Zur Grammatik von Handlungsanleitungen Wilhelm Grießhaber
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Zur Grammatik von Handlungsanleitungen Wilhelm Grießhaber
Zur Grammatik von Handlungsanleitungen Wilhelm Grießhaber (Münster), 2012 Das Verhältnis von Sprache und außersprachlichen Gegebenheiten verbaler Kommunikation wird in der Sprachwissenschaft sehr unterschiedlich bestimmt. In der Folge von Saussure wird die Sprachwissenschaft auf die Sprache (langue) ausgerichtet und als grammatikalisches System von Zeichen behandelt. Im Gegensatz dazu steht das in individuellen Akten vollzogene Sprechen (parole). Die Verbindung sprachlicher Mittel mit dem Handeln ist praktisch ausgeklammert, da Sprechen immer individuell ist. Auch in dieser Konzeption ist letztlich die intuitive Kompetenz des Forschers maßgeblich. In sehr zugespitzter Form lehnt deshalb Weigand 1993, 138ff. Transkriptionen mündlicher Daten als Basis der Sprachwissenschaft ab, da „in authentischen Texten Sinn und Unsinn der aktuellen Sprachverwendung der Performanz ineinandergehen. Daher können sie (mündliche Äußerungen) in dieser Form nicht das Sprachmaterial zur empirischen Überprüfung einer theoretischen Beschreibung darstellen.“ (S. 142) Am Gegenpol stehen corpuslinguistische Arbeiten, die auf der Basis sehr umfangreicher Corpora sprachliche Mittel in verschiedenen kommunikativen Konstellationen untersuchen. In solchen multidimensionalen Corpusanalysen (z.B. Biber & Conrad & Reppen 1998) werden linguistische Einheiten wie Wort, Morphem und Syntax und eine offene Menge außersprachlicher Einheiten zur Einteilung von Texten und Diskursen, z.B. academic prose oder face-to-face-conversation, erhoben und miteinander korreliert. Die sprachlichen Mittel werden so nur äußerlich auf unterschiedliche Verwendungssituationen bezogen. Einen psychologischen Zugang präsentiert Bühler (1934/1978) mit seinem Organonmodell (S. 28). In zeichenzentrierter Weise verbindet er Sachverhalte und Gegenstände als außersprachliche Größen mit Sprecher und Hörer, die sich mittels sprachlicher Zeichen verständigen. Die engste Verbindung zwischen Sprache und Handlung ist im Begriff des empraktischen Umfelds der Sprachzeichen (S. 154ff.). Bühler lehnt eine verkürzte elliptische Lesart ab und weist den Sprachzeichen eine diakritische Funktion zu. In der Handlungskonstellation der Straßenbahn kann beim Fahrscheinkauf in der Straßenbahn mit ‘gerade aus‘ oder ‘umsteigen‘ der passende Fahrschein gewählt werden. Dieses Konzept wurde in der funktionalen Pragmatik verallgemeinert, indem die sprachliche Prozedur als zentraler Begriff des sprachlichen Handelns eingeführt wurde. Mit diesem Konzept werden auch über Einzelsprachen hinweg sprachliche Mittel in ihrer Funktionalität im Handlungsprozess auf den Hörer bestimmt. Die Fruchtbarkeit des Ansatzes zeigt sich bei der Gegenüberstellung von mündlichem und schriftlichem Handeln. Nach Ehlich 1984 hebt sich das Schreiben von der empraktischen Kommunikation durch die zerdehnte Sprechsituation zwischen Sprecher (S) und Hörer (H) ab (S. 542). Aus der Ruptur zwischen S und H resultiert die Wahl bestimmter sprachlicher Mittel. Dieses Verständnis geht über die von Koch & Österreicher 1985 getroffenen Unterscheidungen zwischen Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit sowie zwischen Sprache der Nähe vs. Sprache der Distanz hinaus. Unterschiedliche Handlungsmodalitäten und die Wahl passender sprachlicher Mittel werden am Beispiel von Anleitungen zum Binden einer Krawatte vorgestellt (Grießhaber 2003-2007, 2010, §5.3). Dabei werden zwei Handlungsebenen variiert: mündlich versus schriftlich und Beschreiben versus Anleiten. Als Ausgangsbasis dient die face-to-face-Interaktion. In dieser Handlungskonstellation sind Sprecher (S) und Hörer (H) am gleichen Ort zur gleichen Zeit präsent und können so jeweils die Handlungen des Anderen verfolgen und bei ihren Handlungen berücksichtigten. Insbesondere erhält S laufend von H Rückmeldungen über den Rezeptionsprozess, so wie umgekehrt H bei Unklarheiten S um Klärung bitten kann. Bei der Textproduktion ist S jedoch auf sich allein gestellt und muss mögliche Rezeptionsweisen der nur mental vorgestellten Rezipienten vorwegnehmen. Daraus resultieren bestimmte Anforderungen an die Explizitheit und Kohärenz der produzierten Texte. In der ersten experimentellen Handlungskonstellation beschreibt eine Studentin für sich im Beisein weiterer Personen das Binden einer Krawatte (Konstellation A, Handlungsbeschreibung). In der zweiten Konstellation gibt die Studentin aus der Konstellation A einer zweiten Studentin, die noch keine Kenntnis im Krawattenbinden hat, Anleitungen zum Binden einer Krawatte (Konstellation B, Handlungsanleitung mündlich). In der dritten Konstellation produzieren Studierende eine schriftliche Handlungsanleitung zum Krawattenbinden auf der Grundlage einer schematischen Bildvorlage aus einer Illustrierten (Konstellation C, Handlungsanleitung schriftlich). Ergänzend wird die von professionellen Produzenten erstellte Handlungsanleitung zu der schematischen Bildvorlagen berücksichtigt (Konstellation C’). Tabelle 1: Handlungskonstellationen und Verbalisierungen Modus Zweck Beispiel Mündlich Beschreibung Und dann noch einmal zwischen, von hinten … Schriftlich Anleitung S: Und jetzt zwischen Das breitere die zwei. Krawattenende wird über H: So? das schmalere Ende durch S: (Oh) gut. die Schleife gezogen … vor und parallel zur vor der Ausführung Handlung S & H kopräsent S ≠ H getrennt Verbalisierung parallel zur Handlung S–HS=H Verhältnis Sprachfokus räumliche Bestimmungen Verkettung sprachlich Verben isolierte propos. Kerne praktisch keine aktional Folge propos. Kerne wenige, Modalverben Identifizierung von: - Objekten - Bewegungen - Zielen verbal Artikel, Anaphern, Symbolfeldausdrücke differenziert Tabelle 1 zeigt die Überlagerung von Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit und Beschreibung vs. Anleitung. In beiden mündlichen Konstellationen stehen räumliche Bestimmungen im Fokus, vor allem realisiert mit Präpositionen, z.B. zwischen. Die einzelnen Äußerungen sind nicht mit verbalen Mitteln wie z.B. Deiktika oder Konjunktionen verkettet. Sie sind dem Handlungsprozess angepasst. Dazu werden vor allem Deiktika als Mittel zur Zäsur verwendet, z.B. Und dann, Und jetzt. Bei der mündlichen Beschreibung dominiert die empraktische Rede. Dagegen enthält die schriftliche Anleitung zahlreiche nominale Ausdrücke zur genauen Bezeichnung der zu manipulierenden Objekte, z.B. Das breitere Krawattenende. In der mündlichen Anleitung werden dagegen allgemeine Ausdrücke, wie. z.B. Seite, verwendet, da mittels deiktischer Ausdrücke das Objekt hinreichend identifiziert ist. Sprachliche Mittel werden in Abhängigkeit von der Handlungskonstellation und dem Zweck des Handelns ausgewählt und verwendet. Literatur Biber, Douglas & Conrad, Susan & Reppen, Randi (1998) Corpus Linguistics. Investigating Language Structure and Use. Cambridge u.a.: Cambridge University Press Bühler, Karl (1934) Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena: Fischer (neu: Berlin: Ullstein 1978) Ehlich, Konrad (2007/1984) Zum Textbegriff. In: Ehlich, K. (Hg.) (2007) Sprache und sprachliches Handeln. Band 3 Diskurs – Narration – Text – Schrift. Berlin u. New York: de Gruyter, 531-550 Grießhaber, Wilhelm (2003-2007) Sprechen - Mündlichkeit <-> Schreiben - Schriftlichkeit. URL: http://spzwww.uni-muenster.de/~griesha/eps/wrt/krw/krw.uebersicht.html, (29.09.2012) Grießhaber, Wilhelm (2010) Spracherwerbsprozesse in Erst- und Zweitsprache. Eine Einführung. Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr, §5.3 Koch, Peter & Oesterreicher, Wulf (1985) Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36/85, 15-43 Weigand, Edda (1993) Mündlich und schriftlich - ein Verwirrspiel. In: Löffler, H. (Hg.) Dialoganalyse IV. Referate der 4. Arbeitstagung Basel 1992. Herausgegeben von Heinrich Löffler unter Mitarbeit von Christoph Grolim und Mathilde Gyge. Teil 1. Tübingen: Niemeyer, 137-150