Die Implantation der Antibabypille in den 60er und frühen 70er Jahren
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Die Implantation der Antibabypille in den 60er und frühen 70er Jahren
Ralf Dose Die Implantation der Antibabypille in den 60er und frühen 70er Jahren Übersicht: Beschrieben werden zwei Phasen des Prozesses der Durchsetzung der hormonellen Kontrazeption in der BRD und Westberlin. Am Anfang zwischen 1961 und 1965/66 - steht die auffällig langsam anlaufende öffentli che Rezeption und Akzeptanz. Erst nach der Lockerung des auf der Sexuali tät lastenden Publikationstabus wird der massenhafte Absatz der „Pille“ möglich. Den Höhepunkt ihrer Verbreitung erreicht die Pille nach der Se xualisierung der traditionellen weiblichen Leitbilder „Ehefrau" und „Mut ter“. Zugleich werden die mit diesem gesellschaftlichen Anpassungsprozeß verbundenen Konflikte individualisiert und Frauen, die nur zehn Jahre nach Einführung der Pille noch „Schwierigkeiten“ mit ihr haben, pathologisiert. Schlüsselwörter: Antibabypille; hormonale Kontrazeption; Sex-Welle; Sexu almoral; Pharmaindustrie Reimut Reiche (1988: 120) hat vor kurzem auf die eminente Bedeutung der Wegwerfwindel und der Antibabypille für die Durchsetzung permissiver Erziehungsstile in den späten 60er und den 70er Jahren hingewiesen. Die Aufarbeitung dieser Entwicklungen steht noch aus: Pampers und Pille als Voraussetzung, Vehikel und Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels, der sich nicht auf Erziehungsstile beschränkte, sind erstaunlich unerforscht. Für die Pille gilt, „daß das Zusammenspiel und der Widerstreit zwischen staatlicher Gesundheits- und Familienpolitik, Ärzteschaft, Kirchen, che misch-pharmazeutischer Industrie, Massenmedien und den Bewegungen und Organisationen der Betroffenen offenbar noch nie systematisch untersucht worden sind. Auch die Kenntnisse über die Wechselwirkungen dieser politischen Prozesse mit den technischen Möglichkeiten der Kontrazeption, den gesamtgesellschaftlich induzierten Veränderungen in der Familien struktur, der sexuellen Emanzipation und der Vermarktung von Sexualität sind seit den sechziger Jahren (...) kaum weiter vertieft worden“ (Rosenbrock 1989: III). In diesem Aufsatz sollen Annäherungen von zwei Seiten versucht werden. Die ersten fünf Jahre nach Einführung der Pille (1961-1966) werden unter dem Aspekt der öffentlichen Rezeption und der Akzeptanz des neuen Verhü tungsmittel betrachtet. Im zweiten Teil wird das Ergebnis des Durchsetzungs prozesses beschrieben, wie es sich unter dem Aspekt des Umgangs mit den Nebenwirkungen aus der Sicht von Medizinern darstellt. Dazwischen liegt die Phase des massenhaften Tabubruchs und der sogenannten Sex-Welle, auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll.1 Die sexualpolitische Lage vor der Einführung der Pille Es erscheint notwendig, sich vorab einige Elemente der familien- und sexual politischen Lage in der BRD und Westberlin zu Beginn der 60er Jahre stich wortartig zu vergegenwärtigen, auf die die hormonelle Kontrazeption bei ih rer Markteinführung stieß. Die Fatailienpolitik der Wuermeling-Ära (1953-1962) war darauf gerich tet, die „intakte“ Familie mit mehreren Kindern als Keimzelle und stabilisie rendes Element des Gesellschaftssystems zu fördern, ohne damit vordergrün dig ein bevölkerungspolitisches Ziel zu verbinden (Haensch 1969). Das Ehe gesetz von 1961 erschwerte die Scheidung zerrütteter Ehen (konnte aber die Zunahme der Scheidungsziffern nicht verhindern). Der Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches (E 1962) setzte auf die „sittenbildende Kraft des Strafrechts“. Die rechtliche Emanzipation der (verheirateten) Frau war erst durch das Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts, das in seinen wesentlichen Teilen am 1. Juli 1958 in Kraft trat (Ständer 1962:38)* ein Stück vorangekommen.2 Die Volljährigkeits grenze lag unangefochten bei 21 Jahren; sie wurde erst am Ende des hier betrachteten Zeitraums - 1975 - auf 18 Jahre vorgezogen. Sexualberatungs stellen im heutigen Sinne gab es nicht Die (damals noch wesentlich bevölke rungspolitisch orientierte) Pro Familia verfügte z. B. 1961 bei Einführung der Pille gerade über drei Beratungsstellen. Eheberatung war Sache der Kirchen (vgl. Delille und Grohn 1988). Schließlich wurden die - m. E. in ihrer Bedeu tung für Ärzte überschätzten - sogenannten Himmlerschen Polizeiverord nungen erst 1965 durch das Gesetz über die Werbung auf dem Gebiet des Heilwesens abgelöst; sie hatten Ärzten bis dahin einen willkommenen Vor wand3 geboten, sich von Familienplanung und Empfängnisverhütung fernzu halten. Die pharmazeutische Industrie hielt sich zumindest in der Anfangsphase mit der Propagierung der Pille zurück.4 Die Presse reagierte auf die Entwick lung und Markteinführung zunächst überhaupt nicht Unter diesen Bedin gungen dauerte es fünf Jahre, bis die Pille allgemein bekannt war. Erst 1966 stellten die Demoskopen deren 100%ige Bekanntheit fest. In der ersten bundesdeutschen ärztlichen Monographie zur Empfängnis verhütung von Gesenius (1959), deren Manuskript 1958 abgeschlossen wur de, wird die hormonale Methode der Kontrazeption nur ganz am Rande als in der Erprobung befindlich erwähnt und damit kaum ausführlicher behan delt als in der bis dahin immer noch autoritativen Arbeit „Empfängnisverhü tung" des früheren Breslauer Ordinarius Ludwig Fraenkel aus dem Jahr 1932. Ohne damit öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen5, berichtete in der Bundesrepublik erstmalig Kaufmann auf der Tagung der deutschen Natur forscher und Ärzte im Jahre 1959 in Wiesbaden über die Pille von Pincus. Fast gleichzeitig referierten die Göttinger Gynäkologen Kirchhoffund Haller (1959: 2192) aufgrund der vermehrten „Anfragen in der Laien-Presse wie auch im medizinischen Schrifttum“ Anfang Dezember 1959 in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift über die Untersuchungen von Pincus und Rock in Puerto Rico. Sie kamen zu dem Ergebnis: „Die Zeit ist für eine endgültige Beurteilung des Wertes oder der Gefahren einer solchen Behandlung noch nicht reif. Die bisher vorliegenden Befunde lassen von einer Anwen dung der Steroide zur Konzeptionsverhütung abraten und mahnen zur Vorsicht. Es emp fiehlt sich jedoch, die weitere Entwicklung im Auge zu behalten.“ Am 1. Juni 1961 führte die Schering AG ihr Präparat Anovlar® auf dem deutschen Markt ein6, nachdem sie es bereits seit dem 1. März des gleichen Jahres in Australien verkauft hatte. Nach Darstellung von Schering-Mitar beitern war es damals fragwürdig, ob ein solches Produkt in Deutschland überhaupt akzeptiert würde; die angelsächsische Tradition der Verhütungs beratung in Australien schien einem Testverkauf zuträglicher (vgl. Laengner 1981: 6.1). Die öffentliche Reaktion indes blieb fast völlig aus. Der „Spiegel“ hatte zwar im März 1961 (Nr. 12, S, 92f.) über die Einführung der „PincusPille“ in den USA berichtet, dabei jedoch über die bevorstehende Marktein führung eines vergleichbaren deutschen Produkts kein Wort verloren. Die Schering AG ihrerseits hatte - nach eigenen Angaben - über das neue Medi kament zunächst nur die Fachärzte für Gynäkologie informiert; erst nach dem der „Stern“ (Nr. 14/1961, S. 26) vier Wochen später über die empfäng nisverhütende Pille berichtet hatte, wurden alle deutschen Ärzte vom Her steller direkt informiert. Die weitere Entwicklung verlief folgendermaßen: Die Vorstellung der Un tersuchungsergebnisse von Kirchhoff auf der „Therapiewoche" im Herbst 1963 signalisierte der Ärzteschaft eine gewisse Unbedenklichkeit des neuen Verhütungsmittels. Neben Scherings Anovlar® waren zu diesem Zeitpunkt zwei Konkurrenzpräparate auf dem Markt: Etalontin® von Parke, Davis & Co. und Lyndiol® von der niederländischen Firma Organon. 1964 kam mit Estirona® das erste Zwei-Phasen-Präparat auf den bundesdeutschen Markt, Ende 1966 führte Schering sein entsprechendes Präparat Eugynon® ein. Zu diesem Zeitpunkt konkurrierten zehn Pillenmarken in der BRD (vgl. Döring 1966: 55). Die Zwei-Phasen-Präparate erwiesen sich als besser verträglich. Im gleichen Jahr veröffentlichte die Food and Drug Administration (1966: 13) in den USA ihren „Report on the Oral Contraceptives“ mit der Schlußfolge rung: „The committee finds no adequate scientific data, at this time, proving these compounds unsafe for human use“ und hob damit die bis dahin gel tende zeitliche Begrenzung der Verwendungszulassung auf. Dieses Ergebnis wurde auch in der BRD rezipiert.7 Ungefähr gleichzeitig setzt die verstärkte Presseberichterstattung über Sexualität allgemein und Empfängnisverhütung im besonderen ein. Die „Sex-Welle“ erreicht erste Höhepunkte. Auch in den eigenen Publikationen der Schering AG ist das Jahr 1966 als Wende auszumachen. Während bis dahin zwar regelmäßig von Steigerungen im Verkauf von Anovlai® berichtet wird, zieht der Geschäftsbericht 1966 erstmals einen Vergleich zum Pillenverbrauch im westlichen Ausland und setzt damit Markierungen für die Erwartung zukünftiger Steigerungsraten. Es bestünde jedoch, so ist im Geschäftsbericht zu lesen, „hinsichtlich der Häu figkeit der Anwendung oraler Kontrazeptiva immer noch ein erheblicher Ab- stand zu den USA und anderen angelsächsischen Ländern“ (Schering AG 1966:10). Fast gleichlautend signalisiert der Geschäftsbericht 1967 weiter ge stiegene Erwartungen: „Bezogen auf die in Betracht kommende Altersgruppe der weiblichen Bevölkerung, lieg der Verbrauch jedoch immer noch weit unter dem anderer Länder, wie z. B. USA, Schwe den, Australien; Mit dem Ende 1966 eingefuhrten Eugynon konnten wir nicht nur an dem gewachsenen Verbrauch teilhaben, sondern darüber hinaus unsere Stellung als führender Hersteller derartiger Präparate weiter ausbauen“ (Schering AG 1967: 10). 1968 ist der Gleichstand mit der Pillenverwendung im westlichen Ausland erreicht. 1969 übersteigt - immer nach Aussage der Schering-Geschäftsberichte - der Anteil der die Pille verwendenden Frauen in der BRD denjeni gen in den USA. Zusammensetzung und Dosierung der hormonalen Ovulationshemmer werden in diesen und den folgenden Jahren weiter verändert (zur Entwick lung bei Schering vgl Laengner 1981). Auf die pharmazeutischen Details die ser Veränderungen gehe ich nicht weiter ein. Aufgrund fehlender Unterlagen ist es mir leider nicht möglich, Steigerungsraten des Verbrauchs einzelnen Innovationen zuzuordnen, obwohl derartige Zusammenhänge sicherlich be stehen. Die Rezeption der Pille in der Öffentlichkeit Anfang der 60er Jahre war in der BRD und Westberlin Empfängnisverhü tung kein Thema, zumindest keines, das öffentlich verhandelt wurde. Auch die wenigen vorhandenen derooskopischen Daten sprechen für die Reser viertheit gegenüber der Empfängnisverhütung; sie lassen später aber den Wandel der Einstellungen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre gut erken nen. Ludwig von Friedeburgs Untersuchung von 1949 (vgl. v. Friedeburg 1953) wiederholend, fragte das Institut für Demoskopie Allensbach 1963 1000 Per sonen zwischen 20 und 75 Jahren aus der BRD und Westberlin: „Sind Sie überhaupt für oder gegen Empfängnisverhütung?1* (Noelle und Neumann 1965: 590) und erhielt folgende Antworten: Männer 1963 (1949) dafür dagegen unentschieden 65% 14% 17% 71% 12% 17% Frauen (1949) 1963 60% 18% 22% 62% 20% 18% Die etwas größere Ablehnung der Empfängnisverhütung 1963 dürfte mit den gegenüber 1949 stabilisierten gesellschaftlichen Verhältnissen zu erklären sein. Die Tatsache, daß „in verschiedenen Zeitschriften und Geschäften (..,) Mittel zur Empfängnisverhütung öffentlich zum Kauf angeboten (werden)“, stößt, wie an den folgenden Antworten abzulesen ist, 1949 wie 1963 auf er hebliche Ablehnung: Frauen Männer Zustimmung Ablehnung unentschieden 1963 1949 1963 1949 56% 27% 17% 57% 26% 17% 43% 36% 21% 46% 36% 18% 1970 sind diese Vorbehalte bis auf einen kleinen Rest verschwunden. Auf die gleiche Frage erhielten die Wickert-Institute von den befragten Frauen8 Über 17 Jahre folgende Antworten: 89% bejahten das öffentliche Angebot von Ver hütungsmitteln, 5% waren dagegen, 6% machten keine Angaben. Demselben Institut antworteten noch 1966 nur 47% der Frauen positiv auf die gleiche Frage9, ein Wert, der noch immer in der Nähe des vom Allensbacher Institut für 1963 ermittelten liegt. Ebenfalls 1963 (Juni/Juli, also noch vor der Publikation der ersten deutschen Untersuchung Uber die Pille) findet sich in der unveröffentlichten Sammel-Umfrage 1079/1 des Instituts für Demoskopie Allensbach (Fragebo gen, S. 26)10 die wohl früheste Erhebung zur Akzeptanz der Pille als Kontra zeptivum. Bezeichnenderweise tasten sich die Interviewer auf Umwegen an das heikle Thema heran, indem sie für die erste Fragestellung einen verbrei teten bevölkerungspolitischen Gedankengang aufnehmen: „Noch eine Frage zum Schluß: Vielleicht haben Sie schon gehört, daß man in Indien und auch in anderen Ländern mit großem Geburtenüberschuß sogenannte Babypillen ver teilt. Das sind Tabletten, die unschädlich sind und die dazu führen, daß eine Frau kein Kind bekommt. Finden Sie es richtig oder nicht richtig, wenn Länder wie Indien solche Tabletten zur Geburtenregelung einführen?“ Richtig fanden das 69%, 16% fanden das nicht richtig, und 15% waren un entschieden, Weitere Differenzierungen der Ergebnisse wurden nicht vorge nommen. Die Zustimmung sinkt erheblich, wenn gefragt wird, ob „solche Tabletten (...) auch bei uns erlaubt sein oder nicht erlaubt sein (sollten)“. (Daß sie erlaubt und im Handel waren, spielte bei der Fragestellung anschei nend keine Rolle.) Nur 44% sprachen sich für und 45% gegen die Erlaubnis aus; 8% knüpften diese an bestimmte Bedingungen (ärztlicher Rat, hohe Kin derzahl u.ä.). Bei Einschränkung des „Erlaubtseins“ für verheiratete Frauen ändert sich das Bild nicht wesentlich. In diesem Falle sprechen sich 47% für die Erlaubnis und 41% dagegen aus, 9% wollen Bedingungen stellen. Wäh rend die erste Fragestellung also ähnliche Ergebnisse bringt wie die nach der grundsätzlichen Einstellung zur Empfängnisverhütung, ist die Ablehnung der Pille im eigenen Land erstaunlich deutlich. Wieweit dieses Ergebnis eine Folge der durch die Art der Fragen und ihre Reihung nahegelegten bevölke rungspolitischen Assoziation vom „aussterbenden deutschen Volk“ ist, läßt sich nicht mehr feststellen. Spätere Umfragen können auf derartig hypothetische Fragestellungen ver zichten ; die Kenntnis der Pille hat sich rasch verbreitet. Prill (1968: 95) refe riert aus der repräsentativ angelegten, im Auftrag von Schering zur Aufklä rung der geringen Akzeptanz der Pille angefertigten Marplan-Studie, daß 1965 (erst) 80% der Frauen bis 45 Jahre die Pille kannten. Ein Jahr später (im Frühjahr 1966) zeigte eine Umfrage der Tübinger Wickert-Institute bereits nahezu 100%ige Kenntnis der Pille („davon gehört oder darüber gelesen") in Powered by TCPDF (www.tcpdf.org) der Gesamtbevölkexung (vgl Kurier vom 4. Mai 1966, S. 4, und Abend vom 4. Mai 1966, S. 4). , Diese langsame Verbreitung der Kenntnis korrespondiert auffallend mit der Zurückhaltung der Presseberichterstattung über die Pille in den Jahren bis 1965/66, soweit sich das nach der stichprobenartigen Durchsicht sagen läßt. Für die Einführungsphase der Pille wurden exemplarisch überprüft: „Spiegel“, „Stern“ und „Brigitte“; Zeitungsberichterstattungen nur, insoweit sie in den Archiven des Hamburger Instituts für Wirtschaftsforschung (HWWA) und (sehr unsystematisch unter dem Stichwort „Baby“) beim Sen der Freies Berlin dokumentiert sind. Dabei wurden für die ersten Jahre auch alle Berichte über Empfängnisverhütung bzw. sexuelle Themen im allgemein nen geprüft. Ausweislich seines Registers behandelt der „Spiegel“ das Thema Gebur tenkontrolle 1961 in fünf Artikeln, in vier davon aber nur marginal bzw. im Zusammenhang mit der Geburtenkontrolle in der „Dritten Welt“. Nur in dem oben erwähnten Beitrag über die Forschungen von Gregory Pincus wird die Pille thematisiert (vgl. Nr. 12/1961, S. 92 f.). 1962 wird in zwei Berichten die Methode Knaus-Ogino erwähnt. Außerdem gibt es eine Meldung über experimentelle Impfungen von Frauen mit dem Sperma ihres Mannes zur Immunisierung gegen dessen befruchtende Wirkung, Im „Spiegel“-Gespräch mit Präses Beckmann wird über die Haltung der Evangelischen Kirche zur Empfängnisverhütung gesprochen (Spiegel Nr. 31/1962, S. 32 ff.). Die Pille findet keine Erwähnung. 1963 gibt es zwar vier Artikel zur Sterilisation als Methode der Empfängnisverhütung, aber keinen über die Pille.11 Erst 1964 findet die Antibabypille wieder Erwähnung, nun allerdings gleich als Titelgeschichte des Hefts 9. Der Titel zeigt eine geöffnete Schachtel Etalontin®, aus der die erste Tablette entnommen ist. Die Titelgeschichte ist ein Bericht über die Haltung der Kirchen, insbesondere der katholischen, zur Geburtenkontrolle. Ihr folgt ein „Spiegel-Gespräch“ mit Heinz Kirchhoff, Göttingen, der die erste großangelegte deutsche Studie über die Pille vorge nommen hat. Mit der Vorstellung der Ergebnisse dieser Studie auf der „The rapiewoche“ in Karlsruhe im September 1963 begann die Wahrnehmung der Pille durch die Tagespresse (vgl. z. B. die Welt vom 5. September 1963, S. 16); zugleich war sie für die Ärzteschaft wegen der Prominenz des Autors das Signal für die vorläufige medizinische Unbedenklichkeit.12 Weitere Erwäh nung finden Geburtenkontrolle im allgemeinen wie auch die Pille im beson deren im „Spiegel“ dieses Jahres - von einigen Leserbriefen und einer „Personalie“ abgesehen - nicht In den Jahren 1965 und 1966 wird die Pille expli zit dann häufiger erwähnt (insgesamt aber immer noch in weniger als einem Dutzend Artikeln pro Jahr), meist im Zusammenhang mit der weiteren kirch lichen (insbesondere katholischen) Diskussion oder ausländischen Entwick lungen. Anfang Mai 1966 hat die Sex-Welle den „Spiegel“ erreicht (Nr. 19/ 1966, S. 50 ff.). In den überprüften Jahrgängen der „Brigitte“ (1961, 1963, 1964) wird die Pille nicht erwähnt. Auch das Thema Empfängnisverhütung wird nicht auf gegriffen. Eine Prüfung des Stichwortes „Anti-Baby-Pille“ durch den Leser dienst der Redaktion ergab einen Hinweis für 1967 (ohne nähere Angaben), je einen für die Jahre 1970 und 1972 sowie drei für 1974. Die Jahre 1975 und 1976 sind mit je einem Artikel vertreten; 1977 bringt die „Brigitte“ eine Serie zur Pillenmüdigkeit Im „Stern“ schließlich findet sich eine ähnliche Umgangsweise mit der Pille wie im „Spiegel“. Me Serie „Über das Zusammenleben von Mann und Frau“ geht allerdings auf einige andere Methoden der Empfängnisverhütung ausführlich und mit praktischer Anleitung ein. Diese Serie hatte Ende April 1961 ihren Anfang genommen mit einer Folge von und über Dr. Axel Dohrn, der durch seine Bereitschaft, Frauen auf deren Wunsch zu sterilisieren, vor Gericht und in die Skandalpresse geraten war. Weitere Themen der Serie wa ren Schwangerschaft und Geburt, Abtreibung, § 218 StGB, erwünschte und unerwünschte Kinder, unerfüllter Kinderwunsch, künstliche Befruchtung. In der VIII. Folge der Serie (Stern Nr. 25/1961, S. 64ff.) wird die hormonale Methode der Empfängnisverhütung als in Amerika eingeführt erwähnt und für die nächste Ausgabe ein Bericht über die nun auch in Deutschland erhält liche Pille aus der Feder von Anne-Marie Durand-Wever angekündigt. Folge IX (Stern Nr. 26/1961, S. 52ff.) ist dann überschrieben „Eine Pille reguliert die Fruchtbarkeit“. Sie berichtet über die Einführung von Anovlar® durch Schering, die Aktivitäten der Familienplanungsorganisation IPPF und der deutschen Pro Familia (s. u.) sowie über die Untersuchungen von Pincus et al. in Puerto Rico. Die Folge endet mit der - dramatisch gestellten - Frage nach dem Rrebsrisiko der Pille. Sonstige Neben- oder unerwünschte Wirkun gen werden nicht erwähnt, außer der - verneinend beantworteten - Frage, ob die Pille, auf Dauer genommen, steril mache. Leserbriefe zu dieser Folge sind - bis auf eine Ausnahme - nicht erschienen. Folge X (Stern Nr. 27/1961, S. 56ff.) nimmt die Frage nach dem Krebsrisiko wieder auf und konstatiert, daß es sich „glücklicherweise als nicht existent“ erwiesen habe. Es sei aller dings zu früh, über Spätfolgen der Pilleneinnahme Aussagen zu machen. Be vor der Artikel dann die Zeitwahlmethode vorstellt, wird der Frage nachge gangen, ob die Verhütungspille die Moral verderben würde. Hierzu schreibt der „Stern“, es sei falsch, „die Mittel, die die Medizin findet, dort verantwortlich zu machen, wo das eigentliche Übel die Veranlagung der Menschen ist, sich hemmungslos dieser Mittel zu bedienen. Die jenigen Frauen, die sich nur „aualeben“ wollen, würden auch Mittel und Wege finden, es zu tun, wenn Dr. Pincus nie gelebt hätte“ (ebd., S. 58). Anschließend werden noch einige Vorschläge von Anne-Marie DurandWever zum Einsatz der Pille referiert, die aus heutiger Sicht teilweise skurril wirken, obwohl sie von einer Ärztin stammen, die sich seit Ende der 20er Jahre mit Fragen der Empfängnisverhütung befaßte.13 Auch für den „Stern“ ist die nächste Meldung über die Pille ein dreiviertel Jahr später (Nr. 7/1962, S. 92) eine aus dem Ausland, über die Zulassung der Pille für den englischen staatlichen Gesundheitsdienst. Danach wird sie über ein Jahr lang nicht mehr erwähnt Erst in der zweiten Hälfte 1963 erscheinen zwei weitere Berichte. Der zweite davon (Nr. 39/1963, S. 162ff.) erschien aus Anlaß des Kirchhoff-Referats auf der „Therapiewoche“ in Karlsruhe. Die Nebenwirkungen der Pille werden in sieben Zeilen als vorübergehend abge tan; der Rest des Artikels befaßt sich mit der Frage, ob die Pille nur verhei rateten Frauen zur Verfügung gestellt werden sollte (wie Kirchhoff empfoh len hatte) oder ob sie allen Frauen und auch Mädchen zugänglich sein sollte; es wird für eine Aufklärung über Empfängnisverhütung nach englischem oder schwedischem Muster plädiert. Für den „Stern“ ergab die Recherche durch die Berliner Redaktion vier Hinweise zum Stichwort in der zweiten Jahreshälfte 1964, zwei weitere für 1965. 1966 und 1967 steigt die Zahl der Hinweise auf entsprechende Artikel jeweils auf ein halbes Dutzend.14 In der Serie „Alles über die Deutschen" (zweite Hälfte 1963) bildeten die Folgen 12 bis 17 (Nr. 45-50/1963) einen besonderen Block, der auf dem Ti telblatt von Heft 45 reißerisch als „Umfrage in die Intimsphäre“ angekündigt wird. Folge 14 befaßt sich unter anderem mit ehelicher Empfängnisregelung; hier werden die bereits erwähnten Allensbach-Ergebnisse über die Zustim mung zur oder Ablehnung von Empfängnisverhütung referiert. Verheirateten wurde auch die Frage gestellt, ob sie etwas für die Verhütung tun, was 46% der Männer und 41% der Frauen verneinten; die Frage nach der Pille wurde nicht gestellt; die allgemeine Frage nach der Verwendung von „Präparaten“ bringt bei den Antworten „Präparate für die Frau“ nur ganze 2%. Anne-Marie Durand-Wever kommt mit kurzen Ausführungen über die Schwierigkei ten, vor die sich Familienplanungsorganisationen in der Bundesrepublik ge stellt sehen, zu Wort: „Als wir die deutsche Forschung für die Herstellung einer empfängnisverhütenden Pille interessieren wollten, lehnten die meisten pharmazeutischen Konzerne das Ansinnen von vornherein ab.44 Es folgt ein Satz darüber, daß Schering die deutsche „Anti-Baby-Pille“ 1961 herausge bracht hat. Durch die Tagespresse (vgl z.B. Die Welt vom 24. Oktober 1964, S. 24) ging 1964 eine Notiz über zwei Anfragen des CDU-Abgeordneten Dr. Schmidt (Wuppertal), der Bundesinnenminister Höcherl nach einer Bewer tung von Presseschlagzeilen fragte, in denen „ein empfängnisverhütendes Mittel als , Antibaby-Pille* bezeichnet wird“. Höcherl antwortete: „Die Bundesregierung empfindet die Bezeichnung ,Antibaby-Püle‘ als grob anstößig, und zwar (,.♦) vor allem wegen der Verbindung ,Anti-‘ und ,Baby\ weil sich diese Dinge gegen den Menschenbegriff als solchen wenden. Die Bundesregierung ist aber nicht der Meinung, daß darin schon eine Verletzung des Art. 1 des Grundgesetzes zu erblicken ist. Sie vertraut aber darauf, daß alle Personen, die sich dieses sprachlichen Mißbrauchs schul dig machen, künftig etwas dezenter verfahren“ (Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, Ste nographischer Bericht, 140. Sitzung, 22. Oktober 1964, S. 7014). Dr. Schmidt (CDU) fragte weiter nach den Maßnahmen der Regierung ge gen diesen „untermenschliche(n)5 barbarische(n) Sprachgebrauch“, erhielt aber von Höcherl nur noch die lapidare Antwort, daß er das „Notwendige veranlassen“ werde (ebd.). In ein ähnliches Horn stieß, offensichtlich um Reputierlichkeit bemüht, kurz darauf die Pro Familia auf ihrer Frankfurter Bundestagung Anfang No vember 1964 mit dem Vorschlag, die Pille als „Wunschkind-Pille“ zu bezeich nen (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 12. November 1964, S. 7), was den Kom mentator der „Süddeutschen Zeitung“ zu dem Hinweis veranlaßte, daß „wer gegen Philister und Spießer zu Felde“ ziehe, „sich ihrem Denkstil nicht un terwerfen (sollte)“, Denn: „man verwirrt Leute, die kein Kind haben wollen, wenn man ihnen /Wunschkindpillen* anbietet“(ebd.).15 (Kritische) Pressere sonanz fand auch - ein Jahr später - die von ärztlicher Seite vorgelegte „Ul- mer Denkschrift“ (1965) zur Frage der Geburtenbeschränkung (vgl. Die Zeit vom 1. Januar 1965, S. 23; Die Welt vom 9. Oktober 1965, S. I); in der „Welt“ mit einer anschließenden heftigen Leserdiskussion (vgl. Die Welt vom 30. Oktober, 8., 20., und 22. November 1965). Etwa ab 1966 setzte dann die Presseberichterstattung über Fragen der Se xualität verstärkt ein; in diesem Kontext werden die Artikel über die Pille bzw. ihre Erwähnung häufiger. Eine Erfassung dieser Fülle von Darstellun gen war nicht möglich. Eine systematische Aufarbeitung der „Sex-Welle“ in der bundesdeutschen Publizistik16 ist mir nicht bekannt Ein legislatives Element, das den Beginn der publizistischen „Sex-Welle“ begünstigte, war das am 11. Juli 1965 verkündete Gesetz über die Werbung auf dem Gebiete des Heilwesens (BGBl. I: 604), mit dem das Privileg des § 184 Nr. 3a StGB, für Mittel zur Verhütung von Geschlechtskrankheiten in einer „Sitte und Anstand nicht verletzenden Weise“ öffentlich zu werben, auf Mittel „zur Verhütung der Empfängnis“ ausgedehnt wurde. Die Pille als Arz neimittel fiel zwar eindeutig nicht unter diese Regelung; es setzten jedoch (insbesondere in den Jugendzeitschriften) bald darauf Werbekampagnen (Anzeigen und redaktionelle Berichte) für andere Verhütungsmittel17 ein, von denen die Pille - schon durch den ständigen Vergleich der Sicherheit in der Anwendung - zweifellos profitiert hat.18 Im Kontext der „Sex-Welle“ entfallen die in der ersten Hälfte der 60er Jahre in Berichten über Empfängnisverhütung noch geläufigen „Entschuldi gungen“ dafür, über ein so heikles Thema zu schreiben und Kinder und Ju gendliche der Lektüre auszusetzen.19 Es wäre eine separate inhaltsanalyti sche Untersuchung wert, diesen Veränderungen im öffentlichen Sprechen über Sexualität, den einzelnen Schritten des Tabubruchs auch in der Sprache genauer nachzugehen, um dem Mechanismus der „repressiven Entsublimierung“ auf die Spur zu kommen.20 Die Pathologisierung der Widerstände gegen die Pille Zeit- und Perspektivenwechsel: Während an den Presseartikeln der ersten Hälfte der 60er Jahre die moralische Verurteilung jener Frauen abzulesen ist, die die Pille verwenden, wird gegen Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre das Verhalten der Frauen fragwürdig, die die Pille nicht oder nicht mehr nehmen. Ihr Verhalten ist jetzt erklärungsbedürftig. Auffällig ist auch, daß in der medizinischen und pharmazeutischen Literatur zur hormonalen Kontrazeption in der zweiten Hälfte der 60er Jahre die Vermeidung uner wünschter Wirkungen zu einem dominierenden Thema wird. Zumeist geht es allerdings um Wirkstoffmengen und -kombinationen verschiedener Präpa rate und deren Verträglichkeit in Abhängigkeit von körperlichen Eigen schaften verschiedener Patientinnen. Auf derartige Studien gehe ich hier nicht weiter ein. Interessanter als Indikatoren des sozialen Wandels scheinen mir die Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre entstehenden Studien über die „psychischen Nebenwirkungen“ der Pille, weil an ihnen deutlich wird, wie der soziale Pro zeß der Abkehr von der ehe- und familienbezogenen Sexualmoral als indivi- duelles Anpassungsproblem betrachtet und untersucht - und letztlich auch therapiert - wird. Diese Entwicklung soll hier an einigen Beispielen aufge zeigt werden. Die Ergebnisse der bereits erwähnten Marplan-Studie zeigten, wie genng die Information einerseits, wie übermächtig die mit der Pille verbundenen Befürchtungen andererseits 1965 noch waren: 84% der befragten Frauen äu ßerten Angst vor Nebenwirkungen und Erkrankungen, 56% hatten Angst vor Folgen für die Kinder, 51% hielten die Hormonpräparate für noch nicht aus reichend erprobt (hier hat sich die Contergan-Affäre sicherlich niederge schlagen); 91% hatten gar Angst vor einer eventuellen Unsicherheit der Me thode (vgl. Imle 1968:70 et passim). Ähnlich gravierende Ängste konnte Christine Imle (1968) feststellen21: 76% der von ihr Befragten haben allgemeine Ängste vor Nebenwirkungen; 24% der Frauen befurchten, ernstlich zu erkranken (Krebs); 36% der Frauen äußern Widerstände gegen Ovulationshemmer, weil sie den dann häufiger möglichen Geschlechtsverkehr ablehnen. Die Studie von Imle verdient des halb besonderes Interesse, weil sie aufgrund ihrer in der Umbruchsituation 1966/67 erhobenen Daten verhältnismäßig früh auf Elemente der „gesell schaftlichen Regelmechanismen des reproduktiven Verhaltens“ (Oeter und Wilken 1974: 133) stößt, diese aber (noch?) nicht pathologisierend themati siert. Sie konstatiert, daß die „mütterlichen Frauen und die Hausfrauen, denen die Sorge für ihre Kinder und das selbständige Schalten und Walten in ihrem Haushalt am meisten bedeuten, (...) die O.H. (Ovulationshemmer) am stärksten (ablehnen); sie wenden eher keine oder eine natürliche Verhütungsmethode an als O.H. oder andere Verhütungsmittel. Die starke Ablehnung der O.H., aber auch der anderen Verhütungsmittel durch diese Frauen ist in der Furcht be gründet, ihre Selbstidentität zu verlieren. Basis ihres Selbstverständnisses ist die Mutter schaft bzw. die potentielle generative Möglichkeit. Durch die O.H. finden sie diese BasisEigenschaft ihres Seins in hohem Maße bedroht. Es zeigt sich also eine tiefambivalente Einstellung der Frau gegenüber der Mutterschaft Sie möchte zwar im Moment kein Kind empfangen, aber die potentielle Möglichkeit soll bestehen bleiben, denn diese trägt we sentlich zu einem lustbetonten Erleben des Geschlechtsaktes für sie bei“ (Imle 1968: 81). Dagegen bejahen „partnerschaftlich“ orientierte Frauen die Ovulations hemmer am stärksten. Imle konstatiert eine recht große Ablehnung der Ge schlechtlichkeit bei den befragten Frauen und ist der Meinung, daß bei einer stärkeren Integration der Sexualität in die Persönlichkeit auch die Nachfrage nach Ovulationshemmern steigen würde. Sie stellt fest, daß die Einflüsse von sozialer Schicht, Erziehungsstil und Schulbildung weniger unmittelbar als vielmehr mittelbar über die Entwicklung der Selbstidentität der Frauen auf die Verwendung von Ovulationshemmern einwirken und kommt zu dem Er gebnis: „Die wirklichen Widerstände gegenüber den O.H. liegen tiefer und müssen gesehen wer den m dem Selbstverständnis der Frau (,..) und in ihrer Einstellung zur Sexualität (...)* Diese Einstellungen werden in der Erziehung (durch Eltern und Schule) und durch die gesellschaftlichen und kirchlichen Normen und Leitbilder traditionell-konservativ geprägt. Da sich diese tief eingewurzelten Vorstellungen und Verhaltensweisen nur langfristig än dern können (Ansätze finden sich in der Emanzipation der Frau, im Streben nach einer freieren Sexualität und in einer Lösung von gesellschaftlichen und kirchlichen Normen), werden die O.H. nicht kurzfristig von den Frauen akzeptiert werden“ (ebd.: 112). Powered by TCPDF (www.tcpdf.org) Ein Blick auf die Verkaufsstatistiken zeigt, daß Imle den Anpassungsdruck auf die Frauen wohl unterschätzt hat. Die Möglichkeit der sicheren Kontra zeption war das noch fehlende Element zur Durchsetzung der Warenform der Sexualität. Die Geschwindigkeit ihrer Durchsetzung war - im Wortsinne - schwindelerregend. Petersen und Casparis (1969) und Petersen (1969) setzen sich gezielt mit den psychischen Nebenwirkungen hormonaler Kontrazeption auseinander und fragen insbesondere nach deren Bedingungen. Sie kommen zu dem be merkenswerten Ergebnis, daß Klagen über Nebenwirkungen keinen statisti schen Zusammenhang zum Gebrauch oraler Kontrazeptiva aufweisen, son dern vielmehr zu allgemeinen Lebenslagen. Die beklagten Nebenwirkungen seien folglich auf einen „toxischen Placeboeffekt“ (Petersen 1969: 85) durch Aktualisierung anderer Lebenskonflikte zurückzuführen, oder prägnanter ausgedrückt: „Frauen, die über Nebenwirkungen unter oraler Kontrazeption klagen, klagen auch sonst“ (Petersen und Casparis 1969: 270). Dieser prägnante Satz findet Eingang in die Handbuch-Literatur (vgl. z.B. Döring 1981:74). Marianne Mall-Haefeli (1974: 884) schreibt wenige Jahre später, ohne Zahlenangaben dazu zu machen: „Hormonale Antikonzeption kann von bestimmten Frauen als Entzug eines kreativen Zusammenseins, als Entzug einer der größten Möglichkeiten des Menschseins empfunden werden. Die Anwendung einer sicheren Kontrazeption hat die Sexualität von der Fort pflanzung gelöst. Sie ermöglichte der Frau zum ersten Mal Unabhängigkeit von ihrer ge schlechtlichen Rolle, vom Zwang der Reproduktion.“ Als weitere psychische Gründe für die Ablehnung hormonaler Kontrazep tion sieht sie bei katholischen Frauen die verlorene Sühnefunktion einer Schwangerschaft für verbotenen Geschlechtsverkehr, bei anderen die durch mannigfache sozio-kulturelle Einflüsse entstandene negative Einstellung zur Sexualität Konsequenterweise fordert sie, daß bei der Verordnung von Kon trazeptiva „auch der psychische Zustand der betreffenden Frau berücksich tigt wird. Nur so wird es möglich sein, eine viel größere Zahl von Frauen mit den ihnen bekömmlichen Präparaten richtig einzustellen (sic!)“ (ebd.: 885). In dieser Weise wird die Ablehnung der Pille durch bestimmte Frauen in der Regel als individuell psychologisch zu behandeln dargestellt.22 Es geht letztlich um die Frage, wie Kontrazeptionsversager zu erklären und zu ver meiden sind (vgl. hierzu etwa Molinski und Seiff 1967; Nijs 1972, 1978). In Katalogform für den praktischen Gebrauch des behandelnden Arztes werden „für Frauen typische Ängste und Konflikte den Ovulationshemmern gegen über“ bei Molinski (1971: 801-803) aufgelistet: „1. Furcht vor Identitätsverlust (...) 2. Furcht vor Eigenverantwortung und Macht (...) 3. Furcht vor Beeinträchtigung des Kinderwunsches (...) 4. Furcht, genital nicht in Ordnung zu sein (...) 5. Orale Ängste (...) 6. Verunsicherungen auf dem Gebiet yon Zärtlichkeit und Hingabe (...) 7. Störungen des sexuellen Erlebens (...) 8. Moralisches und religiöses Erleben (...) 9. Erleben der Menstruationsblutung und Ovulationshemmer“. Er weist darauf hin, daß - abgesehen von pharmakologischen Wirkungen - viele dieser Ängste und Konflikte von Frauen mit Nebenwirkungen in Ver bindung gebracht werden: „Es wird in der Diskussion um die Nebenwirkungen nicht immer genügend beachtet, daß die tatsächlich vorkommenden körperlichen und nervösen Nebenwirkungen viel selte ner sind als die bloße Angst vor etwaigen Nebenwirkungen und daß die Patientin diese Angst vor Nebenwirkungen weitgehend mit dem tatsächlichen Vorhandensein von NebenWirkungen verwechselt** (ebd.: 805). Die „gesellschaftlichen Regelmechanismen des reproduktiven Verhaltens“ kommen bei solchen, eher psychiatrisch ausgerichteten Studien nicht mehr ins Blickfeld; sie definieren die unter Nebenwirkungen leidenden Frauen statt dessen individuell als neurotisch, weil fehlangepaßt. Kaum zehn Jahre nach der Einführung der Antibabypille ist demnach die Ordnung wiederher gestellt, die neue Norm aufgerichtet Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 VgL dazu als Einstieg Dose (1989: 54-58) Damit entfiel z. B. die automatische Bindung der Frau an den Wohnsitz des Mannes, ebenso dessen allgemeines Entscheidungsprivileg nach § 1354 BOB a.F.; ferner wurde § 1358 BGB a.F. gestrichen, der dem Ehemann das Recht eingeräumt hatte, ein von seiner Frau eingegangenes Arbeitsverhältnis zu kündigen. Döring (1966: 48) konstatiert, daß „nach 1945 nie ein Arzt wegen der Verordnung oder Applikation empfängnisverhütender Mittel verurteilt worden ist“. Ich halte es auch für eine Überschätzung, wenn Eike Thoß (1986: 334) schreibt: „Ihre verhängnisvolle Aus wirkung liegt nicht zuletzt darin, daß eine ganze Generation von Ärzten keinerlei Unter weisung auf dem Gebiet der Familienplanung erhalten hat.“ Da dürfte eher die seit Stoeckels Zeiten tradierte Auffassung eine Rolle gespielt haben, daß der Arzt sich um den Nachwuchs und nicht um dessen Verhütung zu kümmern habe. Zur Geschäftspolitik von Schering etwa erinnerte sich ein damaliger Medizinstudent gesprächsweise, daß es noch Mitte der 60er Jahre auf den Kongressen für ärztliche Fortbildung - wo Medizinstudenten sonst Zugang zu allen möglichen Medikamenten hatten - schwierig war, Pillenproben (Anovlar®) zu bekommen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (Nr. 137 vom 16. Juni 1981, S. 8) im Rückblick: „Heute ist es kaum verständlich, daß diese Mitteilung sowohl unter den Ärzten als auch in der Öffentlichkeit nur schwachen Widerhall fand. Auch von dieser Zeitung wurde damals eine kurze Mitteilung hierüber abgelehnt** Das Präparat war in den Jahren 1958 bis 1961 entwickelt worden, die klinische Prüfung (durchgefühlt in Australien und Belgien) beruhte auf der Beobachtung von rund 2400 Zyklen. Bei über 800 Frauen, die in die Prüfung einbezogen waren, bedeutet das eine durchschnittliche Beobachtungsdauer von knapp drei Monaten (vgl. Rabe und Runnebaum 1986: 62; Ufer 1981: 4.2). Z.B. vom „Spiegel“ (Nr. 41/1966, S. 165ff.) mit dem - etwas voreiligen - Resümee: „Die medizinische Streitfrage hingegen - ob der Dauergebrauch der Antibabypille zu verantworten sei - ist nunmehr entschieden.** Zur kritischen Würdigung der US-ameri kanischen Entwicklungsgeschichte der Antibabypille vgl. Kunz (1989) Werte für die Männer werden nicht genannt. Zit. nach Telegraf vom 8. August 1970, S. 4. Derartige Bedenken erforderten Rücksich ten seitens der Hersteller. Nach Schippke (1968: 60) vertrieb Schering sein Produkt Eugynon® in der BRD damals auch unter dem Namen Duoluton® „unauffälliger als Eugynon verpackt, damit das Präparat nicht gleich als Anti-Baby-Pille erkennbar ist." R. Dose: Die Implantation der Antibabypille in den 60er und frühen 70er Jahren 10 37 Fragen C 63 und C 64; C 61 fragt nach der staatsmännischen Bedeutung von Kennedy und de Gaulle; C 62 lautet „Kaufen Sie manchmal Nudeln?" 11 Sexualität als Thema findet nur im Ausland statt: mit einem Bericht über die Reaktio nen auf einen Rundfunkvortrag von Alex Comfort in England sowie einer „KohlspiegeP-Meldung über die Forderung von Studenten in Durham, an der Hochschule eine Beratungsstelle für Geburtenkontrolle einzurichten. 12 Karcher (1986: 126) datiert diesen Vortrag Kirchhoffs auf 1961 und behauptet, Kirchhoffs Untersuchung sei der Zulassung von Anovlai® vorausgegangen. Kirchhoffs eigene Darstellung (1986; 9) widerlegt dies als unzutreffend. 13 Anne-Marie Durand-Wever gehörte der seit 1930 bestehenden Deutschen Arbeitszen trale für Geburtenregelung an (vgl. Lehfeldt 1986). Sie schlägt - in der Tradition der Familienplanungsdiskussion - die Verwendung der Pille nach Entbindungen zum Zwecke des „child-spacing“ vor, ferner die Verwendung „für die Dauer von Urlaubsrei sen“. Die Verordnung über längere Zeit will sie auf Frauen beschränken, „die schon mindestens drei lebende Kinder haben und sich den Wechseljahren nähern“ (das ent spricht einer Indikation für die - in der BRD damals verbotene - Sterilisation); indiziert sei die Pille schließlich für die Dauer von Krankheit und Rekonvaleszenz, „weil sie nicht nur empfängnisverhütend, sondern auch schmerzlindernd wirkt“ (zit. nach Stern Nr. 27/1961, S. 60). Angesichts der bereits bekannten Nebenwirkungen erstaunt die All gemeinheit dieser Aussage aus dem Mund einer erfahrenen Ärztin. Vermutlich ist aber die Spezifikation der Schmerzen, gegen die die Pille tatsächlich in einigen Fällen hilft, dem über der Menstruation liegenden Sprechtabu zum Opfer gefallen. 14 Ich danke Frau Hartmann von der Westberliner „Sterns-Redaktion für ihre Unterstüt zung. Stichprobenweise Überprüfung ergab allerdings, daß nicht sämtliche Nennungen der Antibabypille - etwa solche in anderen Kontexten - im Computer von Grüner & Jahr erfaßt sind. 15 Ein Reflex auf die Bezeichnungs-Diskussion findet sich noch ein Jahr später in der Berichterstattung der „Welt“ (vom 9. Oktober 1965, S. I) über die „Ulmer Denkschrift“; „(...) die ovulationshemmende Tablette (sehr unschön und unrichtig auch ,Anti-BabyPille4 genannt) (...)". 16 Als Beispiele seien genannt: Oswalt Kolle: Familienplanung mit der Pille. Revue 1965, abgedr. in: Kirchhoff (1986; 12); (Zwei Folgen aus der Serie) „Die vollkommene Lie be“, Quick, Nr. 48 und 49/1967; „Die Pille und die Moral in Deutschland“, Stern, Nr. 21/1967. 17 Eine Inhaltsanalyse von Werbeanzeigen für Kontrazeptiva in den Jahren 1970 bis 1976 versucht Bauer (1977), 18 Publikumswerbung spielt zwar keine Rolle bei den „forschenden Unternehmen” der Pharmaindustrie, sondern nur bei den freiverkäuflichen Mitteln (vgl. Mintrop 1987; 120; auch Röper 1980); aber bezahlte Anzeigen sind bekanntlich nur ein Mittel der Werbung. 19 So heißt es etwa im „Stern“ (Nr. 18/1961, S. 29): Also wird man auch uns den Vorwurf machen, dieses Thema gehöre nicht in den Stern. Das Wort,Jugendgefährdung* liegt in der Luft. Aber wer diesen Bericht ohnehin nicht versteht, wird durch ihn auch nicht gefährdet. Wer immer aber das Problem zu begreifen vermag, für den liegt die Gefahr einzig und allein im Verschweigen.“ 20 Noch Anfang 1964 scheint das Wart „Menstruation“ nicht für den Öffentlichen Ge brauch geeignet gewesen zu sein. Kirchhoff schiebt nach der Erwähnung von „Men struationsbeschwerden“ im „SpiegeT'-Gespräch (Nr. 9/1964, S. 82) den bezeichnenden Satz ein: „Wenn wir schon einmal ein solches Thema behandeln, so müssen wir das auch in aller Offenheit tun.“ 21 Sie untersuchte vom Herbst 1966 bis zu Frühjahr 1967 ein verhältnismäßig großes, aus drei Gruppen zusammengesetztes Sample von Frauen: Interviews über Empfängnisver hütung mit 214 poliklinischen Patientinnen der Universitätsfrauenklinik Würzburg; 2000 Kundinnen von Beate Uhse (je 1000 Bestellerinnen von Präservativen bzw. chemi schen Mitteln/auch in Kombination von Pessaren), Rücklaufquote 31,9% — 638; Fra gebogenverteilung über niedergelassene Gynäkologen an 300 Frauen (fast ausschließ lich Verwenderinnen von Ovulationshemmern), Rücksendequote 55,6% « 167. Insge samt lagen also Daten von 1019 Frauen vor, von denen die allermeisten verheiratet wa- 22 ren und sehr viele sich bewußt um Empfängnisverhütung kümmerten. Repräsentativität der Studie hinsichtlich Altersverteilung, sozialer Stellung des Ehemannes und Familien stand war zwar angestrebt, wurde aber nicht erreicht. Bedingt durch die Auswahl der Probandinnen sind 22,5% Pillenverwenderinnen in der Stichprobe. Ferner wird die Frage der gesellschaftlichen Akzeptanz auf die der persönlichen Akzep tabilität reduziert, für die Springer-Kremser (1981:11.2) einen Faktorenkatalog liefert. Literatur Bauer, H.: Verhütungsmittelwerbung in der Bundesrepublik Deutschland. Inhaltsanalyti sche Betrachtung von Anzeigen. Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 3, 87-93, 1977 Delille, A. und A. Grohn: „Eine Ehe ohne Kinderwunsch ist keine Ehe“. Eheberatung in den fünfziger Jahren. Pro familia magazin 16 (Heft 6), 10-14, 1988 Döring, G. K.: Empfängnisverhütung, Stuttgart: Thieme 1966, 8. Aufl. 1981 Dose, R.: Die Durchsetzung der chemisch-hormonellen Kontrazeption in der Bundesrepu blik Deutschland. 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