Die Zukunft der Gesundheitsberufe

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Die Zukunft der Gesundheitsberufe
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Herausforderungen für die Zukunft
Schwerpunkt: Zukunft der Gesundheitsberufe
Die Zukunft
der Gesundheitsberufe
Nachwuchsförderung und Qualifizierung
auf dem Prüfstand
Michael Ewers
Die Gesundheitsberufe
stehen vor großen Herausforderungen: alternde Gesellschaften, Nachwuchsprobleme,
schlechte Arbeitsbedingungen
und ein globaler Arbeitsmarkt.
Michael Ewers sieht in der
gezielten Qualifizierung und
Förderung des Nachwuchses
die Chance für eine nachhaltige
Zukunftssicherung.
D
ie Zukunft der Gesundheitsberufe ist
ungewiss. Plakativ ist oft von Ärztemangel und Pflegenotstand oder – je
nach Blickwinkel – von über- oder unterqualifiziertem, selten aber von bedarfsgerecht qualifiziertem Personal die Rede.
Unflexible und unzeitgemäße Ausbildungsstrukturen werden ebenso beklagt
wie demotivierende Arbeitsbedingungen
und infolgedessen die Abwanderung
deutscher Fachkräfte ins Ausland sowie
die Notwendigkeit der Gewinnung ausländischer Fachkräfte für das hiesige Gesundheitssystem. Hinter diesen Schlagzeilen verbirgt sich ein Problemszenario,
das nach ernsthafter Auseinandersetzung
und innovativen Lösungen verlangt.
Kritische Personalsituation in Zeiten
der Globalisierung
International wird die Frage nach einer bedarfsgerechten und zukunftsfähigen Nachwuchsförderung und Qualifizierung der Gesundheitsberufe seit ge-
raumer Zeit diskutiert. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat zuletzt anlässlich des Weltgesundheitstages 2006
unter dem Motto „Working together for
health“ länderübergreifend und vergleichend auf die kritische Personalsituation
in den Gesundheitssystemen unter den
Bedingungen einer globalisierten und
komplexer werdenden Welt hingewiesen. Einerseits benötigen die alternden
und mit chronischen Erkrankungen konfrontierten Gesellschaften künftig mehr
engagierte und qualifizierte junge Menschen in den Gesundheitsberufen. Andererseits wächst die Konkurrenz um
den zahlenmäßig schrumpfenden Nachwuchs durch Berufe mit besseren Arbeitsbedingungen, Einkommenserwartungen und Karriereoptionen. Der wissenschaftliche und technische Fortschritt
fordert von den Gesundheitsberufen
dauerhafte Anpassungsbereitschaft, Flexibilität und lebenslanges Lernen, doch
können die tradierten Bildungssysteme
diesen Forderungen bisher noch selten
mit durchlässigen, niedrigschwelligen
und abgestimmten Bildungsangeboten
begegnen.
In den zunehmend marktförmig gestalteten Gesundheitssystemen rücken
die Gesundheitsberufe als „Humanressourcen“ ins Blickfeld, was einen intensiveren Wettbewerb zwischen Regionen
und Ländern mit unterschiedlichen ökonomischen Möglichkeiten um dieses
knappe Gut nach sich zieht – mit allen
damit verbundenen Verwerfungen. Hin-
zuweisen ist beispielsweise auf die in
den letzten Jahren forcierte Anwerbung
philippinischer Pflegekräfte für die USA
und die von den jungen und meist gut
qualifizierten Frauen im Ursprungsland
und dessen Gesundheitssystem hinterlassenen Leerstellen. Ähnlich komplexe
Folgen der Migration von Gesundheitsberufen deuten sich zwischenzeitlich
auch zwischen Ost- und Westeuropa an.
Vor diesem Hintergrund sind sich die
Analysten darin einig, dass sich die Gewinnung, Förderung und Qualifizierung
der Gesundheitsberufe zum kritischen
Faktor für den Erhalt und die Zukunft
der Gesundheitssysteme entwickelt –
und zwar weitgehend unabhängig von
deren Entwicklungsstand oder politischem Bedingungsgefüge. Angesichts
dessen gehören Arbeitsbedingungen,
Verteilungsgesichtspunkte und Rekrutierungsfragen ebenso auf den Prüfstand
wie Strukturen und Angebote der beruflichen und akademischen Aus-,
Fort- und Weiterbildung.
Dr. med. Mabuse 173 · Mai / Juni 2008
Herausforderungen für die Zukunft
Foto: Bertram Solcher/laif
Welche Bedingungen braucht es
für guten Nachwuchs?
Zu fragen ist beispielsweise, wie junge
Menschen unter veränderten demographischen Bedingungen dazu motiviert
werden können, sich in Gesundheitsberufen zu engagieren. Was benötigen
sie, um den sich ihnen stellenden und
anspruchsvoller werdenden Aufgaben
dauerhaft gerecht werden zu können?
Wie müssen die Basisqualifikationen der
Gesundheitsberufe für das 21. Jahrhundert beschaffen sein, und wie kann
sichergestellt werden, dass die einmal
vermittelten Kenntnisse und Kompetenzen mit der wachsenden Komplexität
der gesundheitlichen Problemlagen und
dem raschen Wissenszuwachs Schritt
halten können? Wie muss sich das Verhältnis der Gesundheitsberufe zueinander entwickeln, und wie kann gemeinsames Lernen, Arbeiten, Forschen und
Reflektieren trotz anhaltender Differenzierungs- und SpezialisierungsbestreDr. med. Mabuse 173 · Mai / Juni 2008
bungen sinnvoll gestaltet werden? Welche Verantwortung müssen Hochschulen, welche andere Bildungsträger und
welche die Einrichtungen der Gesundheitsversorgung für die künftige Rekrutierung und Qualifizierung der Gesundheitsberufe übernehmen? Und schließlich: Welche finanziellen, rechtlichen und
strukturellen Bedingungen müssen von
einer Gesellschaft bereitgestellt werden,
um die Qualifizierung der für sie tätigen
Gesundheitsberufe innovativ, nachhaltig
und zukunftsfähig gestalten zu können?
Nicht nur Ärzte und Pflegekräfte
zählen zu den Gesundheitsberufen
Diskutiert wird in diesem Zusammenhang nicht allein über Gesundheitsberufe, deren Tätigkeit unmittelbar im
Gesundheitssystem angesiedelt ist und
die im Wesentlichen die gesetzlich geregelte Gesundheitsversorgung der Bevölkerung übernehmen – also etwa Mediziner und Pflegende. Zwar gelten sie als
wichtiger Indikator für den Entwick-
lungsstand eines Gesundheitssystems, zu
berücksichtigen sind aber auch solche
Gesundheitsberufe, die mit technischen
oder administrativen Aufgaben betraut,
oder jene, die vorwiegend in der Gesundheitsförderung und Prävention tätig
sind. Deshalb verzichtet die WHO auf
eine Eingrenzung und zählt zu den Gesundheitsberufen all jene Personen, deren primäre Intention darauf abzielt,
Gesundheit zu erhalten, zu fördern oder
zu sichern (WHO Report 2006). Ergänzend werden die umfassenden Kenntnisse und Kompetenzen betont, die für
die Ausübung dieser Tätigkeiten erforderlich sind, sowie die hohen ethischen
Standards, denen sich die Gesundheitsberufe im Dienst an der Gesellschaft verpflichtet fühlen.
Gerechtfertigt wird diese breite Definition auch damit, dass der Anforderungswandel – etwa aufgrund demographischer und epidemiologischer Veränderungen – zweifellos alle fordert, die
sich mit dem Thema „Gesundheit“ im
weitesten Sinne beruflich befassen. Auch
ist es notwendig, in allen Bereichen des
Gesundheitssystems für genügend qualifizierten Nachwuchs zu sorgen, um die
anfallenden Aufgaben bewältigen zu
können. Schließlich wird betont, dass
Menschen mit diversen Ausbildungsprofilen gleichberechtigt und gleichrangig
interagieren und ihre jeweiligen disziplinären Perspektiven bündeln müssen, um
dem Anforderungswandel in den Gesundheitssystemen gewachsen zu sein.
Hierarchien bestimmen die Gesundheitsberufe in Deutschland
In Deutschland ist diese breite Definition bislang nur bedingt anschlussfähig. Hierzulande werden Gesundheitsberufe traditionell in Kategorien
eingeteilt und entsprechend gewichtet –
nicht zuletzt auch in der öffentlichen
Wahrnehmung. Unterscheidungen in
Heilberufe und Heilhilfsberufe, Gesundheitsdienstberufe, Gesundheitsfachberufe oder medizinische Assistenzberufe
können ihre Ausrichtung an hierarchischen Leitideen kaum verbergen.
Üblich ist zudem eine Unterscheidung
zwischen akademischen und nicht-akademischen Gesundheitsberufen – etwa
in den Daten des Bundesgesundheitsberichts. Zu den erstgenannten zählen
gemeinhin (Zahn-)ÄrztInnen und ApothekerInnen, zu den letztgenannten
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Herausforderungen für die Zukunft
Pflege- und Therapieberufe, medizinische Fachangestellte und viele andere
mehr. Entwicklungen wie die vor über
15 Jahren eingeleitete (Teil-)Akademisierung der Pflege oder die Rückkehr
von Public Health an die deutschen
Hochschulen, Spezialisierungen im Bereich der Gesundheitsökonomie, der
Medizintechnologie oder auch das Drängen anderer Gesundheitsberufe an die
Hochschulen lassen sich mit dieser Unterscheidung kaum adäquat erfassen.
Dabei sind diese Entwicklungen ein
wichtiger Indikator dafür, dass auch
hierzulande eine Anpassung an die veränderten Anforderungen im Gesundheitssystem in Gang gekommen und im
Bildungssystem auch bereits auf Resonanz gestoßen ist.
Hochschulbildung als Option für
viele Gesundheitsberufe
Tatsächlich sind die Gesundheitsberufe in den aktuellen bildungspolitischen
Debatten in Deutschland ein wichtiges
Thema: Es geht um die verglichen mit
anderen Ländern zu niedrige Zahl an
Hochschulzugangsberechtigten, Studierenden, Hochschulabsolventen, Investitionen in das Bildungssystem und nicht
zuletzt um den Mangel an Chancengleichheit und Durchlässigkeit. Grund
hierfür ist die große Zahl und gesellschaftliche Bedeutung der Gesundheitsberufler, aber auch eine hohe Innovations- und Modernisierungsbereitschaft
auf der einen und restriktive Rahmenbedingungen, zahlreiche Besonderheiten sowie widerstreitende politische Interessen auf der anderen Seite.
Exemplarisch sei angemerkt, dass die
traditionell universitär ausgebildeten
ÄrztInnen und ApothekerInnen den
europäischen Reformbemühungen im
tertiären Bildungssektor (Stichwort
„Bologna-Reform“) skeptisch bis grundWeiterführende Literatur
Buchan J, Calman L (2004): Skill-mix and policy change in the health workforce: nurses in
advanced roles. OECD Directorate for Education, Employment, Labour, and Social
Affairs, Employment, Labour and Social
Affairs Committee. Paris: OECD
Davies C (2004): The future health workforce.
Houndmills GB: Palgrave Macmillan
Dawson S, Sausman C (Eds.) (2005): Future
health organisations and systems. Houndmills GB: Palgrave Macmillan
Dubois CA, McKee M, Nolte E (Eds.) (2006):
Human resources for health in Europe.
Schwerpunkt: Zukunft der Gesundheitsberufe
sätzlich ablehnend gegenüberstehen.
Hingegen sehen Pflegende, Hebammen,
Physio- und ErgotherapeutInnen sowie
viele andere Gesundheitsberufe darin
eine Option. Sie nutzen die neu eröffneten Gestaltungsspielräume sowie die
wachsende Durchlässigkeit zwischen
dem
sekundären
(weiterführende
Schulen) und tertiären (Hochschulen
und Bildungsakademien) Bildungssektor, fordern mit Nachdruck ungehinderten Zugang zu den (Fach-)Hochschulen
und erzeugen damit politischen Entscheidungs- und Handlungsdruck. Verbunden sind diese Bestrebungen mit
der Hoffnung, attraktiver und in der
heutigen Wissensgesellschaft insgesamt
zukunfts- und wettbewerbsfähiger zu
werden. Zugleich soll die Anhebung der
Qualifikation dazu führen, einen eigenständigen Beitrag zur Beantwortung der
Anforderungen im Gesundheitssystem
zu leisten und – internationalen Vorbildern folgend – eine aktivere Rolle in der
evidenzbasierten Praxis und Forschung
zu übernehmen.
Es fehlt ein Gesamtkonzept zur
Zukunftssicherung
Noch ergeben die neuen Qualifizierungsangebote in Deutschland kein
schlüssiges Bild: Es fehlt an einem Gesamtkonzept sowie einer sinnvollen
Abstimmung zwischen den Bildungssektoren und den unterschiedlichen Gesundheitsberufen. Auch sind die Auswirkungen der Reforminitiativen auf
das Gesundheitssystem und die Versorgungspraxis nicht vollständig erfassbar.
Manche Aktivitäten beschränken sich
auf einzelne Disziplinen oder verfolgen
Partikularinteressen, andere verstricken
sich in berufspädagogischen und curricularen Detailfragen. Innovationen, die
an Besitzstände und Machtstrukturen
einzelner Gesundheitsberufe rühren,
European Observatory on Health Systems
and Policies Series. Maidenhead: Open University Press
Greiner AC, Knebel E (2001): Health Professions
Education: A Bridge to Quality. Committee
on the Health Professions Education Summit.
Board on Health Care Services. Washington
DC: The National Academies Press
Rechel B, Dubois CA, McKee (Eds.) (2006): The
Health Care Workforce in Europe. Learning
from experience. European Observatory on
Health Systems and Policies Series. Maidenhead: Open University Press
(www.euro.who.int/Document/
E89156.pdf)
provozieren lautstarken Widerstand.
Oftmals wird die Experimentierfreude
durch ökonomische Gegenargumente
schon im Keim erstickt – etwa wenn die
mit höheren Bildungsabschlüssen einhergehenden Einkommenserwartungen
breiter Gruppen von Gesundheitsberufen und die Konsequenzen dessen für
die Finanzierung der Gesundheitssysteme insgesamt problematisiert werden.
In der Summe – so ist zu resümieren
– wird die Breite und Tiefe des hier aufgegriffenen Themas und dessen Relevanz für die öffentliche Gesundheit in
Deutschland unterschätzt. Damit die
Gesundheitsberufe auch künftig ihren
gesellschaftlichen Auftrag erfüllen können, müssen die aufgezeigten Engführungen überwunden und Fragen der
Nachwuchsförderung und Qualifizierung
auf einer übergeordneten Ebene und
grundsätzlicher als bislang angegangen
werden. Orientierung über bereits Erreichtes zu gewinnen sowie Überlegungen für die in Zukunft anstehenden strategischen Entscheidungen und Entwicklungsaufgaben zu konkretisieren, hat hohe Priorität. Der Sachverständigenrat
zur Begutachtung der Entwicklung im
Gesundheitswesen hat mit seinem jüngsten Gutachten zur Entwicklung der Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe
Impulse in diese Richtung gesetzt. Diese
gilt es aufzunehmen, zugleich Anschluss
an die internationalen Diskurse zu suchen und so auch hierzulande ernsthaft
mit der Zukunftssicherung für die Gesundheitsberufe zu beginnen. 
Michael Ewers
geb. 1964, ist Professor für das Lehrgebiet
„Patientenorientiertes Management in der
Gesundheitsversorgung“ an der Hochschule
München.
[email protected]
Redfoot DL, Houser AN (2005): We shall travel
on: quality of care, economic development,
and the international migration of long-term
care workers. Washington DC: AARP Public
Policy Institute
SVR – Sachverständigenrat zur Begutachtung
der Entwicklung im Gesundheitswesen
(2007): Kooperation und Verantwortung.
Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung. Langfassung. Bonn:
SVR (www.svr-gesundheit.de)
WHO – World Health Organization (2006):
Working together for health. World Health
Report 2006. Geneva: WHO
(www.who.int/whr/2006/whr06_en.pdf)
Dr. med. Mabuse 173 · Mai / Juni 2008