Brecht als Schulautor: Bilanz und Perspektiven

Transcription

Brecht als Schulautor: Bilanz und Perspektiven
Juliane Köster
Brecht als Schulautor: Bilanz und Perspektiven1
Als „Schulautor“ hat Brecht seit fast 60 Jahren charakteristische Schwankungen
und Höhepunkte erlebt und in allen epochalen Umbrüchen zugleich eine
bemerkenswert zähe Präsenz bewiesen. Damit ist ein weites Feld angezeigt, auf
dem hier aus der speziellen Perspektive der Deutschdidaktik einige
exemplarische Hinweise gegeben werden sollen.
I Was ist ein Schulautor?
Schulautoren waren zunächst die im altsprachlichen Unterricht verbindlich zu
lesenden Autoren: Homer, Caesar, Cicero, Horaz; nicht aber Sappho oder Catull.
Mit dem Begriff Schulautor ist sowohl die Frage nach dem literarisch Klassischen
und Kanonischen verbunden als auch die Frage nach dem, was der humanen
Erziehung dient.
Durch diese beiden Größen sind grundlegende Koordinaten markiert, die das
Konstrukt „Schulautor“ bestimmen: Es handelt sich einerseits um die literarische
und andererseits um die erziehliche Qualität eines Textes oder des jeweiligen
Werks. Über die literarische Qualität entscheiden Literaturwissenschaft und
Literaturkritik im Konnex mit der kulturellen Tradition und dem Lesepublikum.
Welche erziehlichen Qualitäten in literarischen Werken wahrgenommen und
reflektiert werden sollen, darüber entscheidet seit dem 19. Jahrhundert
vornehmlich der Staat per Schulgesetzgebung. Sie findet ihren Ausdruck in
Richtlinien und Fachlehrplänen.
Kurz: Die grundlegenden Auswahlentscheidungen werden bereits im Vorfeld
fachdidaktischer Bemühungen getroffen. Nimmt man die gegebenen
Koordinaten, also den Anspruch auf literarische Bedeutung einerseits und
erziehliche Bedeutsamkeit andererseits, als verbindlich, dann gewinnt
fachdidaktische Reflexion etwas einseitig leicht den Charakter des Affirmativen.
Das heißt: sie bestätigt und untermauert, was von außen an den
Literaturunterricht herangetragen wird. Damit wird sie – mehr oder weniger
verbrämt – zur Agentur entweder der „Dichtung“ oder des Staates.
Demgegenüber resultieren – im strikten Sinn – didaktische Kategorien aus dem
didaktischen
Dreieck,
das
durch
die
Beziehungen
zwischen
Unterrichtsgegenstand, Lerner und Lehrperson bestimmt ist.
Ich werde auf das Verhältnis zwischen dem didaktischen Dreieck und dem
politisch-kulturellen Kontext zurückgreifen, wenn ich im Folgenden die bereits
angedeuteten Höhepunkte und Schwankungen in der schulischen BrechtRezeption zu erklären suche.
Da Brecht bereits in den späten 70er Jahren als Schulklassiker figuriert, sollen
bei der Bilanzierung dessen, was Brecht in Ost und West dazu gemacht hat, vor
allem die 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts beleuchtet werden.
Der weniger umfangreiche zweite Teil der Vorlesung bezieht sich auf die 90er
Jahre. In diesem Jahrzehnt „nach der Wende“ wurde die didaktische
Bedeutsamkeit Brechts und seines Œuvres unter neuen Bedingungen verhandelt.
Brechts 100. Geburtstag am 10. Februar 1998 garantierte diesen Debatten auch
Aufmerksamkeit. Hier gründet die Frage nach den Perspektiven, die Brecht als
Schulautor zukommen. Sie wird nicht nur im Kontext aktueller didaktischer und
bildungspolitischer Strömungen zu beantworten sein, sondern auch mit Blick auf
das spannungsvolle Verhältnis von Dichtung und Politik.
2
II
Bilanz
Die Brecht-Rezeption in beiden deutschen Staaten war natürlich wesentlich durch
den Antagonismus der Blöcke bestimmt. Folglich finden sich in der Phase der
Etablierung Brechts im Deutschunterricht deutliche Diskrepanzen zwischen Ost
und West.
1. Revolutionärer Realismus als Richtschnur für die schulische Brecht-Rezeption
in der DDR
Im real-sozialistischen Deutschland standen Brechts Texte von Anfang an – das
heißt seit 1949 und früher – auf dem Lehrplan. Wer Schüler oder Lehrer in der
Schule der DDR gewesen ist, weiß, dass es für die Klassen 1-12 ein festes
Angebot an Brecht-Texten gab. Im 8. Jahrgang standen „Die Gewehre der Frau
Carrar“ auf dem Programm – ein Plädoyer gegen eine neutrale Haltung im
Spanischen Bürgerkrieg, im 12. Jahrgang dann „Leben des Galilei“. Als Beispiele
für Prosatexte seien „Die Denkaufgabe“, die „Erzählung der Telefonistin“ aus dem
„Puntila“ und „Der Augsburger Kreidekreis“ erwähnt, und was die Gedichte
betrifft, so gab es nicht nur das „Lob des Kommunismus“, sondern auch
„Vergnügungen“, nicht nur die Ehrung Lenins durch die „Teppichweber von
Kujan-Bulak“ und die „[U]nbesiegliche Inschrift“, sondern auch „Erinnerung an
die Marie A.“.
Der Braunschweiger Literaturdidaktiker Wolfgang Conrad hat es 1992
unternommen, das „Brecht-Bild im Literaturunterricht der DDR“ im Kontext
„institutioneller Rahmenbedingungen“2 zu rekonstruieren. Er analysiert die
schulische Brecht-Rezeption in der jungen DDR als parteipolitisch3 gelenkt und
damit als von oben gesteuert. Warum, fragt Conrad, wurde die ursprünglich im
Lehrplan vorgesehene Auswahl aus „Mutter Courage und ihre Kinder“ in der
Lehrplanüberarbeitung von 1952/53 durch „Die Gewehre der Frau Carrar“ ersetzt
und warum blieb dieses Stück dann vierzig Jahre lang Spitzenreiter im
Literaturunterricht?
Conrad erklärt diesen Tausch sicher zurecht mit der „größere[n] politische[n]
Wirksamkeit“ des Einakters, der – aufgrund seiner Parteinahme – „die Gewähr
[geboten habe], die Einheit von Kunst und Politik zu demonstrieren“4. Als Beleg
zeigt Conrad bezeichnende Übereinstimmungen zwischen den Verlautbarungen
des 10. Plenums des ZK der SED vom November 1952 und den für den
Literaturunterricht maßgeblichen Unterrichtshilfen.5 Conrad beklagt, dass man
solche Einheit von Kunst und Politik an ein Realismus-Konzept gebunden habe, in
dessen Namen „ein Großteil der innovativen Kraft Brechts, die eben mit Theorie
und Praxis des epischen Theaters verbunden war, aus dem Literaturunterricht für
lange Zeit verbannt wurde“6 – und dass dies ein sehr hoher Preis gewesen sei.
Das klingt, als sei literarisch-ästhetische Qualität im politikfreien Raum zu
bestimmen. Nicht nur die Realismus-Debatte zeigt, dass literarische Qualität
selten oder nie gänzlich unideologisch oder frei von aller politischen Parteinahme
attestiert wird – auch wer wie Hans von Delft 1998 fordert, Brecht ebenso wie
Ernst Jünger nur im Hinblick auf ihre literarische Qualität zu diskutieren, ergreift
notwendig politisch Position.7 Und Conrad wäre – ästhetisch gesehen – eher bei
von Delft zu platzieren und plädierte didaktisch für eine Differenz zwischen
staatlicher Erziehungsnorm und literarisch-ästhetischer Bildung.
En fait: Die Option für „Carrar“ und gegen „Courage“ ist ein Exempel für den
revolutionären Realismus und damit für die Einheit von literarischem und
erziehlichem Anspruch – das entscheidende Kriterium somit, dem Brecht als
3
Schulautor um 1952/53 in der DDR genügen muss. Warum das „Courage“-Stück
diesen Anspruch nicht so recht erfüllt, gewinnt Evidenz in der kontrovers
geführten Debatte8, die 1949 durch die Berliner Erstaufführung der Courage
ausgelöst wurde: In „Mutter Courage“, so Fritz Erpenbeck, fehle der dramatische
Konflikt. Auf ihn warte das Publikum und einen solchen habe Brecht z.B. in „Frau
Carrar“ meisterhaft gestaltet.9
Rückblickend ist dieser Tausch auch deshalb interessant, weil die beiden Stücke
zwei Varianten eines Sujets realisieren. In beiden Stücken sind die Titelfiguren
Mütter, die ihre Kinder durch den Krieg bringen wollen, steht die Mutterliebe –
oder auch der Mutterinstinkt – dem Krieg als politischem Ereignis gegenüber.
Was die beiden Stücke unterscheidet, ist die Bewertung des Krieges. Während in
der „Courage“ der Krieg (mit deutlichen Hinweisen auf den Zweiten Weltkrieg)
vornehmlich als Wirtschaftsfaktor zur Debatte steht, handelt es sich beim
Spanischen Bürgerkrieg um den legitimen Kampf zugunsten der legitimen Macht.
Auch die Entscheidung für „Leben des Galilei“ als Oberstufen-Lektüre in der DDR
ist erziehlich bestimmt. Während in „Frau Carrar“ der proletarische Kämpfer
gestaltet sei10, zeige sich das sozialistische Menschenbild im „Galilei“ durch die
„Entheroisierung ‚großer’ Gestalten“ und zwar „im Dienst der Kritik an der in der
bürgerlichen Gesellschaft üblichen Überschätzung der Einzelpersönlichkeit“.11
Gesellschaftsaktivierend erschien im „Galilei“ auch die Darstellung des Beginns
einer neuen Zeit. Der damit einhergehenden Umwälzung der Wissenschaft
korrespondiert die grundlegende Umwälzung der Gesellschaft, wie sie sich in der
Gründung der DDR manifestieren sollte.
Darüber hinaus sind die beiden Stücke – auf formaler Ebene – durch die Nähe
zum aristotelischen Theater miteinander verbunden. In „Galilei“ lässt sich in
Bezug auf den Widerruf ein dramatischer Konflikt ausmachen, den es zu erklären
und zu werten gilt. Mag Brecht im „Arbeitsjournal“ von diesen beiden Stücken
auch sagen, dass er hier in Bezug auf „radikales episches theater“ „abstriche
gemacht“ habe, aus didaktischer Perspektive auf den Literaturunterricht schien –
und scheint – darin eben doch eher eine Empfehlung zu liegen.
Für die schulische Brecht-Rezeption in der DDR gilt von Anfang an, dass die
Auswahlentscheidungen hinsichtlich der Brechtschen Texte nicht nur vom
revolutionären Engagement und der Teilhabe an den gesellschaftlichen Kämpfen
der Zeit bestimmt waren, sondern auch von ästhetischen Postulaten – wie z.B.
hier dem dramatischen Konflikt.
Es sei also festgehalten: Auswahlentscheidungen sind eminent didaktische
Entscheidungen. Sie müssen sich jedoch am Lernerfolg bewähren.
Ein schönes Dokument für die Wirksamkeit schulischer Brecht-Lektüre in der
DDR der 60er Jahre ist der von Helene Weigel zum 70. Geburtstag Brechts
ausgelobte Zeichenwettbewerb. Natürlich spiegelt sich in den auf Brechts Texte
bezogenen Produkten die von oben gesteuerte Auswahl. Entscheidender aber ist:
die Produkte zeigen nicht nur das Verständnis der Texte im intendierten Sinn, sie
zeigen auch, wie Werner Hecht hervorhebt, einen so souveränen Umgang der
Kinder mit den Vorlagen, „daß auf überraschende Weise Typisches mitgeteilt
wurde“.12 Die folgende Gestaltung der „Unbesieglichen Inschrift“ mag einen sehr
kleinen Einblick in die Ausstellung geben, die 1967 im Berliner Ensemble
stattfand und 1972 in der Insel-Bücherei Leipzig veröffentlicht wurde.
4
2. Maximen des Literaturunterrichts in der frühen BRD: Ablenkung vom
Politischen und Innerlichkeit
War, wie gesagt, Brecht im Deutschunterricht der DDR in einer staatskonformen
Auswahl präsent, die zugleich bestimmte ästhetische Optionen zur Folge hatte,
so fehlte er an bundesdeutschen Schulen in den 50er und frühen 60er Jahren
fast völlig. Dort erhielt er erst gegen Ende der 60er Jahre den Status eines –
regulären – Schulautors. Michael Sauer hat diesen Weg von 1945 bis 1980 in
seiner Dissertation „Brecht in der Schule“ (1984)13 sorgfältig nachgezeichnet.
Kollegen, die in den 50er Jahren Schüler waren, erzählen, dass engagierte Lehrer
zu Brecht-Lektüren ins Caféhaus einluden, weil der Autor in der Schule nicht
geduldet war. In diesen Zirkeln suchte man über die „Dreigroschenoper“
Anschluss an das kulturelle Leben der Weimarer Republik – ohne an Jennys „Und
wenn dann der Kopf fällt, sag ich: Hoppla!“14 Anstoß zu nehmen. In „Mutter
Courage“ sah man dort politisch die pazifistische Linie gegen die
Wiederaufrüstung unterstützt und ästhetisch in der epischen Form des Theaters
Modernität bezeugt. Demgegenüber waren es im schulischen Literaturunterricht
Ende der 50er Jahre dann zunächst Gedichte, die – einem scheinbar
unpolitischen Humanum verpflichtet – wie z.B. die „Legende von der Entstehung
des Buches Taoteking“ in der restaurativen Adenauer-Ära literarisch wertvoll
erschienen und die man für geeignet hielt, um Schülerinnen und Schülern der
Oberstufe den umstrittenen Autor zu präsentieren. Diese zögerliche und
verspätete Rezeption Brechts im Deutschunterricht ist denn auch Folge einer
Implementation „von unten“.
Während der Dichter zögernd Einlass fand, war der Kommunist natürlich verpönt.
Ich erinnere an den Brecht-Boykott an den westdeutschen Theatern –1953 und
1961. Ebenfalls mit dem Kommunisten Brecht hat es zu tun, dass das von Brecht
5
besuchte Augsburger Realgymnasium 1965 bei seiner Namensgebung Brecht
nicht einmal als ernsthaften Kandidaten handelte. Lediglich Ulrich, Bischof von
Augsburg, und der Humanist Conrad Peutinger, Stadtschreiber von Augsburg,
standen zur Wahl.15 Dass der in Augsburg als rebellisch bekannte Schüler Brecht
als erziehliches Vorbild einigermaßen zweifelhaft erschien, ist im Vergleich mit
seiner Wendung zum Kommunismus eher als marginal zu betrachten. Im
Rückblick wird jene Epoche als „Bleierne Zeit“ charakterisiert werden, weil sie die
politische Bewusstwerdung jener Nachgeborenen lähmte, deren Eltern in
unterschiedlicher Weise in den Nationalsozialismus und seine Politik involviert
waren.
Auch im Westen – soviel lässt sich resümierend feststellen – ist die Entsprechung
von Kultur und Politik maßgeblich bei der Ernennung von Schulautoren. Während
dieses Prinzip im Osten ganz bestimmte Werke privilegiert, führt es im Westen
zu Brechts Ausschluss aus den Lehrplänen. In beiden Rezeptionslinien zeigt sich
jedoch ein identitäres Verhältnis von Textauswahl und staatlichem
Erziehungsinteresse. Nur eben unter verschiedenen Vorzeichen. Dass dies im
Westen verdeckter geschieht, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass dort die
Legitimationsinstanz für die staatlich gesetzten Normen weniger sichtbar und
weniger durchschlagend oder – anders formuliert – die Gewaltenteilung als
Prinzip etabliert war.
3. Der Brecht-Boom im Westen: Mit Brecht im Namen der Gesellschaft
gegen den Staat
Mitte der 60er Jahre, als das Korpus von Brecht-Texten für die Schule in der DDR
schon vorliegt, ist in der BRD eine eingreifende Veränderung zu konstatieren.
Das hat zunächst damit zu tun, dass die Jugend Mitte der 60er Jahre Brecht als
einen der ihren zu beanspruchen begann. Ein sympathisches Beispiel bieten die
Schüler des Augsburger Realgymnasiums, die 1965 so gern ein Bert-BrechtGymnasium besucht hätten.16 Denn von der Nachhaltigkeit dieses Wunsches
zeugt „[d]ie unbesiegliche Inschrift“ – BERT-BRECHT-GYMNASIUM –, die sich
„eines Morgens in großen schwarzen Lettern [...] an der Hauswand fand,
Tilgungsversuchen monatelang trotzte und schließlich übermalt werden mußte“.17
Soweit Karl Sinek, der sich auf Spurensuche in der Schulgeschichte des
Peutinger-Gymnasiums in Augsburg begeben hat.
Als Peter Glotz und Wolfgang R. Langenbucher im selben Jahr – 1965 – ein
Lesebuch18 entwerfen, um „Versäumte Lektionen“ einzufordern, ist Brecht denn
auch mit sechs Texten vertreten. Damit ist er der meist genannte Autor in einem
Modell-Lesebuch, das sich dezidiert in die Tradition der – westeuropäischen –
Aufklärung19 stellt.
Aus der Retrospektive von 1981 zeigt Margarethe von Trottas Film „Die bleierne
Zeit“, dass das Fehlen dieser Lektionen von einzelnen sensiblen Zeitgenossen
durchaus registriert wurde. So führt die erinnernde Rückblende in ein
Schulzimmer des Jahres 1955. Zwei Schwestern, Marianne und Juliane, – die
Ähnlichkeit mit Gudrun und Christiane Ensslin ist beabsichtigt – besuchen die
gleiche Klasse. Während die jüngere Schwester Marianne Rilkes „Herbsttag“ „mit
Inbrunst“ vorträgt, gibt die ältere Widerworte, als sie mit der Interpretation des
Gedichtes beginnen soll. Sie finde es „kitschig“ und würde – „lieber [Brechts]
‚Ballade von der Judenhure Marie Sander[s]’ lesen oder ‚Schwarze Milch der
Frühe...’“20 – gemeint ist „Todesfuge“ von Paul Celan. Im Wortwechsel mit der
Lehrerin zitiert sie schließlich aus dem Refrain der Brechtschen Ballade „Gott im
Himmel, wenn sie etwas vorhätten, wäre es heute Nacht.“ Dieses Zitat der
6
15jährigen Schülerin hat eine doppelte Funktion. Zum einen soll es Ausdruck
ihres Protestes gegen den Rilke-Kult im gymnasialen Deutschunterricht sein, zum
anderen konkretisiert es ihre Frage an die Studienrätin: „Und wovon wollen Sie
ablenken?“21 dahingehend, dass die Generation der Eltern und Lehrer sich der
Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus verschließt, kein Ohr dafür hat.
Diese Retrospektive zeigt zunächst: Die Generation von 1968 hat Brecht als
Protest-Autor rezipiert. Das gilt jedoch nicht nur für den Antifaschisten Brecht,
sondern auch für den Bürgerschreck.
Folgt man Hannah Arendts Überlegungen zu Brechts Gedichten der 20er Jahre,
so lässt sich der von ihr konstatierte Zusammenhang zwischen der Erfahrung
eines Traditionsbruchs und „unbekümmert ruch- und rücksichtslose[r]
Lebenslust“ auf die Generation von 1968 übertragen. Die Studenten, die sich des
vom Nationalsozialismus verursachten Zivilisationsbruchs bewusst zu werden
beginnen, können an den – aus dem Ersten Weltkrieg folgenden –
Traditionsbruch der 20er Jahre anschließen und sich identifizieren mit dem Hang
zur „mörderischen Unschuld [der] Piraten, Abenteurer und Kindsmörderinnen“22
in den Gedichten des jungen Brecht und auch mit der „gefährliche[n] Vorliebe für
alle illegale Arbeit, die verlangt, die Spuren zu verwischen, das Gesicht zu
verbergen, den eigenen Namen abzulegen, die Identität mit sich selbst
auszulöschen“[...]“.23
Ein zweiter bemerkenswerter Gesichtspunkt: Peter von Matts24 psychoanalytisch
geschultem Blick ist es nicht entgangen, dass Brecht weder in seinen
Protestszenarien noch in seinen marxistischen Stücken – den Parricide – den
Vatermord oder -mörder – vorsieht, weil er die ödipale Situation nicht
aktualisiert. Folgt man von Matt, so sind „[d]ie Drachentöterphantasien bei
Schiller und Beaumarchais [...] ästhetisch legitim, weil sie historisch legitim
sind“. Demgegenüber sei „die Machtstruktur des 20. Jahrhunderts [dermaßen]
anonymisiert, daß sie durch die Eliminierung einzelner, wenn auch noch so
einflußreicher Figuren völlig unverändert bleibt“.25 Brecht rekurriere vielmehr –
auch im Ausdruck des Protests – auf die Mutter-Kind-Dyade.26 Vor diesem
Hintergrund wäre zu überlegen, ob nicht die zwei Gesichter der Mutter,
überhaupt die zwei Gesichter einer Figur für die Generation der 68er deshalb
interessant waren, weil sie erlaubten, die Ambivalenzen der – im Hinblick auf NS
und Holocaust gesprochen – ersten Generation zu akzeptieren. Anders
formuliert: die westlichen Studenten wollten mit Brecht ihre Eltern treffen! Aber
da er keinen Elternmord bietet, sondern Courage und Galilei – dialektisch – mit
zwei Gesichtern ausstattet, offerierte er auch eine Lösung für die Konflikte dieser
Generation.
Und ein Drittes zeichnet sich ab: Die Jugend von 1968 verbündet sich mit Brecht
in seiner Eigenschaft als Sozialist und Anti-Bürger gegen den restaurativen Staat.
Sie tut dies als eine gesellschaftlich-politisch engagierte Gruppe und aktualisiert
dabei die Differenz von Staat und Gesellschaft, von Staat und Politik. Das ist das
Neue an dieser Rezeptionslinie. Das gesellschaftliche Urteil über literarische und
erziehliche Qualität von Schulautoren stützt sich nicht mehr auf staatliche
Vorgaben, sondern wird von politischen Gruppen in Differenz oder auch in
Opposition zum Staat gewonnen. Das identitäre Verhältnis von staatlich
gesetzter Erziehungsnorm und Literatur weicht einem Differenzverhältnis. Darin
liegt der zentrale Unterschied zur schulischen Brecht-Rezeption in der DDR, die
einen solchen Bruch – respective Paradigmenwechsel – nicht kennen kann.
Diese Generation wird dann als Lehrer den Brecht-Boom in den westdeutschen
Schulen begründen. Jetzt werden nicht nur die großen Dramen, sondern auch die
Lehrstücke und die Szenenfolge „Furcht und Elend des Dritten Reichs“ in den
Deutschunterricht gebracht. Statt „Billingers treue[r] Magd – ‚Du klagtest kaum,
7
du murrtest nie’“ wurde „Die unwürdige Greisin“ ins Lesebuch aufgenommen.27
Dabei setzt diese Lehrer- und Lehrerinnengeneration zunächst auf Identifikation
– nicht nur mit Brecht, sondern auch mit den nachwachsenden Schülerinnen und
Schülern. Dabei geht sie von identischen Interessen und Bedürfnissen einer
Jugend aus, der sie sich und ihre Schülerinnen und Schüler gleichermaßen
zurechnet. Sie nutzt Brechts Texte in ideologiekritischer Absicht, um
gesellschaftliche Veränderungen und emanzipatorisches Verhalten zu realisieren.
Auf das didaktische Dreieck bezogen, lag der Akzent weiterhin auf der Sache,
aber für kurze Zeit stand das Kriterium der ideologiekritischen Leistung an erster
Stelle und verdrängte das der literarischen Qualität. Dieser Anspruch ließ sich
aus mehreren Gründen nur kurz aufrecht erhalten. Die Schüler wurden immer
jünger, die Lehrpersonen älter, die Identifikation der Lerner mit ihren Lehrern
ließ nach. Von der Sache her war der ideologiekritische Zugriff intellektuell
anspruchsvoll; von den Lernern wurde er jedoch mit Unlusterfahrungen
verknüpft. Wo sie identifikatorisch genießen wollten, durften sie nicht, galt es
doch, auf direktem Weg versteckte Klasseninteressen zu entlarven.
So ist es die entscheidende Leistung dieser West-Generation, den Konnex
zwischen staatlicher Normierung auf dem Erziehungssektor und der Textauswahl
für den Deutschunterricht grundsätzlich in Frage gestellt, wenn nicht sogar
obsolet gemacht zu haben. Nicht zufällig gründet hier die Verbreitung und
Inanspruchnahme einer eigenständigen wissenschaftlichen Fachdidaktik. Sie
sollte fortan Auswahl- und Vermittlungsentscheidungen im Hinblick auf
gesellschaftlich legitimierte Intentionen diskutieren.
3. In der Vitrine
Was Brechts Texte betrifft, ist die schulische Kanonbildung im spezifischen
Wechselspiel literarischer und politischer Kategorien Ende der 70er Jahre auch in
der BRD abgeschlossen. Trotz gegensätzlicher Wahrnehmungsmuster in Ost und
West zeichnet sich dennoch ein kleines Korpus gemeinsamer Brecht-Texte ab. Es
umspannt die Dreiheit der Gattungen. Es bezieht „Fragen eines lesenden
Arbeiters“ ebenso ein wie die „Legende von der Entstehung des Buches
Taoteking“, den „Augsburger Kreidekreis“ mit den Brennpunkten biologischer und
sozialer Mutterschaft, „Leben des Galilei“ als Manifest der neuen Zeit, der damit
verbundenen
Emanzipationsbewegungen
und
Konflikte.
Ebenfalls
zum
gemeinsamen Bestand gehört – um eine Formulierung Wolfgang Heises zu
gebrauchen – die klassische deutsche Elegie des 20. Jahrhunderts „An die
Nachgeborenen“.28
Gemeinsam ist aber auch, dass Brecht von der Jugend beider deutscher Staaten
als ihr Sympathisant betrachtet, als Verbündeter wahrgenommen wurde – auch
da, wo er politisch verordnet war. Die Schulszene aus Margarethe von Trottas
„Bleierner Zeit“ habe ich bereits als westdeutsches Beispiel vorgetragen. Im
Osten ist es ein literarischer Text, der Brecht für die unangepasste Jugend
reklamiert. In Uwe Johnsons „Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953“ wird eine
Situation erzählt, wo der Oberprimaner Klaus Niebuhr Brechts Gegenlied zu
Schillers „Bürgschaft“ vorträgt, um sein Verhältnis zur Weimarer Klassik als
„höchst mittelbar“29 zu charakterisieren und mit Brecht sich selbst in Distanz zur
offiziellen Traditionslinie zu bringen. Damit leistet er dem Verdacht Vorschub,
dass nicht nur um 1800, sondern auch 150 Jahre später Zweifel berechtigt seien,
sowohl an der „edle[n] Zeit“ als auch und vor allem am „menschliche[n]
Gebaren“.30 Sowohl der Schüler Niebuhr als auch die Schülerin in von Trottas
Film berufen sich auf Brecht in kritischer Absicht: Während Klaus Niebuhr die
8
Klassikkritik des Marxisten nutzt, um sich vom staatlich gesetzten Erziehungsziel
zu distanzieren, provoziert das junge Mädchen in existentialistischer Haltung
durch Rekurs auf den Antifaschisten Brecht. Die verwundbaren Stellen der beiden
deutschen Staaten, ihre dürftigen Selbstgewissheiten sind jeweils andere.
Auch wenn im Westen das Textangebot reichhaltiger und vielseitiger als im Osten
ist, verhindert es nicht, dass spätestens Ende der 70er Jahre eintritt, was in der
DDR schon sehr viel länger zu konstatieren ist: die Kanonisierung Brechts als
Klassiker. Einerseits hätte Brecht sich darüber gefreut, denn auch solcher
Gebrauch schützt vor dem Vergessenwerden, das er gefürchtet hat. Zugleich ist
damit aber eine spezielle Form der Konservierung verbunden, ein „Eingeweckt
sein“, ein Ausgestellt sein in der Vitrine, in unmittelbarer Nachbarschaft zum
Mausoleum. Folge dieses Prozesses ist in der Schule eine starke Routinebildung
oder auch Formalisierung im Umgang mit dem Werk. Im Osten weist man die
richtige Haltung vorbildhafter Figuren (wie die der Teresa Carrar) nach, im
Westen die Mittel des epischen Theaters, damit die Schülerinnen und Schüler
lernen, dass Brecht gegen das Gefühlstheater ist und statt aufs Sentiment auf
kritische Erkenntnis des Zuschauers setzt. Was also tun?
III Perspektiven
Im konkreten didaktischen Bezug auf Brecht wurde diese Vitrine in der DDR
schon in der Endphase der 80er Jahren gelüftet, im Westen allerdings erst zehn
Jahre später, nachdem die real-sozialistische Welt zusammengebrochen war.
1. Vielfalt des Sprachkunstwerks
Im Osten ist der neue didaktische Blick auf Brecht mit dem Aufbrechen von
Routinen verbunden, in denen die Vermittlung der kanonisierten Brecht-Texte
festgefahren erscheint. 1987 machen Wilfried Bütow, Hartmut Jonas und Gudrun
Schulz31 eine Reihe lernerorientierter Vorschläge zu einer frischeren und
lebendigeren Vermittlung des Brechtschen Werks. Dabei wird neben der
Aufmerksamkeit für die sprachkünstlerische Ebene vor allem für mehr
Diskursivität im Zusammenhang mit wertenden und gestalterischen Tätigkeiten
plädiert. Kennzeichnend für diese Publikation ist das Bestreben, die Lerner für
Brecht zu gewinnen und sie für sein Œuvre zu begeistern. Es sind didaktische
Kriterien wie Zugänglichkeit, Lebensweltbezug und Aktualität, die vor allem den
Gegenstand im Verhältnis zum Lerner reflektieren, und es ist durchaus
bemerkenswert, dass innerhalb des didaktischen Dreiecks die mit Motivation und
Identifikation verknüpfte Lernerperspektive betont und – mit der gebotenen
Vorsicht – in die traditionelle Beziehung zwischen literarischem Gegenstand und
staatlichem Erziehungsauftrag eingebracht wird.
2. Aktualisierungen
Im Westen verläuft die Entwicklung anders. Zwar ist dort die lernerbezogene
Orientierung auf Motivation und Identifikation als
Nachfolge der
ideologiekritischen Didaktik fest etabliert, was aber Brecht angeht, so wird er
entweder
formalistisch
oder
von
den
Alt-68ern
unerschüttert
in
ideologiekritischer Absicht analysiert. Zu konstatieren sind allerdings auch
aktualisierende Züge, die Brecht als Autor des antifaschistischen Widerstands in
9
den Unterricht einführen. Mit den 50sten Jahrestagen von Bücherverbrennung,
Reichspogromnacht und Kriegsbeginn werden „Furcht und Elend des Dritten
Reichs“, „Kriegsfibel“ und „Kinderkreuzzug“ zu schulischen Erfolgstexten. Sätze
wie „Der Schoß ist fruchtbar noch“ oder „Den kleinen Bruder deines Feindes trag
/ Uns aus der Schlacht, in die sie dich da senden“ erinnern an eine Zeit, in der,
wie Jost Hermand es ausdrückt, „das Solidarische, Ideologieverpflichtende,
Kollektive“ mehr gefragt war als „das Besondere, Aparte, Individuelle“.32
3. Totenfeier
Dass mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme die Bedeutung
Brechts als eines politischen Autors zur Disposition stand, wurde – mit der
entsprechenden Verzögerung – Mitte der 90er Jahre auch in der Literaturdidaktik
akut. So Grundsätzliches, wie die Frage, ob Brecht nicht nur noch historisch
betrachtet von Bedeutung sei, war auf dem Plan und damit auch die Forderung,
seine Bildungsbedeutsamkeit neu zu verhandeln. Beiträge in den großen
deutschdidaktischen Periodika tragen zwischen 1994 und 1998 zu dieser Debatte
bei. „Herr Brecht, sind Sie ein toter Hund?“ mit dieser Frage eröffnet der BrechtForscher Jan Knopf 1994 in einem von Diskussion Deutsch veranstalteten BrechtHeft eine Satire auf die Brecht-Rezeption der frühen 90er Jahre und verteidigt
den Autor und sein Werk gegen Versuche der Demontage. Knopf gerät in die
Nähe der Totenfeier, wenn er sein fiktives Brecht-Interview durch „Schüler der
Karl-Marx-Oberschule in Neu-Kölln-Großberlin, die nicht mehr so heißt“,
realisieren lässt.33 Insgesamt hätte man die Würdigung des Klassikers als eines
politischen Dichters noch anders gewünscht als in der Form der Satire. Das gilt
umso mehr, als es der Dramendidaktik – im Anschluss an die
Auseinandersetzung zwischen Platon und Aristoteles – immer auch um Fragen
der politischen Wirksamkeit des Theaters geht. Wie also ist es gegenwärtig um
Brecht als Schulautor bestellt?
4. Auskernung
1998, zum 100. Geburtstag, widmet „Praxis Deutsch“ – Zeitschrift für den
Deutschunterricht – Bertolt Brecht ein ganzes Heft. Man betont den
multimedialen Charakter des Brechtschen Œuvres und knüpft erfrischend an das
an, was Bütow, Jonas und Schulz zehn Jahre zuvor angeregt haben: nämlich
Vielfalt der Deutungsperspektiven, Dialog.
Neu erscheint die von Kaspar Spinner34 unternommene Profilierung der
Brechtschen Didaktik. Brecht für Lehrer also. Spinner zeigt, was Lehrende von
Brecht für ihre Lehre lernen können. Disziplingeschichtlich interessant ist dabei
die Akzentverlagerung von den Werken hin zu den Strategien und Konzepten des
Autors Brecht. Damit bringt Spinner in den literaturdidaktischen Raum, was Gerd
Koch theaterpädagogisch 1978 unter dem Titel „Lernen mit Bert Brecht“35
entfaltet hat.
Diese Verschiebung der didaktischen Aufmerksamkeit von den Inhalten auf die
Lehr- und Lernformen entspricht dem didaktischen Trend seit den frühen 90er
Jahren. Die kognitive Wende in der Didaktik hat Lernen als eigenaktive
konstruktive Tätigkeit bestimmt. Entsprechend sollen die Lehrpersonen als
Initiatoren und Organisatoren von Lernprozessen für Brechts Lehr- und
Lernstrategien gewonnen und befähigt werden, bei den Lernern Neugier zu
erwecken: für Brecht, aber auch für andere klassische Autoren. In Konsequenz
10
wird das Prinzip der „Verfremdung“ als Paradigma des
handlungs- und
produktionsorientierten Literaturunterrichts überhaupt beschrieben.36
Blickt man von hier aus zurück auf die erste Phase der schulischen BrechtRezeption, so sind in den 90er Jahren die Kriterien der literarischen und vor
allem der erziehlichen Qualität des Œuvres weitgehend aus dem Blick geraten.
Mit der Verlagerung des didaktischen Interesses vom Gegenstand auf die
Verfahrensweisen und auf die Lehrer-Lerner-Interaktion hat sich der Einfluss des
Staates verflüchtigt. Auch die durch die Generation von 1968 aktualisierte
spannungsvolle Differenz von Staat und Politik spielt didaktisch keine Rolle mehr,
der politische Brecht erscheint weithin ohne Relevanz. Das didaktische Dreieck
schwebt frei. Was bleibt, ist das entkernte Œuvre.
5. Vorschläge
Die Implosion des Politischen in die Erlebnisgesellschaft37 hat in der Fachdidaktik
der 90er Jahre – zugespitzt formuliert – zu einer Privilegierung des Individuellen,
Lustvollen und Aktuellen geführt und das Allgemeine, Mühevolle und
Traditionsgebundene, kurz, was Luc Ferry jüngst als Anspruch von „Travail et
traditions“38 bezeichnet hat, verdrängt. Für die Deutschdidaktik hat Hubert Ivo39
diesen Anspruch wiederholt deutlich formuliert – in Distanzierung zu
methodischen Konzepten, die die Gefahr des inhaltsleeren Aktionismus
befördern.
Distanz scheint jedoch auch gegenüber anderen aktuellen Konzepten geboten,
die
anstelle
der
Arbeit
an
den
Inhalten
entweder
abstrakte
Kompetenzentwicklung oder die didaktische Wiederentdeckung der Form40
favorisieren. Stehen hinter der ersten Forderung die Ansprüche einer
ökonomisierten Welt, so hinter der zweiten die Ansprüche des Elfenbeinturms.
Kein Zweifel – für „travail et traditions“ bietet Brecht mannigfach, aber
keineswegs ungebrochen Unterstützung. Hier ließen sich viele seiner großen
Texte zitieren. Das ist aber nicht das entscheidende Moment, denn eines hat die
hier gezogene Bilanz gezeigt: alle hier genannten Aspekte können sich auf Brecht
berufen, er bietet für Vieles Unterstützung.
Worauf es vielmehr ankomm[e] und was sich folglich vererben [lasse], seien – so
Jost Hermand – „nicht Weltanschauungen oder Formenarsenale, sondern
lediglich die hinter ihnen stehenden ‚Haltungen’.“41 Was Brecht also künftig als
Schulautor legitimieren könnte, ist nicht der Umstand, dass er bestimmte
Tendenzen und Intentionen stützt, sondern die Tatsache, dass er die Spannung
produktiv macht, die im Konfliktfeld der Tendenzen und Intentionen entsteht.
Gleichermaßen resümierend und prospektiv sei also hier auf einige
Gesichtspunkte möglicher Bedeutung hingewiesen.
•
•
Wenn es didaktisch im Trend liegt, mit Brecht und ganz in dessen Sinn
gesellschaftliche Interessen zu entlarven, dann wäre sein Preis der
„vorrevolutionäre[n] Helden“ gefragt, „die noch kein schlechtes Gewissen
haben, weil sie den Genuss lieben“.42
Wenn Staat und Bildungsforschung sich für die Befähigung der Lerner zu
gesellschaftlicher Partizipation engagieren und die Schule – zu Recht – zur
Vermittlung von Lesekompetenz verpflichten, dann ließe sich mit Brecht –
als Korrektiv zu diesem Anspruch der Gesellschaft und des Staats – der
Mehrwert sowohl des Literarischen als auch des Politischen einfordern. Das
heißt: Brecht könnte Garant dafür sein, dass es nicht nur darauf ankommt,
11
•
•
dass gelesen wird – auch dafür steht er ein –, sondern auch was gelesen
wird – und in welcher Absicht das geschieht.
Wenn die Literaturwissenschaft – ebenfalls nicht ohne Grund – auf der
Bedeutung des Kunstwerks insistiert, könnte die Perspektive, die Brecht
als Schulautor bietet, im Verweis auf gesellschaftlich Notwendiges und
politisch Wünschbares bestehen: dass die Lerner nicht nur fähig sind,
Partei zu ergreifen, sondern es auch für die Humanität tun oder – anders
formuliert – für die zivilen Werte.
Wenn schließlich die Sachwalter der Tradition aus guten Gründen Brechts
Werk als kulturelles Erbe vermitteln wollen, dann dürfte Brecht als
Schulautor nahe legen, sich zu dieser Tradition eben mittelbar, das heißt
reflektiert zu verhalten: aus kritischer Distanz, der immer auch eine
politische Dimension zukommt.
Auch diese Vorschläge sind Brecht geschuldet. Sie berufen sich in erster Linie auf
seine ästhetische Praxis: auf den Antagonismus der Doppelfiguren und auf die
Konstruktion von Lied und Gegenlied. Auch in „Leben des Galilei“, dem Kern
eines inoffiziellen aktuellen schulischen Brecht-Kanons, wird Andrea Sartis Satz
„Unglücklich das Land, das keine Helden hat!“ durch Galileis Replik „Nein.
Unglücklich das Land, das Helden nötig hat“ nicht aufgehoben.43 Um solche
Spannung produktiv zu machen, sind – und das kann nicht deutlich genug gesagt
werden –
fachlich versierte und souveräne Deutschlehrerinnen und
Deutschlehrer erforderlich. Denn Heiner Müller hat es auf den Punkt gebracht:
„Brecht ist nicht gleich Brecht, keine feste Größe.“
1
Beim folgenden Text handelt es sich um meine im Februar 2003 an der Friedrich-SchillerUniversität Jena gehaltene Antrittsvorlesung. Mir erschien es sinnvoll, den Charakter eines Vortrags
beizubehalten.
2
Wolfgang Conrad, Das Brecht-Bild im Literaturunterricht der DDR – Zum Wirken institutioneller
Rahmenbedingungen. In: Kurt Abels (Hrsg.), Deutschunterricht in der DDR. 1949-1989. Beiträge
zu einem Symposion in der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Frankfurt/M. 1992 (Peter Lang), S.
335-346, S. 335.
3
Vgl. a.a. O., S. 338.
4
A.a.O., S. 337.
5
Vgl. a.a.O., S. 338. Zitiert nach: Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.
Abriß. Hrsg. v. einem Autorenkollektiv. Berlin: Dietz 1978, S. 284. „Pazifistische Auffassungen“
werden hier wie dort disqualifiziert mit dem Verweis sowohl auf die „Aggressivität des
Imperialismus“ als auch auf den „untrennbaren Zusammenhang zwischen dem bewaffneten Schutz
der Arbeiter- und Bauernmacht und dem sozialistischen Aufbau“.
6
W. Conrad, a.a.O., S. 337.
7
Hans von Delft, Brechts „Kaukasischer Kreidekreis“ in nachrevolutionärer Zeit. In: Hans-Jörg
Knobloch / Helmut Koopmann (Hrsg.). Hundert Jahre Brecht – Brechts Jahrhundert? Tübingen
1998 (Stauffenburg), S. 169-186, S. 185. Von Delft bezieht sich hier auf Lothar Schmidt-Mühlisch,
den er als „wegweisend“ zitiert.
8
An der Debatte beteiligt waren Susanne Altermann, Fritz Erpenbeck, Wolfgang Harich, Angelika
Hurwicz, Paul Rilla und Max Schröder. Vgl. Bertolt Brecht, Mutter Courage und ihre Kinder. Eine
Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg. Mit einem Kommentar von Wolfgang Jeske. Frankfurt/M.
1999 (Suhrkamp Basis Bibliothek 11), S. 137-152.
9
Vgl. a.a.O., S. 145f.
10
Wilfried Bütow (Hrsg.), Unterrichtshilfen Deutsche Sprache und Literatur. Klassen 11/12. Teil 2.
Literaturunterricht Klasse 12. 4. Auflage. Berlin 1988 (Volk und Wissen), S. 126.
11
A.a.O.
12
Kinderzeichnungen zu Brecht. 34 Tafeln und die Texte. Mit einem Nachwort von Werner Hecht.
Leipzig 1972 (Insel), S. 95.
13
Michael Sauer, Brecht in der Schule. Beiträge zu einer Rezeptionsgeschichte Brechts (19491980). Stuttgart 1984 (Hans-Dieter Heinz. Akademischer Verlag).
14
Bertolt Brecht, Die Dreigroschenoper. In: B. Brecht, Gesammelte Werke, Band 2. Stücke 2.
Frankfurt / Main 1967 (Suhrkamp), S. 393-498, S. 416.
12
15
Karl Sinek, What’s in a Name? Auf Spurensuche in der neueren Schulgeschichte. In: PeutingerGymnasium Augsburg (Hrsg.), Festschrift zum 125jährigen Bestehen. Augsburg 1989, S. 24-30.
16
Vgl. Der Realist, Sommer 1965. Schülerzeitung des Realgymnasiums Augsburg.
17
K. Sinek, a.a.O., S. 29.
18
Peter Glotz / Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.), Versäumte Lektionen. Entwurf eines Lesebuchs.
Gütersloh 1965 (Sigbert Mohn).
19
Vgl. a.a.O., S. 17.
20
A.a.O.
21
A.a.O.
22
Vgl. Hannah Arendt, Bertolt Brecht. In: Dies., Menschen in finsteren Zeiten. Hrsg. von Ursula
Ludz. Freiburg/Br. 2001 (Serie Piper 3355), S. 237-283, S. 260.
23
A.a.O., S. 254.
24
Peter von Matt, Brecht und der Kälteschock. Das Trauma der Geburt als Strukturprinzip seines
Dramas. In: Neue Rundschau. 1976. Heft 4, S. 613-629.
25
A.a.O., S. 625.
26
A.a.O.
27
P. Glotz / W. Langenbucher, a.a.O., S. 18.
28
Vgl. Wolfgang Heise, Einleitende Gedanken. In: Brecht-Zentrum der DDR (Hrsg.), Brecht 88.
Anregungen zum Dialog über die Vernunft am Jahrtausendende. Berlin 1989 (Henschel), S. 7-22,
S. 13.
29
Uwe Johnson, Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt/M. 1985 (Suhrkamp), S. 100.
30
A.a.O. Vgl. B. Brecht, Über Schillers Gedicht „Die Bürgschaft“. In: B. Brecht, Gesammelte Werke,
Band 9. Gedichte 2. Frankfurt / Main 1967 (Suhrkamp), S. 611.
31
Wilfried Bütow / Hartmut Jonas / Gudrun Schulz, Brecht und junge Leser. Berlin 1987 (BrechtZentrum der DDR).
32
Jost Hermand, Der ‚Arme B.B.’ – Brecht nach 1989. In: Klaus Gehre u.a. (Hrsg.), Brecht 100.
Ringvorlesung aus Anlass des 100. Geburtstages Bertolt Brechts. Humboldt-Universität zu Berlin.
Sommersemester 1998. Berlin 1999, S. 216-234, S. 217.
33
Vgl. Jan Knopf, Auf den Hund gekommen? Interview von Schülern der Karl-Marx-Oberschule,
Neukölln-Großberlin, die nicht mehr so heißt, mit Bertolt Brecht, der nicht mehr so ist, anlässlich
seines Geburtstags am 10. Februar 1994. In: Diskussion Deutsch 139 (1994), S. 343-346.
34
Kaspar H. Spinner, Brecht didaktisch. Basisartikel. In: Praxis Deutsch 148, S. 16-22, S.16; 22.
35
Gerd Koch, Lernen mit Bert Brecht. Bertolt Brechts politisch-kulturelle Pädagogik. Frankfurt /M.
1988 (Brandes & Apsel) Diss. 1978. Vgl. dazu auch: Gerd Bräuer, Lernen im Dialog.
Untersuchungen zu Bertolt Brechts ‚Flüchtlingsgesprächen’. Pfaffenweiler 1991 (Centaurus).
36
Vgl. K. H. Spinner, a.a.O., S. 19.
37
Vgl. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt / M.
1992 (Campus).
38
Luc Ferry, Travail et traditions. Un entretien avec Luc Ferry, Ministre de la Jeunesse, de
L’Education nationale et de la Recherche. In: Die Zeit 04/2003 vom 16.1.2003, S. 24.
39
Vgl. Hubert Ivo, Deutschdidaktik. Die Sprachlichkeit des Menschen als Bildungsaufgabe in der
Zeit. Baltmannsweiler 1999 (Schneider).
40
Vgl. Dieter Burdorf, Wozu Form? Eine Kritik des literaturdidaktischen Inhaltismus.
Antrittsvorlesung an der Universität Hildesheim am 11.2.2003.
41
J. Hermand, a.a.O., S. 226.
42
Karl-Wilhelm Schmidt, Hooligans bei Brecht. Zum Beispiel Baal. In: Praxis Deutsch 148 (1998),
S. 59-64, S. 59. Schmidt bezieht sich mit der zitierten Formulierung auf Heiner Müller.
43
B. Brecht, Leben des Galilei. In: B. Brecht, Gesammelte Werke, Band 3. Stücke 3. Frankfurt /
Main 1967 (Suhrkamp), S. 1229-1345, S. 1329.