «Häufig wird
die Darmflora und deren Auswirkung auf die
Gesundheit massiv unterschätzt», sagt Winkler.
Unbestimmte Beschwerden wie Bauchschmerzen, Verdauungsprobleme, Asthma, Allergien,
chronische Müdigkeit oder Stimmungslabilität
seien vielfach auch auf ein gestörtes Darmökosystem zurückzuführen. Ausserdem leide unser
Darm an Schadstoffen aus der Umwelt, an zu
viel Stress, an ungesunder Ernährung. «Vor
hundert Jahren wäre eine Darmsanierung noch
kaum vonnöten gewesen.» Denn damals hätten
sich die Menschen naturbelassen ernährt und
Schadstoffe seien in einem geringen Ausmass
vorhanden gewesen.
Aber was genau ist eine Darmsanierung? Eine
Sanierung des Darms beginne mit einer Ernährungsumstellung. Winkler achtet darauf, dass
seine Patienten möglichst naturbelassene Produkte essen, viele Früchte und Gemüse, je nach
Blutgruppentyp mehr oder weniger Getreide,
Fisch, Fleisch, Eier und Milchprodukte. Meist
10
klärt er mittels eines bioenergetischen Tests ab,
ob eine bestimmte Nahrungsmittelunverträglichkeit oder Allergie besteht. In einem weiteren Schritt werde bei gewissen Patienten abgeführt, vorzugsweise zu Hause. Dort nehmen die
Patienten Basensubstanzen, beispielsweise Bittersalze, ein. Es sei eine sanfte Abführmethode,
die nicht zu stundenlangen Klositzungen oder
akutem Stuhldrang führt.
Klingende Namen
Die Präparate, die neben den Abführmitteln eingenommen werden, haben klingende Namen
wie Uva Ursi (Bärentraubenblätter-Kapseln),
Albicansan oder Rizol Zeta – letzteres ist auf
Basis von Rizinusöl und beinhaltet Öle von Wermut, Nelken, Schwarzkümmel, Beifuss, Wallnuss und Majoran. Diese Präparate sind darauf
ausgerichtet, Parasiten, Hefepilze und schädliche Bakterien im Darm zu entfernen. In seinen
Behandlungen hätten sich diese Mittel über
Jahre hinweg bewährt, so Winkler. Das Abführen und Eliminieren schädlicher Keime dauert
laut Winkler ungefähr einen Monat. Danach
kommen die Probiotika zum Zuge, um den Aufbau der Darmflora voranzutreiben. Dr. Winkler
wendet für diesen Teil der Darmsanierung zum
Beispiel Symbiolact an, das mehrheitlich aus
Bifido-Bakterien und Lakto-Bazillen besteht.
Diese gehören zu den Leitkeimen in der Darmflora. Der Aufbau dauert gemäss Winkler zwi-
Eine andere Variante zum Abführen und zur
Reinigung des Darms ist die Colon-Hydro-Therapie. Diese Therapie kommt ursprünglich aus
der Raumfahrt, da die Astronauten meist wegen
zu wenig Bewegung und Ernährungsumstellung
Verdauungsprobleme bekamen. Es ist ein geschlossenes Darmspülungssystem: Zur Vorbereitung wird ein Kunststoffröhrchen in den
Mastdarm eingeführt. Es ist über ein Schlauchsystem mit dem Behandlungsgerät verbunden,
und dieses regelt die Wasserzufuhr, den Druck
und die Temperatur des Wassers. Währenddem
Wasser in den Darm fliesst, wird das Wasser
dank einer Bauchmassage gleichmässig im Colon verteilt. Verhärtete Kotbestandteile, die teilweise seit Jahren in den Darmzotten und -krypten lagern, würden dadurch heraus und in den
Abfluss geleitet.
Durch die Entleerung mit der Colon-HydroTherapie könnten Flüssigkeitseinlagerungen in
der Schleimhaut entfernt, überblähte Darmschlingen normalisiert und die Arbeit des
Darms vereinfacht werden. Die Therapie dauere
insgesamt 45 bis 60 Minuten und werde in der
Regel sechsmal in einem Abstand von einer Woche angewendet. Winkler hat die Beobachtung
gemacht, dass vor allem wohlbeleibte, übergewichtige Menschen mit träger Darmtätigkeit
gut auf die Colon-Hydro-Therapie ansprächen.
Meist wende er die Behandlung nur bei Patienten an, die an einem ernsthaften Verdauungsproblem leiden, wie beispielsweise chronischer
Verstopfung.
Eine natürliche Darmsanierung hingegen eigne
sich für jedermann: «Man spricht davon, dass
80 Prozent der Menschen ab 40 Jahren keine
optimale Darmflora in sich tragen», so Winkler.
Aus diesem Grund empfehle er grundsätzlich
immer eine natürliche Darmsanierung.
«Neue Krankheiten –
ADHS»
Auszug aus
8*44&/
OTX World Nr. 36
März 2008
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Philipp Kämpf
Das Thema Nahrungsergänzungsmittel ist im
Trend. Und obwohl die Konsumenten durch
Presse und Internet immer besser informiert
sind, gibt es trotzdem noch etliche Unsicherheiten. Hier bietet sich dem Fachhandel, ob
Apotheke oder Drogerie, die Chance, die Position als Kompetenzzentrum für entsprechende
Fragen noch weiter auszubauen. Internationale
Trends zeigen, dass gerade im Bereich der
Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren das Interesse noch weiter steigen dürfte. Auf wissenschaftlicher Seite belegt eine immer breitere
Studienbasis die Bedeutung der Omega-3Fettsäuren EPA (Eicosapentaensäure) und DHA
(Docosahexaensäure) für die Konzentration von
Kindern im Vorschul- und Schulalter.
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Dabei ist es eine Selbstverständlichkeit, dass sich
Eltern in erster Linie an ihren Apotheker oder
Drogisten wenden. Denn neben Fakten zum
Einfluss der ungesättigten Fettsäuren auf die
Konzentrationsfähigkeit der Kinder will die interessierte Mutter oder der Vater auch kompetente Antworten auf die Fragen: Welches
Produkt in welcher Dosierung bringt welchen
Nutzen? Welches Präparat, welche Form
schmeckt der Jungmannschaft am besten, sodass
es auch regelmässig eingenommen wird? Worauf ist bei der Ernährung zu achten?
Verhältnis von EPA und DHA im Vordergrund:
Für die Verbesserung der Konzentration wird
ein Verhältnis von EPA zu DHA von 3 zu 1 empfohlen. Da viele Konsumenten Mühe haben, die
zur Verfügung stehenden Produkte und deren
Qualität einzuordnen, ist es eine Herausforderung für Apotheke und Drogerie aufzuzeigen,
dass die Qualität des Produktes und das EPADHA-Verhältnis für die Entwicklung des Gehirns des Kindes eine zentrale Rolle spielen.
Stichworte Konzentrationsschwächen und Lernschwierigkeiten in der Schule.
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Die gesundheitsfördernde Wirkung ungesättigter Fettsäuren für die Vorbeugung von HerzKreislauf-Krankheiten ist schon länger bekannt:
Hier wird ein Verhältnis von EPA zu DHA von
1,5 zu 1 empfohlen. Doch auch das Gehirn, das
zu 60 Prozent aus Fett besteht, muss für eine
optimale Leistung mit den richtigen Fetten ernährt werden. Und auch hier sind die ungesättigten, essentiellen Omega-3- und Omega-6Fette von zentraler Bedeutung. Diese sorgen für
einen reibungslosen Ablauf im Bereich der Neuronen. Eine hohe Omega-3-Konzentration im
Gehirn wird bei Kindern mit einer hohen Konzentrationsfähigkeit und einer guten Aufmerksamkeitsleistung assoziiert. Auch hier steht das
In der sogenannten Oxford-Durham-Studie1
untersuchten Wissenschaftler den Einfluss der
Supplementation mit ungesättigten Fettsäuren
auf die Lernfähigkeit. In die Studie eingeschlossen waren Kinder im Alter von fünf bis zwölf
Jahren mit Entwicklungsstörungen, ADHS und
Dyslexie. Im Rahmen der Studie kam Equazen
IQ zum Einsatz, ein Nahrungsergänzungsprodukt mit Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren
sowie Vitamin E, bei denen das Verhältnis EPA
zu DHA 3 zu 1 beträgt. Dabei zeigte sich in der
Gruppe mit EPA-DHA-Supplementierung nach
drei Monaten ein signifikanter Fortschritt im
Verhalten in einer ganzen Reihe erfasster Faktoren, von der Hyperaktivität über die Aufmerksamkeitsfähigkeit bis zur Ängstlichkeit. Solche
Erfolgserlebnisse aus Grossbritannien interessieren auch Eltern gesunder wie kranker Kinder
in der Schweiz. Der Spezialist im Fachhandel ist
prädestiniert für die Beratung und den Verkauf
qualitativ hochstehender Fischölprodukte sowie
für die längerfristige Betreuung der Eltern.
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Nahrungsergänzung mit dem richtigen Verhältnis aus EPA und DHA gibt es jetzt auch kinderfreundlich mit Fruchtgeschmack zum Kauen für
Kinder ab fünf Jahren. Nie schaden kann übrigens auch der Hinweis auf den Nachschub an
konzentrationsfördernden Omega-3-Fetten auf
dem Menuplan: Thunfisch oder Lachs, vielleicht
auch mal die für den Schweizer Gaumen gewöhnungsbedürftige Makrele oder Hering, gehören
falls möglich zweimal pro Woche schon auf den
Teller der ganz Kleinen.
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11
«Neue Krankheiten –
ADHS»
Auszug aus
OTX World Nr. 28
März 2007
Ärztefortbildungskurs in Davos
Pillen für Zappelphilipp
Reges Interesse zeigten die 600 Teilnehmer am Fortbildungskurs in Davos. Spannend: die pädiatrischen Referate zur Behandlung von ADHS, Husten und Fieber. Neu kommt nun der Wirkstoff
Atomoxetin zur Behandlung von ADHS auf den Markt. Es könnte eine Alternative zur Behandlung
mit Stimulanzien wie Methylphenidat sein.
Mehr als 600 Hausärztinnen und Hausärzte
aus der Schweiz trafen sich vom 11. bis 13.
Januar 2007 in Davos. Neben den informativen Vorträgen und Workshops hat sich der
46. Ärztefortbildungskurs der Lungenliga
Zürich auch als Branchentreff etabliert. Wo
sonst hat man die Möglichkeit, derart vielfältige Kontakte zu Kollegen und Geschäftspartnern aufzunehmen?
«ADHS ist keine moderne
Zivilisationskrankheit»:
Dr. Daniel Marti,
Kinderspital Zürich
Eine Krankheit, viele Begriffe
ADHS ist die Abkürzung für AufmerksamkeitsDefizit-Hyperaktivitäts-Störung. Aufmerksamkeitsschwäche, überschiessende Impulsivität,
Desorganisation in Verhalten und Aktivitäten
und extreme Unruhe (Hyperaktivität) sind
Kennzeichen der Störung. Laut Referent
Dr. Daniel Marti, Kinderspital Zürich, hat die
Krankheit noch andere Namen: Hyperkinetisches Syndrom oder Aufmerksamkeits-DefizitStörung (ADS). ADHS ist keine moderne
Zivilisationskrankheit. Der englische Kinderarzt George Still sprach 1902 in Vorlesungen
von einem «Defekt in der moralischen Kon-
12
trolle bei Kindern» (defect of moral control in
children). Etwa fünf bis sechs Prozent aller
Kinder in der Schweiz sind davon betroffen,
Knaben etwa dreimal häufiger als Mädchen.
Bei den Knaben steht meist die Hyperaktivität
im Vordergrund («Zappelphilipp»), während
bei Mädchen eher die Aufmerksamkeit gestört
ist («Träumsuse»). Es ist deshalb auch möglich, dass ADHS bei Mädchen seltener erkannt
wird. Neben diesen beiden Typen gibt es auch
Kinder, die gleichzeitig hyperaktiv und aufmerksamkeitsgestört sind. Bei bis zu zwei
Dritteln der Betroffenen verschwinden die
Symptome nicht, sondern bleiben bis ins Erwachsenenalter bestehen.
Gene beteiligt
Warum manche Kinder an ADHS erkranken
und andere nicht, ist bislang nicht genau bekannt. Genetische Faktoren spielen eine Rolle,
aber auch biologische. Kinder mit dieser Störung haben viermal häufiger Geschwister
oder Eltern mit ADHS als gesunde Kinder.
Wissenschafter gehen weiter davon aus, dass
bei ADHS-Kindern die Informationsverarbeitung zwischen verschiedenen Abschnitten
im Gehirn nicht richtig funktioniert. Ursache
dafür sind Störungen im Stoffwechsel der
Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin. Beide
sind wichtig für Aufmerksamkeit, Antrieb
und Motivation. Den Betroffenen fällt es deshalb schwer, sich zu konzentrieren und sich zu
motivieren. Da alle Eindrücke ungefiltert auf
sie einstürzen, stehen sie ständig unter grosser
Anspannung.
Eigenschaften von Atomoxetin
Wirkungsweise Beeinflusst NoradrenalinStoffwechsel (NA).
NA wird langsamer in die Zelle
aufgenommen und wirkt so
länger. Wirkungsnachweis bei
Kindern, Jugendlichen und
Erwachsenen.
Wirksamkeit
Seit März 2005 in Deutschland auf dem Markt, wirkt
gut gegen Angst. Effektivität
gemäss Studien ähnlich wie
Stimulanzien.
Dosis
0,5 bis 1,5 mg/kg (einmal
täglich), Wirkungseintritt
nach ein bis zwei Wochen.
Nebenwirkungen
Appetitreduktion, Übelkeit,
selten Leberschädigungen;
Laboruntersuchungen
indiziert....
Oft ist es schwierig, altersgemässen Bewegungsdrang und Impulsivität von ADHS abzugrenzen. Der Kinderarzt oder der Kinderpsychiater
orientiert sich hier an strengen, international
vorgegebenen Kriterien. Damit er die Diagnose
eines Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms stellen
kann, muss eine bestimmte Mindestzahl dieser
Kriterien über einen Zeitraum von mindestens
sechs Monaten erfüllt sein.
KONGRESSBE RICHT
Antipyretika zur Anwendung bei Kindern
Präparat
Dosierung
Maximale Tagesdosis
Paracetamol
15 – 20 mg/kg
80 mg/kg
Diclofenac
1 mg/kg
3 mg/kg
Mefenacid
12 mg/kg (Supp.)
48 mg/kg (Supp.)
Ibuprofen
5 mg/kg
20 mg/kg
Bei bis zu zwei Dritteln der von ADHS Betroffenen
verschwinden die Symptome nicht, sondern bleiben
bis ins Erwachsenenalter bestehen.
Methylphenidat und
bald Atomoxetin?
Die konventionelle medikamentöse Behandlung besteht in Stimulanzien, die unter das
Betäubungsmittelgesetz fallen. Zu dieser
Gruppe gehört Methylphenidat, das gemäss
Referent die erste Wahl bei der medikamentösen Behandlung darstellt. Es wirkt auf den
Dopamin-Stoffwechsel im Gehirn und erhöht
die Dopaminkonzentration. Methylphenidat
ist, entgegen Presseberichten, kein Beruhigungsmittel, sondern das Gegenteil. Trotzdem
geschieht das scheinbar Paradoxe: Die Kinder
werden ruhiger, da sie sich besser konzentrieren können und nicht mehr so leicht ablenken
lassen. Bei mehr als 80 Prozent der Kinder sind
die Stimulanzien wirksam und eine Hilfe für
das soziale Umfeld. Die Pillen sind seit 50
Jahren erprobt. Dennoch sind sie in Kritik geraten. Die Ärzte verschreiben immer mehr davon. Innerhalb von neun Jahren ist der Absatz
in der Schweiz auf das Fünffache angestiegen.
Neu wird voraussichtlich noch dieses Jahr der
selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin auf den Markt kommen. Ob
Atomoxetin sich in der Behandlung von
ADHS als Alternative zu Stimulanzien wie
Methylphenidat oder Amphetamin etablieren
kann, wird sich zeigen.
Einsatz von Hustensirups oft fraglich
«Leider hat die Schulmedizin keine wirklich
gute Alternative zur Behandlung des Hustens»,
erklärte PD Dr. med. Johannes Wildhaber,
Pneumologe an der Universitäts-Kinderklinik
in Zürich. Husten ist einer der häufigsten
Konsultationsgründe beim Pädiater. Jährlich
werden Riesensummen für Tropfen und Säfte
gegen Husten ausgegeben, für deren Wirkung
die Evidenz fehlt und die nicht selten auch zu
Nebenwirkungen führen. Gesunde Kinder
husten 1 bis 34 Mal pro Tag. Husten ist ein
physiologischer Reflex mit dem Ziel, die
Schleimhäute der Atemwege von Fremdkörpern oder Schleimansammlungen zu befreien.
Oft ist er allerdings quälend und unerwünscht.
Prospektive Studien konnten zeigen, dass der
akute Erkältungshusten in 50% kürzer als eine
Woche, in 70 bis 80% kürzer als zwei Wochen
und in nur 5% länger als vier Wochen dauert.
Die meisten Kinder mit akutem Husten haben
einen viralen Infekt der oberen Atemwege.
Neben einer Entzündung der Schleimhäute
kann als zusätzliche Komplikation eine bakterielle Zusatzinfektion auftreten. Beim Fehlen
von Zeichen eines Infektes ist an eine allergische Reaktion (asthmatischer Husten) oder an
eine Reizung der Atemwege durch Zigarettenrauch, Kälte oder Gase zu denken. Beim akuten, viralen Husten ohne Komplikationen
kann die Ursache des Hustens vermehrtes
Nasensekret sein. Dann ist eine konsequent
abschwellende Therapie der nasalen Schleimhäute mit Nasentropfen meist sehr hilfreich.
WISSEN
rungs- und Schluckschwierigkeiten vor allem
im Rahmen neurologischer Erkrankungen
achten. Auch an Medikamente wie Beta-Rezeptorenblocker oder ACE-Blocker ist zu denken. Häufig liegt ein Asthma bronchiale vor,
wobei der Husten als alleiniges Symptom untypisch ist. Meist kommen eine pfeifende
Atmung und/oder eine Atemnot dazu. Bei
bestimmten Infektionen (z. B. Pertussis, Mycoplasmen- oder Chlamydieninfektionen, RSVBronchiolitis) findet sich eine länger anhaltende Schleimhautschädigung mit einer erhöhten
Sensivität der Hustenrezeptoren. Zur Behandlung des chronischen Hustens werden vor allem
Antibiotika eingesetzt. Insbesondere Makrolide, die nicht nur antibakteriell, sondern auch
antiinflammatorisch wirken, mit je nach Ausmass gleichzeitiger Gabe von systemischen
Steroiden. Es sollen auch Inhalationen mit
Ipratropiumbromid und inhalativen Steroiden
versucht werden. Bei sehr ausgeprägtem
Husten haben sich in der Erfahrung Inhalationen von Ipratropiumbromid mit Lidocain
1% als effektiv erwiesen. Auch hier gelten eine
konsequente abschwellende Therapie der
Schleimhäute und das Vermeiden von Passivrauchen.
Therapie des Fiebers beim Kind
Für Dr. Walter Zingg, Universität Genf, hat
Fieber neben negativen Aspekten auch positive
Seiten. Neutrophile Granulozyten und Makrophagen werden durch die erhöhte Körperkerntemperatur stimuliert und die Produktion von protektiven Hitzeschockproteinen
gesteigert. Der routinemässige und grosszügige Einsatz von Antipyretika ist daher nicht
sinnvoll. Eltern sollen auf die positiven Effekte
des Fiebers ebenso hingewiesen werden wie
über die Nebenwirkungen der Antipyretika.
«Lasst dem Fieber seinen Lauf», forderte der
Referent. Allenfalls Paracetamol in der Nacht
geben, damit Kind und Eltern ausruhen können. Säuglinge sollten beim Schlafen nicht zu
warm eingepackt werden und die Zimmertemperatur darf 20 Grad Celsius nicht übersteigen. Acetylsalicylsäure ist bei Kindern
wegen der Gefahr des Reye-Syndroms nicht
mehr einzusetzen. Das Mittel der Wahl ist
Paracetamol. Reicht die Wirkung nicht aus,
helfen zusätzlich verabreichte nichtsteroidale
Antirheumatika.
I
Beatrice Valentini
Makrolide: anibakteriell
und antiinflammatorisch
Dauert der Husten länger als zwei Wochen,
sollte man auf Grundkrankheiten wie Atemwegsanomalien, Herzkrankheiten und Ernäh-
13
«Neue Krankheiten –
ADHS»
Auszug aus
8*44&/
OTX World Nr. 37
April 2008
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Jürg Lendenmann
12 Jahren mit Entwicklungsstörungen der motorischen Fähigkeiten (EMF), ADHS und Dyslexie. Es kam ein Nahrungsergänzungsprodukt
(Equazen IQ) mit Omega-3- und Omega-6Fettsäuren sowie Vitamin E zum Einsatz; das
Verhältnis von EPA zu DHA betrug 3:1; als Placebo dienten Kapseln mit Olivenöl. Lese- und
Rechtschreibefertigkeiten sowie das Verhalten
wurde mit Hilfe des ADHS-Beurteilungsbogens
nach Conners für Lehrer ermittelt.
Fazit: Bei den Kindern mit EPA/DHA-Supplementierung zeigte sich schon nach drei Monaten
ein signifikanter Fortschritt beim Lesen und
Schreiben sowie des Konzentrationsvermögens.
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Unaufmerksamer sind sie, impulsiver und überaktiver als ihre Altersgenossen in der Schule oder
später im Beruf; sie stören, ecken an, oft auch in
der Familie. Die Rede ist von Kindern, die an
der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) leiden. Diese Störung tritt meist
schon im Vorschulalter auf und ist auch als
Zappelphilipp-Syndrom bekannt. Da ADHS
in bis zur Hälfte der Fälle von Lernstörungen
(Dyslexie – Lese-Rechtschreib-Störung) begleitet wird, ist es wichtig, dass die Störung möglichst früh erkannt und behandelt wird. Als
Behandlungsmethoden bewährt haben sich psychotherapeutische und psychosoziale Interventionen, allein oder auch in Kombination mit
einer Therapie mit Psychostimulanzien.
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Je nach Land können 3 bis 11 Prozent der Schulkinder von ADHS betroffen sein. Bei Knaben
tritt die Störung weitaus häufiger und ausgeprägter auf als bei Mädchen.
Die genauen Ursachen von ADHS sind unbekannt; vermutet werden sowohl genetische
Faktoren wie Umwelteinflüsse, die im Zusammenspiel zu einer veränderten Informationsverarbeitung im Gehirn führen.
Beobachtungen, dass bei Betroffenen gehäuft ein
Mangel an Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren
festgestellt werden kann, weisen auf einen Einfluss dieser essenziellen Fettsäuren auf die Stö-
14
rung hin. Seit ein paar Jahren wird daher untersucht, ob ADHS durch eine entsprechende
Nährstoffsupplementierung günstig beeinflusst
werden kann.
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Im Fokus stehen dabei die Omega-3-Fettsäuren,
da diese in Industrieländern mit der Nahrung
in zunehmend geringerer Menge aufgenommen
werden als Omega-6-Fetttsäuren. Omega-3Fettsäuren kommen bedeutende Rollen bei der
Gehirn- und Nervenfunktion zu. Die Omega3-Fettsäuren Docosahexaensäure (DHA) und
Eicosapentaensäure (EPA) sind Bestandteile
von Zellmembranen und beeinflussen verschiedenste Körperfunktionen positiv – auch
diejenigen des Gehirns. Während DHA vor
allem für die Entwicklung und das Wachstum
des Gehirns wichtig zu sein scheint, zeigt EPA
bei Erwachsenen positive Effekte auf das Gehirn.
EPA und DHA unterstützen sich in ihrer Wirkung gegenseitig (synergistischer Effekt).
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In der Oxford-Durham-Studie1 wurde der Einfluss einer Supplementierung mit ungesättigten
Fettsäuren auf die Lernfähigkeit untersucht. In
der randomisierten, placebokontrollierten Studie mit einarmigem Cross-over-Design eingeschlossen waren 117 Kinder im Alter von 5 bis
Die Ergebnisse der Oxford-Durham-Studie
wurden durch eine grosse Untersuchung in Australien2 bestätigt. An der randomisierten, placebokontrollierten Studie nahmen 132 Kindern
im Alter von 7 bis 12 Jahren teil.
Fazit: Fast die Hälfte der Kinder (40 bis 50
Prozent), die während der ganzen Studiendauer
von 30 Wochen das gleiche wie in der OxfordDurham-Studie verwendete Nahrungsergänzungsprodukt eingenommen hatten, zeigten
aufgrund der Resultate der Conners-Fragebögen
für Eltern am Studienende eine Verringerung
der ADHS-Symptome.
Noch dieses Jahr soll, so die Leiterin Dr. Nathalie
Sinn, mit einer weiteren Studie begonnen werden, die die aus der Adelaide-Studie gewonnen
Erkenntnisse erweitern soll.
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Eine fundierte Beratung bei der Nährstoffsupplementierung mit qualitativ hochstehenden
Fischölprodukten ist wichtig. Sie wird durch
Spezialisten im Fachhandel garantiert und stellt
auch sicher, dass jeweils das optimale Präparat
ausgewählt wird.
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«Neue Krankheiten –
Stress»
Auszug aus
ERNÄHRUNG
WISSEN
OTX World Nr. 26
Januar 2007
Gesunde Nahrung und Vitalstoffe helfen
Dem Stress keine Chance geben
Stress beginnt im Kopf. Wir bestimmen, was stresst. Der Zeitdruck beispielsweise, steigende Anforderungen im Beruf, Probleme in der Familie. Der Schritt von gesunder Herausforderung zur
Überforderung ist klein. Es gilt, Energie für Körper und Seele zu tanken, um gesundheitlichen
Schäden vorzubeugen.
Stress – ein Wort, das wir schon fast nicht
mehr hören mögen. Und doch kann er Ursache von Krankheiten wie Bluthochdruck,
Herzinfarkt, Übergewicht und Depressionen
sein. Stress als ein Zustand, der uns unter
Druck setzt, dem wir im Moment nicht ausweichen können oder für den wir langfristig
keine Lösung finden, ist nicht nur für unsere
Psyche ein Problem. Immunologen haben
herausgefunden, dass jeder Gedanke in unserem Hirn eine chemische Veränderung in unserem Körper bewirkt. Somit können bei
starken Spannungszuständen körperliche Beschwerden resultieren.
Nahrung gegen Stress
Vitalstoffe gegen Stress
Vollkorngetreide
B-Vitamin
Frisches Gemüse
und Obst
Vitamin C und
Mineralstoffe
Milchprodukte, Eier
Vitamin E, Vitamin A
Nüsse, kalt gepresste Öle
Omega-6-Fettsäuren
(Nachtkerzenöl)
Fleisch von gesunden Tieren
B-Vitamine, Eisen
Fische
Omega-3-Fettsäuren (Fischöl)
Tipps zur Stressvorbeugung
T Lernen, «nein» zu sagen. Man muss nicht
allen Erwartungen gerecht werden.
T Nicht zu hohe Ansprüche an sich selber
stellen.
T Mehr Raum einräumen für Erholung,
Entspannung und süsses Nichtstun.
T Sich analysieren. Oft verdeckt man mit
Stress tiefer liegende Probleme.
T Tagesablauf planen. Pausen einlegen.
T Fit von Kopf bis Fuss: Täglich 30 Minuten
Bewegung stärkt unser Immunsystem.
T Schlaf ist enorm wichtig für ein gesundes
Immunsystem. Wer weniger als sechs
Stunden schläft, hat mehr gesundheitliche
Probleme....
weisen als konventionell angebaute Lebensmittel, liefert genügend Vitamine und Mineralstoffe. In Ausnahmefällen wie zum Beispiel
einem festgestellten Mangel an bestimmten
Vitalstoffen, bei einer Störung des Darmmilieus oder bei Stress kann die Substitution in
Tablettenform sinnvoll sein. Auch ohne Flüssigkeit geht es nicht. Schon ein leichter Wassermangel macht müde und kraftlos. Genügend
trinken ist wichtig. Mindestens zwei Liter
Mineralwasser, Früchtetees oder Gemüsesäfte
täglich.
Auch im Salami steckt was Gutes
Ausgeruht und richtig ernährt
Am wirksamsten ist Stress durch eine Veränderung der Lebensweise zu bewältigen. Ausreichende körperliche Aktivität, gesunde Ernährung und Entspannung tragen ebenso
dazu bei wie eine optimale Versorgung mit Vitaminen und Mineralien. Es ist bekannt, dass
beispielsweise Vitamin C, die B-Vitamine,
Zink und Magnesium in Stress-Situationen
vermehrt verbraucht werden. Ernährungswissenschafter und Mediziner empfehlen fünf
Portionen Obst und Gemüse am Tag. Diese
sollten möglichst frisch gekauft und zubereitet werden. Lange Lagerung, langes Erhitzen
reduziert den Vitamingehalt. Eine vollwertige
Ernährung mit Produkten aus biologischem
Anbau, die oft eine höhere Konzentration auf-
Bei Phosphatidylserin handelt es sich um ein
natürliches Phospholipid. Dieses kommt im
gesamten Körper, konzentriert jedoch im Gehirn und Zentralnervensystem vor. Phospatidylserin ist ein wichtiger Nährstoff für die
Hirnzellen und spielt eine zentrale Rolle bei
deren Signalübermittlung. Es unterstützt Gehirnzellen dabei, Informationen zu speichern
und abzurufen. Phosphatidylserin wird mit
der Nahrung (Leber, Salami) zugeführt oder
im Körper selbst gebildet. Ein Mangel kann zu
Konzentrationsstörungen führen. Als Nahrungsergänzungsmittel ist Phosphatidylserin
relativ neu auf dem Markt. Die Wirksubstanz
wird aus Soja-Lecithin gewonnen. Empfohlen
wird eine tägliche Zufuhr von 100 bis 300
Milligramm Phosphatidylserin.
NADH steigert Energie
Das Coenzym NADH (reduzierte Form des
Nikotinamid-Adenin-Dinukleotids) ist für
die Energieproduktion in der menschlichen
Zelle notwendig. NADH löst in Zellen, die
über genügend Sauerstoff verfügen, die Bildung von ATP aus. ATP ist der chemische
Energiespeicher jeder lebenden Zelle. Je mehr
NADH zur Verfügung steht, desto mehr ATP
kann produziert werden. Die Organe, die den
höchsten Verbrauch an Energie aufweisen,
sind das Herz und das Hirn. Sie verfügen über
den höchsten NADH-Gehalt. Das Coenzym
wird deshalb als Nahrungsergänzungsmittel
eingesetzt. Es unterstützt energieliefernde
Stoffwechselprozesse und zeigt in Studien bei
Patienten mit chronischem Müdigkeitssyndrom Verbesserung ihrer Symptome. Therapieempfehlung: Fünf Milligramm NADH als
Nahrungsergänzung; bei chronischem Müdigkeitssyndrom werden zehn bis dreissig
Milligramm täglich eingenommen.
Aus der Natur
Präparate mit Wirkstoffen aus dem GinkgoBaum (Ginkgo biloba) werden neben vielen
anderen Indikationen bei Konzentrationsschwächen eingesetzt. Ginko verbessert die
Sauerstoffversorgung des Gehirns. Die Behandlung sollte sich über mindestens vier
Wochen erstrecken.
I
Beatrice Valentini
15
«Neue Krankheiten –
Stress»
Auszug aus
OTX World Nr. 17
Jan./Feb. 2006
«Wer schuftet, kann ausbrennen»
Burnout und Berufsleben
Fotos: Alexandra Werder
Seit ein bekannter Schweizer Politiker sich zu dazu bekannte, ist das Burnout-Syndrom in aller
Munde. Wenn es auch nicht lebensbedrohlich ist, so ist die wirtschaftliche Existenz des
Betroffenen gefährdet. Für Prävention und Therapie sind Ärzte und das Arbeitsumfeld gefordert.
Dr. med. Dieter Kissling
Beate Schulze
Eine Schweizerische Untersuchung zeigt, dass
Personen, die nicht gut mit ihrem Stress umgehen können, sechsmal höhere medizinische
Kosten verursachen als diejenigen, die nicht
gestresst sind, so Dr. med. Dieter Kissling,
Arbeitsmediziner, Baden, anlässlich des diesjährigen Symposiums von Swiss Burnout zusammen mit der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, Anfang Oktober in Zürich.
Während in früheren Zeiten körperliche Tätigkeiten und das Arbeiten mit physikalischen
oder chemischen Risiken (Lärm, Staub, Asbest)
im Vordergrund standen, führen heute
psychologische und soziale Faktoren zu gesundheitlichen Störungen, so z. B. hoher Zeitdruck, hohe Verantwortung mit geringem
Handlungsspielraum, existenzielle Ängste,
unsichere Zukunftsaussichten, Überforderung, ständig wechselnde Vorgesetzte und
16
mangelnde Kontrolle der Arbeitsprozesse mit
geringen Einflussmöglichkeiten.
1992 waren 25 % der IV-Fälle auf eine psychische Diagnose zurückzuführen, 2001 waren es
33 % und 2004 40 %. Die massive Zunahme
sei durch die einschneidenden gesellschaftlichen Veränderungen in den letzten zwei Jahrzehnten bedingt. Ein Teil davon betreffe die
Veränderungen im wirtschaftlichen Umfeld
und am Arbeitsplatz. Wenn Stressbelastungen
chronisch würden und ungenügende Bewältigungsstrategien vorhanden seien, so führe
dies unweigerlich auch zu multiplen psychosomatischen Beschwerden.
Bewältigungsstrategien müssten einerseits die
individuelle Ebene betreffen (Entspannungsmethoden, Atemtechnik, soziale Kontakte,
Sport, Steigerung der beruflichen Fähigkeiten).
Mit dem Instrument der betrieblichen Gesundheitsförderung könnten andererseits
strukturelle Massnahmen getroffen werden,
so z. B. Einfluss auf arbeitsorganisatorische
Aspekte (Handlungsspielraum) und auf die
Unternehmenskultur (Kommunikationsverhalten, Wertschätzung, soziale Unterstützung).
Ein Unternehmen, dass sich über den Einfluss
des Arbeitsplatzes auf die Gesundheit im Klaren
ist und versucht, die für das Wohlbefinden
notwenigen Kriterien mit seinen Vorgesetzten
umzusetzen, beeinflusst also die Gesundheit
seiner Mitarbeitenden positiv.
Die Komponenten eines Burnout
Das «Burnout-Syndrom» als wissenschaftlicher
Begriff wurde in den 1970er-Jahren vom New
Yorker Psychiater Herbert Freudenberger geprägt: Er bemerkte bei Kollegen, die mit grossem Engagement als freiwillige Helfer in einer
Anlaufstelle für Drogenabhängige arbeiteten,
eine zunehmende Erschöpfung, eine distanzierte, zynische Einstellung gegenüber den
Nutzern der Beratungsstelle und eine negative
Wahrnehmung der eigenen Arbeitsleistung.
Während der Burnout-Begriff sich zunächst
auf Berufe mit direktem Patienten- oder Klientenkontakt beschränkte, erkannte man, dass
sich Burnout-Phänomene auch in anderen
Berufsgruppen finden lassen. Es gibt allerdings bis heute keine einheitliche Klassifikation.
Wissenschaftliche und Alltagsvorstellungen
vermischen sich. Trotz der Definitionsvielfalt
gibt es sechs typische Merkmale, so Beate
Schulze, M.A., Projektleitung Zürcher Empowerment Programm für Stressmanagement und Burnout-Prävention im Gesundheitswesen, Psychiatrische Universitätsklinik
Zürich. Drei Merkmale beschreiben Burnout
als einen Zustand, drei den Prozess des Ausbrennens (siehe Kasten).
WISSEN
Fotos: Datenbank Sanacom
B U R NOUT-SYN DROM
Prävention durch Selbstbeobachtung
Entscheidend für die primäre Prävention von
Burnout, d. h. um zu verhindern, dass akute
Beschwerden auftreten, ist eine kontinuierliche
Selbstbeobachtung. Ein Online-Selbsttest von
Swiss Burnout und der Universität Hamburg
findet sich unter www.swissburnout.ch.
Risikofaktoren
Zu den Faktoren, die ein Ausbrennen im Beruf
begünstigen, gehören Persönlichkeitsmerkmale, arbeitsbezogene Einstellungen sowie
Jobmerkmale und Aspekte des Organisationsumfeldes. So zeigt sich in Untersuchungen,
dass Menschen, die mit belastenden Ereignissen eher passiv und defensiv umgehen, eher
ein Burnout erleben. Menschen, die besonders
motiviert und leistungsfähig sind und daher
über längere Zeit hinweg intensiv und übermässig arbeiten, haben ebenfalls ein erhöhtes
Risiko, wenn zu wenig oder zu kurze Erholungsphasen eingeschaltet werden. Dies ist
umso wahrscheinlicher, wenn es neben der
Arbeit keine anderen Schwerpunkte im Leben
gibt und die Arbeit den zentralen Lebensinhalt darstellt. Steigende Arbeitsbelastungen
allein führen nicht zwingend zu Burnout. Oft
sind es die Engagiertesten, die Gefahr laufen,
ein Burnout zu entwickeln. Hohe Ansprüche
an sich selbst und eine starke Leistungsmotivation, gepaart mit einer selektiv negativen
Wahrnehmung des Erreichten und mangelnder Unterstützung am Arbeitsplatz sowie
mangelndem Feedback über die Qualität der
Arbeit gelten als Risikofaktoren.
Burnout entsteht im Wechselspiel zwischen
ungünstigen Bedingungen auf Organisationsebene und bestimmten personenbezogenen
Faktoren. Zudem findet sich bei Beschäftigten
in medizinischen und sozialen Berufen mit
hohen Fallzahlen ein erhöhtes Burnout-Risiko.
Präventions- und Therapiemöglichkeiten
Die Kenntnis möglicher Ursachenkombinationen ist der Schlüssel, wie Stress und Burnout
am Arbeitsplatz reduziert werden können.
Massnahmen gegen Burnout müssen verschiedene Ebenen parallel ansprechen. Auf
der Ebene der Organisation (verbesserte Arbeitsinhalte und -umgebung; Abbau Überstunden usw.) und auf der persönlichen Ebene.
Jeder kann selbst etwas tun, um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Arbeit und Erholung
zu wahren.
Führen Burnout-Symptome zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen (z. B. psychosomatische Beschwerden, depressive Symptomatik),
sind eine Krankschreibung und professionelle
Hilfe angebracht. Kognitive Verhaltenstherapie
hat sich als besonders wirksam erwiesen, um
das eigene Verhältnis zur Arbeit zu reflektieren
und eine bessere Work-Life-Balance zu finden.
Eine erfolgreiche Behandlung muss das Arbeitsumfeld des Patienten mit in die Therapieplanung einbeziehen. Dafür ist ein verstärkter
Austausch zwischen Medizin und Wirtschaft
nötig. Zudem sollten Burnout-Präventionsstrategien regelmässig im Rahmen von Weiterbildungen thematisiert werden, damit Fachpersonen stärker für die arbeitsmedizinischen
Aspekte sensibilisiert und das Thema Burnout
in der Arbeitswelt enttabuisiert werden, plädierten die Redner.
I
Sechs Merkmale eines Burnout-Syndroms
Zustand:
T Dysphorische Symptome, v. a. Erschöpfung,
negative Einstellung gegenüber anderen
und Arbeit, verringerte Effektivität und Leistungsfähigkeit.
T Unangemessene Erwartungen und
hohe emotionale Anforderungen.
T Burnout ist arbeitsbezogen und kommt in
«normalen» Personen ohne psychische
Erkrankung vor, die vor Auftreten des Burnouts erfolgreich im Berufsleben standen.
Prozess:
T Diskrepanz zwischen Erwartungen einer
Person und den Realitäten des beruflichen
Alltags führt zu Spannungen.
T Stressoren aus einem solchen Ungleichgewicht entwickeln sich langsam, von der
betroffenen Person bewusst bemerkt oder
lange unbemerkt.
T Die Art und Weise, wie mit den Stressoren
umgegangen wird, ist entscheidend dafür,
ob sich ein Burnout entwickelt oder nicht.
Quelle
Symposium von Swiss Burnout zusammen mit der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich zum Thema «Burnout und
Berufsleben – Ärzteschaft im Diskurs mit Human Ressource
Management», 6. Oktober 2005 in Zürich.
Alexandra Werder
17
«Neue Krankheiten –
Stress»
Auszug aus
PSYCHE
WISSEN
OTX World Nr. 32
Oktober 2007
Männer und Depression
Sich stellen statt flüchten
Depressionen sind bei Männern seltener als bei Frauen. Sie sind jedoch auch gefährlicher und
bleiben häufig unerkannt, da viele Betroffene keine professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.
Verborgene Depressionen entladen sich bei Männern oft in Aggressionen.
Dass Hugo M. unter einer Depression litt,
konnte er selbst erst richtig glauben, als es ihm
etwa zehn Tage nach Beginn der Therapie besser ging. Der ständige Ärger über seine Arbeitskollegen war wie weggeblasen. Mit seiner
Frau konnte er sich seit langem wieder einmal
unterhalten, ohne sie anzubrüllen und sich
anschliessend mit der Flasche Wein vor den
Fernseher zurückzuziehen. Woher diese Wut
kam, wusste er nicht. Seine Ausbrüche taten
ihm auch jedes Mal leid. Aber er war sicher,
dass die anderen die volle Schuld daran trugen. Erst auf Drängen seiner Familie sprach
Hugo M. mit seinem Hausarzt über sich.
Laut Statistik erkranken Frauen dreimal häufiger an Depressionen als Männer. Doch der
Schein trügt: Die Suizidrate von Männern ist
mindestens dreimal höher als die des weiblichen Geschlechts. Selbst wenn nicht jeder
Selbstmord mit einer Depression einhergeht,
legt dies nahe, dass Depressionen bei Männern offenbar häufig unerkannt bleiben.
Fragen, die in der Apotheke eine
Männerdepression aufdecken helfen können
T Treiben Sie in letzter Zeit
übermässig viel Sport?
T Mussten Sie in letzter Zeit immer hart
durchgreifen, damit Ordnung herrscht?
T Haben Sie in letzter Zeit öfter mit Familie,
Freunden und Kollegen gestritten?
T Haben Sie in letzter Zeit mehr getrunken
und geraucht als sonst?
T Fehlen Ihnen in letzter Zeit
Kraft und Ausdauer?
T Fühlen Sie sich in letzter Zeit öfter
niedergeschlagen und mutlos?
T Haben Sie sich in letzter Zeit oft
alleine gefühlt?
Auch Kunden, die übermässig oft alkoholhaltige
Präparate in der Apotheke beziehen, sollten
angesprochen und bei Hinweis auf eine allfällige Depression an den Hausarzt verwiesen
werden. Die rezeptfrei erhältlichen Johanniskrautmedikamente eignen sich nur zur Therapie leichter Depressionen.
Depressive Symptome nicht vereinbar
mit männlichem Rollenbild
Männer, die unter einer Depression leiden,
fühlen sich oft nicht krank. Denn die klassischen Symptome einer Depression wie Mutlosigkeit, Antriebslosigkeit und Verzweiflung
sind mit dem Männlichkeitsideal unvereinbar.
Es wird keine Hilfe gesucht. Und wer nicht zum
Arzt geht, wird nicht behandelt und erscheint
auch nicht in den Statistiken. Wird dieser
Schritt dennoch gewagt, führt er oft zu Fehldiagnosen. Da sich die klassische Depressionsdiagnostik vorrangig an der beobachteten Symptomatik von Frauen orientiert, fallen
viele depressive Männer durch das ärztliche
Fahndungsraster.
Buch-Tipp
Holger Reiners:
Die gezähmte Depression.
Kösel, ISBN: 978-3-46630763-0, CHF 34.80
Frederic F. Flach:
Depression als Lebenschance. Seelische Krisen
und wie man sie nutzt.
Rowohlt,
ISBN: 978-3-499-61111-7,
CHF 16.70
18
Neben dem aggressiven Verhalten gibt es weitere Symptome, hinter denen sich eine männliche Depression verbergen kann: übermässiger
Alkoholkonsum, Schlafstörungen und Unruhe.
Einige Betroffene versuchen, den Schatten auf
der Seele durch exzessive sportliche Betätigung
zu vertreiben, andere stürzen sich in die Arbeit. Ebenfalls verbreitet sind körperliche Beschwerden. Dabei schlägt sich die Depression
in physischen Symptomen nieder. Es schmerzen der Rücken, der Magen, oder das Herz
macht Probleme.
Erfolgreiche Kombinationstherapie
In der Therapie steht ein breites Spektrum
von Medikamenten und Psychotherapien zur
Verfügung. Die beiden Therapien ergänzen
sich. Antidepressiva verbessern und stabilisieren die akute Situation. Die Psychotherapie ist
wichtig zur Analyse und allfälligen Lösung der
Lebensprobleme. Es gibt kein spezielles Antidepressivum für den Mann. Die neueren Antidepressiva, die sogenannten SSRI (Selektive
Serotonin-Reuptake-Inhibitoren) oder SSNRI
(Serotonin- und Noradrenalin-Reuptake-Inhibitoren) werden heute bevorzugt eingesetzt.
Die stimmungsaufhellende Wirkung des kör-
pereigenen Nerven-Botenstoffs Serotonin wird
durch die Medikamente verstärkt. Welches
Präparat jeweils indiziert ist, entscheiden Arzt
und Patient gemeinsam unter Berücksichtigung des Nebenwirkungsprofils und möglicher Begleiterkrankungen. Bei allen derzeit
verfügbaren Antidepressiva können sexuelle
Dysfunktionen als Nebenwirkung auftreten.
Die Probleme treten nicht zwangsläufig auf
und betreffen nur einen Teil der Patienten.
Viele der sexuellen Probleme gehen auf die Erkrankung zurück und nicht auf die Therapie.
Sexuelle Schwierigkeiten mit Libidoverlust
sind ein häufiges Symptom der Depression.
Falls unter Medikation Schwierigkeiten beim
Sex auftreten, sollte ein Wechsel des Präparates in Erwägung gezogen werden.
Männer, die den Verdacht haben, eine Depression könnte hinter ihrer gereizten Stimmung
lauern, sollten sich auf jeden Fall mit ihrem
Arzt beraten. Die Therapie kann wie bei Hugo
M. das Leben in fröhlichere und entspanntere
I
Bahnen lenken.
Beatrice Valentini
«Neue Krankheiten –
Stress»
Auszug aus
PSYCHE
WISSEN
OTX World Nr. 33
Nov./Dez. 2007
Psychische Belastung am Arbeitsplatz
Stress macht leistungsfähig – oder krank
Unter Stress ist der Mensch zu Höchstleistungen fähig, auch bei der Arbeit. Doch wenn der Arbeitnehmer das Gefühl hat, dass er die Anforderungen nicht erfüllen kann, entsteht ein Teufelskreis:
Die Konzentration leidet, es passieren mehr Fehler, und die Angst, nicht zu genügen, nimmt zu.
Wer abends erschöpft auf die Couch fällt und
auf einen ereignisreichen Tag zurückblickt,
könnte zuhauf von stressigen Situationen erzählen. Ein Kundengespräch führen und gleichzeitig die Mitarbeiterin einarbeiten. Kaum
Mittagspause und dann von einem Termin zum
anderen hetzen. Jeder kennt solche Tage, doch
nicht jeder spricht dabei von einem StressTag. Manchen macht es Spass, aus der Routine auszubrechen, und sie leben dann geradezu auf. Verständlich, denn während einer
Stresssituation ist der Mensch zu Höchstleistungen fähig. Im Gehirn werden Stresshormone wie Cortisol, Noradrenalin und Adrenalin
ausgeschüttet. Durch die Hormone beschleunigen sich der Herzschlag und die Atmung.
Der Sauerstoff- und Blutzuckergehalt steigen.
Gleichzeitig zügeln die Botenstoffe die Verdauung und das Immunsystem.
So komplex die physiologische Stressreaktion
ist, so einfach ist die Erklärung der Evolutionsforscher. Der Urmensch musste im Kampf
oder auf der Flucht schnellstmöglich alle Muskelkraft einsetzen und gleichzeitig höchst
konzentriert vorgehen können. Auch heute
reagiert der Körper in Stresssituationen wie
noch vor zigtausend Jahren. Aber im Unterschied zu den Urmenschen folgt bei modernen Menschen auf eine Stresssituation selten
eine körperliche Anstrengung wie ein Kampf
oder eine Flucht – und dies wäre notwendig, um
den Hormonspiegel wieder zu normalisieren.
Unsicherheit führt zu Stress
Dass Stress schädlich sein kann, ist mittlerweile bekannt: Erhöhte Blutzuckerwerte, HerzKreislauf-Erkrankungen, Magen-Darm-Beschwerden, schwächelndes Immunsystem und
psychische Leiden wie Burn-out oder Depression können die Langzeitfolgen von Dauerstress sein. Doch ab wann ist Stress schädlich?
Das Beispiel einer jungen Pharma-Assistentin
macht deutlich, welche Faktoren mitspielen.
Die junge Frau ist neu im Team und hat den
Eindruck, dass Kompetenzen nicht klar aufgeteilt sind. Ihre Ansprechperson gibt harsche
und herablassende Antworten, sodass die junge Frau das Gefühl bekommt, alles falsch zu
machen. Sie fühlt sich ständig unter Druck
und weiss nicht, ob sie die geforderte Leistung
erbringen kann – eine brisante Kombination.
Die Suva definiert Stress denn auch als «Zustand unangenehmer Dauererregung und Anspannung, die durch eine Aufgabe oder Anforderung hervorgerufen wird, von der die
betroffene Person nicht weiss, ob sie sie bewältigen kann.»
Wenn die Arbeitsleistung leidet
In solchen Fällen kann sich Stress kurzfristig
direkt auf die Arbeitsleistung auswirken, wie
der Arbeitsmediziner Dr. med. Dieter Kissling
kürzlich am Wellswiss-Kongress betonte: Konzentrationsmangel, überhastetes Arbeiten,
Einschränkung der Wahrnehmungsfähigkeit,
Stressauslösende Faktoren 1
T Fehlender Handlungs- und Entscheidungsspielraum
T Fehlende Information
T Zeitdruck
T Häufige, unvorhergesehene
Abweichungen im Arbeitsablauf
T Daueraufmerksamkeit
T Unzureichende Klarheit im Arbeitsablauf
T Unklare Kompetenzen und
Verantwortlichkeiten
Ausserdem: Arbeitsumweltfaktoren wie Lärm,
schlechte Beleuchtung, Klima; soziale/
gesellschaftliche Faktoren wie Mobbing,
unzureichende Kommunikation oder Kooperation, Schichtarbeit, Arbeitsplatzsicherheit.
Alltagstipps für Vitalität und
Stressresistenz
T Regelmässig Sport treiben
T Entspannungstechniken üben
T Sich ausgewogen und vitaminreich ernähren
T Immunsystem stärken mit Pflanzenwirkstoffen (Roter Sonnenhut stärkt das
Immunsystem, Melisse wirkt beruhigend)
T Täglich zwei Liter Wasser trinken
Zunahme von Fehlern und Arbeitsunfällen.
Deshalb ist es notwendig, bei negativem Stress
am Arbeitsplatz etwas zu verändern. Als Erstes
lohnt es sich, die eigene Arbeitsorganisation
zu überprüfen und die Stressauslöser zu analysieren. Kommen Aufträge immer im letzten
Moment? Werden neue Regelungen unzureichend kommuniziert? Ist die Verantwortung
gross und gleichzeitig der Handlungsspielraum klein? Sich im Vornherein solche Fragen
zu stellen hilft, im Gespräch mit dem Vorgesetzten klar argumentieren zu können.
Ob jemand eine Situation als schwierig zu bewältigen empfindet oder nicht, kann umweltoder genetisch bedingt sein. Das individuelle
Empfinden und die bisherigen Erfahrung spielen dabei ebenso eine Rolle wie die kognitiven
Fähigkeiten eines Individuums. Deshalb kann
ein und dieselbe Situation für jemanden eine
harte Belastungsprobe werden und zu schlaflosen Nächten führen, während sie für jemand
anderen gerade das Salz in der Suppe ist. I
Miriam Röthlisberger
Quelle
1
Stefan Poppelreuter, Katja Mierke: Psychische Belastungen
am Arbeitsplatz.
Erich Schmidt Verlag. ISBN: 978-3-503-07079-4. CHF 50.90
19
«Neue Krankheiten –
Stress»
Auszug aus
8*44&/
OTX World Nr. 52
Oktober 2009
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«Ich bin sicher, dass es einen Trend in Richtung
eines Cognitive Enhancing gibt, aber dieser umfasst mit Sicherheit nicht die ganze Gesellschaft»,
sagt Prof. Dr. Boris Quednow von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.
Worum es geht: Die geistige Performance des
Einzelnen ist abhängig von kognitiven Fähigkeiten wie dem Erinnerungsvermögen, der
Konzentrationsfähigkeit, der Kreativität sowie
deren Interaktion. Während die medikamentöse Behandlung von Gedächtnisstörungen bei
demenziellen Erkrankungen oder der mangelnden Konzentrationsfähigkeit bei einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung
(ADHS) ausser Frage steht, werden die dafür
zugelassenen «Neuro Enhancer» oder «Brainbooster» zunehmend auch von Gesunden eingesetzt. Ziel des Off-Label-Gebrauchs ist der
Wunsch nach geistiger Hochform, sei es im Job
oder in Prüfungssituationen. Offizielle Angaben zum Gebrauch von Brainboostern an den
Universitäten gibt es bisher lediglich aus den
USA. So zeigt eine zu Beginn dieses Jahrtausends durchgeführte Untersuchung, dass schätzungsweise sieben Prozent der Studierenden
ihre geistige Performance auf diese Weise zu
manipulieren versuchten.1 An einigen der untersuchten Hochschulen lag die Zahl mit bis
zu 25 Prozent allerdings deutlich höher.
20
Die kognitiven Funktionen lassen sich durch
unterschiedliche Stimulanzien beeinflussen.
Diese führen entweder direkt oder indirekt zu
einer erhöhten Konzentration von Neurotransmittern an den Nervenübertragungsstellen. Vor
allem die Katecholamine Noradrenalin und
Dopamin gehören zu den Neurotransmittern,
die die Aufmerksamkeit und das Gedächtnis
beeinflussen.
Ein einfacher und legaler Weg, um die geistige
Performance zu verbessern, ist der Genuss von
Koffein, sei es in Form von Schokolade, Kaffee
oder Tee. Unter Jugendlichen zunehmend beliebt sind coffeinhaltige Softdrinks. «Koffein hat
eine recht starke Wirkung», so Quednow. «Es
steigert die innere Erregung und führt so vorübergehend zu einer erhöhten Aufmerksamkeit.» Optimal ist die Wirkung aber nicht: Oft
erweist sich in einer bestehenden Stresssituation
der Kaffee als zu viel und man schiesst über das
Optimum hinaus – vergleichbar einer Überdosierung. Die typischen Begleiterscheinungen wie
Herzklopfen, Unruhe und Schlaflosigkeit sind
es auch, die viele Menschen von einem übermässigen Konsum abhalten.
Ähnlich wie mittels Koffein können die kognitiven Fähigkeiten durch den Genuss von Nikotin gesteigert werden. Die ursprüngliche
Hypothese, dass sich die Betroffenen durch
den Nikotingenuss zunächst belohnen und
das Rauchen anschliessend nicht mehr lassen
können, konnte die komplexe Entstehung der
Sucht nicht ausreichend erklären, wie Quednow sagt. Heute geht man zusätzlich davon aus,
dass besonders die starken Raucher einen Vorteil haben vom Nikotingenuss: «Möglicherweise können sie sich anschliessend besser konzentrieren.»
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Unter den illegalen Substanzen führen vor allem Kokain und Amphetamin vorübergehend
zu einer gesteigerten Aufmerksamkeits- und
Konzentrationsfähigkeit. Der Preis dafür ist allerdings hoch: «Lässt die Wirkung des Kokains
nach dem ersehnten ‹Kick› nach, geht es einem
sehr schnell sehr schlecht», beschreibt Quednow die Wirkung der verbreiteten Szenedroge.
Vorbei ist es mit der Euphorie und dem erworbenen Selbstwertgefühl, die Gefahr von Depressionen, Angst- und Schlafstörungen steigt und
mit ihnen das Suizidrisiko. «Ganz zu schweigen
von der Gefahr einer Abhängigkeit.»
Wie Kokain eignet sich auch Amphetamin nicht
für eine Dauereinnahme. «Die Unterdrückung
von Grundbedürfnissen wie Essen, Trinken
oder Schlafen führt bereits nach kurzer Zeit zu
einem erheblichen körperlichen und psychischen Abbau», so Quednow.
In der Schweiz werden wegen der Gefahr der Abhängigkeit keine Amphetamine mehr verschrieben. Entsprechend schwierig gestaltet sich die
Beschaffung von qualitativ gutem Stoff auf dem
Schwarzmarkt. Dagegen spielen die Amphetamine in den USA eine zunehmende Rolle in der
Behandlung von ADHS bei Teenagern.
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Zu welchen Konsequenzen der dauerhafte OffLabel-Gebrauch amphetaminähnlicher Substanzen wie Methylphenidat (Ritalin) führt, ist
unbekannt. «Das Potenzial für eine Abhängigkeit ist grundsätzlich vorhanden», sagt Quednow. «Während wir davon ausgehen, dass die
Substanz bei Erwachsenen eine Abhängigkeit
erzeugen kann, gilt das für Kinder scheinbar
nicht», so Quednow. Den Unterschied macht
die Indikation: «Besteht tatsächlich ein Bedarf,
ist die Gefahr der Abhängigkeit viel kleiner, als
wenn man mit der Einnahme eine bestimmte
Veränderung, beispielsweise eine erhöhte Konzentrationsfähigkeit assoziiert.» Meistens ginge
es aber ohnehin eher darum, die Lernfähigkeit
im Rahmen einer Prüfung zu steigern. Sei die
Prüfung vorbei, nehme man in der Regel auch
das Medikament nicht mehr ein. Anders verhält es sich bei der Substanz Modafinil (Modasomil), die in der Narkolepsie-Behandlung
eingesetzt wird. Die Substanz wird Off-Label
als Brainbooster gebraucht, weil sie wach
macht, ohne Nervosität hervorzurufen. Modafinil wirkt ähnlich wie Methylphenidat über
das dopaminerge System. Der genaue Mechanismus ist unbekannt – ebenso wie die Nebenwirkungen bei Langzeiteinnahme ausserhalb
der Indikation.
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21
«Neue Krankheiten –
Stress»
Auszug aus
WISSEN
OTX World Nr. 73
Oktober 2011
Selbstmotivation
Foto: zVg
Die Tage werden wieder kürzer. Viele Menschen fallen in eine regelrechte Winterdepression, wie
die saisonale, affektive Störung im Volksmund genannt wird. Ein Gespräch zur Selbstmotivation
mit dem deutschen Psychologen Jens Corssen.
Ursula Haas
man sich ein Auto kauft, dann kauft man den
Stau gleich mit. Wäre dies allen bewusst, würde
es weniger Gestresste geben!
Woher kommt diese Bereitschaft von uns
Menschen, die Opferrolle einzunehmen?
Der Mensch ist sozusagen eine physiologische
Frühgeburt. Wenn ein Kind zur Welt kommt, ist
es zwei bis drei Jahre lang ohne Macht. Dieses
frühkindliche Gefühl der «Ohn-Macht» kann
jederzeit wieder ausgelöst werden, wenn wir
eine Sicherheit im Leben verlieren, wenn wir
beispielsweise verlassen oder entlassen werden.
Jens Corssen, Diplompsychologe und
Erfinder des «Selbst-Entwicklers»
(www.der-selbstentwickler.com)
Viele Leute verfallen im Herbst in
eine «Jammerlaune». Weshalb?
Dies hat einerseits medizinische Gründe: Tatsächlich ist der Hormonspiegel in der kalten
Jahreszeit verändert. Doch andererseits führt
ständiges Klagen, beispielsweise über das Wetter, in eine Falle. Leute, die ständig jammern,
fühlen sich grundsätzlich als Opfer. Diese Ohnmachtsgefühle schwächen die körpereigenen
Abwehrsysteme und man wird schneller krank.
Auf welche Weise wirken sich negative
Gedanken auf die Gesundheit aus?
Die Chemie meines Gedankens befindet sich in
meinem Blut. Wer also ständig «Mist» denkt,
wird mit der Zeit tatsächlich schlecht drauf sein.
Der Körper kann nicht unterscheiden zwischen
jammern und einer tatsächlich ernsten Gefahr,
sondern er glaubt, was wir ihm vorjammern.
So gewöhnen sich unsere Körperzellen an die
Stresshormone. Leiden und Klagen ist wie eine
Drogenabhängigkeit. Es gibt ja Leute, die es
nicht aushalten, sich zwei Tage gut zu fühlen!
Haben Sie ein konkretes Beispiel
für dieses «Jammern»?
Beim Autofahren wird ganz oft gejammert und
geflucht, wenn man zum Beispiel im Stau steht.
Es wird eine Situation kritisiert, die gegenwärtig nicht zu ändern ist. Dabei ist doch klar, wenn
22
Wie findet man aus dem «Jammertal»
wieder heraus?
Indem wir die Ohnmachtsgefühle überwinden
und zur Eigenmacht finden. Ich habe dazu die
4 Werkzeuge des Selbst-Entwicklers definiert.
Konkret können wir Sätze für die Gesundheit
formulieren: Anstatt «das ärgert mich», sage ich
beispielsweise «ich ärgere mich» – so komme ich
aus der Opferhaltung zum Handeln.
Und die Gefühle?
Die müssen raus. Wir sollten zum Beispiel öfters «aua» schreien. Indem man wütend wird,
setzt man auch Adrenalin frei, um damit eine
Situation zu ändern. Diese unmittelbare Gefühlsäusserung ist etwas ganz anderes, als sich
permanent darüber zu beklagen, dass das Leben einen ungerecht behandelt, aber nichts
daran ändert!
Haben Sie hierzu eine konkrete Übung?
Als Erstes sollte man sich selbst beobachten: Wie
oft beschwere ich mich über den Lauf der Dinge
und denke, «das gibts doch nicht»? Oder wie oft
sage ich «Ja» und denke dabei «Nein»? Man
kann sich beispielsweise einige Geldstücke in die
rechte Hosentasche stecken und jedes Mal,
wenn diese Situation eintritt, eine Münze in die
linke Tasche tun. Allein diese Selbstbeobachtung kann das «Opferspiel» schon reduzieren.
Wie erleben Sie persönlich die
dunklere Jahreszeit?
Ich hatte einen klugen Onkel, der mir als Kind
erklärte, dass der November ein sehr wichtiger
Monat ist. Die Bäume müssen dann nicht mehr
so viel arbeiten, sie werfen ihre Blätter ab, ruhen
sich aus und lassen sich vom Regen waschen.
Ich denke, das gilt für Menschen genauso.
Herbst und Winter sind ganz wichtig für das
Erleben von Frühling und Sommer.
Die 4 Werkzeuge nach Jens Corssen
Selbst-Bewusstheit: Wer seine bisherige
Weltsicht und sein ihn störendes Verhalten dauerhaft ändern will, muss zunächst
die diesem Umstand zugrunde liegende
«Software» in seiner «Hardware» Gehirn
entwickeln.
Selbst-Verantwortung: Wer die Verantwortung für sein Erleben und Tun voll und
ganz übernimmt, erhöht seine Eigenmacht und damit die Chance, notwendige
Veränderungen einzuleiten.
Selbst-Vertrauen: Wer sein Ziel leidenschaftlich verfolgt und an sich glaubt, für
den sind Hindernisse und Niederlagen
nur Durchgangsstationen zum Ziel.
Selbst-Überwindung: Aus meiner Erfahrung als psychologischer Berater weiss
ich, dass häufiges «Nein»-Denken aber
«Ja»-Sagen zu körperlichen Anspannungen und seelischem Leid führen.
«Neue Krankheiten –
Stress»
Auszug aus
WISSEN
OTX World Nr. 82
Juli 2012
Kooperative Medizin bei Depressionen
Foto: Katharina Schwab
Jeder Fünfte in der Schweiz muss heute damit rechnen, einmal in seinem Leben eine Depression
durchzustehen. Die Ansätze der traditionellen tibetischen Medizin (TTM) könnten bei psychischen Erkrankungen einen zusätzlichen Beitrag zur Genesung leisten, davon ist der österreichische Psychiater, Dr. Jens Tönnemann, überzeugt.
Katharina Schwab
Dr. Jens Tönnemann, Psychiater,
machte einen Erfahrungsaustausch mit
traditioneller tibetischer Medizin.
«geistigen Verblendung». Bei psychischen Erkrankungen wie der Depression gehen tibetische
Mediziner davon aus, dass Trauer, Angst etc. das
Gleichgewicht der drei Körperprinzipien Wind,
Galle und Schleim stören. Diese Prinzipien bezeichnen bestimmte energetische Zustände und
Formen (s. Kasten). Wenn das Gleichgewicht gestört ist, wird eine Blockade in den zentralen
Energiekanälen ausgelöst, was zu einer Bewusstseinsstörung führt: «Die betroffene Person verliert auf diese Weise ihre normale Fähigkeit des
Bewusstseins, Dinge so wahrzunehmen, wie sie
sind», sagt Dönckie Emchi, Doktor der tibetischen Medizin. «Nicht die Symptome werden bekämpft, sondern es wird versucht, den menschlichen Körper als Ganzheit zu betrachten, um
seine drei Körperprinzipien wieder ins Gleichgewicht zu bringen», sagt Emchi.
TTM im Erfahrungsaustausch
«Stellen Sie sich vor, Sie stehen in einem Fahrstuhl. Im ersten Stock geht es in die Schulmedizin, im zweiten in eine ganzheitliche Medizin.
Sie haben fürchterliche Bauchschmerzen – welchen Knopf drücken Sie? Und nun stehen Sie an
der gleichen Stelle, aber Sie haben keinen Lebensmut mehr, Sie fühlen sich schwach und
müde. Welchen Knopf drücken Sie jetzt?» Diese
Frage stellte Dr. Jens Tönnemann, Facharzt für
Psychiatrie, an einer Weiterbildungstagung rund
um traditionelle tibetische Medizin.
Eine populäre schulmedizinische Hypothese der
vergangenen Jahre ist die Annahme einer Nervenstoffwechselstörung im Gehirn als mögliche
Ursache der Depressionen. Diese hat auch zum
vermehrten Einsatz von Medikamenten geführt,
die unter anderem im Bereich der Nervenbotenstoffe Serotonin, Noradrenalin und Dopamin
regulierend eingreifen; soweit die schulmedizinische Verfahrensweise.
Gestörtes Gleichgewicht
Eine «wertvolle Perspektiverweiterung» zum
Thema Depression könne die «ganzheitliche und
Zeit getestete Sicht» der traditionellen tibetischen
Medizin (TTM) anbieten, sagt Tönnemann.
Denn dort liegen alle Ursachen von Krankheiten
– auch von Depression – im «Geist» oder in der
Dr. Jens Tönnemann hatte für die Projektdauer
von sieben Monaten die Gelegenheit, als Abteilungsleiter einer österreichischen öffentlichen
psychiatrischen Rehaklinik Methoden der TTM
in den Mittelpunkt des medizinisch-psychiatrischen Arbeitens zu stellen.
Es sei eine wichtige Möglichkeit gewesen, einen
«Erfahrungsaustausch in kooperativer Medizin»
zu gestalten. Im Projektzeitraum von sieben Monaten waren 146 Patientinnen und Patienten mit
den unterschiedlichsten psychiatrischen Diagnosen sechs Wochen stationär zur Rehabilitation in dieser Abteilung. Die bestehenden RehaAngebote wurden durch zahlreiche Methoden
des stufenweisen therapeutischen Ansatzes der
TTM erweitert: äussere Therapien, Diät- und
Lebensstilberatung bis hin zu Nejang-Yoga in
der Gruppe. Puls- und Urindiagnostik wurde
angewendet und auch TTM-Kräuterrezepturen
eingesetzt. «Dem häufigen Wunsch vieler Patienten nach Dosisreduktion der bestehenden
Psychopharmaka-Therapie oder dem behutsamen Absetzen der in Vorbehandlungen noch
immer häufig verwendeten Benzodiazepinpräparate (‹Ruhigsteller›), konnten wir durch TTMMethoden bis hin zum Einsatz von Kräuterrezepturen sehr erfolgreich begegnen», so der
Psychiater. Aus der von jahreszeitlichen Rhythmen geprägten Sicht der TTM sei eine langfris-
tige Therapie mit Monosubstanzen wie beispielsweise Antidepressiva wenig zielführend und
auch in der westlichen Medizin gebe es den in
wissenschaftlichen Studien noch viel zu wenig
beschriebenen Ansatz der «Drug-Holiday», betont Tönnemann, der zurzeit in Sachen TTMAustausch durch Europa reist, um weitere Kooperationen anzuregen und einen TTM-Kongress
am 12. Oktober in Innsbruck vorzubereiten, wo
der Erfahrungsaustausch weitergehe.
Die drei Prinzipien
Der tibetischen Gesundheitslehre zufolge sind die drei Prinzipien Wind (Lung),
Galle (Tripa) und Schleim (Beken) überall in der Natur in Form der fünf Elemente
(Erde, Wasser, Feuer, Holz und Metall)
vorhanden; in Tieren, Pflanzen, aber auch
in allen menschlichen Organen. Ist der
Mensch gesund, befinden sich die drei
Prinzipien im Einklang.
Lung (Wind) ist das wichtigste Prinzip,
denn es steht für Bewegung und ist die
Steuerzentrale für körperliche und geistige Aktivitäten. Unter anderem werden
Atmung, Pulsschlag und Bewegung des
Darms von Lung koordiniert. Zudem geht
man davon aus, dass psychosomatische
Vorgänge mit Lung zusammenhängen.
Dieses Prinzip kann die anderen zwei
Prinzipien in positiver und negativer
Weise verstärken.
Tripa (Galle) steht für das Feuer. Sowohl
der Metabolismus als auch die Verdauung wird diesem Prinzip zugeordnet und
es zeichnet verantwortlich für Durst,
Hunger und Aufrechterhaltung der Körpertemperatur.
Beken (Schleim) ist Symbol für alles
Flüssige. Von Beken abhängig sind alle
feuchten und flüssigen Elemente im Körper wie etwa Flüssigkeit in den Organen,
Schleimhäute oder Körpersekrete.
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«Neue Krankheiten –
Stress»
Auszug aus
WISSEN UND WISSENSCHAF T
OTX World Nr. 90
März 2013
Mehr Risiko und weniger Vorsorge
Männer und Frauen haben unterschiedliche Erkrankungsrisiken. Gleichzeitig ist die Wahrnehmung für gesundheitliche Fragen bei Männern deutlich geringer. Männer sind risikobereiter,
leben ungesünder und kümmern sich weniger um das eigene körperliche und seelische Wohlbefinden. Dabei würde sich ein bisschen mehr Achtsamkeit lohnen.
Klaus Duffner
Die genetische Differenz zwischen den Geschlechtern ist eigentlich gering. Auf dem männlichen Y-Chromosom fehlt lediglich ein 700
Gene umfassender DNA-Abschnitt. Da Knaben
– im Gegensatz zum weiblichen Geschlecht –
jedoch nur ein X-Chromosom besitzen, sind
sie besonders anfällig gegenüber einigen erblichen Krankheiten wie die Bluterkrankheit, die
Duchenne-Muskeldystrophie (fortschreitender
und unheilbarer Muskelschwund) oder die RotGrün-Blindheit.
Der Preis des «männlichen Verhaltens»
Über die Geschlechts-Chromosomen werden
mit der Pubertät grundlegende Veränderungen
im männlichen und weiblichen Körper gesteuert. Während bei den Mädchen die Östrogene
eine herausragende Rolle spielen, werden die
Knaben von dem Stoff regelrecht durchflutet,
der massgeblich für alles, «was einen Mann ausmacht», verantwortlich ist: Testosteron. Dieses
Hormon sorgt aber nicht nur für die geschlechtliche Entwicklung und die Libido, sondern auch
für viele andere Körperfunktionen wie Knorpel- und Knochenneubildung oder die Vermehrung der roten Blutkörperchen. Und: Für die
Regulation der menschlichen Aggression. Diese
Aggression, gepaart mit verbreiteten «Männ-
24
lichkeitsritualen», ist verbunden mit gehäuften Gewalt- und Unfallereignissen in den Pubertäts- und jungen Mannesjahren. So gingen
gemäss dem Bundesamt für Statistik im Jahre
2010 bei den 15- bis 44-jährigen Männern fast
die Hälfte (nämlich 531) aller Todesfälle auf das
Konto von Unfällen oder Selbsttötungen. Bei
den Mädchen wurden in dieser Altersgruppe
nur 164 Unfälle oder Suizide registriert, was
rund einem Fünftel aller weiblichen Todesfälle
im gleichen Jahr entsprach. Die Suizidrate sei
bei 20-jährigen Männern in der Schweiz rund
doppelt so häufig wie bei Frauen, erklärt Prof.
Dr. med. Felix Gutzwiller, Direktor des Instituts
für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Zürich. Bei jungen Männern seien zudem
Alkohol am Steuer, das unvorsichtige Verhalten
im Strassenverkehr oder ein aggressives, männliches Imponiergehabe wichtige gesundheitsgefährdende Faktoren.
Anatomische Unwägbarkeiten ...
Zwar treten spezifische Männerkrankheiten
hauptsächlich im fortgeschrittenen Alter auf,
bei Hodenkrebs ist das jedoch nicht so. In der
Schweiz erkranken jedes Jahr rund 400 Männer
– vor allem junge Männer – neu an Hodenkrebs.
Nach Angaben der Schweizerischen Krebsliga
ist Hodenkrebs bei Männern unter 40 Jahren die
häufigste Krebsart. Auch Hoden- und Eichelentzündung, Penis- sowie Prostatakrebs sind aufgrund der Anatomie an den Mann gebunden.
An Prostatakrebs erkranken in der Schweiz pro
Jahr 6000 Männer. Damit ist Prostatakrebs die
häufigste Krebsart überhaupt. Fast alle Patienten sind zum Zeitpunkt der Diagnose über 50
Jahre alt, 54 Prozent sogar 70 Jahre oder älter.
Allerdings leben viele Männer ohne es zu wissen mit einem Prostatakrebs. Sie haben keine
Beschwerden und werden auch nicht an diesem
Krebs sterben. Trotzdem ist es ratsam, ab dem
50. Lebensjahr an eine Vorsorgeuntersuchung
zu denken. Überhaupt die Prostata: Bei allen
Männern wird diese «Vorsteherdrüse» im Alter
grösser. Dabei kann sich die Harnröhre verengen, wodurch das Wasserlassen Probleme macht.
Die Harnentleerung verzögert sich bzw. ist unvollständig, was Blaseninfektionen, Blutungen,
Blasensteine und Urinrückstau fördert. Auch
vom Darmkrebs, der in der Schweiz rund 4100mal im Jahr neu auftritt, sind Männer etwas
häufiger betroffen als Frauen, vor allem in der
Gruppe der 50- bis 69-Jährigen. Wer dieses Alter erreicht hat, sollte ebenfalls regelmässige
Vorsorgeuntersuchungen in Betracht ziehen.
Da mit dem Alter langsam aber sicher auch der
Testosteronspiegel im Blut abnimmt (und die
Natur die Reproduktion im höheren Alter eigentlich nicht mehr vorsieht), haben viele ältere
Männer mit erektiler Dysfunktion zu kämpfen.
So sollen 300 000 Männer in der Schweiz Potenzprobleme haben. Nichtsdestotrotz: Für sehr
viele Senioren ist der Sex ein immer noch wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Als ein ein typisches Männerleiden gilt auch der Leistenbruch.
Von den in der Schweiz jährlich 32 000 neu auftretenden Leistenbrüchen sind neunmal häufiger Männer als Frauen betroffen. Da im männlichen Geschlecht die Samenstränge in den
Leistenkanälen verlaufen, ist diese Körperregion auch besonders empfindlich, genauer gesagt besonders schwächlich.
... und ungesunde Lebensweise
Auch die Gicht betrifft zu 95 Prozent die Männer. Bei den Frauen schützen die weiblichen
Östrogene (zumindest bis zu den Wechseljah-
ren) als natürliche Puffer vor der Harnsäure.
Allerdings tragen viele Männer auch einiges
selbst zu diesen sehr schmerzhaften Beschwerden bei. Denn deren deutlich höherer Fleischund Alkoholkonsum fördert die Bildung der
heimtückischen Harnsäurekristalle, die sich
dann in den Gelenken ablagern. Apropos Ernährung: Gemäss Bundesamt für Gesundheit
achten Frauen im Vergleich zu Männern nach
wie vor stärker auf ihre Ernährung. Männer essen mehr Fleisch- und Wurstwaren, weniger
Obst und Gemüse und trinken auch deutlich
mehr Alkohol. Zwar geht der Nikotinkonsum
bei beiden Geschlechtern langsam zurück, die
Männer hängen mit gut 30 Prozent der Wohnbevölkerung aber immer noch häufiger an der
Zigarette als Frauen (2007: 24 Prozent). Entsprechend werden immer noch mehr Männer
mit der Diagnose Lungenkrebs konfrontiert,
wiewohl gerade bei Frauen in den vergangenen
Jahren hier eine bedenkliche Zunahme zu verzeichnen ist. Insgesamt führt diese ungesündere und risikoreichere Lebensführung der
Männer, in Verbindung mit gewissen genetischen Anlagen, zu mehr Wohlstandserkrankungen wie z. B. Dickleibigkeit und Bluthochdruck. Auch der Herzinfarkt gilt als typische
Männerkrankheit, obwohl auch Frauen, oft in
Verbindung mit der «Pille» und dem Rauchen
bzw. nach den Wechseljahren solche Ereignisse
erleiden können.
Lieber nicht zum Arzt
In einer neueren Studie wurde Männern im
Geschlechtervergleich ein zwei- bis zweieinhalbfach so hohes Risiko attestiert, vor dem 65.
Lebensjahr zu sterben. Dazu tragen nicht nur
Unfälle, Suizide, ein allgemein höheres Risikoverhalten und die allgemein ungesündere Lebensführung bei, sondern auch die oftmals
zögerliche Bereitschaft, einen Arzt aufzusuchen.
«Männer nehmen körperliche Symptome nicht
so ernst», so Gutzwiller. «Viele glauben, mit untauglichen Massnahmen die Beschwerden selbst
in den Griff zu bekommen. Auch Vorsorgeuntersuchungen werden von Frauen viel eher in
Anspruch genommen.» Insgesamt sei der Umgang mit den Befindlichkeiten des eigenen Körpers deutlich geringer ausgeprägt. Tatsächlich
konnte in einer am «Männergesundheitskongress» in Berlin kürzlich vorgestellten Studie
gezeigt werden, dass bei jungen Männen in
Deutschland zwar rund 90 Prozent über den
Benzinverbrauch und die PS-Stärke ihres Autos,
aber nur 40 Prozent über ihre Cholesterinwerte
Bescheid wussten. Hier ein anderes Bewusstsein
unter den Männern zu erreichen, sei eine sehr
komplexe gesellschaftliche Aufgabe und müsse
von verschiedenen Seiten angegangen werden,
sagt Gutzwiller. Vielen Männern sei es bislang
nicht bewusst, dass man, um seinen Körper langfristig gesund zu erhalten, mit ihm auch gut umgehen müsse.
So bleibt Man(n) gesund
1. Sport treiben. Zweimal die Woche 20 bis 30 Minuten Ausdauertraining, am besten
in einer Gruppe. Auch leichte Kraftübungen für Arme, Rücken, Bauch sind nützlich.
2. Abwechslungsreiche Ernährung. Viel Obst und Gemüse, keine Zigaretten und
mässiger Alkoholkonsum helfen dem Körper.
3. Vorsorge. Ab 50 regelmässige Überprüfung von Prostata und Darm vornehmen lassen.
Die Abstände zwischen den einzelnen Untersuchungen sind von der individuellen
Risikolage abhängig.
4. Warnzeichen. Beunruhigende körperliche Veränderung nicht ignorieren, sondern
einen Arzt aufsuchen.
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5. Potenzprobleme beachten. Schwierigkeiten mit der Potenz können ein Warnzeichen
für Herz-Kreislauf- und Stoffwechsel-Krankheiten sein. Verstopfte Penisgefässe weisen
auf verstopfte Herzkrankgefässe hin.
6. Abtasten der Hoden. Hodenkrebs betrifft vor allem junge Männer. Deshalb einmal
pro Monat selbst Hoden auf Verhärtungen oder Vergrösserungen untersuchen.
7. Sex ist gut für die Gesundheit. Regelmässiger Sex lässt den Testosteronspiegel
steigen, Muskeln aufbauen und Fett abbauen.
8. Ausreichend schlafen. Auf genügend und erholsamen Schlaf achten.
Kein Fernseher am Bett.
9. Stress vermeiden. Zu viel Stress schwächt das Immunsystem und macht anfällig
für Krankheiten.
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«Neue Krankheiten –
Stress»
Auszug aus
WISSEN UND WISSENSCHAF T
OTX World Nr. 91
April 2013
Was gesunde Menschen auszeichnet
Foto: zVg
Die Gesundheitsbegriffe sowohl der modernen Medizin wie der WHO kranken. «Sie treffen die
Wirklichkeit nicht», sagt Prof. Dr. med. Volker Fintelmann. Längst habe die Salutogenese einen
neuen Ansatz aufgestellt. «Die Zukunft der modernen Medizin liegt darin, den dreidimensionalen
Menschen – die Einheit von Leib-Seele-Geist wiederzuentdecken.»
Jürg Lendenmann
«Die salutogenetische Definition der Gesundheit ist eine seelische, die jedoch Rückschlüsse
auf den Leib nimmt – quasi eine psychosomatische Definition der Gesundheit», erklärt Fintelmann. «Hatten wir im vergangenen Jahrhundert
versucht zu verstehen, was Krankheit ist und wie
man ihr begegnet, werden wir im 21. Jahrhundert verstehen wollen, was Gesundheit ist – wie
man sie fördern und erhalten kann.»
Der eindimensionale Mensch
Prof. Dr. med. Volker Fintelmann ist
Gründungsmitglied der Carl Gustav
Carus Akademie in Hamburg.
«Mit dem Kürzel ‹o. B.› (ohne Befund) werden
in der ärztlichen Praxis Menschen bezeichnet,
bei denen keine Krankheit festgestellt werden
konnte», sagt Prof. Dr. med. Volker Fintelmann.
Noch skurriler definiere die WHO die Gesundheit: als leibliches, seelisches und soziales Wohlbefinden. «Das ist kein Gesundheitsbegriff, der
die Wirklichkeit trifft. Denn dann wäre ein Arbeitsloser, der sich sozial nicht wohlfühlt, krank.»
Das Gesundheitskonzept
der Salutogenese
Wie Gesundheit auf grundlegend neue Weise
definiert werden könne, sei in den 1970er-Jahren vom Medizinsoziologen Aaron Antonovsky
und dem Psychologen Abraham H. Maslow entdeckt worden: die Salutogenese (von lat. salus =
Gesundheit und griech. genesis = Entstehung).
Fintelmann: «Antonovsky hatte jüdische Menschen gefragt, was ihnen geholfen habe, den
Holocaust zu überleben. Nach Auswertung der
Antworten gelangte er zu einer ganz erstaunlichen Aussage: Ein Mensch, der in sich selber
im Gleichgewicht ist, verfügt über eine starke
Fähigkeit, sich gesund zu erhalten – selbst in
extremen Situationen wie einem Holocaust.
Merkmale, die solche im Gleichgewicht ruhenden – gesunde – Menschen kennzeichnen, hat
Maslow zusammengestellt (s. Kasten).»
26
«Die Salutogenese fordert ein Zurückdenken –
und ganz bewusst ein Vorausdenken von etwas,
das Menschen früher gehabt hatten: die Vorstellung des Menschen als eines aus Leib, Seele und
Geist zusammengefügten Wesens», betont Fintelmann. Mit dem Konzil von Konstantinopel,
869 n. Chr., in dem die katholische Kirche dem
Menschen einen eigenständigen Geist abgesprochen habe, sei diese Einheit verloren gegangen.
Und mit der Aussage Virchows (1821–1902), er
habe Tausende von Menschen seziert, dabei aber
nie eine Seele gefunden, sei der Mensch eindimensional geworden.
«Wie ein Künstler auf einer Orgel»
«Ein Charakteristikum des Menschen ist seine
Individualität», sagt Fintelmann. Er fordert eine
individualisierende Medizin, weist aber darauf
hin, das Individuelle könne im Erbgut nicht ge-
funden werden, da die Genetik zu wenig differenzierend sei: «Das Genom kann verglichen
werden mit der unendlichen Fülle, die eine
Orgel an musikalischen Möglichkeiten bietet.
Die Individualität spielt auf dem Genom wie
der Künstler auf einer Orgel. Aus diesem Grund
wird man die Salutogenese im Erbgut nicht entdecken.»
Das Genetische enthalte alle Möglichkeiten
sowohl des gesunden Menschen wie des kranken Menschen. «Wir kennen seit 40 Jahren die
Onkogene, die das Potenzial haben, in uns
Krebsgeschwülste zu bilden. Dazu brauchen
sie aber einen Anlass von aussen, etwa einen
seelischen, traumatischen oder chemischen.»
Neben dem Potenzial zur Tumorbildung trage
jeder Mensch in sich auch Potenziale etwa
für Entzündungen und Ablagerungskrankheiten. «Der Mensch ist potenziell multimorbid –
das übergeordnete, individuelle Instrument aber
ist die Gesundheit.»
Der dreidimensionale Mensch
Das Individuelle sei Bestandteil komplementärmedizinischer Systeme wie der TCM oder
des Ayurveda. Am konsequentesten aufgegriffen habe dies die anthroposophische Medizin
mit ihrem auf Individualität aufbauenden differenzierten Menschenbild.
Salutogenese: Wesensmerkmale gesunder Menschen
Gesunde Menschen besitzen u. a. folgende
gemeinsame Merkmale:
❚ Sie haben eine bessere Wahrnehmung
der Realität – die Fähigkeit, Menschen
und Sachverhalte richtig zu beurteilen.
❚ Sie können sich selbst, andere und die
Natur akzeptieren und haben eine
Abneigung gegen Gekünsteltheit,
Lüge und Eindruckschinden.
❚ Sie sind natürlich, spontan, einfach,
bescheiden.
❚ Sie sind problemorientiert und nicht
ich-orientiert.
❚ Sie können ohne Unbehagen einsam sein,
haben ein Bedürfnis nach Privatheit.
❚ Sie besitzen eine unverbrauchte Wertschätzung und können dem Leben mit
Ehrfurcht, Freude und Staunen begegnen.
❚ Sie wurden von mystischen Erfahrungen
geprägt.
❚ Sie besitzen Gemeinschaftsgefühl,
haben eine demokratische Charakterstruktur und eine starke ethische
Veranlagung.
❚ Ihr Humor ist philosophisch, nicht
feindselig – sie lachen nicht über
verletzende bzw. Überlegenheitswitze.
❚ Sie sind ausnahmslos kreativ.
Nach: A. H. Maslow: Motivation und Persönlichkeit.
Olten. 1997
TRENDBAROMETER
Foto: © Alex Koch, Fotolia.com
Wohlgefühl für Patienten?
«Die Zukunft der modernen Medizin liegt darin,
das Leib-Seele-Geist-Verhältnis – die Dreidimensionalität des Menschen – wiederzuentdecken
und jede dieser Dimensionen so zu beschreiben,
dass es ihren eigenen Gesetzmässigkeiten entspricht», fordert Fintelmann. Denn alle drei erst
würden das Menschsein in seiner Harmonie
bestimmen, sagt der Arzt und weist in diesem
Zusammenhang auf ein wichtiges Wissenschaftsgebiet hin, das Rudolf Steiner aufgeschlossen hatte: das der Chronobiologie.
Gesundheitsmittel:
Rhythmus und Zufriedenheit
«Es gibt nichts, was die Gesundheit mehr fördert als ein rhythmisches Leben, und es gibt
nichts, was die Gesundheit mehr ruiniert als
die Arrhythmien unserer Zeit», sagt Fintelmann
und erwähnt beispielhaft Stundenpläne in Schulen sowie Sommer-/Winterzeit, die nicht auf
die inneren Rhythmen Rücksicht nähmen.
«Neben dem Rhythmus als Gesundheitsmittel
gibt es eines, das nicht in der Apotheke zu bekommen ist, und auch nicht im Reformhaus:
Was mir als Arzt immer mehr auffällt, ist, wie
wenige Menschen noch die Zufriedenheit zur
Schau tragen. Das Wesen des inneren Friedens
fördert die Gesundheit in hohem Masse.»
Der Mensch sei ein Bewegungsmensch. Eines
der wichtigsten Elemente, die Gesundheit zu erhalten oder wieder zu erlangen, sei daher die
körperliche und seelisch-geistige Bewegung:
«Ich nenne dies die ‹Zauberkraft der Bewegung›.
Ganz wichtig beim Bewegungselement ist: Es
muss Freude machen.
Ein weiteres ganz wichtiges Element der Gesundheit ist, dass der Mensch seine Grenzen
kennenlernt.» Alles, was wir heute Allergie nennen würden, seien eigentlich Grenzüberschreitungen. Und wenn man eine Aversion gegen sich
selbst entwickle, könnten Krankheiten wie die
Neurodermitis entstehen. «Der Mensch muss
den Mut haben, in seinen Grenzen zu leben,
aber sie auch auszuloten.»
Eigenverantwortlichkeit wird
die Medizin revolutionieren
Nicht nur weil der ökonomische Druck immer
grösser werde und ein Umdenken fordere, sieht
Fintelmann der Zukunft des Gesundheitswesens
mit Zuversicht entgegen. «Menschen fragen in
der Sprechstunde immer mehr: ‹Sagen Sie, Herr
Doktor, was ist eigentlich mein Anteil für das
Gesundwerden und das Gesundsein? Ich will
nicht nur abhängig sein von Fachleuten, von
Medikamenten, von Apotheken. Ich will entdecken, was ich selber tun kann.› Das wird die
Medizin revolutionieren.»
Gesundheit ist relativ. Man kann von der
Zahnprophylaxe zurückkommen und am
nächsten Morgen mit einer dicken Backe
aufwachen. Man kann als gesund aus
dem Krankenhaus entlassen werden und
in Wahrheit einen versteckten Tumor in
sich tragen. Aber man kann auch an einer konsumierenden Erkrankung leiden
und sich trotzdem gut fühlen. Genau das
haben die Frauen vor, die es mit «Breast
Cancer Wellness» versuchen. Was einem
als Gesunden zynisch anmutet – «Breast
Cancer Wellness Schiffsreisen» oder
«Breast Cancer Wellness Facebook-Gruppen» – ist in Wahrheit nichts anderes als
der Versuch, die eigene Lebensqualität
zu steigern.
In den USA gibt es für dieses Bedürfnis
sogar eine ganze Zeitschrift: «Breast Cancer Wellness Magazine» informiert über
alle Themen, die Frauen mit dieser Krankheit interessieren. Der Medizinsoziologe
Aaron Antonovsky, der den Begriff der
Salutogenese prägte, sprach in diesem
Zusammenhang von einem Kontinuum
von Gesundheit und Krankheit: Jeder
Patient hat auch gesunde Teile in sich,
jeder Gesunde auch kranke. Und genau
aus diesem Grund veränderte Antonovsky den Blickwinkel – weg von der Frage,
wie Krankheiten entstehen (Pathogenese) und hin zu dem Bemühen, gesund
zu bleiben (Salutogenese).
Die Trendforschung belegt, wie aktuell
diese Betrachtungsweise ist: Nie war das
Interesse der Menschen an der Optimierung ihres persönlichen Wohlbefindens
so gross, nie die Bereitschaft zur Vorsorge so ausgeprägt. Die bislang in der
Pharmaforschung geltende Währung der
Lebensqualität wird so zum echten Indikator für das Glück von Patienten.
Herzlich,
Ihre Corinna Mühlhausen
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«Neue Krankheiten –
Stress»
Auszug aus
WISSEN UND WISSENSCHAF T
OTX World Nr. 90
März 2013
Das schwache starke Geschlecht
Foto: Jürg Lendenmann
Männer sind zwar kräftiger als Frauen, dennoch sterben sie früher. Allerdings tragen die Gene
nur wenig zur Übersterblichkeit des starken Geschlechts bei. Viel stärker ins Gewicht fällt das
Festhalten an überlieferten Männerbildern, die der Gesundheit abträglich sind. Nur wenn Mann
sie hinterfragt, kann er sie ändern – wenn die Politik mitzieht.
Jürg Lendenmann
Mann und Frau», erklärt Markus Theunert,
Fachmann für Gleichstellungs- und Männerfragen. «Waren vor der Industriellen Revolution
die Produktions- und die Reproduktionssphäre
am gleichen Ort, arbeitete der Mann fortan ausser Haus. Die Entwicklung der bürgerlichen Familie führte zu einer Trennung von Frauen- und
Männerrollen. Der Unterschied in der Lebenserwartung ist vor allem die Folge des über die
Jahrhunderte gewachsenen Männerbildes, das
sich negativ auf die Gesundheit auswirkt.»
Leistungsbereitschaft als
zentrales Gesundheitsrisiko
Markus Theunert, lic. phil. I, Präsident
der Dachorganisation männer.ch, ist
Gründer der Schweizer Männerzeitung
und Mitglied der Eidgenössischen
Kommission für Frauenfragen.
Männer sterben früher als Frauen. Doch das war
nicht immer so: Noch um 1850 wurden Männer
und Frauen annähernd gleich alt. In den letzten
130 Jahren stieg die Lebenserwartung bei beiden Geschlechtern markant an, stärker jedoch
bei den Frauen. 1991 erreichte die Differenz einen Höhepunkt (7,7 Jahre), seither nimmt sie
ab; 2010 betrug sie noch 4,4 Jahre. Diese «Geschlechterschere» spiegelt in erster Linie den
Einfluss soziokultureller Faktoren.
Klöster und Kibbuzim:
langes Leben für Männer
Biologisch-genetische Faktoren tragen nur
einen kleinen Teil zur Übersterblichkeit der
Männer bei. Dies zeigte die von Marc Luy in
den 1990er-Jahren publizierte Klosterstudie,
die bis heute laufend erweitert wird. Nonnen
und Mönche von bayerischen Klöstern zeigen
kaum einen Unterschied der Lebenserwartung.
Ebenso in israelischen Kibbuzim, wo die Lebensgewohnheiten der beiden Geschlechter annähernd gleich sind. Was ist es, das in unserer
Gesellschaft die Männer früher sterben lässt?
«Die wichtigste Ursache für die Geschlechterschere sind die sich verändernden Rollen von
28
Zu den Prägungen, die ein Mann im Laufe seiner Erziehung in der christlichen Kultur erfahre,
gehöre die Grundspaltung des Menschen in
Körper und Seele. «Dazu kamen im Laufe des
Mittelalters ritterliche Tugenden wie Tapferkeit,
Aufrichtigkeit und Ehre.» All dies habe den
instrumentellen Bezug des Mannes zu seinem
Körper begünstigt. «Männer sagen: ‹Ich habe einen Körper›. Sie fühlen sich gesund, solange sie
nicht krank sind. Im Gegensatz zu Frauen nehmen sie in der Folge auch weniger Dienstleistungen im Gesundheitsbereich in Anspruch»,
sagt der Psychologe und betont: «Die Gesundheitsrisiken ergeben sich aus einem Männerbild,
das von einem ‹richtigen Mann› die Leistung in
jedem Lebensbereich fordert. Wenn die männliche Identität zur Hauptsache auf dem Pfeiler
Leistungsfähigkeit baut, werden Erschöpfungsoder Stresssymptome nicht beachtet. Denn wenn
die Leistungsfähigkeit wegbricht, verliert der
Mann seine Identität.»
Um die Leistungsfähigkeit zu erhalten, würde
zu Krücken gegriffen wie leistungsfördernde
Medikamente, Alkohol, gewisse Drogen oder
unauffälligere Mechanismen wie Arbeitssucht –
mit entsprechenden Folgen: «Charakteristische
Männerkrankheiten sind durch Stress bedingter
Burn-out, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Lungenleiden – sie spiegeln die höhere Raucherquote –, fast alle Süchte ausser Medikamentenund Magersucht. Auch die hohe Suizidrate,
männliche Raserei im Verkehr und die Gewaltbereitschaft sind ein Thema für die Männergesundheit.»
Scheitern als Chance nutzen
Durch Krankheit, Arbeitsplatzverlust, Scheidung, Unfall, einen Wechsel zu Teilzeitarbeit
oder später durch die Pensionierung können
Männer ganz oder teilweise aus dem Erwerbsprozess herausfallen. Dieser meist als Scheitern
empfundene Einschnitt in der Biografie eines
Mannes biete aber auch die Möglichkeit, innezuhalten und sich mit seinem Männerbild auseinandersetzen.
Männer in ihrem Leben möglichst für ihre
Rollenbilder zu sensibilisieren, sei daher sehr
wichtig. Ebenso müsse das in den letzten Jahren
gewachsene Engagement der Väter in Haushalt
und Familie stärker anerkannt werden. Dies
sei eines der Anliegen des Vätertages, der von
www.maenner.ch ins Leben gerufen worden sei.
«Vater zu sein, ist zwar eine individuelle Leistung, aber sie findet unter bestimmten Rahmenbedingungen statt. Diese beeinflussen die Art,
wie Väterlichkeit gelebt werden kann, massiv»,
sagt Theunert und nennt als Beispiel den Vaterschaftsurlaub, der, anders als in umliegenden
Ländern, in der Schweiz Vätern nicht gewährt
werde. Was unverständlich sei, denn wenn man
Eltern werde, habe man keine Zeit mehr, im Job
Vollgas zu geben. Neben einer individuellen Anstrengung der Betroffenen brauche es zwingend
auch eine gesellschaftliche Solidarität. Theunert:
«Es ist darum wichtig, politische Lösungen zu
erarbeiten, die Männern wie Frauen ermöglichen, ihre Rollen flexibel zu leben.»
Literatur
Markus Theunert: Männerpolitik: Was Jungen, Männer und
Väter stark macht. Springer VS Verlag 2012, ISBN 978-3-53118419-7.
Markus Theunert: Co-Feminismus. Wie Männer Gleichstellung
sabotieren – und was Frauen davon haben. Verlag Hans Huber
2013, ISBN: 978-3-456-85280-5.
«Neue Krankheiten –
Stress»
Auszug aus
WISSEN UND WISSENSCHAF T
OTX World Nr. 91
April 2013
Wenn die Balance fehlt
Foto: zVg
Die Work-Life-Balance ist ein wichtiger Bestandteil der Gesundheit und des Wohlbefindens.
Wenn sie in einem Ungleichgewicht steht, kann dies körperliche oder geistige Krankheiten
hervorrufen. Wie man die Work-Life-Balance erreichen kann, darüber sprach OTX World mit
Christian Seeher, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie.
Katharina Schwab
Christian Seeher, Facharzt für Psychiatrie und
Psychotherapie sowie Neurologie und Leitender
Arzt am Zentrum für stressbedingte Erkrankungen
im Sanatorium Kilchberg (ZH).
Work-Life-Balance ist in aller Munde. Im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft SECO
wurde vor fünf Jahren eine Studie der Universität Zürich und der ETH Zürich dazu veröffentlicht, der Titel: «Mangelnde Work-Life-Balance
und Rückenschmerzen. Ausgewählte Ergebnisse
einer grossangelegten Betriebsumfrage». Bereits
der Titel lässt vermuten, dass Work-Life-Balance eine wichtige Grundlage für die Gesundheit ist. Und aus einer aktuelleren Studie (2012)
im Auftrag von Swisscom und 20 Minuten geht
hervor, dass 57 Prozent aller Erwerbstätigen in
der Schweiz auch nach Feierabend und am Wochenende geschäftlich erreichbar sind. Zwölf
Prozent der Befragten haben Mühe, Berufs- und
Privatleben in Balance zu halten. Wenig erstaunen werden diese Resultate Christian Seeher,
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
sowie Neurologie und Leitender Arzt am Zentrum für stressbedingte Erkrankungen im Sanatorium Kilchberg (ZH). «Die permanente Erreichbarkeit durch die neuen Medientechnologien
löst die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit
immer mehr auf», sagt Seeher. Dabei sei eine
bewusste Trennung von Beruf und Privatem
äusserst wichtig, um eine Work-Life-Balance zu
erzielen. Aber was genau ist unter dem Modewort
Work-Life-Balance zu verstehen?
Gefährdete Gesundheit
Die Work-Life-Balance beinhaltet im Namen
bereits die wichtigste Aussage: das ausgewogene
Verhältnis zwischen Arbeit und Privatleben. Ein
Tipp, den Seeher jedem geben würde, ist die bewusste Trennung von Arbeit und Freizeit. Das
heisst: Keine Arbeit mit nach Hause nehmen,
daheim keine geschäftlichen E-Mails checken
oder Anrufe entgegennehmen – kurz, in einen
anderen Modus schalten.
Ein unausgewogenes Verhältnis zwischen Arbeit
und Privatleben führt zu einer Gefährdung der
Gesundheit. Auf der psychischen Seite lauert die
Gefahr eines Burn-outs oder einer Depression.
«Die meisten Menschen, die in ein Burn-out
schlittern, identifizieren sich nur über ihre Arbeit, ihre Aufgaben und ihre Leistung; alles
andere, insbesondere die eigenen Bedürfnisse,
bleiben aussen vor», sagt Seeher. Auch auf die
körperliche Gesundheit kann ein Ungleichgewicht negative Einflüsse ausüben. Stressbedingte
Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck,
Übergewicht, Herzinfarkt können mögliche
Folgen sein. In der eingangs erwähnten Studie
der Universität Zürich und ETH Zürich wird
gar festgehalten: «Eine mangelnde Work-LifeBalance in Form einer erklärtermassen nicht
sehr guten oder sogar überhaupt nicht guten Ver-
einbarkeit der eigenen Arbeitszeiten mit den
privaten Verpflichtungen ist ein bedeutender
Stressor und damit Risikofaktor für muskuloskelettale Rückenbeschwerden.»
Eine andere Art, wie sich eine fehlende WorkLife-Balance auswirken kann, ist laut Seeher die
«maximale Unzufriedenheit». Es sei ein Symptom der heutigen Zeit, dass die Menschen immer unzufriedener würden. «Wenn das Leben
nur noch aus Arbeit besteht, kommt beim
Mensch irgendwann die Sinnfrage», sagt der
Psychiater. In der Burn-out-Therapie am Sanatorium Kilchberg wird unter anderem mit dem
Prinzip der Achtsamkeit gearbeitet.
Zugang zu eigenen Bedürfnissen
Dieses Prinzip der Achtsamkeit stammt ursprünglich aus dem Buddhismus. In den Bereichen Medizin, Psychologie und Pädagogik gewinnt diese Praxis immer mehr an Bedeutung.
Wer sich um Achtsamkeit sich selber gegenüber bemüht, ist ganz gegenwärtig, spürt sich
selber, entspannt und konzentriert sich auf
sich. «Die Achtsamkeit schafft einen Zugang zu
den eigenen Bedürfnissen», sagt Seeher. Wenn
die Bedürfnisse erkannt seien und entsprechend gehandelt werde, sei schon vieles für
die Work-Life-Balance getan. Denn wer sein
Leben global hinterfrage, was er vom Leben
erwarte und wohin er möchte, dem käme in
den wenigsten Fällen höhere Statussymbole in
den Sinn. «Vielmehr wollen die Menschen mit
sich zufrieden sein und ein funktionierendes
soziales Umfeld haben.»
Sport, Erholung, soziale Kontakte pflegen, kulturelle Aktivitäten – die Möglichkeiten, wie man
ein ausgewogenes Verhältnis von Arbeit und
Freizeit erreicht, sind zahlreich. Wichtig sei, dass
die Person vom Ausgleich profitieren könne
und dass sie ihr Leistungsdenken nicht in die
Freizeit mitnähmen. Denn: «Interessen haben
meist nichts mit Leistung zu tun», so Seeher.
Eine Checkliste zu machen, was alles gemacht
werden sollte, sei wenig hilfreich. Vielmehr nütze
es, sich zu fragen, was einem gut tut.
29
«Wissenschaft
und Forschung»
WISSEN UND WISSENSCHAF T / DAS GESUNDHEITSWESEN IN ZUKUNF T
Auszug aus
OTX World Nr. 100
Januar 2014
Ein Versuch, in die Zukunft zu schauen
Wie wird sich das Gesundheitswesen von morgen entwickeln? Mit dem eigentlich unmöglichen
Versuch, einen Blick in die Zukunft zu werfen, startete OTX World vor fünf Jahren eine Serie, die
in sehr viele und sehr unterschiedliche Bereiche der Medizin und Pharmakologie, aber auch der
Politik und Gesellschaft reichte.
Klaus Duffner
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2012
September
| Nr. 84 |
«Die 100. Ausgabe – wow, da kann ich nur gratulieren! Wie beim Wein: je älter desto besser;
das haben sicher viele OTX World Leserinnen
und Leser auch schon festgestellt. Das Team
von OTX World leistet immer den vollen Einsatz
und wir ... geniessen das Lesevergnügen! Herzlichen Glückwunsch und weiter so!»
Olga Küng, Product Manager Online
Sanatrend AG
44
30
OTX World | Nr. 100 | Januar 2014
41
Mit Nanoteilchen
Wird man Taube zum Hören bringen, Blinde
zum Sehen, können durch die stammzellenbasierte Zucht von Körpergewebe in Zukunft
ganze Organe ersetzt werden? Apropos Zucht:
Wird es gelingen, die zunehmende Unfruchtbarkeit junger Paare in den Griff zu bekommen? Welche Medikamente und welche medizinischen Apparate (z. B. Mikroendoskope)
werden zur Verfügung stehen, um im Körper
noch punktgenauer zu agieren? Wird sich das
Verhältnis von Arzt, Apotheker und Patient
(«Kunde») verändern? Wie werden die Spitäler, Arztpraxen und Apotheken der Zukunft
aussehen? Was werden wir essen, wie werden
wir sprechen? Werden Seuchen drohen? Wer
versucht, auf solche und viele andere Fragen
Antworten zu geben bewegt sich auf dünnem,
oftmals spekulativem Untergrund. Trotzdem
wagten wir einen Ausblick und viele Fachleute
unterstützten uns dabei. Beispielsweise warnte
Prof. Dr. Kathrin Mühlemann von der Universität Bern davor, dass es in Zukunft noch
mehr Antibiotikaresistenzen und speziell Multiresistenzen geben werde. Die aktuellen Zahlen aus den USA mit geschätzt jährlich 23 000
Todesfällen bestätigen ihre Prognose. Auch
Dr. Peter Brauchli, von der Schweizerischen
Arbeitsgemeinschaft für Klinische Krebsforschung erörterte mit uns zukunftsträchtige
Strategien in der Krebsbekämpfung. Darunter
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waren radioaktiv beladene «Mikrosphären»,
mit denen man gezielt den Tumor angehen
wolle. Heute werden in hoffnungsvollen Versuchen dazu sogar Bakterien eingesetzt, die als
radioaktiv markierte «trojanische Pferde» direkt in die Metastasen eindringen. In vielen
medizinischen Bereichen wird gegenwärtig
versucht, die Behandlungen immer spezieller
auf die Patienten zuzuschneiden. Dabei werden genetische Profile immer wichtiger. Nach
gut 40 Beiträgen zur Zukunft des Gesundheitswesens wollten wir uns wieder auf aktuelle
wissenschaftliche Projekte in der Schweiz konzentrieren. Denn sie sind die Basis für den weiteren Fortschritt.
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immer noch aufgeregt bei jeder neuen PrintErscheinung, als wäre es die Allererste. Da wird
sich auch bei den nächsten 100 Ausgaben nichts
daran ändern. Es macht Spass, dieses Magazin
zu gestalten.»
Manfred Walker, Desktop Publisher
Sanatrend AG
OTX World | Nr. 100 | Januar 2014
45
31
Kann man dem Zufall eine Chance geben?
Vom Glück, das kommt und geht
Vertreter aus ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen – Philosophie, Theologie,
Physik, Psychologie und Psychiatrie – legten ihre Sichtweisen zu einen Thema dar, über das sich die
Menschheit schon seit Jahrtausenden den Kopf zerbricht: Was bedeutet Glück und wie findet es mich?
Lässt sich Glück überhaupt mit Worten beschreiben? Das «Wohlfühlglück» ist ein subjektives Gefühl, das für jeden Menschen etwas
anderes ist. Während zum Erreichen des
Wohlfühlglücks viele – oft auch undurchschaubare Wege – führen, ist das Zufallsglück
ein ganz und gar zufälliges Geschick. Nicht
umsonst hat das Wort Glück in der deutschen
Sprache seinen Ursprung im Begriff «Gelücke»,
was nichts anderes als Zufall bedeutet. Und da
der Zufall auch sein böses Spiel treiben kann,
war mit dem Begriff Glück ursprünglich nicht
unbedingt nur ein positiver Zustand gemeint.
Heute werden indes nur die guten Dinge als
Glück empfunden.
Alles Zufall?
Äussere Bedingungen, die in ihrer Komplexität und in ihrem Zusammenspiel niemals
ganz durchschaut werden können, beeinflussen nicht nur die grossen Katastrophen eines
jeden Lebens, «sondern schlichtweg alles», erklärte Dr. Jean Pierre Eckmann den anwesenden Psychologen und Psychiatern, von denen
über 500 zu einem Symposium nach Zürich
gekommen waren. Die kleinste Unsicherheit,
so der Genfer Physiker und Chaostheoretiker,
der sich beruflich viel mit zufälligen oder
scheinbar zufälligen Dingen beschäftigt, verunmögliche auch in streng kausalen Systemen
jede Voraussage auf längere Zeit. Daher brau-
32
chen auch exakte Naturwissenschafter für die
Beschreibung der Natur die Wahrscheinlichkeitstheorie, denn sie versucht, den Zufall zu
beschreiben. Viele Dinge bleiben jedoch für
immer undurchschaubar: «Wir wissen, dass ein
Schmetterling durch seinen Flügelschlag einen
Hurrikan auslösen kann, aber wir werden das
niemals vorhersagen können», so Eckmann.
Folglich drängt sich die Frage auf: Lässt die
Natur dem Individuum überhaupt noch den
freien Willen? «Nein», sagt der Philosoph und
Psychologe Prof. Dr. Wilhelm Schmid aus
Berlin. «Wenn alle uns umgebenden Bedingungen zusammengenommen würden – die
Ökologie des Planeten, die Meteorologie, der
gesellschaftliche Einfluss, die familiäre und
die biografische Situation und anderes –
kommen wir locker auf 95 % unseres Lebens,
die nicht unserem freien Willen unterliegen.»
Über Zufallsglück könne man nicht verfügen;
allerdings habe man eine gewisse Einflussnahme, indem man «Tür und Tor» entweder
für Zufälle öffne oder verschliesse. «Wer seine
Wohnung nicht verlässt und nicht auf die
Strasse geht, kann auch nicht zufällig vom
Auto überfahren werden, demjenigen kann
aber auch nichts Gutes widerfahren», so
Schmid. Seiner Wahrnehmung nach lohnt es
sich durchaus, dem Zufall eine Chance zu geben, was zu einer bemerkenswerten Konsequenz führt: «Es gibt zwar keine gesicherten
Untersuchungen, aber es scheint so zu sein,
dass demjenigen, der sich für Zufälle offen hält,
eher das positive Zufallsglück ins Haus regnet,
während Menschen, die sich völlig verschliessen, gerne der negative Zufall ereilt.»
Melancholie als Chance
Wenn so viel im Leben von äusseren Einflüssen und Zufällen bestimmt wird und nur ein
kleiner Teil dem eigenen Willen unterliegt;
Was machen wir dann aus diesem Stückchen
Freiheit? Kann man das «Wohlfühlglück» beeinflussen? Das scheint nicht richtig zu funktionieren. «Wer versucht, sein Wohlfühlglück
auf Dauerbetrieb zu stellen, macht sich unglücklich», so die Antwort Schmids. Die gesamte moderne Welt sei allerdings genau darauf eingestellt. Interessanterweise fühle man
das Leben auf der negativen Seite am intensivsten. Vor allem Menschen, die auf der Sonnenseite des Lebens stünden, kämen Hilfe
suchend zu ihm und sagten: «Ich spüre das Leben nicht mehr.» Seine Konsequenz: Auch
Trauer und Melancholie (nicht aber Depression) bereichern das Leben und führen zu tieferen Dimensionen des Denkens, deshalb sein
Fazit: «Geniessen Sie das, kosten Sie es aus.»
Erst im Kontrast zum Unglück entwickelt sich
die Erfahrung des Glücks, des Vollkommenen
und des Leidlosen.
«Wissenschaft und
Forschung»
Auszug aus
PSYCHOLOGIE
MENSCHEN
Fotos: Datenbank Sanacom
OTX World Nr. 19
April 2006
«Mir scheint es, dass demjenigen, der
sich für Zufälle offen hält, eher das positive Zufallsglück ins Haus regnet, während
Menschen, die sich völlig verschliessen,
gerne der negative Zufall ereilt.»
Prof. Dr. Wilhelm Schmid, Berlin
Konträr zu dem Weltbild des Zufalls steht der
Glaube an die Notwendigkeit des Schicksals
oder der Vorherbestimmung Gottes, ein Spannungsfeld, das Dr. Eugen Drewermann aufzulösen suchte. Für den Paderborner Theologen
macht das zufällige Glück wie z. B. im Lotto zu
gewinnen, im Beruf einen unerwarteten Erfolg zu feiern oder auch an die richtige Frau zu
geraten aus dem Leben ein Lotteriespiel. Dies
als das eigentliche Glück zu bezeichnen sei ein
Unglück, bemerkte Drewermann vor einiger
Zeit in einem Interview. Denn in einer wesentlichen Bestimmung des Glücks gehe es
nicht darum, Glück zu haben, sondern glücklich zu sein.
man sich nicht unbedingt in einen Menschen,
der besonders schön oder intelligent ist – häufig ist das Gegenteil der Fall: Gerade die Unvollkommenheit, die zu grosse Nase, die abstehenden Ohren oder auch charakterliche
Unzulänglichkeiten ziehen an. Aber auch dieses Hochgefühl lässt nach, nicht nur aus Enttäuschung, sondern schlicht aus Erschöpfung.
Der physiologische Stress verlangt nach Alltag. Trotzdem ist diese Verliebtheitsphase eine
wichtige Basis für das spätere gemeinsame Leben, wie eine Studie mit 600 Personen ergab:
«Wenn das Verliebtsein nicht stattgefunden
hat, sehen wir später sehr häufig Aussenbeziehungen und Scheidungen», erklärte Willi.
Verliebtsein als höchstes Glück
Kann man das Glück erhalten?
Tatsächlich ist zumeist der reine Zufall für das
Finden des richtigen Partners verantwortlich.
Dabei sind Glück und Liebe eng miteinander
verbunden, denn letztlich bringt auch der finanzielle oder berufliche Erfolg wenig, wenn
man nicht das Glück in der Liebe erleben
kann. Für Prof. Dr. med. Jürg Willi, Paartherapeut aus Zürich, ist es nicht selbstverständlich,
den richtigen Partner zum Glücklichsein zu
finden – viele Menschen leben aus vielerlei
Gründen nicht mit ihrem Wunschpartner zusammen. Das Glück, das mit am intensivsten
erlebt wird, ist das Verliebtsein – ein Rauschzustand, der die ganze Physiologie des Menschen mit einbezieht. Zwar können Faktoren
wie ähnliche Interessen, die gleiche Kultur
oder Sprache der Partner nützlich sein, aber
«deshalb springt noch lange kein Funke über»,
so Willi. Wichtig sei das Gefühl: Das ist die
Person, auf die ich immer gewartet habe, und –
Dieser Mensch braucht mich. Dabei verliebt
Auch in der Liebe stellt sich irgendwann die
Frage: Wie lässt sich das Glück halten? Ganz
zentral für ein «dauerhaftes Glück» ist der Dialog zwischen den Partnern. Wer bereit ist, auf
den anderen einzugehen und zuzuhören, demonstriert sein Interesse an der anderen Person. Trotzdem wird die Verständigung immer
begrenzt bleiben, was paradoxerweise ein wichtiger Bestandteil des glücklichen Zusammenlebens ist. Denn erst durch ein gewisses Unverständnis bleibt die Beziehung spannungsgeladen: «Der andere wird damit gezwungen,
seine Optik zu erweitern, um neue Botschaften aufzunehmen», so die Beobachtung von
Willi. Das Glück in der Liebe ergebe sich eher
als Nebenaspekt eines längeren ko-evolutiven
Prozesses. Wer versucht, durch unbedingte
Harmonie und Streitvermeidung das Glück
zu halten, wird scheitern. «Das ist die sicherste
Methode, um eine Beziehung zu zerstören.»
Durch zu viel Gleichklang werde eine Part-
nerschaft langweilig und flau. Unerwarteterweise ist gerade das viel beschworene Harmoniestreben häufig destruktiv und Anlass, einen
Paartherapeuten aufzusuchen. Davon kann
auch der Psychotherapeut Dr. Hans Martin
Zöllner aus Zürich ein Lied singen. Nicht die
Suche nach Glückseligkeit und die Erfüllung
utopischer Ziele sei die Aufgabe einer Therapie, sondern eher eine Hilfe und ein Begleiten
im Leiden.
Fazit
Was bleibt? Das Glück kann als flüchtiger Zustand kommen und gehen wie es will, es kann
einen unvermittelt umfassen und herumschaukeln, ohne dass es zu greifen oder gar zu halten
wäre. Vielleicht sollte man sich jedoch weniger
den Kopf über das Wesen des Glücks zerbrechen und eher auf den römischen Philosophen
Seneca hören: «Glücklich ist derjenige, der es
nicht nötig hat, darüber nachzudenken.»
I
Dr. Klaus Duffner
Quelle
Der Mensch auf der Suche nach Glück und die Bedeutung der
Psychotherapie. Zürich, 8. Dezember 2005, Sponsor: Pfizer.
33
«Wissenschaft und
Forschung»
Auszug aus
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OTX World Nr. 49
Juni/Juli 2009
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Klaus Duffner
4. Die Ausbreitung von H1N1 kommt im Sommer zum Stillstand. Ähnlich der Spanischen
Grippe könnte der Erreger dann im folgenden
Winter – deutlich aggressiver – erneut auftauchen und viele Todesfälle verursachen.
5. Das schlimmste Szenario: Es kommt zu einer
Verbindung zwischen dem Schweinegrippeerreger und dem Vogelgrippe-Virus H5N1.
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von H1N1 mit der extremen Aggressivität
von H5N1 gepaart.
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In den Jahren nach Ende des zweiten Weltkrieges wurden Infektionskrankheiten im Vergleich zu anderen Erkrankungen als relativ
unbedeutend angesehen. Ursache für diese Unbekümmertheit war die weltweite Einführung
der ersten wirkungsvollen Antibiotika, die Entwicklung von effektiven Impfstoffen gegen
bakterielle und virale Infektionen sowie allgemein verbesserte Hygieneverhältnisse in den
industrialisierten Ländern. Obwohl es sowohl
1957 als auch 1968 zu Grippe-Pandemien mit
zusammen 1,5 Millionen Todesopfern kam,
setzte erst mit dem unerwarteten Auftreten von
AIDS Anfang der 1980er-Jahre und der Rinderseuche BSE ab Mitte der 1980er-Jahre eine
echte Bewusstseinsänderung ein. Allerdings
waren im Jahr 2003 beim Ausbruch von SARS
(Schweres Akutes Respiratorisches Syndrom)
die davon betroffenen Länder in Asien immer
noch mehrheitlich unvorbereitet. Dem aggressiven Lungenvirus fielen damals über 900 Menschen zum Opfer.
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Bei der kürzlich in Mexiko ausgebrochenen
«Schweinegrippe» scheinen die Behörden der
Industrie- und Schwellenländer deutlich besser
vorbereitet zu sein. In einigen Ländern stehen
34
permanent grosse Vorräte der Anti-Virus-Medikamente Tamiflu und Relenza zur Verfügung.
Obwohl Ansteckungen mit der neuen Virus-Variante in der überwiegenden Mehrheit der Fälle
relativ harmlos verlaufen, geben Epidemiologen noch keine Entwarnung. Denn auch der
verheerenden Spanischen Grippe war im Frühling 1918 ein kleines Aufflackern vorausgegangen. Im Herbst und Winter 1918/19 brach dann
die Pandemie aus, der 30 bis 50 Millionen Menschen in allen Kontinenten zum Opfer fielen.
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Das damalige Virus vom Subtyp A/H1N1 ist ein
enger Verwandter des derzeit grassierenden, jedoch weit weniger aggressiven Schweinegrippeerregers. Seuchenexperten entwerfen für solche Influenza-Pandemien fünf Szenarien:
1. Das Virus schwächt sich ab und entwickelt
sich zu einem ganz normalen Grippeerreger.
Die Sterblichkeit bleibt gering.
2. Das Virus ist doch gefährlicher und verbreitet sich relativ schnell. Es kommt zu einer
Pandemie mit vielen Toten.
3. Das Virus verschwindet und überdauert in
seinem Wirt, dem Schwein. Von dort könnte
es irgendwann als mutierte und aggressivere
Variante wieder hervorbrechen.
Vor allem vor einer solchen «Supervirus»-Variante warnen Epidemiologen. Tatsächlich scheinen Schweine eine besondere Fähigkeit zu besitzen, verschiedene Viren auszubrüten. Denn
in den Schleimhäuten der Allesfresser fühlen
sich sowohl Schweinegrippe- als auch Vogelgrippe- und Menschengrippe-Viren wohl. Auch
die aktuelle mexikanische Variante enthält
RNA-Stränge von Schwein, Mensch und Vogel,
die man früher nur getrennt aus Nordamerika,
Europa und Asien kannte. Der erste Seuchenherd des jetzigen Schweinegrippevirus wird übrigens in einem kleinen Dorf nahe der mexikanischen Stadt Perote vermutet. Dort traten
Wochen oder sogar Monate vor den ersten offiziellen Meldungen bei mindestens 500 Einwohnern infektiöse Atemwegserkrankung auf.
In Perote steht übrigens eine gigantische Schweinezuchtanlage, in der jährlich über 500 000
Schweine gezüchtet und gemästet werden. Obwohl in den Schweinen selbst das Virus bislang
noch nicht nachgewiesen wurde, liegt es auf der
Hand, dass die Entwicklung der neuen Variante
hier ihren Ursprung genommen haben könnte.
Auf die Proteste der Anwohner von Perote reagierten die Verantwortlichen mit der Bemerkung, man habe «mit dem neuen Virus nicht
das Mindeste zu tun».
Experten vermuten, dass auch in Zukunft solche industriellen Intensiv-Tierhaltungen die
Motoren neuer Grippe-Pandemien sein könnten. Werden Schweine oder andere Tiere in
grosser Zahl und hoher Dichte gehalten, bietet
das ideale Voraussetzungen für die Evolution
neuer Viren.
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«Wissenschaft und
Forschung»
Auszug aus
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OTX World Nr. 46
März 2009
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Klaus Duffner
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bewegungsfähig sein. Obwohl letztlich eine
einzige Samenzelle ausreicht, um eine Eizelle
zu befruchten, braucht es zu einer natürlichen
Zeugung Millionen der mikroskopisch kleinen
Bewegungswunder. Je weniger gesunde Samenzellen jedoch vorhanden sind, desto geringer ist
die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Befruchtung. Dass die Hoden überhaupt keine
Spermien produzieren (z. B. bei Mumps oder
Hodenhochstand in der Kindheit), ist eher selten. Durch eine Unterbrechung der Samenleiter
oder Muskelstörungen kann es jedoch sein, dass
das Ejakulat keine Spermien enthält. Vergrösserte Venen im Hodensack, Geschlechtskrankheiten wie Gonorrhö oder Chlamydieninfektionen können ebenfalls die Quantität und
Qualität des Samens beeinträchtigen. Auch beim
Mann reduzieren Alkoholkonsum, Rauchen,
Stress oder einige Medikamente die Fruchtbarkeit. Schliesslich können auch Gendefekte dazu
führen, das keine oder zu wenige bewegliche
Spermien ihr Ziel erreichen.
Im Vergleich zu vielen anderen Säugetieren ist
der Mensch von vornherein nicht sonderlich
fruchtbar. Wenn eine Frau ihren Fertilitätsgipfel mit etwa 25 Jahren erreicht hat, liegt die
Wahrscheinlichkeit, in ihrem Menstruationszyklus schwanger zu werden, bei 33%; anderen
Quellen zufolge ist dieser Wert sogar noch geringer. Mit 35 Jahren ist eine Frau nur noch
halb so fruchtbar, wie mit 25 Jahren, mit 40
sinkt die Wahrscheinlichkeit für eine Schwangerschaft auf weniger als 5%, bei 44-Jährigen
sogar auf unter 1% pro Monat. Einer der Gründe
sind chromosomale Fehlverteilungen (z. B. Aneuploidien), die im Alter häufiger werden. Von
einer Aneuploidie spricht man, wenn einzelne
Chromosomen fehlen oder überzählig sind. Bekanntes Beispiel für Letzteres ist die Trisomie 21
(Down Syndrom). Das Fehlen ganzer Chromosomen ist dagegen meist letal. Bei etwa der
Hälfte der Spontanaborte im ersten Schwangerschaftsdrittel sind zellgenetische Veränderungen nachzuweisen. Das gehäufte Auftreten
solcher Anormalitäten bei Frauen über 35
werden einerseits mit den weniger leistungsfähigen Reparaturmechanismen und andererseits mit Fehlverteilungen während der weiblichen Meiose erklärt.
36
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Neben der natürlichen altersbedingten Abnahme der Fruchtbarkeit können eine Vielzahl
anderer Faktoren für eine reduzierte Fertilität
verantwortlich sein. Dazu gehören u. a. Follikelreifungsstörungen, blockierte bzw. verklebte
Eileiter (zumeist als Folge von Chlamydieninfektionen oder Gonorrhö/Tripper), hormonelle
Störungen, Wucherungen der Gebärmutterschleimhaut, Schwierigkeiten für die befruchteten Eizelle, sich in der Gebärmutter einzunisten
oder Vitamin-B12-Mangel. Auch starkes Rauchen,
Stress, Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie
Über- und Untergewicht reduzieren die weibliche Fertilität. So verringert bereits mässiges
Übergewicht (BMI 25–30) die Erfolgsaussichten von Sterilitätstherapien.
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Auch bei Männern nimmt die Fertilität aufgrund verminderter Spermienqualität (z. B. geringere Beweglichkeit) mit dem Alter ab. Nach
den Richtlinien der WHO müssen in einem
Milliliter gesunder Spermaprobe mindestens
20 Millionen Spermien enthalten sein. Etwa
die Hälfte davon muss normal entwickelt und
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In den vergangen Jahren häuften sich die Meldungen über eine Zunahme männlicher Unfruchtbarkeit. Obwohl in einer australischen
Studie solche Tendenzen für die vergangenen 20
Jahre nicht festgestellt werden konnten, zeigen
andere, dass es sehr wohl zu (negativen) Veränderungen kommt. Sowohl in einer amerikanischen Metaanalyse, die Studien zwischen 1934
und 1996 zur Spermatozoenkonzentration europäischer und amerikanischer Männer analysierte, als auch in einer retrospektiven Untersuchung aus Lausanne wurde eine Abnahme
der Spermienkonzentration im Laufe der Jahre
festgestellt.
Fortpflanzungsmediziner vom Universitätsspital Lausanne wollten es nun genau wissen. Sie
sind seit 2005 in einer prospektiven Studie mit
3000 Schweizer Rekruten der (Un-)Fruchtbarkeit von Männern auf der Spur. Dabei soll nicht
nur ein Bild über die geografische Verteilung der
Spermienqualität in der Schweiz angefertigt,
sondern auch Umwelteinflüssen auf die Spur
gekommen werden. Erste Zwischenergebnisse
zeigen, dass sich die getesteten Schweizer mit 47
Millionen Samenzellen pro Milliliter Sperma
eher am unteren Ende der Nationenrangliste befinden. Und: Etwa die Hälfte der Proben entsprachen in mindestens einem Wert (z. B. Beweglichkeit) nicht der WHO-Normen. Auch
regionale Unterschiede konnten bereits festgestellt werden; die Männer aus dem Schweizer
Jura haben tendenziell die meisten (54 Mio./ml),
die aus Zürich, dem Wallis und Thurgau die
wenigsten Spermien (36 Mio./ml). Etwa ein
Viertel aller Untersuchten blieb ganz unterhalb
der WHO-Grenze. Die Gründe hierfür sind
bislang unbekannt.
)PSNPOBLUJWF6NXFMUHJGUF Was sind die Ursachen für den Rückgang der
männlichen Fruchtbarkeit? Diskutiert werden
zum Beispiel zu viel Sauna, zu heisse Bäder
oder unheilvolle Velosättel – alles nicht so recht
überzeugend. Rätselhaft sind vor allem völlig infertile Männer mit scheinbar normalen Spermiogrammen. In den vergangenen Jahren stehen häufiger Umweltgifte im Verdacht, die Fertilität herabzusetzen. Alligatoren, die in Florida
in verschmutzten Gewässern leben, besitzen laut
einer amerikanischen Untersuchung abnorme
Ovarien bzw. verkleinerte Penisse und veränderte Hoden. Man muss jedoch nicht so weit
schauen: Auch im Thunersee wurden bei 35%
der Felchen Veränderungen der Gonaden festgestellt, ohne dass dafür bislang eine Ursache
gefunden werden konnte. In der Diskussion
stehen hormonaktive Stoffe, die bereits in geringsten Konzentrationen wirksam sein können.
Solche «Pseudohormone» – das können Weichmacher, Lacke oder auch Insektizide sein – werden auch bei Männern für den Rückgang von
fertilen Spermien verantwortlich gemacht.
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Der Hauptgrund für den unerfüllten Kinderwunsch bleibt jedoch die Verschiebung des Kinderwunsches in die vierte Lebensdekade der
Frau und die damit verbundene deutliche Reduktion der weiblichen Fruchtbarkeit. Die mo-
derne Medizin hilft: Mit einer hormonellen
Stimulation (z. B. mit Clomifen, Follikelstimulierendes Hormon (FSH) oder Humanes Menopausengonadotropin) können die Eierstöcke zur
Eireifung angeregt werden. Für viele Paare kann
jedoch erst eine künstliche Befruchtung helfen,
den Kinderwunsch noch zu erfüllen. Bei einer
In-vitro-Fertilisation (IVF) wird die Eizelle
ausserhalb des Körpers befruchtet und der Embryo anschliessend in die Gebärmutter verpflanzt. Dabei kann mit der Polkörperdiagnostik, die chromosomale Störungen vor der Implantation detektiert, die «Baby-take-homeRate» erhöht werden. Die Erfolgsrate der IVF
liegt in der Schweiz um 20% pro Zyklus. Auch
Männern wird geholfen. Mit der ICSI-Methode
kann sogar bei schweren Störungen der männlichen Fertilität eigener Nachwuchs erzeugt
werden. Während bei der IVF rund 100 000
Spermien zur Eizelle gegeben werden, wird bei
der ICSI nur eine einzige gesunde Samenzelle
benötig. Sie wird direkt in das Ei injiziert. In
der Schweiz sind bereits über die Hälfte der
ärztlich assistierten Fortpflanzungstherapien
ICSI-Therapien.
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Im Jahr 2006 wurden in der Schweiz 73 371
Kinder geboren, der Anteil der Lebendgeburten
aus der Fortpflanzungsmedizin betrug 1,9%
(1415 Babys). Heute führt etwa jede fünfte IVFSchwangerschaft zu Zwillingen, eine von Hundert sogar zu Drillingen. Das bedeutet: Wenn
in Zukunft immer mehr In-vitro-Fertilisationen
durchgeführt werden – und damit ist wegen der
zunehmenden Fruchtbarkeitsprobleme zu rechnen – werden in Zukunft auch mehr Zwillinge
oder Drillinge geboren. Zwar können z. B. amerikanische Spitäler hohe IVF-Erfolgsraten vorweisen, der Grund dafür ist jedoch, dass fünf,
sechs, sieben oder gar acht befruchtete Eizellen
transferiert werden. Manchmal mit Erfolg, wie
jüngst die Geburt von Achtlingen in Kalifornien
gezeigt hat. Mehrlinge sind jedoch aus verschie-
denen Gründen ein hohes Risiko für die werdende Mutter und die Kinder. In der Schweiz
werden daher höchstens drei Eizellen übertragen, in manchen Staaten wie in Schweden sogar
noch weniger.
Der männliche Teil einer Zeugung könnte sich
in Zukunft auch in eine andere Richtung verändern. Wissenschaftlern aus Göttingen ist es
gelungen, embryonale Stammzellen aus Mäusen in Spermien zu verwandeln und damit Eizellen erfolgreich zu befruchten. Die auf diesem
Weg geborenen Tiere waren jedoch entweder
kleiner oder grösser als natürlich gezeugte
Mäuse. Das Ziel dieser Forschungen soll es sein,
mehr Erkenntnisse zum Verständnis der Unfruchtbarkeit bei Männern zu gewinnen. Wenn
eines Tages jedoch die Werkzeuge für eine solche
Umprogrammierung auch beim Menschen vorliegen, ist eine Anwendung nicht ausgeschlossen. Männliche Samenzellen wären dann, genau
wie die herkömmliche Zeugung, überflüssig.
Dänische Wissenschafter warnten unlängst in
der Fachzeitschrift British Medical Journal, dass
sich mit dem zunehmenden Einsatz der künstlichen Befruchtung vor allem die genetischen
Schäden, die für die Unfruchtbarkeit verantwortlich sind, weiterverbreiten könnten. Paradoxerweise könne sich die Zahl der Paare mit
Fertilitätsproblemen durch IVF in Zukunft
deutlich erhöhen. Man solle daher genauer untersuchen, ob Chemikalien in der Umwelt oder
Veränderungen im Lebensstil und Krankheiten
für den Rückgang der Fruchtbarkeit verantwortlich sind.
Aber trotz solcher Kritik an der modernen
Reproduktionsmedizin sollte nicht vergessen
werden: Für viele Paare wird erst durch sie ein
Lebenstraum erfüllt.
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«Wissenschaft und
Forschung»
Auszug aus
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OTX World Nr. 51
September 2009
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Klaus Duffner
fluss von HIV breitet sich gegenwärtig in Afrika
zudem ein als XDR («extensive drug resistant»)
bezeichneter Tuberkulose-Erreger aus, der sich
dem Zugriff moderner Medikamente fast vollständig entzieht und somit nur noch bei 12 bis
60 Prozent der Infizierten heilbar ist. Im Jahr
2006 erkrankten an ihm schätzungsweise 40 000
Menschen.
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Auch bei harmlosen Erkältungen werden immer noch zu schnell und zu unspezifisch Antibiotika verschrieben –
einer der Gründe für die weltweite Zunahme von Antibiotikaresistenzen.
Im Dezember 2008 klagte das brasilianische
Topmodel Mariana Bridi da Costa über heftige
Beschwerden. Nachdem die Ärzte zunächst Nierensteine vermutet hatten, diagnostizierten sie
einige Tage später eine bakterielle Harnwegsinfektion. Wie immer in solchen Fällen wurde mit
Antibiotika behandelt – allerdings erfolglos. In
kurzer Zeit vermehrten sich die Keime und vergifteten rasch den ganzen Körper der jungen
Frau. Um ihr Leben zu retten, wurden Füsse und
Hände amputiert – alles umsonst. Die erst
20-Jährige starb am 24. Januar. Ursache war eine
Infektion mit einem gegen Antibiotika multiresistenten Stamm des Bakteriums Pseudomonas
aeruginosa.
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Sehr unterschiedlichen Schätzungen zufolge gehen alleine in Europa 10 000 bis 50 000 Todesfälle pro Jahr auf das Konto resistenter Keime.
In der Schweiz, die in Europa eine noch vergleichsweise gute Resistenzsituation aufweist,
werden jährlich bei etwa 1000 Patienten schwere
Infektionen mit antibiotikaresistenten Bakterien
festgestellt. Davon sterben laut BAG mindestens
38
80. Die Bakterien haben in den vergangenen
Jahrzehnten in vielfältiger Weise Strategien gegen Antibiotika entwickelt. Beispielsweise indem winzige Eintrittspforten in der Zellwand,
die Porine, dicht gemacht werden. Oder indem
Antibiotika, die ins Zellinnere vorgedrungen
sind, mit speziellen Pumpen wieder nach aussen
befördert werden. Oder indem spezielle Bakterienenzyme dafür sorgen, dass wichtige Bausteine der Antibiotika gespalten und dadurch
wirkungslos werden. Die Bilanz von Prof. Kathrin Mühlemann (siehe Interview) von der Universität Bern ist daher ernüchternd: «Wir kennen praktisch keinen Keim mehr, der nicht mit
einem Resistenzproblem assoziiert ist.»
Dabei werden Infektionen mit dem Methicillinresistenten Staphylococcus aureus (MRSA) als
besondere Gefahr für die Zukunft gesehen. Im
Jahr 2005 wurden in neun ausgewählten amerikanischen Regionen knapp 9000 Fälle invasiver
MRSA-Infektionen gemeldet, die in rund 1600
Fällen tödlich endeten. Hochgerechnet auf die
amerikanische Gesamtbevölkerung sind das
jährlich 18 650 tödliche Infektionen, die alleine
auf MRSA zurückzuführen sind. Unter dem Ein-
Besonders in den Spitälern sind Krankheitserreger wie S. aureus oder P. aeruginosa gegen
weitverbreitete Antibiotika wie Penizilline oder
Cefalosporine resistent. Der grössere Teil der Resistenzen wird jedoch zu Hause «gezüchtet».
Denn schon bei banalen Infekten, zum Beispiel
bei einer Bronchitis, verordnen Hausärzte häufig Antibiotika. Zudem nehmen viele Patienten
Antibiotika nur so lange ein, bis sie sich besser
fühlen. Die geschwächten Erreger erholen sich
wieder und verbessern dann ihre Resistenz.
Auch die von Grundversorgern gerne eingesetzten unspezifischen Breitbandantibiotika können
zu einem Anstieg der Resistenzen führen. Folglich werden etwa drei Viertel bis vier Fünftel aller Antibiotika in Privathaushalten verbraucht,
sagt Prof. Klaus Kümmerer vom Institut für
Umweltmedizin und Krankenhaushygiene der
Uniklinik in Freiburg im Breisgau. Dabei ist
«verbraucht» eigentlich nicht ganz richtig. Denn
von den rund 400 Tonnen der z. B. in Deutschland eingesetzten Antibiotika werden 300 unverändert als aktive Wirksubstanzen vom Körper wieder ausgeschieden. «In den Kläranlagen
können aber nur wenige dieser Stoffe abgebaut
oder deaktiviert werden, der Grossteil gelangt
zusammen mit antibiotikaresistenten Keimen
in die Oberflächengewässer», sagt Kümmerer.
Auch die Massentierhaltung, in der etwa ein
Drittel aller Antibiotika verwendet wird, trägt
bei exzessiver Medikamentenanwendung zur
Resistenzentwicklung bei. Die primäre Brutstätte für Antibiotikaresistenzen bleibt indes
der Mensch.
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Auch in Zukunft sind die Menschen auf potente
Antibiotika angewiesen. Aber mit jedem neuen
Medikament werden von Bakterien auch neue
Abwehrmechanismen entwickelt. Es wird daher
entscheidend sein, wie gewissenhaft und sorgsam Ärzte und Bevölkerung mit dem Einsatz der
Antibiotika umgehen. Neuere Trends, Substanzen mit antibiotischer Wirkung wie z. B. Natamycin bei der Haltbarmachung von Lebensmit-
teln (z. B. in Käserinden) oder in Verpackungen
einzusetzen, sollten vermieden werden. Auch
sehr einfache Hygienemassnahmen können das
Risiko von Bakterienübertragungen und damit
die Entstehung resistenter Keime stark herabsetzen. In Studien wurde gezeigt, dass sich durch
gründliches und regelmässiges Händewaschen,
sowohl in den Kliniken als auch zu Hause, das
Übertragungsrisiko von Infektionskrankheiten
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um 40 Prozent senken lässt.
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«Wissenschaft und
Forschung»
Auszug aus
DAS GESUNDHEITSWESEN IN ZUKUNF T
OTX World Nr. 72
September 2011
Mit Nanoteilchen in neue Dimensionen
Die Nanotechnologie wird als eine der Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts betrachtet.
Tatsächlich könnten auf Nanomaterialien basierende Therapieansätze die zukünftige Medizin
revolutionieren. Auch in der Schweiz wird derzeit intensiv an neuen Anwendungsmöglichkeiten
geforscht. Allerdings dürfen die Risiken nicht vergessen werden.
Klaus Duffner
«Nano» ist griechisch und bedeutet «Zwerg».
Demnach ist ein Nanometer winzig klein, nämlich der millionste Teil eines Millimeters. Für die
Nanotechnologie ist beispielsweise der Durchmesser eines Haares (etwa 50 000 Nanometer)
immer noch viel zu gross, sie beschäftigt sich
mit der Herstellung und dem Einsatz von Strukturen, die kleiner als 100 Nanometer sind. Obwohl die Nanotechnologie als eines der modernsten Verfahren gilt, ist sie nichts Neues.
Denn in der Natur werden sogenannte «Nanomaschinen» schon seit Anbeginn des Lebens zur
Herstellung komplexer Verbindungen in den
Zellen verwendet. Eines ist jedoch neu: Erst in
den vergangenen zwei Dekaden gelang es Wissenschaftlern, überhaupt in diesen unsichtbaren
Kosmos vorzudringen.
Unbegrenzte Einsatzmöglichkeit
Heute werden Moleküle im Nanometerbereich
in vielerlei Produkten mit Milliardenumsätzen
eingesetzt: Autoreifen, Rostschutz, Computer-
40
chips, Deos, Anti-Aging-Cremen, Sonneschutzmitteln und vielen mehr. Auch in der Medizin
und Medizintechnik sind Nanomaterialien,
etwa als Oberflächenbeschichtung auf chirurgischem Besteck, als resorbierbare Materialien bei
Operationen oder als Transportvehikel für
Medikamente bereits im Gebrauch. Das ist aber
erst der Anfang: Gerade der medizinische Bereich wird für die Zukunft als eines der zentralen Anwendungsgebiete der Nanotechnologie
angesehen. Ob für die gezielte Tumorbekämpfung, die Entlastung des Gewebes bei Hyperthermieverfahren, die Überwindung der BlutHirn-Schranke, den Gebrauch von ultradünnen
Siliciummebranen in der Dialyse, die Entwicklung von Nanoverbundwerkstoffen beim Zahnersatz, die molekulare Diagnostik bei der Erkennung von krankheitsspezifischen Genen bzw.
Proteinen oder das zielgerichtete Hinführen von
Kontrastmitteln in ein krankes Gewebe: Der
Einsatz der extrem winzigen Teilchen im medizinischen Sektor scheint unbegrenzt zu sein.
Investitionen in die Zukunft
Auch in der Schweiz wird intensiv an der nanometrischen Zukunft gebastelt. So fördert der
Schweizerische Nationalfonds derzeit in einem
grossen nationalen Forschungsprogramm die
«Chancen und Risiken von Nanomaterialien»
(NFP 64). Dabei sollen wissenschaftliche Grundlagen für die Herstellung, den Gebrauch und die
Entsorgung von künstlichen Nanopartikeln geliefert werden. Neben Anwendungsmöglichkeiten künstlicher Nanomaterialien sollen aber auch
die Risiken für Mensch und Umwelt geprüft werden. Die insgesamt 12 Millionen Franken verteilen sich über fünf Jahre auf drei grosse Module,
wobei die «Biomedizinische Forschung» mit
neun Projekten der umfangreichste Bereich ist.
Er ist ein Abbild dessen, was uns die «Nanomedizin» eines Tages in der Medizin bringen könnte.
Trojanische Pferde gegen Krebs …
Schon seit Längerem versucht man, Moleküle zu
finden, die Medikamente als eine Art «Trojani-
sches Pferd» an ihren Zielort bringen. Mithilfe
spezieller Beschichtungen kann nämlich erreicht werden, dass Nanopartikel nur von ganz
bestimmten Zellen aufgenommen werden. Wird
an einen solchen Nanopartikel ein Medikament
befestigt, kann es zielgerichtet zu den erkrankten Zellen (z. B. Krebszellen) transportiert werden. Damit sollen die Medikamente nur da im
Körper wirken, wo sie auch tatsächlich benötigt
werden. Die gefürchteten Nebenwirkungen würden dann theoretisch ausbleiben. Das Team um
Prof. Francesco Stellacci vom Institut des matériaux in Lausanne ist genau diesen Nanoträgern
auf der Spur. Sie bestehen aus einem Metallkern
und einer organischen Hülle mit chemisch gebundenen Medikamentenmolekülen. Diese werden freigesetzt, sobald sich die Nanopartikel im
Zellinnern befinden. Tatsächlich konnte man
zeigen, dass solche Nanoteilchen in kleinen Verbänden in der Lage sind, die Zellmembran zu
durchqueren.
… und Magnete gegen Gift
Den umgekehrten, aber ebenso vielversprechenden Ansatz verfolgen Wissenschaftler von der
ETH Zürich in Zusammenarbeit mit dem UniversitätsSpital Zürich. Sie wollen Medikamente
nicht in den Körper hineinbringen, sondern lieber Substanzen herausholen. So ist es Dr. Inge
Herrmann und Prof. Beatrice Beck-Schimmer
in Laborversuchen gelungen, mittels winziger
Nanomagneten das Blut gezielt von Giftstoffen
zu reinigen. Und das schon in weniger als fünf
Minuten. «Diese Nanopartikel binden spezifisch
Pathogene oder Toxine, die im Blut vorhanden
sind», so Inge Herrmann in einem Interview mit
dem Sender 3sat. «Durch die magnetischen Eigenschaften des Kerns können wir sie steuern
und die Gifte so durch einen Magneten entfernen.» Da die Oberfläche der Nanomagnete mit
speziellen Molekülen beschichtet ist, werden nur
spezifische Stoffe aus dem Blut herausgefischt.
Während in früheren Ansätzen auch rote Blutkörperchen zerstört wurden, gab es in den ak-
Neue Trends & Entwicklungen
tuellen Versuchen weder eine Beeinträchtigung
der Erythrozyten noch der Blutgerinnung. Zudem sind die Nanomagnete mit einer Kohlenstoffhülle ummantelt und dadurch sehr säureund temperaturresistent, sodass sie sich kaum
im Blut lösen. Wenn sich diese Entdeckungen in
weiteren Studien auch an lebenden Organismen
bestätigen würden, so die Hoffnung der Wissenschaftler, könnten Giftstoffe, wie sie z. B. bei einer Sepsis auftreten, zukünftig sehr wirksam
und schnell dem Kreislauf entzogen werden.
Immunantwort stimulieren
Nanopartikel können auch Einfluss auf unser
Immunsystem nehmen, indem sie entweder
stimulierend oder unterdrückend auf die Körperabwehr wirken. Solche spezifischen Eigenschaften wollen sich Prof. Barbara RothenRutishauser und Mitarbeiter von der Universität
Fribourg zunutze machen. So will man einerseits den therapeutischen Einsatz von spezifisch entwickelten Nanopartikeln als ImmunModulatoren bei Immunerkrankungen (z. B.
dem Asthma bronchiale) in der Lunge prüfen
und andererseits mögliche negative Auswirkungen solcher Nanopartikel testen.
Auch Knochenersatzmaterialien sind seit einigen Jahren das Ziel der «Nanologen». Mithilfe
von Nanofasern will man nämlich den Knochenersatz so weit verstärken, dass mechanische
Eigenschaften entstehen, die denen des Knochens sehr ähneln. Die Wissenschaftler um
Dr. Reto Luginbühl von der «RMS Foundation»,
einer Stiftung für die Förderung der medizinischen Forschung, sind davon überzeugt, dass
solche Fasern völlig neue chirurgische Möglichkeiten eröffnen. So sollen in Zukunft der Einsatz
von Platten und Schrauben verringert werden
und damit sekundäre Eingriffe erspart bleiben.
sem Grund wird parallel zu den Anwendbarkeitsstudien in präklinischen Versuchen geprüft,
ob die winzigen Teilchen auf Zellen toxisch wirken, ob sie Krebs erzeugen, das Erbgut beeinflussen oder negative Einflüsse auf Embryonen
haben. Vor allem die leichte Aufnahme durch
die Haut oder den Magen-Darm-Trakt könnten
möglicherweise zu Überdosierungen bestimmter Stoffe führen, so das Ergebnis einer Expertenbefragung zur Risikoabschätzung der neuen
Technik. Während für abbaubare organische
Substanzen wenig Bedenken hinsichtlich der
Umwelt gesehen werden, könnten nicht abbaubare Nanomaterialien (z. B. die sogenannten
Kohlenstoff-Nanoröhrchen) langfristige Effekte
für Wasser, Boden und Luft haben. Ob und wie
viele solcher winziger Partikel in der Lunge abgelagert werden, welche biologischen Auswirkungen sich dort zeigen und wo die Nanoteilchen letztlich im Körper landen, wird derzeit an
der Universität Lausanne geprüft. Auch eine Anreicherung von Nanopartikeln im Gehirn ist
denkbar, weshalb Wissenschaftler der Universität Bern sich die winzigen Abbauprodukte von
Hirnimplantaten vorgenommen haben.
Hohe Zuwachsraten
Zwar liegt der derzeitige Anteil der Nanotechnologieprodukte im Medizintechnik- und Pharmamarkt erst bei einigen Prozent – die jährlichen
Zuwachsraten erreichen jedoch bereits heute
zweistellige Prozentbereiche. Infolgedessen rechnet man damit, dass bis ins Jahr 2020 mehr als
zehn Prozent der pharmazeutischen und medizintechnischen Produkte Komponenten der Nanotechnologie enthalten werden. In der Medizin
der Zukunft werden diese «Zwerge» nicht mehr
wegzudenken sein.
Wo bleiben die Nanoteilchen?
Jede Medaille hat ihre Kehrseite. Niemand weiss,
was künstliche Nanopartikel im menschlichen
Körper langfristig anrichten können. Aus die-
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41
«Wissenschaft und
Forschung»
Auszug aus
DAS GESUNDHEITSWESEN IN ZUKUNF T
OTX World Nr. 84
September 2012
Kein Trauma in der Kinderklinik
Ein Aufenthalt im Spital kann für Kinder zu einer sehr belastenden Situation werden. Kinder-
Schon heute wird in modernen Kinderspitälern alles getan, um den Kleinsten ihren Aufenthalt in der fremden Umgebung so angenehm wie möglich zu machen. So wird mit
einem kinderfreundlich gestalteten Eingangsbereich vielerorts versucht, von vornherein die
Angst zu nehmen. Innen sind Wände und Fussböden mit bunten Farben oder Motiven bekannter Comicfiguren bemalt. In Spielecken
oder grossen Spielzimmern locken jede Menge
aufregende Spielsachen, inklusive Zeichentrickfilme. Auch Betten für die Eltern stehen
bereit und das hat bedeutende Vorteile: Da die
Kinder dann ruhiger schlafen, verläuft der Heilungsprozess auch schneller. Gleichzeitig wird
das Pflegepersonal entlastet, da sich nachts
schreiende Kinder immer noch am besten von
den Eltern beruhigen lassen.
Tagsüber behandeln –
nachts wieder heim
Die Idee: Tagsüber eine intensive Behandlung
durch Spezialisten und nachts eine Betreuung
durch die Eltern – und zwar in den eigenen vier
Wänden. Genau hier setzen Kindertageskliniken an. Durch den Verzicht auf einen stationären Aufenthalt, so Roman Vettiger von der Kindertagesklinik Liestal, würden sich Traumatisierungen eher vermeiden lassen. Da keine
Betreuungskosten in der Nacht anfallen, seien
solche «intermittierende Behandlungen» auch
deutlich wirtschaftlicher. Gerade Brechdurchfall, einer der häufigsten Gründe, warum Eltern
mit ihren Kindern pädiatrische Hilfe suchen,
lasse sich in einer KTS wesentlich kostengünstiger behandeln als im Spital. Für die Zukunft
könnten solche Einrichtungen, aber auch Gruppenpraxen, eine wichtige Ergänzung zwischen
herkömmlicher pädiatrischer Praxis und Spital
sein. Zwar werden in den KTS eine Vielzahl von
Therapien angeboten, darunter auch anspruchsvolle Operationen, ernsthaft kranke Kinder müssen jedoch nach wie vor in spezialisierten Spitälern behandelt werden.
Spitzentechnologie der Zukunft
Dazu gehört beispielsweise das Kinderspital
Zürich. Besonders Schwerpunkte wie Kardiologie, Neugeborenen- und Fehlbildungschirur-
42
gie, Neurologie und Neurochirurgie, Onkologie,
Stoffwechsel- und Endokrinologie sowie Verbrennungsbehandlung und plastisch-rekonstruktive Chirurgie machen die Klinik zu einer international angesehenen Institution. Dazu tragen
permanente Modernisierungen bei: Bei angeborenen Herzfehlern sind seit neuestem Herzkathetereingriffe ohne Röntgenstrahlung möglich.
Zudem können bei schweren Lungenentzündungen die Kinder jetzt mit einer verkürzten Antibiotikatherapie versorgt werden. Gleichzeitig
wurde das selektive Screening für Stoffwechselkrankheiten optimiert. Mit der Einführung einer neuen Lasertechnologie lässt sich neuerdings
die Tiefe von Verbrennungen exakter bestimmen. Trotz solcher Spitzentechnologie kommt
auch das 1874 gegründete Kinderspital Zürich
in die Jahre. Um für die Zukunft gerüstet zu sein,
wird derzeit ein Neubau geplant.
Herr Dr. Schweizer, Sie haben eine
30-jährige Erfahrung als Pädiater.
Was hat sich verändert in dieser Zeit?
Hinsichtlich der schnelleren und einfacheren Labordiagnostik, wie z. B. dem raschen Nachweis
von Scharlacherregern haben wir es heute sicher
einfacher. Früher ging es manchmal zwei, drei
Tage bis die Diagnose da war, heute haben wir in
manchen Fällen das Ergebnis in einer Viertelstunde. Gleichzeitig hat sich das Aufgabengebiet
des Pädiaters sehr erweitert. Früher war er einfach für die kranken Kinder da, heute wird sehr
viel Zeit für Vorsorgeuntersuchungen verwendet. Auch die Erwartungen haben sich verändert.
Bei schulischen Problemen vermuten Eltern und
Lehrer weit schneller als früher medizinische
Ursachen und suchen zu Recht bei uns Rat.
Wie ist die pädiatrische Versorgung
in der Schweiz?
Wenn man mit anderen Ländern vergleicht,
haben wir in der Schweiz eine sehr luxuriöse
Situation mit vielen hochspezialisierten Kinderspitälern auf kleinstem Raum. In Amerika existieren Regionen, die sind so gross wie die gesamte Schweiz und haben nur eine oder zwei
Kliniken. Trotzdem haben unsere Kinderspitäler mehr als genug zu tun. Teilweise sind sie
auch mit banalen Dingen überlastet. Ich könnte
Foto: Klaus Duffner
kliniken sollten daher alles vermeiden, was zu einer frühen traumatischen Angsterfahrung
beitragen könnte. Gleichzeitig muss pädiatrische Spitzentechnologie gewährleistet bleiben.
In Zukunft könnten sich unterschiedliche Behandlungskonzepte ergänzen.
Klaus Duffner
«Wir müssen die Kinder wieder dazu bringen, mehr
draussen herumzurennen und sich zu bewegen», sagt
Dr. med. Kurt Schweizer, Rheinfelden.
mir vorstellen, dass es in Zukunft mehr Zwischenformen zwischen Praxis und Unispital geben wird. Modelle wie die Kindertagesklinik in
Liestal könnten eine wichtige ergänzende Funktion übernehmen. Vor allem bei solchen Erkrankungen, die eigentlich keinen Spitalaufenthalt erfordern.
Mit welchen Erkrankungen müssen
unsere Kinder in Zukunft rechnen?
Virale Erkrankungen, etwa virale Atemwegsbzw. Lungenentzündungen, werden eher zunehmen. Dagegen werden schwere bakterielle
Infektionen seltener. Auch Allergien werden
wir häufiger sehen. Vergleichsstudien zwischen
Bauernhofkindern und städtischen Kindern
haben gezeigt, dass frühkindlicher Kontakt mit
gewissen Keimen zu weniger Allergien führt.
Auch die Dickleibigkeit unter Kindern wird in
Foto: Klaus Duffner
Wie wird es mit ADHS und psychischen
Erkrankungen bei Kindern aussehen?
Für das Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätssyndrom gibt es leider naturgemäss keine
einfache Diagnostik, da es sich um ein Krankheitsbild handelt, welches fliessende Übergänge
zu jedem «normalen» Kind hat. Es handelt sich
eigentlich um die «Klassifizierung» eines Kindes,
das bezüglich Konzentrationsvermögen, Wahrnehmungsfähigkeit, Aufnahmefähigkeit und
Verhalten mehr oder weniger stark auffällt –
meist eben in der Schule. In den USA werden
heute bereits 10 bis 20 Prozent der Schulkinder
mit Ritalin behandelt. In der Schweiz sind es mit
einem bis zwei Prozent zum Glück sehr viel weniger. Da unsere Gesellschaft mit solchen schwierigen Kindern anders umgeht, glaube ich diesbezüglich auch für die Zukunft nicht, dass wir
amerikanische Verhältnisse bekommen.
Wird sich denn die «Impfmüdigkeit»
fortsetzen?
Die Impfbereitschaft ist Schwankungen unterzogen. Vor zehn Jahren war das sogar schlechter als heute. Also ich glaube, dass es auch in Zukunft Zeiten geben wird, in denen viel und
Zeiten in denen wenig geimpft wird. Das ist eine
Art Modeströmung. Für mich als Kinderarzt ist
das eigentlich unverständlich, da es sich bei den
Impfungen ja um eine ausgesprochene Erfolgsgeschichte innerhalb der Medizin handelt, mit
einer sehr guten Wirksamkeit und mit vernachlässigbaren Nebenwirkungen.
Zukunft weiter zunehmen. Allerdings ist das ein
gesellschaftliches und kein medizinisches Problem. Wir müssen die Kinder wieder dazu bringen, mehr draussen herumzurennen und sich
zu bewegen.
Es gibt einige wichtige Medikamente,
die gar keine spezielle Zulassung für Kinder
haben. Wird sich da etwas ändern?
Wenn neue Medikamente auf den Markt kommen, müssen für Kinder unter zwei Jahren extra Studien gemacht werden. Das ist zum einen
sehr teuer und zum anderen oft schwierig
durchführbar. Deswegen unterlassen die pharmazeutischen Firmen diese Studien oft aus
Renditeüberlegungen. Wir Kinderärzte müssen
dann in dieser Altersgruppe viele Medikamente
«off-label» geben, d. h. das Risiko selbst tragen.
Ich hoffe, dass das in Zukunft besser wird.
Bei den speziellen Medikamenten für Kinder
könnte in Zukunft ein europaweit gemeinsames
Zulassungsverfahren ein Vorteil sein, da es für
die Industrie wirtschaftlicher wird.
Wie werden unsere Babys zukünftig
das Licht der Welt erblicken?
Es wird in Zukunft noch mehr Kaiserschnitte
geben. Schon heute haben wir in der Schweiz
eine Sectio-Rate von bis zu 30 Prozent und
diese wird wahrscheinlich noch zunehmen. Das
hängt mit der Einstellung der Beteiligten zusammen – und zwar nicht nur der werdenden Mütter, sondern auch der Ärzte.
Wie sieht überhaupt die Zukunft
des Kinderarztberufes aus?
Der Anteil der weiblichen Ärzte in der Pädiatrie, der heute schon relativ hoch ist, wird weiter
zunehmen. Diese sind in der Mehrzahl auch
Mütter und möchten nicht zu 100 Prozent berufstätig sein. Auch deswegen wird es mehr Teilzeitarbeit und mehr Gruppenpraxen geben. Da
immer weniger Ärzte bereit sind, auch nachts
erreichbar zu sein, könnte auch die Einrichtung
der Notfalldienste in Zukunft gewisse Probleme
bereiten, das ist teilweise ja heute schon so. Und
mit noch etwas wird man rechnen müssen: Ähnlich wie drüben in Deutschland wird auch bei
uns die Administration leider zunehmen.
Zur Person
Dr. med. Kurt Schweizer praktiziert zusammen mit seiner Frau seit über 30 Jahren als
Kinderarzt in Rheinfelden. Der 65-Jährige
arbeitet heute in einer Gruppenpraxis – für
ihn ein Modell der Zukunft.
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43
«Wissenschaft und
Forschung»
Auszug aus
WISSEN UND WISSENSCHAF T
OTX World Nr. 89
Februar 2013
Am Gang wirst Du sie erkennen
Ältere Menschen und speziell Demenzpatienten besitzen ein erhöhtes Sturzrisiko. Durch Ganganalysen lassen sich schon früh Unregelmässigkeiten beim Gehen feststellen. Sie weisen nicht
nur auf ein erhöhtes Sturzrisiko hin, sondern interessanterweise auch auf beginnende Demenz. Musik- und Rhythmusübungen können dabei helfen, den regelmässigen Gang zu erhalten. Klaus Duffner
Schon seit Langem ist bekannt, dass demenzkranke Menschen häufiger stürzen als gleichaltrige Personen ohne kognitive Einschränkungen.
Dabei ist das Sturzrisiko von älteren Personen
sowieso schon sehr hoch: Schätzungen des deutschen Bundesfamilienministeriums gehen davon
aus, dass rund ein Drittel der über 65-Jährigen
mindestens einmal pro Jahr in den eigenen vier
Wänden stürzt. Bei den über 90-Jährigen ist
es sogar über die Hälfte. Als ein wichtiger Faktor für ein erhöhtes Sturzrisiko bei Menschen
mit Demenz- bzw. Alzheimererkrankung gelten
Gangstörungen.
Winzige Schrittlängenveränderungen
Kann man am Gang erkennen, ob jemand demenzkrank ist oder zumindest auf dem Weg
dorthin? Seit einigen Jahren beschäftigen sich
die Teams um Prof. Reto W. Kressig und Prof.
Andreas Monsch vom Basel Mobility Center und
der Memory Clinic der Akutgeriatrie des Universitätsspitals Basel mit dem Zusammenhang
von Hirnleistung und Gangstörungen. «Bereits
kleinste Veränderungen gehen mit einem erhöhten Sturzrisiko einher», so Prof. Kressig am Basler Demenzforum Ende 2012. So führt eine
Schritt-zu-Schrittveränderung von nur 1,7 Zentimetern bei zu Hause lebenden Senioren zu ei-
ner Verdoppelung des Sturzrisikos. Je weiter eine
Demenz voranschreitet, desto ausgeprägter sind
die Gangunregelmässigkeiten. Allerdings kommt
es auch innerhalb dieser Patientengruppe zu erheblichen Unterschieden: Bei agilen Alzheimerpatienten mit geringem Sturzrisiko sind normalerweise geringe Gangveränderungen festzustellen. Dagegen zeigen häufig Stürzende oft
beträchtliche Gangunregelmässigkeiten. Solche
Verbindungen finden sich oft früh. So wurden in
der New Yorker «Einstein Aging Study» ab dem
Jahr 1998 ältere gesunde Menschen regelmässig
verschiedenen Gang-Tests unterzogen1. Rund
eine Dekade später wies die Analyse dieser Daten auf interessante Zusammenhänge. So konnte
festgestellt werden, dass die später an Demenz
Erkrankten bereits fünf Jahre zuvor eine erhöhte
Gangvariabilität aufwiesen. Deshalb wird vermutet, dass feinste Gangunregelmässigkeiten
schon auftreten, bevor überhaupt Symptome
verminderter Hirnleistung festzustellen sind.
gebaut sind. Diese Sensoren sind mit einem
Computer verbunden, der exakt registriert, wie
und wo eine Person mit ihrem Fuss aufsetzt.
Aus den Daten lassen sich dann Schrittlänge,
Schrittdauer, Schrittbreite, Ganggeschwindigkeit und weitere Gangparameter berechnen.
Wenn nun eine Schrittvariabilität von mehr als
vier Prozent gemessen wird, sei von einer Gangunsicherheit auszugehen, so der Basler Experte.
Bei der Analyse der Ergebnisse macht man sich
eine bemerkenswerte Eigenschaft des menschlichen Ganges zunutze: Gehgeschwindigkeit
und Schrittlänge nehmen im Alter zwar ab, die
Schrittkadenz, also die Zahl der Schritte pro
Minute, und die Regelmässigkeit des Ganges
bleiben jedoch auch bei Senioren erhalten. Gesunde Menschen besitzen nämlich in jedem Alter einen erstaunlich gleichmässigen Gang, das
heisst, bei einem Spaziergang sind die Länge
und die Dauer der Schritte nahezu gleich.
Gehen und Denken
Daten aus dem Analyseteppich
Allerdings sind Schrittveränderungen von
knapp zwei Zentimetern vom Auge kaum zu erkennen. Im Basel Mobility Center der Akutgeriatrie des Universitätsspitals Basel liegt deshalb
ein langer Teppich, in den 30 000 Sensoren ein-
Nachdem man die Zusammenhänge zwischen
Gangvariabilität und Demenz erkannt hatte,
wurden die Untersuchungen erweitert. Durch
einen einfachen «Walk and Talk»-Test konnte
der Zusammenhang zwischen Hirnleistung und
Motorik deutlich gezeigt werden2. Dazu wurden
Zusammenhang von Bewegung und Kognition
Vermessene Schrittfolge
Schrittbreite
Schrittlänge
Schrittdauer (Gangzyklus)
Bei der Ganganalyse werden die exakte Schrittlänge und Schrittdauer sowie weitere Gangparameter aufgezeichnet.
Damit lässt sich ein erhöhtes Sturzrisiko erkennen.
44
Quelle: Universitätsspital Basel
In Anlehnung an
NZZ: Infografik/efl.
ältere Probanden während des Gehens beispielsweise nach dem Namen ihres ältesten Enkels befragt3. Mehr als drei Viertel der Teilnehmer, die
für die Antwort stehen bleiben mussten, stürzten in den nächsten sechs Monaten mindestens
einmal – im Gegensatz zu denjenigen, die ihre
Antwort aus dem Gehen heraus geben konnten.
Das Verbinden von gleichzeitigen Aktivitäten
wird durch die sogenannte Exekutivfunktion
gesteuert, nach den Worten von Prof. Kressig
«sicherlich mit eine der höchsten menschlichen
Hirnleistungen». Diese Funktion ist im grossen
Frontalhirn lokalisiert und koordiniert das Zusammenspiel von zentralen kognitiven Prozessen und komplexen Handlungen.
nur leichten kongnitiven Einschränkungen signifikante Gangveränderungen, die beim normalen Gehen ohne Zusatzaufgaben nicht bemerkt
worden wären. Solche Messungen könnten ein
Werkzeug dafür sein, sowohl eine erhöhte Sturzneigung zu detektieren (und damit entsprechende sturzpräventive Massnahmen einzuleiten), als auch eine beginnende Demenz sehr früh
zu diagnostizieren, so Prof. Kressig. Von Polyarthrosen, die ja auch in erheblichem Umfang
bei älteren Leuten Schrittveränderungen hervorrufen, sind demenzbedingte Unregelmässigkeiten übrigens gut zu unterscheiden. Denn die Variabilität und die Regelmässigkeit der Schritte
wird durch Arthrose nur wenig beeinflusst.
Unregelmässigkeiten schon
früh messbar
Besser gehen und sprechen
durch Rhythmus und Musik
Eine solche komplexe Aufgabe ist das Rückwärtszählen während des normalen Gehens. Bei
Menschen mit beginnender Demenz wird ein
solches «Dual Tasking» zur echten Herausforderung: der Gang wird während des Zählens
unsicher und stockend. Im Sommer 2012 präsentierten die Basler Stephanie Bridenbaugh,
Andreas Monsch und Reto W. Kressig am internationalen Alzheimerkongress in Vancouver die
Ergebnisse einer aktuellen Studie4. In diese Untersuchung wurden 1150 Personen mit einem
Durchschnittsalter von 78 Jahren einbezogen,
die entweder kognitiv gesund waren oder unter
milder, moderater bzw. schwerer Alzheimerdemenz litten. Sie alle hatten während des
Gangtests eine oder mehrere kognitive Aufgaben zu lösen. Dabei zeigte sich deutlich, dass die
Ganggeschwindigkeit mit dem Grad der kognitiven Einschränkung korreliert ist: Je eingeschränkter die geistige Leistung, desto unregelmässiger und stockender der Gang beim «Dual
Tasking». Bemerkenswerterweise zeigten bereits
Menschen in sehr frühen Demenzstadien mit
Ist es nun möglich, beginnenden Gangunregelmässigkeiten durch therapeutische Massnahmen entgegenzuwirken? Gewisse immer wieder ausgeführte körperliche Aktivitäten wie
Tanz, Rhythmik oder anderes scheinen das
gleichmässige Gehen zu begünstigen. So wurde
schon vor einigen Jahren gezeigt, dass durch
Tai-Chi – eine sehr kognitiv geprägte Bewegungsaktivität, die eine grosse Konzentration
und Präzision erfordert – das Sturzrisiko um
knapp die Hälfte (47 Prozent) reduziert werden
kann5. Auch in Basel wollte man in Untersuchungen genauer wissen, ob sich durch solche Übungen die Exekutivfunktion verbessern
lässt. Tatsächlich wurde durch ein spezielles
Tai-Chi-Programm sowohl die Variabilität der
Gangbreite als auch des Gangzyklus bei älteren
Menschen vermindert und damit das Gehen
verbessert. «Der Gang wird wieder sicherer,
wenn Sie gleichzeitig kognitiv und motorisch
aktiv sind», so der Tipp des Geriaters. Eine weitere Möglichkeit ist die Einbeziehung von Musik. Als Paradebeispiel gilt dabei die Jaques-
Dalcroze-Rhythmik, die im 20. Jahrhundert zur
musikalischen Ausbildung von Kindern und
Erwachsenen weltweit angewendet und seit einigen Jahren auch für Senioren entdeckt wurde.
Dabei werden zu verschiedenen Melodien
wechselnde motorische Bewegungsabläufe bzw.
Multitask-Aufgaben wiederholt. In einer Sturzpräventionsstudie mit 134 gesunden Senioren
in Genf führte eine nur einmal wöchentliche
Teilnahme an einem Rhythmikkurs zu wesentlich sichererem Gehen der Senioren6. Überdies
reduzierte sich in der Dalcroze-Rhythmikgruppe die Häufigkeit der Sturzereignisse im
Vergleich zum Kontrollarm innerhalb eines
halben Jahres um 54 Prozent. Solche musikund rhythmusunterstützte Bewegungsschulungen seien auch bei dementen Patienten sehr
hilfreich, sagte Prof. Kressig. So werde die verbale Kommunikationsfähigkeit, die räumliche
Orientierung, die funktionelle Unabhängigkeit
sowie das Schlafverhalten positiv beeinflusst.
«Wenn man sieht, wie gebrechlich die Leute zu
diesen Kursen kommen und welche Fortschritte sie dann machen, ist das schon sehr erstaunlich.»
Literatur
1 Verghese J et al.: Quantitative gait dysfunction and risk of cognitive decline and dementia. J Neurol Neurosurg Psychiatry
2007; 78: 929-35.
2 Kressig R: Die Rolle der klinischen Ganganalyse. Health and
Science. Novartis Pharma Schweiz 2011.
3 Lundin-Olsson L , Nyberg L, Gustafson Y. «Stops walking when
talking» as a predictor of falls in elderly people. Lancet
1997;349:617.
4 Bridenbaugh SA, Monsch AU., Kressig RW: How does gait
change as cognitive decline progresses in the elderly? AAIC
Vancouver 2012;Poster P1-073.
5 Wolf SL et al.: Reducing frailty and falls in older persons: an investigation of Tai-Chi and computerized balance training.
Atlanta FICSIT Group. Frailty and Injuries: Cooperative Studies
of Intervention Techniques. J Am Geriatr. Soc 1996; 44: 489-97.
6 Trombetti et al.: Effect of Music-Based Multitask Training on
Gait, Balance, and Fall Risk in Elderly People. A Randomized
Controlled Trial. Arch Intern Med. 2011;171(6):525-533.
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45
«Wissenschaft und
Forschung»
Auszug aus
WISSEN UND WISSENSCHAF T
OTX World Nr. 92
Mai 2013
Das «TOR» zu mehr Erkenntnis
Foto: Biozentrum Universität Basel
Das Wachsen und Teilen von Zellen wird durch das zentrale Steuerungsprotein «TOR» reguliert.
Seit dieser bahnbrechenden Entdeckung durch den Biologen Prof. Dr. Michael N. Hall vom Biozentrum in Basel wird immer deutlicher, welchen enormen Einfluss dieses Enzym auf die Lebensvorgänge in unseren Zellen hat – und welche therapeutischen Chancen warten.
Klaus Duffner
die dafür verantwortliche Substanz isoliert: Ein
Antibiotikum, das zu Ehren der Fundinsel Rapa
Nui «Rapamycin» genannt wurde. Während die
Forscher am Anfang dachten, die neue Substanz
besitze hauptsächlich fungizide Wirkung, kamen
im Laufe der folgenden Jahre und Jahrzehnte immer mehr überraschende Eigenschaften hinzu.
So stellte sich heraus, dass Rapamycin in der Lage
ist, die Vermehrung köpereigener Abwehrzellen
zu hemmen – eine Fähigkeit, die später zur Vorbeugung von Abstossungsreaktionen bei Organtransplantationen noch sehr nützlich werden
sollte. Aber auch gegen das ungezügelte Wachstum von Tumorzellen und die Sprossung neuer
Blutgefässe, so die Hoffnung der Mediziner, hatte
man nun plötzlich ein Werkzeug in der Hand.
Hefe: Ein ideales Studienobjekt
«Da auch andere Forschergruppen parallel am Thema
arbeiteten, hatten wir Anfang der Neunzigerjahre ein
richtiges Rennen um die Aufklärung der molekularen
Vorgänge», meint Prof. Dr. Michael N. Hall.
Ob für die Bauchmuskulatur eines Bodybuilders die Flügel eines Entenkükens, die Beinchen
einer Kaulquappe, den Spross einer Sonnenblume oder den Hut eines Steinpilzes – bei
Wachstumsprozessen von Tieren und Pflanzen
ist immer und überall ein zentrales Steuerungselement der Zelle beteiligt: Das sogenannte
«TOR»-Protein. Zwar wurden dessen grundlegende Funktionsmechanismen in Basel aufgeklärt, den Anfang nahm diese Geschichte jedoch am Ende der Welt.
Überraschung von den Osterinseln
Wie so oft in der Forschung, begann auch die Entdeckung eines der interessantesten Moleküle in
der Historie der Naturwissenschaften mit einem
Zufall: Auf einer Expedition auf die südpazifischen Osterinseln fanden kanadische Forscher
Mitte der Sechzigerjahre in einer Bodenprobe
Streptomyces hygroscopicus. Dieses Bakterium
war in der Lage, einen Stoff in den Boden abzugeben, der konkurrierende Pilze am Wachstum
hinderte. Aber erst zehn Jahre später hatte man
46
Unter den vielen Wissenschaftlern, die auf diesen besonderen Stoff aufmerksam geworden waren und die mehr über dessen wachstumshemmende Mechanismen wissen wollten, befand
sich auch Prof. Dr. Michael N. Hall. Er war 1987
als junger Assistenzprofessor aus den USA ans
Biozentrum nach Basel gekommen. Während
andere Arbeitsgruppen jedoch mit vielzelligen
Lebewesen den Wachstumsvorgängen auf die
Spur kommen wollten, fokussierte Hall als einziger auf die einzellige Hefe. Die recht primitiven Hefezellen hatten eine Reihe von Vorteilen:
Durch ihre einfache Handhabe, ihr extrem
schnelles Wachstum (24 Stunden), ihre hohe
Teilungsaktivität, sowie ihre leichte genetische
Veränderlichkeit erwiesen sie sich als ideales
Studienobjekt. «Andere Systeme wuchsen einfach zu langsam oder funktionierten nicht richtig», erinnert sich der Biochemiker in einem Gespräch mit OTX World. «Da auch viele andere
Forschergruppen parallel an diesem Thema arbeiteten, hatten wir damals ein richtiges Rennen
um die Aufklärung der molekularen Vorgänge.»
Tatsächlich wurden Michael Hall und sein Basler Team in den frühen Neunzigerjahren fündig.
Sie entdeckten als erste ein zentrales Steuerungselement, das sie in Anlehnung an die Jahrzehnte
zuvor gefundene Schlüsselsubstanz aus dem
Osterinsel-Bakterium «Target Of Rapamycin»
oder kurz TOR nannten.
Zentrale Schaltstelle
Dieser «Angriffspunkt von Rapamycin» ist ein
Eiweissmolekül, genauer gesagt eine Kinase.
Proteinkinasen verändern andere Eiweissmoleküle und regeln wichtige Funktionen in der
Zelle. Allerdings handelt es sich bei TOR nicht
um irgendeine Kinase, sondern um eine ganz
zentrale Schaltstelle, die an einer Vielzahl unterschiedlichster Zellmechanismen beteiligt ist.
Michael Hall und seine Mitarbeitenden forschten weiter und entdeckten einige Zeit später,
dass TOR in zwei Proteinkomplexen vorliegt,
nämlich in TORC1 und TORC2. Zusammen
kontrollieren die beiden zwei zentrale Vorgänge
des Lebens: das Grössenwachstum von Zellen
und den Zeitpunkt der Zellteilung. «Als wir
Ende der Achtzigerjahre mit unseren Forschungen begannen, glaubten wir alle, dass Zellwachstum durch Zellteilung zustande kommt», erklärt
der Biologe. Heute weiss man, dass beide Prozesse voneinander unabhängig sein können,
d. h. Zellen wachsen, ohne sich zwangsläufig
teilen zu müssen und sie können sich teilen,
ohne zuvor grösser geworden zu sein. Daneben
regelt TOR den Stoffwechsel und den Energiehaushalt der Zelle. Es «misst» das Angebot an
Nährstoffen und reguliert deren Transport.
Nährstoffe, Insulin und Aminosäuren, aber interessanterweise auch die aktive Belastung eines
Muskels aktivieren den TOR-Signalweg und
schalten die zelluläre Wachstumsmaschinerie an.
Gleichzeitig werden abbauende Prozesse gehemmt. Ist hingegen zu wenig Energie vorhanden, wird das Wachstum unterbrochen und zellabbauende Mechanismen werden gefördert.
Einen ähnlichen Effekt hat man übrigens auch
bei Alkohol festgestellt. Solche Wachstumsvorgänge werden nicht nur in der Hefe, sondern in
der gesamten Tier- und Pflanzenwelt durch die
gleiche Signalkaskade gesteuert – ein Hinweis
darauf, dass TOR ein entwicklungsgeschichtlich
sehr, sehr altes und ziemlich unverändertes Molekül ist.
Grosse Bedeutung für
viele Erkrankungen
Viele dieser Abläufe sind bislang noch nicht vollständig verstanden. «Wir haben heute zwar eine
ziemlich gute Vorstellung darüber, wie TOR eine
Aufbau der Proteinkinase TOR
Die Proteinkinase TOR steuert viele metabolische Prozesse und spielt
eine zentrale Rolle beim Zellwachstum und der Zellteilung.
Das hat wiederum Einfluss auf viele Entwicklungs- und Alterungsprozesse, aber auch Krankheiten, wie z. B. Krebs, Herz-Kreislauf, Diabetes
oder Adipositas. Durch das bessere Verständnis der TOR-Signalwege,
so die Hoffnung der Forscher, können neue Therapieansätze für
verschiedenste Erkrankungen entwickelt werden.
Die unterschiedlichen Farben in unserer Abbildung geben die verschiedenen «Arbeitsregionen» wieder.
Quelle (mit freundlicher Genehmigung der Autoren):
Sturgill Thomas W, Hall Michael N: Activating Mutations in TOR Are in Similar Structures As
Oncogenic Mutations in PI3KC. VOL.4 NO.12 · ACS CHEMICAL BIOLOGY.
einzelne Zelle, wie z. B. eine Hefezelle, kontrolliert», so Michael Hall. «Aber sobald eine Zelle
in einem grossen Organismus sitzt, wird es viel
komplizierter. Das Wachstum jeder einzelnen
Zelle muss dann irgendwie koordiniert und angepasst werden. Sonst wären manche Zellen zu
gross oder zu klein und nichts würde mehr im
Körper zusammenpassen. Je mehr wir über
diese Prozesse wissen, desto klarer wird uns,
welche Komplexität dahintersteckt.» Und das
Wissen zum TOR-Signalweg nimmt ständig zu,
denn in der ganzen Welt werden immer wieder
neue Daten präsentiert. Sie zeigen, dass die Proteinkinase an der Entstehung von Krankheiten
wie Krebs, Diabetes, Adipositas oder HerzKreislauf-Erkrankungen wesentlich beteiligt ist.
Dies könnte ein Ansatzpunkt für neue Medikamente werden, so Hall. Beispiel Krebs: «Jede
Krebszelle benötigt eine gewisse Grösse, um sich
zu teilen. Wenn man nun das Wachstum der
Zelle stoppt, dann wird sie sich auch nicht mehr
teilen und das Tumorwachstum ist unterbrochen.» Mittlerweile haben grosse pharmazeutische Firmen damit begonnen, an solchen Substanzen zu arbeiten. Beispielsweise ist das seit
2011 zugelassene Antikrebsmedikament «Afinitor», – wie der Name des Medikaments andeutet – gegen TOR gerichtet. Neue Medikamente
bewähren sich seit einigen Jahren auch beim Zurückdrängen von Zellwucherungen, wie sie
gerne nach dem Einsetzen von Stents in den
Blutgefässen entstehen. Weitere, gegen die Proteinkinase wirkende Substanzen sind in der
Pipeline der Medikamentenhersteller. Gleichzeitig weiss man seit Kurzem, dass TOR auch eine
wichtige Rolle beim Alterungsprozess spielt. So
verlängert die Hemmung dieses Enzyms durch
Rapamycin oder eine diätische Lebensweise die
Lebensdauer von Versuchstieren. Die Arbeit an
TOR bleibt für die Forschergemeinde ein Jungbrunnen, aus dem immer wieder neue Überraschungen hervorquellen. Obwohl sich alles letztlich immer «nur» um ein, zwei Enzyme dreht,
ist sich Michael Hall sicher: «TOR wird mich
gewiss für den Rest meiner wissenschaftlichen
Karriere beschäftigen.»
Zur Person
Schon in den frühen 1990er-Jahren entdeckten der Biologe Prof. Dr. Michael N.
Hall und seine Forschungsgruppe am
Basler Biozentrum das Enzym TOR (Target
Of Rapamycin) in Hefezellen. Es ist in
nahezu allen Eukaryotenzellen zu finden
und spielt eine zentrale Rolle bei der
Steuerung des Zellwachstums und der
Zellteilung. Die Entdeckungen des 1953
in Puerto Rico geborenen Hall gehören
heute zum Grundwissen in der Biologie.
So wird auch die Tumorentstehung massgeblich von TOR beeinflusst: Man schätzt,
dass 70 Prozent der Krebserkrankungen
beim Menschen im Zusammenhang mit
Störungen des TOR-Signalweges stehen.
Hall leitet gegenwärtig ein Team von 15 Forschenden am Biozentrum in Basel. Er ist
Träger zahlreicher Preise, u. a. des CloëttaPreises (2003) und des Louis-JeantetPreises (2009). Im Herbst 2012 wurde er
mit dem renommierten Marcel-BenoistPreis ausgezeichnet. Michael Hall ist
schweizerisch-amerikanischer Doppelbürger und lebt mit seiner Familie in Basel.
Donnerstag 6. Juni 2013, 14.00 Uhr
Vollversammlung
auf dem Gurten in Bern
Anmelden unter: www.pharmacap.ch oder [email protected]
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«Wissenschaft und
Forschung»
Auszug aus
WISSEN UND WISSENSCHAF T
OTX World Nr. 94
Juli 2013
Stresshormone als Vorboten
Der Gehalt von Stresshormonen im Blut kann frühzeitige Aussagen über den Krankheitsverlauf
bei Lungenentzündungen und Schlaganfällen liefern. Durch die Erkenntnisse von Prof. Dr. med.
Mirjam Christ-Crain und ihrem Team vom Universitätsspital Basel können gefährdete Patienten
heute früher gewarnt und noch selektiver behandelt werden.
Klaus Duffner
Foto: zVg
Copeptin als Prädiktor bei Schlaganfall
«Speziell beim Schlaganfall ist der Hormonspiegel
von Copeptin eine Art ‹rote Fahne des Körpers›»,
sagt Prof. Dr. med. Mirjam Christ-Crain.
Lungenentzündungen gehen zu rund 90 Prozent
auf Bakterieninfektionen und nur zu 10 Prozent auf Virusinfektionen zurück. Liegt eine
solche Entzündung vor, wird vom Körper – neben vielen anderen Abwehrmechanismen des
Immunsystems – auch verstärkt Procalcitonin,
ein Vorläuferhormon von Calcitonin, gebildet,
das wiederum den Calcium- und Phosphathaushalt des Körpers reguliert.
Weniger Antibiotika durch
Hormonmessung
Allerdings ist der Procalcitonin-Spiegel bei bakteriell verursachten Lungenentzündungen wesentlich höher als bei virusbedingten Pneumonien. Diese Tatsache erregte bei Prof. Dr.
med. Mirjam Christ-Crain und ihren Kollegen
vom Universitätsspital Basel Aufmerksamkeit.
Nächster Gedanke: Könnte man sich diesen
Unterschied nicht diagnostisch oder therapeutisch zunutze machen? Tatsächlich werden
bei Lungenentzündungen – egal, ob durch Bakterien oder Viren verursacht – erst einmal Antibiotika verschrieben, obwohl solche Medikamente bei Virusinfektionen nutzlos sind und
wegen möglicher Resistenzentwicklungen den
Patienten in solchen Fällen eher schaden.
Über den Procalcitonin-Spiegel, so die Idee
der Forschungsgruppe, liesse sich der Antibiotikaeinsatz exakter regulieren. Es folgten Studien. So wurden Patienten mit Lungenentzün-
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dung und anderen Infektionen der unteren
Luftwege in zwei randomisierten Untersuchungen entweder «normal» oder abhängig von ihrem Procalcitonin-Level mit Antibiotika versorgt. Ergebnis: In der Procalcitonin-Gruppe
konnten sowohl die Antibiotikaverschreibungen um rund 50 Prozent reduziert als auch die
Dauer der Verschreibung auf rund die Hälfte
gesenkt werden. «Das hat längerfristig sicher
auch auf die Resistenzentwicklung Einfluss,
denn je weniger Antibiotika desto besser», sagt
Christ-Crain. Der Procalcitonin-Wert könnte
zudem eine weitere Funktion erfüllen, nämlich
als Prädiktor für einen schweren Verlauf der Erkrankung dienen. Wer nämlich bei einer Lungenentzündung einen konstant hohen Wert
dieses Hormons hat, ist deutlich stärker gefährdet, ernsthaft zu erkranken oder gar zu sterben
als Patienten mit rasch sinkenden Levels. Mit
diesem Wissen könne man bei den Betroffenen
noch intensiver nach den Ursachen der Entzündung suchen und gegebenenfalls noch
effektiver reagieren, so die Klinikerin. Auch
andere Arbeitsgruppen haben die neuen Forschungsergebnisse zwischenzeitlich bestätigt,
sodass der Procalcitonin-Wert bei Lungenentzündung und anderen Atemwegsinfektionen
heute immer stärker beachtet wird. Mittlerweile
wurden die neuen Erkenntnisse auch in verschiedene Guidelines (z. B. in die US-amerikanischen) integriert.
Auch der zweite Forschungsschwerpunkt von
Prof. Christ-Crain hat die Wirkung von menschlichen Stresshormonen im Visier. So dient das
antidiuretische Hormon Vasopressin (ADH)
einerseits der Steuerung des Wasserhaushaltes.
Es ist aber andererseits auch ein Stresshormon,
das in Situationen wie Infektionen, Schock oder
Trauma ansteigt. Allerdings hat Vasopressin
hinsichtlich klinischer Studien einen entscheidenden Nachteil: Es ist extrem schwierig nachzuweisen. Dagegen ist das Hormon Copeptin,
dessen physiologische Bedeutung bis heute unbekannt ist, sehr gut im Labor zu bestimmen.
Da Copeptin parallel zu Vasopressin in Stresssituationen ausgeschüttet wird, dient es in wissenschaftlichen Studien als eine Art «Stellvertreter». Weiterer Vorteil: Copeptin ist deutlich
sensitiver als klassische Stresshormone (wie z. B.
Cortisol), das heisst, es ist in der Lage, den Wissenschaftlern wesentlich feinere Unterschiede
in Stresssituationen anzuzeigen. Kann eine solche Substanz nun den Verlauf einer Krankheit
beschreiben oder sogar vorhersagen? Um diese
Frage zu beantworten, untersuchten die Basler
rund 400 Schlaganfallpatienten direkt nach dem
Ereignis und drei Monate danach. Ergebnis: Je
höher der Copeptin-Level in der Notaufnahme,
desto höher die Sterbewahrscheinlichkeit und
das Risiko für schwere Behinderungen. Umgekehrt hatten Patienten mit tieferem CopeptinNiveau gute Heilungschancen. Aber auch unabhängig von schweren Ereignissen erwies sich
ein hoher Copeptin-Gehalt im Blut als signifikanter Prädiktor für zukünftige Erkrankungen.
«Und dies kann entscheidend sein, denn bei
Patienten mit mildem Schlaganfall aber hohem
Copeptin-Level wissen wir heute, dass wir besonders aufmerksam bleiben müssen und die intensive Überwachung und Therapie wichtig ist»,
erklärt Mirjam Christ-Crain, «speziell beim
Schlaganfall ist Copeptin eine Art ‹rote Fahne
des Körpers›, der uns damit zu verstehen gibt,
dass es uns nicht gut geht». Sie hat diese Zusammenhänge zusammen mit ihrer Forschungsgruppe als erste erkannt und erforscht. Heute
gilt Copeptin als der erste nachgewiesene Marker bei Schlaganfall, der einen unabhängigen
prognostischen Wert besitzt.
Illustration: © psdesign1, Fotolia.com
Sind die Blutwerte spezieller Hormone erhöht, könnte das eine Vorhersage über den Verlauf mancher Krankheiten wie z. B. Hirnschlag erlauben.
Zielgerichteter behandeln
Sehr wichtig könnte das Hormon auch bei Patienten mit transitorischen ischämischen Attacken
(TIA) werden. Solche leichten Schlaganfälle rufen neurologische Ausfallserscheinungen, wie
z. B. Lähmungen oder Sprachstörungen hervor,
die sich jedoch innerhalb von 24 Stunden vollständig zurückbilden. Allerdings sind die vorübergehenden Attacken in nicht wenigen Fällen
Vorboten für einen in den nachfolgenden Monaten auftretenden «grossen» Schlaganfall. Bislang war kaum vorherzusagen, wer besonders
von einem solchen lebensbedrohlichen Ereignis
betroffen sein könnte. Die am Universitätsspital
erhobenen Daten deuten nun darauf hin, dass
TIA-Patienten mit hohem Copeptin-Level ein
höheres Risiko für einen nachfolgend schweren
Hirnschlag hatten als Betroffene mit niedrigem
Copeptin-Spiegel. Wenn sich diese Beobachtung
in zukünftigen Studien bestätigen sollte, würde
das Konsequenzen auf die Behandlung haben.
Während heute praktisch alle TIA-Patienten hospitalisiert und einem umfangreichen und teuren
Untersuchungs- und Behandlungsprozedere unterzogen werden, wäre es mit einem CopeptinMarker zukünftig möglich, viel selektiver vorzugehen. Hochrisikopatienten würden dann
immer hospitalisiert werden und mit allen zur
Verfügung stehenden diagnostischen und therapeutischen Massnahmen versorgt werden können. Auf der anderen Seite wäre bei Patienten
mit niedrigem Copeptin dann ein solches «Intensivprogramm» im Spital möglicherweise
nicht notwendig und es könnten nachfolgende
Untersuchungen auch ambulant erfolgen. Damit,
so Christ-Crain, könnte nicht nur viel zielgerichteter untersucht und behandelt werden, sondern
es würden auch überflüssige und teure Untersuchungen wegfallen. Letzteres könnte zu deutlichen Kostenersparnissen führen.
2009 den Latsis-Preis, eine der höchsten Auszeichnungen für junge Forschende in der
Schweiz. Derzeit arbeitet sie zusammen mit
anderen Zentren in der Schweiz am therapeutischen Einsatz des «klassischen» Stresshormons Cortisol bei Lungenentzündung, erste
Ergebnisse werden Mitte 2014 erwartet. Gleichzeitig sind Studien zur Verbesserung der Diagnose von Diabetes insipidus (einer Störung im
Körper-Wasserhaushalt) in Planung. Dabei
geht es ebenfalls um Stresshormone. Wichtig
ist Prof. Christ-Crain nicht nur, als Forscherin zu
arbeiten, sondern als Ärztin immer auch am
Patientenbett zu stehen. Die 1974 in Basel
geborene Endokrinologin ist Mutter dreier
Kinder, das jüngste zwei Jahre alt. Ärztin,
Wissenschaftlerin, Mutter – das hält auch
eine Stressforscherin auf Trab. Was tut sie
selbst gegen zu viele Stresshormone im
Blut? «Nach dem Nachhausekommen versuche ich, ganz bewusst herunterzufahren.
Allerdings ist auch eine Stressforscherin alles andere als stressresistent.»
Zur Person
Prof. Dr. med. Mirjam Christ-Crain hat derzeit eine Forschungsprofessur des Schweizerischen Nationalfonds am Universitätsspital Basel und ist gleichzeitig als leitende
Ärztin in der Endokrinologie tätig. Ihre bahnbrechenden Erkenntnisse zum Hormonstatus in Stresssituationen des Körpers liefern
heute wichtige Entscheidungsgrundlagen
für die frühzeitige Diagnose und Behandlung von Lungenentzündungen und Schlaganfällen in der klinischen Praxis. Neben einer Reihe weiterer Preise erhielt sie im Jahr
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«Wissenschaft und
Forschung»
Auszug aus
WISSEN UND WISSENSCHAF T
OTX World Nr. 97
Oktober 2013
Gletschermann mit Zahnproblemen
Fotos: UZH
Der Eismann aus den Ötztaler Alpen litt an zahlreichen Zahnerkrankungen, darunter einer starken
Zahnabschleifung, Karies und Parodontitis. Trotzdem hatte der damals etwa 40-Jährige einen funktionsfähigen Kauapparat. Zwei Spezialisten von der Universität Zürich warfen per Computertomographie einen tiefen Blick in den Mund von «Ötzi».
Klaus Duffner
Im September 1991 fanden Wanderer im Eis des
Tisenjochs in den Ötztaler Alpen auf 3210 Meter Höhe einen mumifizierten Körper. Fachleute
datierten das Alter des «Eismannes» auf 5300
Jahre. Wegen des hervorragenden Erhaltungszustandes, sowohl des Körpers als auch der Kleidung, der Waffen und sonstiger Gegenstände
entwickelte sich dieser Fund für die Wissenschaft zu einer einmaligen Schatzkammer. Aus
ihr werden bis heute wichtige Erkenntnisse zum
Leben in der Jungsteinzeit gewonnen. Nun haben zwei Schweizer Forscher – zusammen mit
amerikanischen und Südtiroler Kollegen (EURAC Bozen) – auch den Zähnen des im Südtiroler Archäologiemuseums in Bozen tief gefrorenen Mannes ihre Geheimnisse entlockt.
Tod durch Verbluten
Schon im Jahr 2005 hatte Frank Rühli, Leiter des
Zentrums für Evolutionäre Medizin (ZEM) an
der Universität Zürich, Gelegenheit die Gletschermumie zu untersuchen. Damals war schon
länger bekannt, dass eine Pfeilspitze im Körper
von «Ötzi» steckt. Nun wollte man wissen, ob
dieses Geschoss auch zum Tod geführt haben
könnte. Die Untersuchung in einem hochmo-
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Foto: © Südtiroler Archäologiemuseum, Ochsenreiter
Bild links: Blick auf die rechte Seite der Zahnreihen (3D-Rekonstruktion). Pfeil nach rechts: tiefe kariöse
Läsionen, Pfeil nach links: starker Knochenschwund der Backenzähne.
Bild rechts: Schädel des Eismannes von vorn. Sichtbar ist der angeborene vergrösserte Abstand zwischen
den zentralen Frontzähnen und die starke Abnutzung der Zähne.
dernen Computertomografen offenbarte dann
ein unerwartet eindeutiges Ergebnis: Die Pfeilspitze durchschlug von hinten das Schulterblatt
und riss anschliessend eine Arterie auf der linken Körperseite auf. «Da ist es normalerweise
eine Frage von Minuten bis der Tod eintritt», erklärt Rühli im Gespräch mit OTXWorld. «Der
Gletschermann ist mit hoher Sicherheit innerlich verblutet.»
Stark abgeschliffene Zähne
Der Eismann ist der wohl am besten untersuchte
menschliche Körper überhaupt. Um so erstaunlicher ist es, dass man sich erst jetzt näher mit
seinen Zähnen beschäftigte. Per Computertomografie konnten Frank Rühli und der Zahnarzt Roger Seiler vom Zentrum für Evolutionäre
Medizin des Anatomischen Instituts der Uni
Zürich nun einen tiefen Blick in seine Mundhöhle werfen. Der erste Eindruck: Seine Zähne
sind stark abgenutzt und in der Front um 3/5
der ursprünglichen Höhe abradiert. «Das ist für
neolithische Gesellschaften ganz normal», so
Roger Seiler, «denn sowohl die an der Nahrung
haftenden Verunreinigungen, als auch der Abrieb der Mahlsteine führten zum Abschleifen
der Zähne.» Auffällig ist auch ein grosser Spalt
zwischen den vorderen Schneidezähnen und
mehrere unfallbedingte Zahnschäden. So war
ein deutlich verfärbter Frontzahn – wohl durch
einen Schlag - abgestorben und ein Backenzahn
hatte – vielleicht durch ein Steinchen in Getreidebrei – einen Höcker verloren. Zudem waren
die vier Weisheitszähne nie angelegt worden.
Karieslöcher in den Zähnen
Dass der Eismann auch unter Karies litt, ist völlig neu. Bislang war man davon ausgegangen,
dass er kariesfrei ist. Tatsächlich ergaben die Untersuchungen, dass sein Gebiss sehr wohl einige
durch Karies verursachte Löcher aufwies. Warum
gab es diese Zivilisationskrankheit in einer Zeit,
in der nicht nur «Dröbsli» und «Schoggi», son-
dern überhaupt Zucker, unbekannt waren? «Die
Menschen in der Jungsteinzeit betrieben Ackerbau und hatten verschiedene Getreidesorten.
Dadurch wuchs der Stärkekonsum, zum Beispiel
in Form von Getreidebrei oder Brot, was sich
als Karies an den Zähnen bemerkbar machen
konnte», erklärt der Zahnexperte. Tatsächlich ist
im Gegensatz zu jungsteinzeitlichen an altsteinzeitlichen Zähnen fast keine Karies zu finden.
Die sehr frühen Menschen in Europa waren – im
Gegensatz zum Gletschermann – hauptsächlich
Jäger und Sammler und verzehrten dadurch nur
wenig stärkehaltige Nahrung.
Schwere Parodontitis
Die Analyse der Computertomogramme zeigte
ein weiteres wichtiges Detail: Der Mann aus
dem Eis litt unter starker Parodontitis. Vor allem im Bereich der hinteren Backenzähne hatte
sich das Stützgewebe fast komplett zurückgezo-
gen und die Zahnhälse lagen frei. Sogar der Kieferknochen war schon angegriffen. 10 bis 15
Prozent der heutigen Bevölkerung leiden unter
schweren Formen der Zahnfleischentzündung,
die wahrscheinlich auch genetisch bedingt sind.
Tatsächlich konnte über Genanalysen festgestellt werden, dass auch der Gletschermann
dazu gehört.
Andere Wissenschaftler hatten in früheren Untersuchungen sehr deutliche Anzeichen einer
Arterienverkalkung – vor allem im Bereich
der Karotis – diagnostiziert. Was dabei stutzig
macht, ist die Tatsache, dass der Eismann in
keinster Weise die für eine Arterienerkrankung
typischen Risikofaktoren aufwies: Er war nicht
übergewichtig, er ernährte sich ausgewogen und
er hatte nicht geraucht. Im Gegenteil: Der gut
40-Jährige war ein durchtrainierter, drahtiger
rund 1,60 Meter grosser Mann, der auch das Erwandern hochalpiner Gegenden nicht scheute.
Heute weiss man, dass Paradontitis und Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems einander
bedingen können. Beiden liegen fundamentale
Entzündungsmechanismen zugrunde. So werde
in zahnärztlichen Schweizer Fachzeitschriften
darauf hingewiesen, dass Patienten mit starker
Parodontitis auf mögliche Arterienverkalkungen aufmerksam gemacht werden sollten, berichtet Roger Seiler.
Zähne immer noch funktionsfähig
Trotz der nicht unerheblichen Zahnschäden,
war das Gebiss des Gletschermannes, der ja für
damalige Verhältnisse ein recht hohes Alter erreicht hatte, noch voll einsatzfähig. Immerhin
hatte der Steinzeitmensch in seinem Mund noch
alle Zähne – was viele der heute 40-Jährigen von
sich nicht mehr behaupten können.
Foto: Klaus Duffner
«Wir sind alle ein bisschen Ötzi» – ein Interview mit:
Prof. Dr. Dr. med. Frank Rühli (links) ist Leiter des Zentrums für Evolutionäre Medizin am Anatomischen Institut der Universität Zürich. Der 41-jährige Mediziner
und Anatom zählt zu den renommiertesten Mumienforschern weltweit. Neben
seinen Forschungen am Gletschermann ist er in zahlreiche andere Projekte involviert. So werden mithilfe modernster CT- und/oder DNA-Analysen ägyptische,
iranische, peruanische aber auch schweizerische Mumien untersucht.
Dr.med.dent Dr. phil Roger Seiler (rechts) ist praktizierender Zahnarzt in Zürich
und gleichzeitig Kunsthistoriker. Er arbeitet am ZEM und ist spezialisiert auf
die Untersuchung von Zahnerkrankungen in der Vergangenheit. Obwohl der
Eismann schon seit über 20 Jahren erforscht wird, hält er immer noch Überraschungen parat.
Der Gletschermann ist ja extrem wertvoll.
Wie haben sie das Auftauen des Objektes
während der Untersuchungen vermieden?
FR: Man darf den gefrorenen Mann theoretisch
nur eine Stunde aus der Kühlkammer herausnehmen, da sonst Schäden zu befürchten sind.
Also musste am vorgesehenen Abend im Jahre
2005 alles ganz schnell gehen: Raus aus der
Kühlkammer im Bozener Museum, rein ins
Auto und direkt ins Spital, dann das CT herstellen und anschliessend sofort wieder zurück in
den Kühlraum. Als weitere Schutzmassnahme
wurde er während des Transportes in mehrere
eisgefüllte Tuchlagen eingewickelt.
Warum hatte sich bislang kaum jemand für
die Zähne des Gletschermanns interessiert?
FR: Wahrscheinlich weil ganz einfach nie ein
Zahnarzt in den Untersuchungsteams dabei war.
Der Eismann wurde in der Vergangenheit zwar
radiologisch untersucht, aber nie von einem
Zahnarzt. Natürlich sehe auch ich als Anatom
und Mediziner gröbere Veränderungen an den
Zähnen, aber für die Feinheiten braucht es schon
einen Zahnarzt.
beschädigt, aber funktionell im Grossen und
Ganzen in Ordnung.
Gibt es eigentlich Hinweise auf Zahnpflege?
Sie haben vor allem mit der Computertomografie gearbeitet. Konnten sie eigentlich
auch direkt in den Mund hineinschauen?
RS: Leider ist sein Mund nur wenig geöffnet
und daher der endoskopischen Untersuchung
nur sehr beschränkt zugänglich. Es konnten
nur Aufnahmen im vorderen Bereich gemacht
werden.
Mit den Löchern in den Zähnen muss man
doch erhebliche Zahnschmerzen haben, oder?
RS: Zu bestimmten Zeiten hatte er sicher
Schmerzen. Aber Schmerzen werden sehr unterschiedlich wahrgenommen. Ich kenne aus
meiner klinischen Praxis Fälle, die mit ihrem
Befund enorm hätten leiden müssen, aber jahrelang damit umherliefen. Die Zähne vom Gletschermann waren zwar abgenutzt und teilweise
RS: Eine ernsthafte Zahnhygiene ist nicht nachzuweisen und beschränkte sich wohl auf die
Selbstreinigung durch die faserreiche Nahrung.
Wie wurden Ihre Studienergebnisse
aufgenommen?
FR: Wir hatten weltweit Reaktionen – nicht nur
aus Europa, sondern auch Indien, Amerika und
anderswo. Interessanterweise gab es Reaktionen
aus sehr unterschiedlichen Fachrichtungen, also
nicht nur von Archäologen und Urgeschichtlern, sondern besonders auch von Zahnmedizinern. Und natürlich auch in der Allgemeinpresse. Eine Boulevardzeitung titelte: «Ötzi hatte
Zahnschmerzen». Da kann sich jeder damit
identifizieren, denn jeder hat irgendwann mal
im Leben Zahnweh. Also sind wir alle «ein bisschen Ötzi».
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