Sexualstörungen beim Mann

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Sexualstörungen beim Mann
MEDIZIN
ÜBERSICHTSARBEIT
Sexualstörungen des Mannes
Diagnostik und Therapie aus sexualmedizinisch-interdisziplinärer Sicht
Dirk Rösing, Klaus-Jürgen Klebingat, Hermann J. Berberich,
Hartmut A. G. Bosinski, Kurt Loewit, Klaus M. Beier
ZUSAMMENFASSUNG
Hintergrund: Von den Sexualstörungen des Mannes haben
die Störungen der sexuellen Funktion die größte praktisch-klinische Bedeutung. Sie werden nach ihrem Auftreten im sexuellen Reaktionszyklus (Appetenz-, Erregungs-,
Orgasmus- und Rückbildungsphase) unterteilt. Es muss
zwischen Funktionsbeeinträchtigungen und Störungen mit
Leidensdruck und Behandlungsnotwendigkeit unterschieden werden.
Methoden: Eigene klinische Erfahrungen werden ergänzt
durch eine selektive Literaturübersicht zu sexuellen Funktionsstörungen und deren Zusammenhang mit Grunderkrankungen sowie der sexuellen und partnerschaftlichen
Beziehungszufriedenheit.
Universitätsklinikum
Greifswald,
Klinik und
Poliklinik für
Urologie:
Dr. med. Rösing,
Prof. Dr. med.
Klebingat
Praxis für Urologie,
Frankfurt a. M.:
Dr. med. Berberich;
Sektion für
Sexualmedizin
im Universitätsklinikum SchleswigHolstein, Campus Kiel:
Prof. Dr. med.
Bosinski;
Universitäts-Klinik für
Medizinische
Psychologie und
Psychotherapie,
Sexualmedizinische
Ambulanz, Innsbruck:
em. Prof. Dr. med.
Loewit;
Institut für
Sexualwissenschaft
und Sexualmedizin,
Charité –
Universitätsmedizin
Berlin: Prof. Dr. med.
Dr. phil. Beier
Ergebnisse: Die Sexualanamnese (möglichst mit der Partnerin) ist von zentraler Bedeutung in der Diagnostik der
Sexualstörungen. Sie muss der Mehrdimensionalität und
Multifunktionalität menschlicher Sexualität Rechnung tragen. Die chronische Frustration psychosozialer Grundbedürfnisse nach Annahme, Nähe und Geborgenheit ist ein in
den bisherigen ätiopathogenetischen Ansätzen vernachlässigter entscheidender Einflussfaktor. Therapeutisch werden sexualmedizinisch-psychotherapeutische und bei Bedarf somatomedizinische/medikamentöse Elemente eingesetzt. Die syndyastische Sexualtherapie als Weiterentwicklung bisheriger Verfahren setzt an der (Wieder-)Erfüllung
dieser Grundbedürfnisse an und hat eine Verbesserung der
sexuellen Funktion und der Beziehungszufriedenheit zum
Ziel.
Schlussfolgerungen: Kenntnisse der verschiedenen Störungsbilder in bio-psycho-sozialem Verständnis wie auch
der Bedeutung von Sexualität für Reproduktion, Lust und
Bindung beim Einzelnen und innerhalb einer Paarstruktur
sind essenziell. Die angesichts der Häufigkeit sexueller
Störungen von den Patienten erwartete sexualmedizinische ärztliche Kompetenz erfordert eine Verbesserung der
Aus-, Weiter- und Fortbildung in Deutschland.
Schlüsselwörter: Sexualmedizin, Sexualanamnese, Sexualstörungen, psychosoziale Grundbedürfnisse, syndyastische
Sexualtherapie
Zitierweise: Dtsch Arztebl Int 2009; 106(50): 821–8
DOI: 10.3238/arztebl.2009.0821
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 106 | Heft 50 | 11. Dezember 2009
as Spektrum der Sexualstörungen ist vielfältig
und ihre Klassifizierbarkeit im ICD-10 und DSMIV unzureichend. Neben den sexuellen Funktionsstörungen, die mit oder ohne organpathologischen Befund auftreten können, sind Störungen der sexuellen Entwicklung, der Geschlechtsidentität, der sexuellen Präferenz
(Paraphilie) und des sexuellen Verhaltens bei Männern
zu finden (1).
D
Epidemiologie
Entsprechend ihrem Auftreten im sexuellen Reaktionszyklus werden sexuelle Funktionsstörungen beim Mann
in Störungen des sexuellen Verlangens, der sexuellen Erregung (Erektionsstörung) oder des sexuellen Erregungshöhepunktes (vorzeitiger, verzögerter oder ausbleibender
Orgasmus) unterteilt, wobei die einzelnen Störungsbilder
ineinander greifen beziehungsweise gemeinsam auftreten können.
Laumann und Mitarbeiter (1999) fanden in einer repräsentativen Stichprobe 18- bis 59-jähriger US-Amerikaner, dass je 5 % der Probanden Appetenz- beziehungsweise Erektionsstörungen und 21 % Orgasmusstörungen
im Sinne einer Ejaculatio praecox aufwiesen (2). Im internationalen Vergleich (Laumann, et al. 2005) ergaben
sich teilweise Gemeinsamkeiten, anderenteils aber auch
bedeutsame interkulturelle Variationen, was die biopsychosoziale Fundierung derartiger Störungen belegt (2,
e1). Diverse Studien konnten inzwischen auch die negativen Auswirkungen sexueller Funktionsstörungen auf
Partnerschaft und Lebensqualität belegen (3–6).
Störungen des sexuellen Verlangens (Appetenzstörungen)
Sie stellen ein zunehmendes Problem bei Männern dar,
die eine sexualmedizinische Behandlung aufsuchen. Die
Patienten benennen nicht selten eine Erektionsstörung
als Vorstellungsgrund. Ursächlich finden sich häufig larviert auftretende subdepressive Erschöpfungszustände
(mit und ohne Substanzmissbrauch), Paardisharmonien
und – deutlich seltener – sexuelle Präferenzstörungen.
Organische Ursachen (Testosterondefizit, Hyperprolaktinämie, Medikamentennebenwirkung) sind zwar differenzialdiagnostisch bedeutsam, werden in der somatomedizinischen Literatur jedoch gelegentlich überbetont.
Erektionsstörungen
Die Verbreitung von Erektionsstörungen ist gut untersucht. Die „Massachusetts Male Aging Study“ (MMAS)
(Feldman, et al. 1994) fand bei 17 % der befragten 40-
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sentlich war bei diesen Untersuchungen die hohe
Koinzidenz mit allgemeinmedizinischen Krankheitsbildern (vor allem Diabetes mellitus, Herzerkrankungen und Bluthochdruck). Das Auftreten einer
Erektionsstörung jenseits des 40. Lebensjahres kann
ein erster Indikator für eine chronisch-ischämische
Herzkrankheit sein (9, e2).
bis 70-jährigen Männer ein minimales, bei 25 % ein
moderates und bei immerhin 10 % ein komplettes
Versagen der Erektion (7). Braun und Mitarbeiter
(2000) fanden Erektionsstörungen bei 19,2 % ihrer
4 489 über 30-jährigen Respondenten, wobei die Autoren zeigen konnten, dass nicht alle Probanden mit
erektiler Dysfunktion einen Leidensdruck angaben.
Hier wie auch in der Häufigkeit der Störung fanden
sie einen deutlichen Alterseffekt (8) (Tabelle 1). We-
Vorzeitiger Orgasmus
Der vorzeitige Orgasmus ist die häufigste Sexualstörung des Mannes. Er ist definiert als anhaltendes
oder wiederkehrendes Einsetzen des Orgasmus vor,
bei oder kurz nach der Penetration, wobei der Betreffende nahezu keine Kontrolle darüber hat und das
Orgasmusgefühl unbefriedigend bleibt. Circa 20 bis
25 % der befragten erwachsenen Männer in modernen Industriestaaten haben einen vorzeitigen Orgasmus mit Leidensdruck (10, e3). Bei der Angabe valider Prävalenzzahlen stößt man auf zwei Probleme:
Zum Einen wird die normale Ejakulations-/Orgasmusdauer in starkem Maße subjektiv bewertet und
unterliegt großen interindividuellen und auch kulturellen Schwankungen (11, e4). Zum Zweiten zeigt
sich gerade hier, dass Funktionsbeeinträchtigung und
klinisch relevante Störung nicht deckungsgleich
sind.
Ziel des Artikels ist die Darstellung der sexualmedizinisch-interdisziplinären Sicht auf die Sexualstörungen des Mannes, wobei aufgrund der Häufigkeit
ihres Auftretens, sexuelle Funktionsstörungen bei
Diagnostik und Therapie besondere Beachtung finden. Gerade bei diesen Störungsbildern besteht eine
Vielzahl von Behandlungsansätzen. Der Beziehungsaspekt menschlicher Sexualität bekommt aus sexualmedizinischer Sicht einen besonderen Stellenwert
und wird durch eine selektive Literaturrecherche untermauert.
Propädeutik und Diagnostik
Umfangreiche Forschungsergebnisse der letzten 15
Jahre und die Einführung von selektiven Phosphodiesterase(PDE)-5-Hemmern haben zu einer Veränderung in der Diagnostik und Therapie männlicher
Sexualstörungen geführt. Eine invasive Diagnostik
findet fast nicht mehr statt. Medikamente werden
frühzeitig eingesetzt. Der Erfolg wird gemessen an
der Funktion, die wiederum durch Messinstrumente
in Form von Fragebögen zum Beispiel IIEF (International Index of Erectile Function), dessen Kurzversion (IIEF-5) oder dem Kölner Erfassungsbogen der
Erektilen Dysfunktion (KEED) evaluiert wird (8, 12,
e5, e6). Die erektile Dysfunktion wird in der Literatur im Wesentlichen als Gefäßerkrankung betrachtet
und stellt häufig das erste Zeichen einer generalisierten Atherosklerose dar (e6). Postuliert wird ein Wandel der Betrachtungsweise von einer fast ausschließlich psychogenen zu einer organisch dominierten
multifaktoriellen Ätiologie (13). Ein Großteil der
Studien zu Sexualstörungen des Mannes ist zielorientiert auf die medikamentöse Beeinflussung von
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Errektionsstörungen
aufgrund von
Erberkrankungen
und/oder deren
Behandlung
GRAFIK
Appetenz, Erektion und Ejakulation ausgerichtet und
bleibt auf einer Stufe der Funktionsbetrachtung stehen. Nicht zuletzt verschaffte die Entdeckung hoch
wirksamer oraler Medikamente der pharmazeutischen Industrie einen im Wortsinne „potenten“ neuen Absatzmarkt (e7). Zwar wird in der vorwiegend
auf somatische Aspekte zielenden Literatur zum
Thema ganz allgemein darauf hingewiesen, dass
psychische und partnerschaftliche Faktoren auch eine Rolle spielen (10), und die Notwendigkeit einer
umfassenden Sexualanamnese unter Einbeziehung
der Paarsituation wird in Konsensusempfehlungen
betont (14). Die klinische Praxis zeigt jedoch immer
wieder, dass man verkürzt auf eine „Funktionsreparatur“ abstellt und psychosoziale beziehungsweise
psychosexuelle (Paar-)Aspekte als „quantité négligable“ abhandelt oder gänzlich ausblendet.
Sexuelles Erleben und Verhalten bedeutet stets ein
Zusammenspiel biologischer, psychologischer und
sozialer Faktoren, deren individuelle Gewichtung
und Vernetzung bei sexuellen Störungen im Einzelfall zu klären sind. Einen besonderen Stellenwert bekommen dabei die subjektiven Bedeutungen von Sexualität und Partnerschaft, welche die Auswirkung
von Ereignissen und Erlebnissen in der Intimbeziehung bestimmen (15, e7). Vor diesem Hintergrund ist
jegliche Diagnostik, die sich einseitig und ausDeutsches Ärzteblatt | Jg. 106 | Heft 50 | 11. Dezember 2009
schließlich dem Körperlichen (Sexualfunktion zum
Beispiel Appetenz, Erektion und Ejakulation) oder
dem Seelischen (zum Beispiel Persönlichkeitsentwicklung und -merkmale) oder der Beziehung (zum
Beispiel Partnerschaft oder Partnerschaftserfahrung)
widmet, inkomplett und unzureichend in Bezug auf
die Behandlungsplanung einer mit Leiden verbundenen Sexualstörung. Leidensdruck entsteht zunächst
dann, wenn ein Gefühl der Insuffizienz der eigenen
Sexualität innerhalb einer Beziehung oder Beziehungserfahrung entsteht. Der Wunsch nach Beziehung ist bereits stammesgeschichtlich angelegt und
deshalb ubiquitär (16, e17). Positive soziale Interaktionen, bei denen psychosoziale Grundbedürfnisse
wie Akzeptanz, Zugehörigkeit, Nähe oder Wärme erfüllt werden, fördern Vertrauen, bauen Ängste ab,
geben Sicherheit und vermindern Stress und Aggression. Dies belegen neurobiologische Forschungsergebnisse zur Bedeutung von „Bindung und Beziehung“ (17). Ebenso ergeben Studien mithilfe der
funktionellen Magnetresonanztomographie Hinweise für ein spezifisches neuronales Korrelat für „Liebe“ (18). Ein in den bisherigen ätiopathogenetischen
Ansätzen weitgehend vernachlässigter Einflussfaktor scheint aus sexualmedizinischer Perspektive die
chronische Frustration psychosozialer Grundbedürfnisse zu sein. Dies führt nicht nur zur Verschlechte-
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rung der Beziehungsqualität, sondern betrifft auch
die Sexualität in ihren drei Dimensionen: Reproduktion, Lust und Beziehung. Dies zeigt auch eine aktuelle Interview-Studie von Kleinplatz et al. (2007), in
der Männer und Frauen (älter als 65 Jahre und in
Langzeitpartnerschaften) vor allem Merkmale wie
Authentizität, intensive emotionale Verbindung,
Kommunikation und Angenommenfühlen als Kennzeichen von „great sex“ ansahen (19). Sexualität als
„tiefster Akt der Kommunikation“ ist keine neue
Idee, und die Verwandlung der „taktilen Kommunikation beim Geschlechtsverkehr“ in eine „zusätzliche Sprache“ wurde bereits vor über 50 Jahren beschrieben (e15). Diese Sprache macht die syndyastische Sexualtherapie bewusst und übersetzt sie: Zuneigung, Annahme, Nähe und Geborgenheit werden
(auch) auf sexuelle Weise körpersprachlich kommuniziert und dadurch verwirklicht. Der Begriff syndyastisch ist von dem griechischen Wort syndyastikós
(„disponiert zur Gemeinsamkeit zu zweit oder zur
Zweier- beziehungsweise Paarbeziehung“) abgeleitet. Aristoteles erläutert in seiner Nikomachischen
Ethik den Sachverhalt des „Einander-vertraut-Werdens“ (synoikeioústhai) im Sinne von „Zugehörigkeit“. Hiervon grenzt er die Beziehung zu einem bedeutsamen Anderen im Sinne der Paarbeziehung
(syndyastikós) ab, in der sich besonders intensiv Vertrautheit und Zugehörigkeit herausbilden können
(15). Hierfür ist sexuelle Funktionsfähigkeit nicht
notwendig die Voraussetzung, andererseits ist sexuelle Funktionalität allein auch nicht ausreichend, um
sexuell erfüllende Erlebnisse zu verschaffen (19).
Durch die sexuelle Körperkommunikation können
daher psychosoziale Grundbedürfnisse auf eine einzigartige Weise erfüllt werden. Ihre chronische Deprivation, mit dysfunktionalem oder gänzlich fehlendem (intimem) Körperkontakt, spielt eine bedeutende
Rolle für das Zustandekommen und Fortbestehen
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psychosomatischer Störungen, inklusive aller sexuellen Funktionsstörungen beziehungsweise erschwert das Überwinden bereits bestehender Erkrankungen (e8). Umgekehrt machen neuere Untersuchungen zum Placeboeffekt deutlich, dass viele Medikamente neben dem Attributionseffekt, der auf der
Erwartung einer positiven Wirkung durch das eingenommene Arzneimittel beruht, von der Zuwendung
durch das begleitende stützende Gespräch profitiert.
Selbst die Arzneimittelkommission der deutschen
Ärzteschaft ist zu der Auffassung gelangt, dass „die
von Vertrauen, Empathie und Hoffnung geprägte
Arzt-Patient-Beziehung therapeutisch wirksam ist“
(e16). Wenn man sinnvollerweise den Placeboeffekt
einer guten Arzt-Patient-Beziehung akzeptiert, ist
umso mehr das salutogene Potenzial einer funktionierenden Intimbeziehung mit mindestens vergleichbarer Effektstärke in Betracht zu ziehen, was umso
mehr nahe legt, auf diese Beziehung therapeutisch
Einfluss zu nehmen.
Erhebt man Anspruch auf eine – der komplexen
Wirklichkeit entsprechenden – Betrachtungsweise,
erfordert die Sexualanamnese als wichtigstes Diagnostikum spezielle Kenntnisse und Qualifizierung
(20, e9, e10), da Besonderheiten im Vergleich zur
klinisch üblichen Anamnese zu berücksichtigen sind
(Kasten).
Wie wichtig es ist, die verschiedenen Dimensionen der sexuellen Anamnese zu berücksichtigen, zeigen die Ergebnisse der Berliner Männerstudie. Sie
untersuchte eine repräsentative Auswahl von 6 000
Männern im Alter zwischen 40 und 79 Jahren hinsichtlich einer Erektionsstörung und der damit verbundenen Auswirkung auf die Lebensqualität, die
Gesundheit und die Partnerschaft (21). Eine hieraus
rekrutierte Stichprobe von Probanden, die an einem
ausführlichen Interview mit Erhebung der vollständigen Sexualanamnese unter Einbeziehung der PartDeutsches Ärzteblatt | Jg. 106 | Heft 50 | 11. Dezember 2009
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nerin teilnahmen (insgesamt 373 Männer), gab nicht
nur Hinweise auf die Prävalenz der verschiedenen
Funktionsstörungen, sondern zeigte auch, dass bei
46,9 % der Befragten der Aufbau sexueller Erregung
in den Begleitfantasien bei der Selbstbefriedigung
mit Reizmustern verknüpft war, die den Paraphilien
zugeordnet werden konnten (zum Beispiel fetischistische, masochistische, sadistische, exhibitionistische Fantasieinhalte). Aus sexualmedizinischer
Sicht besteht bei paraphilie-assoziierten Erregungsmustern in der Fantasie noch keinerlei Krankheitswert und nach den Angaben der Teilnehmer war der
Stimulus für sexuelle Erregbarkeit häufig „mäßig“
und selten „stark“ ausgeprägt. Außerdem verbietet
sich wegen möglicher Selektionseffekte eine Übertragung der Zahlen auf die Allgemeinbevölkerung.
Gleichwohl empfanden immerhin fast ein Drittel der
Männer die paraphilie-assoziierten Inhalte als inadäquat für sich, und bei einem beträchtlichen Anteil
waren diese auch mit einem Fremdgefährdungspotenzial verbunden (zum Beispiel pädophile, exhibitionistische, frotteuristische Fantasieinhalte), die
teilweise bereits auf der Verhaltensebene umgesetzt
worden waren (15). Diese Daten (die Minimalangaben darstellen, da die Männer älter als 40 Jahre waren!) weisen darauf hin, dass eine diagnostische Fixierung nur auf die Funktion in seltenen, dann aber
prekären Fällen zu einer hochproblematischen
„Symptomkosmetik“ führen kann. Ein Beispiel ist
die fehlindizierte Behandlung einer durch eine
schwere, aber nicht erkannte sexuelle Präferenzstörung bedingten Erektionsstörung mit PDE-5-Inhibitoren (22, e11).
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Sexuelle Funktionsstörungen des Mannes sind
häufig Folge von Krankheiten und/oder deren Behandlung beziehungsweise erste Hinweise auf Erkrankungen. Daher ist es notwendig, fächerübergreifend Fragen nach Sexualität und Partnerschaft in
die allgemeine ärztliche Anamnese zu integrieren
und in Abhängigkeit davon weitere diagnostische
Maßnahmen einzuleiten (Grafik, Tabelle 2). Damit
erfolgt zunächst ein Gesprächsangebot an Patienten(paare), um frühzeitig diejenigen zu motivieren,
die einen Veränderungs- oder Behandlungswunsch
verspüren, sich aber nicht trauen, einen solchen zu
formulieren. Die Prognose des Behandlungserfolgs
ist abhängig vom Zeitpunkt der Diagnosestellung.
Eine gute Prognose besteht dann, wenn die sexuelle
Funktionsstörung mit Leidensdruck frühzeitig (bei
Erstvorstellung) erkannt und sachverständig behandelt wird. Andernfalls besteht die Gefahr einer Chronifizierung (1).
Therapie
Die beschriebene biopsychosoziale Verursachung sexueller Störungen erfordert auch eine dementsprechende therapeutische Herangehensweise, also die
Kombination von Methoden der „sprechenden Medizin“ mit jenen der somatisch-medikamentösen Intervention (Tabelle 3).
Am Beispiel der Versorgung von Patienten mit
Erektionsstörungen nach radikaler Prostatektomie bei
Prostatakarzinom in Deutschland konnten Herkommer
und Mitarbeiter (2006) zeigen, dass bei langfristiger
Anwendung ausschließlich medikamentöser oder mechanischer Therapiemittel die Behandlungszufrieden-
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heit der Patienten deutlich geringer war als von den
behandelnden Urologen eingeschätzt. Auch bei der
Auswahl der Therapiemittel waren die Patientenangaben deutlich diskrepant zur Einschätzung ihrer Behandler (23).
Befragungen zum Stellenwert von Partnerschaft,
nicht genitaler Sexualität (Austausch von Zärtlichkeiten) und genitaler Sexualität (Geschlechtsverkehr) bei Prostatakarzinombetroffenen und ihren
Partnerinnen zeigten, dass vor und nach einer radikalen Prostatektomie lediglich die Bedeutung genitaler
Sexualität bei beiden Geschlechtern abnahm. Partnerschaft und die Bedeutung von körperlicher Zuwendung (Austausch von Zärtlichkeiten) behielten
einen unverändert hohen Stellenwert (24). Die höhere Wertigkeit von Erfüllung psychosozialer Vertrautheit, Nähe und Geborgenheit im Vergleich zum Streben nach sexuell erotischer Befriedigung konnte
man auch in anderen Untersuchungen nachweisen
(25).
Die von Beier und Loewit (2004) entwickelte Methode der syndyastischen Sexualtherapie setzt dementsprechend die psychosozialen Grundbedürfnisse
in den Therapiefokus (16). Damit unterscheidet sie
sich grundlegend von allen anderen Behandlungsformen (Tabelle 4). Nicht die Sexualfunktion soll in erster Linie wiederhergestellt werden, sondern Therapieziel ist es, das Verständnis von Sexualität zu erweitern (beziehungsorientierte Dimension), dadurch
neue Erfahrungen (sexueller) Körperkommunikation
zu ermöglichen und die (sexuelle) Beziehungszufriedenheit insgesamt zu verbessern. Der Einsatz wirksamer Medikamente oder Hilfsmittel ist dabei kein
Widerspruch, sondern zum gegebenen Zeitpunkt eine hilfreiche Ergänzung.
826
Kasuistik
Ein 59-jähriger Mann (Zustand nach nervschonender
radikaler Prostatektomie bei Prostatakrebs) stellt
sich gemeinsam mit seiner Partnerin aufgrund der
fortbestehenden Erektionsstörung trotz regelmäßiger
Einnahme eines PDE-5-Inhibitors in der sexualmedizinischen Sprechstunde vor. Das Paar ist wegen der
„fehlenden Wirkung“ deutlich frustriert. Der Leidensdruck ist groß, körperliche Kontakte finden nur
noch selten statt. Die Frau ist traurig, er überlegt, die
Dosis des Medikamentes zu erhöhen oder das Einnahmeintervall zu verkürzen. Man habe Angst sich
„zu verletzen“. Das Thema Sexualität wird vermieden. Fragen nach dem emotionalen Empfinden nach
durchlebter Krebserkrankung, der gegenwärtig gelebten Beziehung und Sexualität sowie früherer Erfahrungen durchbrechen die Sprachlosigkeit. Sexualität habe in der Beziehung für beide, wenn auch mit
unterschiedlicher Bewertung, schon immer eine große Rolle gespielt, wobei die Rollenzuweisung klar
definiert war. Nach der Operation habe sich dies geändert, sexuelle Aktivitäten gingen nun sporadisch
von ihr aus, wobei er wegen der fehlenden Gliedversteifung „resignierend wirke“ und sie sein „Streicheln bis zum Orgasmus“ mit „schlechtem Gewissen“ erlebe. Beide fühlen sich durch die „Pille“ stark
unter Druck gesetzt, vermissen frühere Momente der
sexuellen Begegnung. In der zehnstündigen syndyastischen Sexualtherapie wird der Fokus auf einen bewussteren Umgang mit Körpersprache und der damit
verbundenen Bedeutung gelegt. Der entscheidende
Schritt in der Behandlung ist die Erkenntnis für beide, trotz „Unvollkommenheit“ (körperliches und
seelisches Trauma durch die Krebserkrankung) sich
selbst und gegenseitig wieder anzunehmen, WertDeutsches Ärzteblatt | Jg. 106 | Heft 50 | 11. Dezember 2009
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schätzung, Nähe und Geborgenheit zu spüren. Dies
gelingt dem Paar, indem es sich eine Medikamentenpause und neue Erfahrungen mit körperlicher Zuwendung verordnet und diese positiv erlebt, mit Bedeutung besetzt und somit verbal und nonverbal bewusster miteinander kommuniziert. Zunehmend können sich beide „fallen lassen“, Genitalorgane werden
zu Kommunikationsorganen, der Höhepunkt wird
nun nicht mehr negativ besetzt, sondern ist Ausdruck
eines lustvoll erlebten Zusammengehörigkeitsgefühls, in dem sich jeder vom anderen angesprochen
und gemeint fühlt („...ich habe das Gefühl von Entspannung, als wenn alles von einem abfällt..., ...emotional und körperlich liegen wir eng beieinander...“).
Durch die nunmehr veränderte Sichtweise von Sexualität wird der gewünschte Koitus, der vom Paar
als eine „besonders intensive Form von Nähe“ übersetzt wird, unter Zuhilfenahme einer Vakuumpumpe
ohne Leistungsdruck und Versagensangst erlebbar,
die salutogene Wirksamkeit der Sexualität ist wieder
verfügbar.
Schlussfolgerungen
Die Sexualanamnese (möglichst unter Einbeziehung
der Partnerin) ist von zentraler Bedeutung in der Diagnostik der Sexualstörungen und muss der Mehrdimensionalität und Multifunktionalität menschlicher Sexualität Rechnung tragen. Therapeutisch
werden
sexualmedizinisch-psychotherapeutische
und bei Bedarf somatomedizinische/medikamentöse
Elemente eingesetzt. Die syndyastische Sexualtherapie stellt die psychosozialen Grundbedürfnisse in
den Behandlungsfokus und hat eine Verbesserung
der sexuellen Beziehungszufriedenheit zum Ziel.
Die Auseinandersetzung der Ärztin oder des Arztes mit dem Thema Sexualität und deren Störungen
erfordert nicht nur Wissen über die biopsychosozialen Zusammenhänge, sondern auch die Bereitschaft
und die Fähigkeit zur Reflexion der eigenen Sexualität. Dies ist insofern unverzichtbar, als sie authentisch ein (für sie selbst) intimes Thema konkret ansprechen müssen. Zugleich ist die Beantwortung der
Frage nach Erfüllung/Frustration der eigenen psychosozialen Grundbedürfnisse elementar, um Patienten(paare) bestmöglich begleiten zu können. Dies ist
eine für viele Mediziner ungewohnte, da nicht erlernte aber erlernbare Denk- und Arbeitsweise, weil
sexualmedizinische Inhalte bereits im Medizinstudium nur an wenigen Universitäten in Deutschland
vermittelt werden (20, e10). Im Jahre 1997 hat die
Akademie für Sexualmedizin für Ärzte und Psychologen mit der bundesweit ersten zweijährigen curricular-fundierten sexualmedizinischen Fortbildung
am Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité begonnen und seitdem kontinuierlich
fortgesetzt (e9).
Der ubiquitäre Wunsch der Menschen nach Erfüllung psychosozialer Bedürfnisse ist basal und muss
von der Medizin genauso ernst genommen werden
wie die Erforschung pathogener Mechanismen. Im
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 106 | Heft 50 | 11. Dezember 2009
Fall der Sexualstörungen erfordert dies, auch die salutogene Wirkung der Sexualität zu verstehen und
für Patienten(paare) (wieder) verfügbar zu machen.
Auch wenn kontrollierte klinische Studien und randomisierte, kontrollierte multizentrische Untersuchungen in der sexualmedizinischen Forschung
grundsätzlich angestrebt werden, ist es leider Realität, dass für derartige Untersuchungen auch nicht annähernd so viele Ressourcen bereitstehen wie für die
Erforschung kommerziell verwertbarer Medikamente. Dies darf aber – auch aus medizinethischen Gründen – nicht dazu führen, dass vom Konzept plausible
und in der klinischen Praxis bewährte Methoden den
Patienten vorenthalten werden.
Ausblick
Die Berliner Landesärztekammer hat seit November
2007 die dringend notwendige Zusatz-Weiterbildung
„Sexualmedizin“ in ihre Weiterbildungsordnung aufgenommen. Es bleibt zu wünschen, dass andere Landesärztekammern und die Bundesärztekammer dem
Beispiel folgen. Das ist für Ärzte und Patienten auf
der Suche nach qualifizierten Behandlungsangeboten gleichermaßen wichtig.
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien
des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 30. 7. 2008, revidierte Fassung angenommen: 8. 4. 2009
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Anschrift für die Verfasser
Dr. med. Dirk Rösing
Universitätsklinikum Greifswald
Anstalt öffentlichen Rechts
Klinik und Poliklinik für Urologie
Fleischmannstraße 42–44
17475 Greifswald
E-Mail: [email protected]
828
SUMMARY
Sexual Dysfunction in Men—Diagnosis and Treatment
From a Sexological Interdisciplinary Perspective
Background: Among all types of sexual disturbance in men, disturbances of sexual function are the most important in clinical practice. These are classified by the segment of the sexual reaction cycle
in which they arise (appetence, arousal, orgasm, and resolution).
Partial functional impairment must be distinguished from dysfunction causing significant suffering and requiring treatment.
Methods: The authors’ clinical experience is supplemented with a
selective review of the literature on sexual dysfunction, its association
with underlying diseases, and its impact on sexual and relational
satisfaction.
Results: The sexual history (including the partner’s sexual history, as
far as this can be obtained) is of prime importance in the diagnostic
evaluation of sexual disturbances. This evaluation must take the
multidimensionality and multiple functions of human sexuality into
account. Chronic frustration of the fundamental psychosocial needs
for acceptance, closeness, and security is a very important factor
that has been neglected until now by the prevailing conceptions of
the etiology and pathogenesis of sexual disturbances. Their treatment involves a combination of elements from sexual medicine and
psychotherapy, along with somatic medical and pharmacotherapeutic intervention, if needed. The goal of syndyastic sex therapy, a
further development of the previous therapies, is to fulfill these fundamental needs and thereby to improve the patient’s sexual function and deepen his satisfaction with the rela-tionship in its entirety.
Conclusions: It is essential to understand the different types of sexual disturbance in their biopsychosocial context as well as the significance of sexuality for the individual, and for the couple, with respect to reproduction, sexual pleasure, and bonding. Sexual disturbances are common, and patients therefore expect their physicians
to be proficient in sexual medicine. The coverage of this subject in
both undergraduate and postgraduate medical education in Germany needs to be improved.
Key words: sexual medicine, sexual history, sexual dysfunction, basic psychosocial needs, couples therapy
Zitierweise: Dtsch Arztebl Int 2009; 106(50): 821–8
DOI: 10.3238/aerztebl.2009.0821
@
Mit „e“ gekennzeichnete Literatur:
www.aerzteblatt.de/lit5009
The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 106 | Heft 50 | 11. Dezember 2009
ÜBERSICHTSARBEIT
Sexualstörungen des Mannes
Diagnostik und Therapie aus sexualmedizinisch-interdisziplinärer Sicht
Dirk Rösing, Klaus-Jürgen Klebingat, Hermann J. Berberich,
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