Peter Greenaway - Filmrezension.de

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Peter Greenaway - Filmrezension.de
Der Kontrakt des Zeichners
Der Kontrakt des Zeichners
Jean Lüdeke
Jean Lüdeke
Die Schönheit des
filmrezension.de
Die Schönheit des Schrecklichen
Schrecklichen:
Peter Greenaway und seine
Filme.
Erstabdruck: 1990
Wiederveröffentlichung von Auszügen
mit freundlicher Genehmigung
des Verlages Bastei-Lübbe.
Redaktion: Thomas Hajduk
Layout/Design: Tobias Vetter
Düsseldorf 2006
Jean Luedeke: Die Schönheit des Schrecklichen
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Jean Luedeke: Die Schönheit des Schrecklichen
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filmrezension.de
Inhalt
Vorwort
Inhalt
Vorwort
Vorwort
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Der Kontrakt des Zeichners
6
Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber
Inhalt des Buches
Peter Greenaway ist nicht einfach nur ein außergewöhnlicher
Regisseur: Er ist vieles mehr, unter anderem Autor, Maler, Illustrator
und Performance-Inszenator. Vor allem aber ist er ein Filmkünstler.
Deswegen kann ihn die Kritik niemals richtig fassen, erfassen,
ebenso wenig verehren oder verachten. Was der 53jährige FilmErneuerer und Publikums-Erschütterer mit perfider Perfektion
produziert, sucht im mondialen Kino noch seinesgleichen.
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Er berechnet seine Bilder präziser als Geödaten ihre Landschaften
(„Der Kontrakt des Zeichners“) und spielt mit Zeichen und Symbolen
(„Verschwörung der Frauen“) raffinierter als bekannte Semiotiker in
ihren Gemälden. Er dekoriert und drapiert jedes Einzelbild („Der
Koch, der Dieb seine Frau und ihr Liebhaber“) professioneller als De
Christo den Pont-Neuf und entlarvt Religiosität kruder als militante
Atheisten biblische Ideologien. Barock-Enthusiast Greenaway, der
den Delfter Künstler Johannes Vermeer (1632-1675) als „obersten
visuellen Zeremonienmeister des Films“ verehrt und von Jean-Luc
Godard als „genialster Film- Schaufensterdekorateur aller Zeiten“
belächelt wird, ist zweifelsohne der Grandseigneur der
Bildkompositionen
(„Prosperos
Bücher“)
der
symbolhaften
Dramaturgie
(„Der
Bauch
des
Architekten“)
und
des
detailversessenen Dekors („Das Wunder von Macon“). Darum kann
dieser perfekte Fälscher von Farbe und Licht auf hart geschnittene
und temporeiche Montagen à la Hollywood-Cinema verzichten, ohne
daß jemals lähmende Langeweile aufkäme. Das Greenawaysche
Triumvirat heißt Sex, System und Tod. Und daraus braut er seine
eigensinnigen Mixturen mit ihrer barocken und enzyklopädischen
Üppigkeit, die von straffen Strukturen in intellektuellen Grenzen
gehalten wird.
Greenawaysche Dekadenz und Verwesung („Ein Z und zwei Nullen“)
als Maxime des Untergangs, als die Schönheit des Schrecklichen, in
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Jean Luedeke: Die Schönheit des Schrecklichen
Jean Luedeke: Die Schönheit des Schrecklichen
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Vorwort
Der Kontrakt des Zeichners
brillanten und tiefgängigen Bildern. Stilisierte Filmstudien über die
zerstörerische Ziellosigkeit und Zwecklosigkeit des menschlichen
Daseins.
Der Kontrakt des Zeichners
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Jean Lüdeke,
Hamburg, im Frühjahr 1995
"The Draughtman's Contract" ist ein Film über
Figuren in einer englischen Landschaft - für
mich eine sehr willkommene Gelegenheit, die
Gemälde des 17. Jahrhunderts zu richtigem Leben
zu erwecken und zu feiern und aus seltsamen
Einfällen, Sprachfiguren, Wortspielen und Täuschungen eine kunstvolle Umgangssprache wiederzuerkennen, die heute leider oder Gott sei Dank nicht
mehr in Gebrauch ist."
(Peter Greenaway)
Für Peter Greenaway war es aber auch 1982 eine gute Gelegenheit, aus
seinem selbstauferlegten Ghetto des Avantgarde-Films auszubrechen:
Ein filmisch brillanter, rund 3.00.000 Pfund kostengünstiger Kino-Coup,
der international Kasse machte, die Kritik verzückte und ein breiteres
Publikum vereinnahmte. Für den bis dato doch eher unbekannten
Maestro einer kinomusealen Minderheit war diese erste abendfüllende,
an Agathe Christies erinnernde Kriminalstory mit richtigen Schauspielern,
Kostümen und reichlicher Ausstattung eher Legitimation denn
Profilneurose: "Mir wurde bewußt, daß ich endlich mein Hauptaugenmerk
auf eine schlüssige Handlung richten mußte", versöhnte Greenaway
gleichzeitig jene zynische Zungen, die den Barock-Thriller in allzu enger
Verwandschaft zu "Vertical Features Remake" (1978) verstanden wissen
wollten. Nein, Greenaway hatte seine Maximen von Kunst, Formen,
Figuren und Zeichen in eine narrative und perspektivische Form gebannt,
eine gemeine Geschichte in gefährlich-schönen Bildern, voller versteckter
Hinweise und Rätseln:
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts tat sich England auch als eine
repräsentationssüchtige Nation von kleinadeligen Landbesitzern hervor,
die sediert in ihrer protestantischen Ideologie auf ihren gepflegten
Landsitzen residierten. Um das eigene Klischee zu kräftigen, errichteten
sie monumentale Häuser, kunstvolle Parkanlagen und widmeten sich vor
allem dem Gartenbau, den schönen Künsten sowie der gesellschaftlichen
Langeweile. Diese larmoyante Langeweile lähmt Greenaway durch eine
Liaison aus Intrigen, Sex, Verrat und Tod; und das, weil er es
"faszinierend und aufregend" fand, "vor einem schon historischen
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Jean Luedeke: Die Schönheit des Schrecklichen
Jean Luedeke: Die Schönheit des Schrecklichen
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Der Kontrakt des Zeichners
Hintergrund eine fiktive Handlung auszubreiten, mit Personen, die eine
Um-gangssprache sprechen, die literarischer und artikulierter ist, als man
es in irgendeiner englischen Gemeinde erwarten könnte ..."
Diener von Mr. Neville.
Die Personen:
Mr. Porringer,
Gärtner der Herberts.
Mr. Neville,
ein junger, aufstrebender und opportunistischer Zeichner, bei dem sich
Talent, Unschuld und Arroganz paaren.
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Vorwort
Mr. Herbert,
Affektierter Besitzer eines statttlichen Herenhauses und der schönsten
Gartenanlage in der Region. Während man in in Southampton wähnt,
ereilt ihn ein furchtbares Schicksal ...
Mrs. Herbert,
Die sträflich vernachlässigte und attraktive Gattin, die Mr. Herbert erst
den Besitz des Gutes ermöglicht hat und den Kontrakt mit dem Zeichner
vereinbart.
Mrs. Sarah Talmann,
beider Tochter, die sich nach einem ähnlich delikaten Kontrakt mit dem
Zeichner sehnt, wie er zwischen Mr. Neville und ihrer Mutter existiert.
Mr. Louis Talmann,
deren Gatte, ein deutscher Protestant, der die Kleidung und
Gewohnheiten der Engländer angenommen hat und sich - aus
Ebschaftsgründen natürlich - einen Sohn wünscht.
Mr. Thomas Noyes,
Verwalter des Anwesens, einstens mit Mr. Herbert befreundet und mit
Mrs. Herbert verlobt. Er ist Zeuge des Kontraktes zwischen Mrs. Herbert
und Mr. Neville.
Mr. Seymour,
Nachbar der Herberts.
Die Poulencs,
kindische Zwillinge.
Augustus,
Neffe von Mr. Talmann.
Die Statue,
nackt und auch noch lebendig.
Sowie weitere Angehörige des Kleinadels von Wiltshire und Dienstboten
auf Compton Anstey ...
"Der Kontrakt des Zeichners" rekonstruiert weder geschichtliche Realität,
noch bebildert er biographischen Befunde. Im Gegen-teil: "Ich habe mir
stilistische Freiheiten erlaubt, die einen Ge-schichtsperfektionisten kaum
befriedigen dürften - die Perücken sind höher als alle, die jemals ein
Europäer des 17. Jahrhunderts trug, die englische Landschaft ist ständig
grüner, als man es bei einer englischen für mehr als drei Tage
hintereinander wirklich erwarten kann und alle Personen treiben in einer
so literarischen und artikulierten Sprache Konversation, wie sie niemals
in einer englischen Provinzgemeinde gesprochen wurde, egal zu welcher
Epoche", erhellt Greenaway seine in England, Sommer 1694
angesiedelte Filmgeschichte:
Mr. Herbert (Dave Hill), Besitzer eines wunderschönen Landsitzes in
Compton Anstey, macht keinen allzu großen Hehl daraus, daß ihn mit
seiner Gemahlin nur noch sehr wenig verbindet. Sie haben eine
verheiratete Tochter, aber weder Sohn noch Enkel.
Bei einer der üblichen Abendgesellschaften vereinbart Mr. Herbert mit
einem Bekannten, diesen auf eine Vergnügungsreise nach Southampton
zu begleiten. Also verkündet er, über zwei Wochen abwesend zu sein.
Mrs. Herbert (Janet Suzman) fürchtet jedoch, dieser Ausflug können das
Ende ihrer ohnehin kputten Ehe bedeuten. Sie bittet den jungen Mr.
Neville (Anthony Higgins), einen angesehenen Landschaftszeichner,
Gebäude und Gärten ihres Landgutes in einer Serie von zwölf Bildern
festzuhalten; die Zeichnungen, sollen, so Mrs. Herbert, ihren Gatten bei
dessen Rückkehr versöhnen. Der arrogante Künstler lehnt diesen Auftrag
anfangs ab, doch Mrs. Herbert läßt nicht locker. Schließlich stellt Mr.
Neville eine delikate Bedingung: Als Gegenleistung für jedes Bild, soll
Mrs. Herbert ihm einen sexuellen Wunsch erfüllen. Sie geht darauf ein,
und man besiegelt das Geschäft mit einem Kontrakt:
Philip,
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Jean Luedeke: Die Schönheit des Schrecklichen
Jean Luedeke: Die Schönheit des Schrecklichen
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Der Kontrakt des Zeichners
Zwischen Mrs.Herbert
geschlossen:
und
Mr.
Neville
wird
Vorwort
folgender
Kontrakt
I.
Mr. Neville steht als Zeichner zur Verfügung
für zwölf Tage
zur Anfertigung von zwölf Zeichnungen
des Herrenhauses, der Gärten, Parks und der übrigen Gebäude
von Mr. Herberts Anwesen.
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II.
Die Standorte für seine Zeichnungen
wählt Mr. Neville nach seinem Ermessen,
wenn auch unter Beratung von Mrs. Herbert.
III.
Mrs. Herbert wird bereit sein,
acht Pfund pro Zeichnung zu bezahlen
und Mr. Neville und seinem Diener
volle Beköstigung zukommen zu lassen.
IV.
Des weiteren ist Mrs. Herbert einverstanden,
Mr. Neville allein zu treffen
und seinen Wünschen zu entsprechen
betreffs seines Vergnügens mit ihr.
recht gut. Und deren süffisanten Gatten, Louis Talmann (Hugh Fraser)
mit zynischen Bonmots zu verhöhnen, bereitet ihm ein zusätzliches
Vergnügen. Wenn Mr. Neville auch bisweilen ein nackter Bursche irritiert,
der in den Gärten in Form einer Statue posiert, kommt er doch mit
seinem Auftrag schnell voran. Als er gerade die sechste Zeichnung
vollendet, verunsichert ihn Mrs. Talmann mit der Behauptung, er habe
auf seinen Bildern Indizien für einen geheimen Skandal festgehalten:
Mrs Talmann:
„Dieses Hemd, Mr. Neville, erscheint recht auffallend in Eurer Zeichnung.
Glaubt ihr, es wäre möglich, sein Vorhandensein zu verbergen?“
Mr. Neville:
„Madam, ich bemühe mich sehr, nie zu verzerren oder zu verhüllen.“
Mrs. Talmann:
„Ist dies immer Eure Arbeitsweise, Mr. Neville?“
Mr. Neville:
„Jawohl.“
Mrs. Talmann:
„Nun laßt mich kleine Rede halten. In Eurer Zeichnung von der Nordseite
des Hauses wickelt sich ein Umhang meines Vaters um die Füße der
Statue des Bacchus. In der Zeichnung von dem Hügel aus, auf der mein
Gatte dasteht und zufrieden das Anwesen überschaut, sieht man, wie Ihr
bemerkt haben werdet, ein Paar Reitstiefel, die anscheinend niemandem
gehören. In der Zeichnung des Parks von der Ostseite aus sieht man
eine Leiter stehen, gelehnt an meines vaters Ankleidezimmer, eine Leiter,
mit deren Hilfe man gewöhnlich Äpfel pflückt. Und in der Zeichnung des
Waschhauses sieht man einen Rock meines Vaters, aufgeschlitzt über
der Brust. Denkt Ihr nicht, daß Ihr bald einen Körper finden werdet, der all
diese Kleidungsstücke ausfüllte?"
Mr. Neville:
„Vier Kleidungsstücke und eine Leiter führen noch nicht zu einer Leiche.“
Vereinbart und besiegelt zu Compton Anstey, Wiltshire, England im
August 1694.
Neville macht sich sofort daran, mit der Anfertigungen der zwölf
Zeichnungen zu beginnen, und er hält nur dann in seiner Arbeit inne,
wenn der Stundenplan das ratifizierte erotische Treffen mit seiner
Auftraggeberin vorsieht. Mit Mrs. Talmann (Anne Louise Lambert), der
Tochter des Hauses versteht sich der Haus- und Gartenkünstler bald
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Jean Luedeke: Die Schönheit des Schrecklichen
Mrs. Talmann:
„Mr. Neville, ich sagte nichts von einer Leiche.“
Mr. Neville:
Madam, Ihr seid raffiniert. Es ist, als ob Ihr alles geplant hättet. Euer
Vater ist inSouthampton, er würde seine Kleider nicht vermissen und die
Leiter nicht sehen.“
Jean Luedeke: Die Schönheit des Schrecklichen
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Der Kontrakt des Zeichners
Mrs. Talmann:
„Ist mein Vater in Southampton, Mr. Neville?“
Mr. Neville:
„Ihr seid voreilig, Mrs. Talmann. Die Gegenstände sind unschuldig.“
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Mrs. Talmann:
Nimmt man jeden für sich, wäre eine solche Deutung möglich, nimmt
man sie zusammen, könnte man Euch als Zeugen eines Verbrechens
betrachten. Und nicht nur an einen Zeugen, Mr. Neville - als
Mitschuldigen an einem Verbrechen.“
Mr. Neville:
„Madam, Ihr habt zuviel Phantasie.“
Mrs. Talmann:
„Mr. Neville, ich bin zu der Auffassung gelangt, daß ein wirklich
intelligenter Mann einen mittelmäßigen Maler abgibt. Denn die Malerei
erfordert eine gewisse Blindheit, die weigerung, sich aller Möglichkeiten
bewußt zu sein. Ein intelligenter Mann wird mehr über das wissen wollen,
was er zeichnet, als er mit den Augen sieht.“
Als Gegenleistung für ihre Verschwiegenheit verlangt Mrs. Talmann nicht
weniger, als daß Mr. Neville auch ihr sexuelle Befriedigung verschaffe.
Dazu ist der Zeicher gern bereit ...
Nevilles Arbeit ist bald vollbracht. Auf dem Anwesenmacht intensiviert
sich das Gerücht, Mr. Herbert halte sich in Wahrheit gar nicht in
Southhampton auf. Am Tag von Mr. Nevilles Abreise fischt man Mr.
Herberts Leiche aus einem Teich in der Nähe des Hauses. Nevilles
Zeichnungen werden dadurch augenblicklich zu Aufzeichnungen und zu
Anschauungs-Objekten der kühnsten Spekulationen: Ist in ihnen etwa
eine Allegorie verborgen? Enthalten sie gar Hinweise auf die mysteriösen
Umstände von Mr. Herberts Ableben? Mr. Talmann kommt dahinter, daß
seine Frau ihn mit Mr. Neville hintergangen hat. So deutet er die Bilder
als Beweise des Ehebruchs und erwirbt sie für einen überhöhten Preis,
um sie verschwinden zu lassen.
Die rätselhaften Vorkommnisse während seines Aufenthaltes auf dem
Anwesen der Herberts wollen Mr. Neville nicht aus dem Kopf gehen. So
kehrt er im Herbst mit dem Ansinnen zurück, noch eine dreizehnte
Zeichnung anfertigen zu dürfen. Mrs Herbert erlaubt ihm nicht nur das,
sondern gewährt ihm noch ein weiteres Mal ein Schäferstündchen. Erst
jetzt beginnt Neville die grausame Wahrheit hinter seinen Kontrakt zu
begreifen. Er ist Opfer einer Haus- und Hofintrige geworden, die ihn nicht
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Jean Luedeke: Die Schönheit des Schrecklichen
Vorwort
nur des Ehebruchs verdächtigt, sondern ihn in noch viel größere
Schwierigkeiten bringt; die letzte Begegnung mit dem eifer-süchtigen Mr.
Talmann steht ihm noch bevor, und ein weiterer Mord liegt in der Luft ...
Die Handlung der meisterlich inszenierten Geschichte erinnert an Borges'
"Der Tod und der Kompaß", in der ein Weltmeister der Detektive in
Teufelsküche gerät, weil er Spuren nachgegangen ist, die andere noch
nicht einmal bemerkten. Dadurch bleibt "Der Kontrakt des Zeichners"
nicht einfach ein spannendes Historien - und Kostümdrama, sondern
erwächst zum kunstvoll-burlesken Thriller. Ein Geheimnis mit all seinen
trügerischen Verrätse-lungen und verkomplizierten Verästelungen breitet
sich aus, wird untersucht und grausam gelöst. Greenaway erinnert dabei
an Alfred Hitchcock: Denn auch dort kommt Mord in den ge-pflegtesten
Gärten vor... Peter Greenaway nimmt dabei auf historische
Gegebenheiten bezug: "Das Jahr 1694 wählte ich mit Bedacht, denn
diese Epoche, vier Jahre nachdem Wilhelm von Oranien bei der Schlacht
von Boyne die katholische Opposition vernichtend geschlagen hatte,
markiert einen wichtigen Punkt in der britischen Geschichte, als
einerseits das Empire aufzublühen begann und andererseits der irische
Widerstand gebrochen wurde." Gleichwohl ist die Anekdote, der Inhalt
weniger wichtig als die Form. Greenaway elaboriert hier wie in früheren
Filmen den Plot durch seinen eleganten Erzählmodus in Wort-, Zahlenund Struktur-Spiele, die seine Geschichte ständig neu ordnen: "In diese
Szenerie habe ich einigesvon dem eingebaut, was für mich von
andauerndem Interesse ist und in all meinen früheren Filmen thematisiert
wurde - die strenge Strukturalisierung einer bis zum letzten Buchstaben
durchgespielten zentralen Idee, die Beschäf-tigung mit der Pracht und
Vielfalt der englischen Landschaft, eine große Anzahl verschiedener und
oft mit Absicht rätselhafter Personen (allerdings weniger als 92 wie in
meinem Film 'The Falls'), kunstvolle und dichte Dialoge, die Verwendung
meiner eigenen Zeichnungen oder Gemälde", lehrt Greenaway.
Sein erster orthodox erzählte Film verdichtet die Dramaturgie durch den
geheimnisvollen Zwiespalt von Gezeigtem und Verstandenem. In einer
intimen Szene zwischen Mrs. Herbert und Mr. Neville fordert er sie auf,
ein klasssisches Gemälde aus der Sammlung ihres Ehemannes zu
betrachten. E s ist ein klares. narratives Bild, aber wovon es letztlich
erzählt, bleibt ungewiß; beschreibt es Liebe, Verbrechen oder Verrat?
Ebenso viel-fehldeutig die Zeichnungen des Künstlers: Vermeintlich
gegen-ständlich-neutrale Skizzen von Haus und Gärten bergen bei
modifizierter Betrachtung weitaus Bedeutenders. Neville wird bei seinem
bitteren Ende klar, daß die Bedeutung der Bilder bedeutender werden,
wenn das Verlangen existiert, in ihnen etwas entdecken zu wollen.
Dieses Wissen um das Verlangen war der verborgene Faktor in seinem
Kontrakt mit Mrs. Herbert. Es sind dreizehn Zeichnungen, die dem Film
Jean Luedeke: Die Schönheit des Schrecklichen
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Der Kontrakt des Zeichners
Vorwort
den Weg weisen und den Zeichner in den Tod führen. Mr. Neville glaubt
bis zu seinem bitteren Ende, die Spielregeln des Vertrages zu kennen
und zu seinem Vorteil auslegen zu können. Daß er am Ende Opfer eines
Plans oder eines Zufalls wird, dem er unwissentlich zuspielt, verfestigt
sich zu einer Ordnung, die er durch seine Eitelkeit herausgefordert hatte.
Die Kunst also als Vehikel für Sex, Verrat und Tod. Greenaway weist auf
ihre bedeutende Funktion in einem anderen Zusammenhang hin: "Der
Film spiegelt auch alle Aspekte des Lebens wider und den
Fruchtsymbolismus in der holländischen Malerei. Ich war immer sehr von
der holländischen Malerei fasziniert, weil sie ein irreales und gleichzeitig
litera-risches Bild der Welt wiedergibt, die sämtliche Formen von
Allegorismen und Symbolismen beinhaltet. Der repräsentiert zum
Beispiel ein wichtiges Motiv, ein Frucht, die schon im Garten Eden den
Untergang der Menschen verursachte. Die Früchte verstärken hier die
Charaktere und erläutern gleichzeitig die dramatischen Konflikte."
Dabei wäre dieser meisterliche Erfolgsfilm beinahe nie produziert
worden: Greenaway, der ein größeres Publikum erreichen wollte, "ein
Schritt, den ich gehen mußte", wie er sagt, reichte 1980 das Drebuch
beim Britisch Film Institute (BFI) ein. Dort stieß er auf ebenso große
Zustimmung wie Ablehnung und löste einen Zwist aus, ob das Institut
überhaupt eine Beteiligung an dem kompli-zierten Prestigeprojekt
riskieren solle. Erst nach vielen Querelen und der massiven
Unterstützung von Peter Sainsbury, dem späteren Produktionsleiter und
Anthony Smith, damaliger Leiter des Production Boardes, gab es grünes
Licht und 180. 000 Pfund für Greenaway. Damit waren die Probleme
nicht außer Welt, denn schon nach kurzer Drehzeit, war klar, daß der
Etat nie reichen würde. Der erste Rohschnitt war über dreieinhalb
Stunden lang und Produktionschef Sainsbury orderte Kürzungen an:
"Damals war ich gegen Kürzungen, als der Film auf Kino-länge gecuttet
werden sollte. Heute rege ich micht nicht mehr auf, zumal wir noch
andere Geldquellen auftun mußten. Die benötigte Restsumme von 150
000 Pfund erhielten wir von Channel Four. Ich sorgte mich um den Film
als TV-Version, weil es sich mit Sicherheit negativ auf die
Besucherzahlen auswirken würde", resümiert Greenaway.
Die Kamera kolportiert diese dramatischen Konflikte nicht; sie registiert,
kühl, distanziert und neutral. Die wunderschön kompo-nierten
Einstellungen scheinen nur dann dann in Bewegung zu geraten, wenn sie
mehrere Personen bei ihren Tischgesprächen einkreisen. Diese
ungewöhnlich statische Methode - die Kameraposition konzentriert sich
vornehmlich auf die Totalen - ermöglicht eine intensivere
Szenenkalkulation; Außenraum, Aktionen der Protagonisten und
Detailbetonung ohne Schwenks und Schnitte verwandeln die Filmbilder in
Tableaus. Der Zu-schauer behält dabei den unveränderten Standpunkt
des aller-fassenden "Bildbetrachters." Während zeitgenössisches Kino
Dramaturgie beim sehangepaßten Videoclip-Voyeuren vor-wiegend
durch Montage-Schlachten erzielt, mißachtet Greena-way die
klassischen Gesetze des Kinos um Abbildrealismus im wahrsten Sinne
des Wortes zu bekommen: Die Kamera "rahmt" das Bild und kopiert die
Bewegungslosigkeit des Malers, dessen Sicht der Kadragen sich mit der
Sicht des Kinogängers identifiziert. Diese extravagante Perspektivik
begründet Greenaway so: "Die Kamera bleibt - wie der Zeichner im Film immer gleich distanziert und neutral, ein beobachtendes, unkri-tisches
Auge, das sich in gleichem Maße für die Textur eines Gewebes, die
Düsterkeit des Kerzenlichtes und den Wind in den Ulmen interessiert, wie
für das Gebaren eines Leichnams oder die Qual des Opfers einer
sexuellen Gewalttat. So bleiben alle Ereignisse vieldeutig und
reinterpretierbar. Nicht zufällig benutzt die Hauptperson, der Zeichner,
1694 ein optisches Gerät, um die Landschaft aufs Papier zu bringen, das
sich im Prinzip kaum von dem des Kameramanns von 1982 unterscheidet, der damit die Landschaft von "The Draughtman's Contract"
zeichnet."
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Jean Luedeke: Die Schönheit des Schrecklichen
Die Sorgen waren unberechtigt, den der "Kontrakt" begeisterte die
Festivals und ging um die Welt. "Ich war überrascht vom Erfolg. Auf dem
Festival von Venedig hatten mir 3. 000 Zu-schauer eine stehende
Ovationen gebracht. Neville sagt einmal im Film:'Ich bin
überrascht...entzückt...überwältigt'. Das empfand ich damals genauso",
freut sich Peter Greenaway heute noch.
Jean Luedeke: Die Schönheit des Schrecklichen
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Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber
Vorwort
Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr
Liebhaber
liegt weniger an den kulinarischen Köstlichkeiten, als an den kraftvollen,
aber auch kruden Charakteren:
"Man sagt, daß die Mischung aus Gewalt
Erotik, Melancholie und Satire im Jakobinischen Drama der Vorläufer war von
Jarry, Artaud, Bataille, dem absurden
Theater der Grausamkeit von Bunuel. Es
ist ein schonungsloser Blick auf menschliche Grausamkeit, auf Gier und ungezügelten Egoismus, eine Reise in die Zonen
unserer Leidenschaft, die wir kaum kennen, vor denen wir uns fürchten, die uns
erschrecken, entsetzen und schockieren,
die aber, wie wir alle wissen, jeden von
uns verfolgen."
(Peter Greenaway)
Die Schönheit des Schrecklichen kulminiert Peter Grenaway zum Tod:
Bei "Der Kontrakt des Zeichners" ist es Kunst und Tod, bei "Ein Z und
zwei Nullen" Tiere und Tod; bei "Der Bauch des Architekten" verbindet
sich Architektur mit Tod, in "Verschwö-rung der Frauen" solidarisieren
sich Spiele mit Mord, in "Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr
Liebhaber" ehelicht Essen den Exitus. "Prosperos Bücher" legitimiert
racheversonnenes Ableben durch Literatur, "Das Wunder von Macon"
ratifiziert ruchlose Religiosität mit Resektion und "Die Bettlektüre"
manifestiert Malerei mit Tod.
Für „Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber“ arbeitete
Greenaway zum erstenmal Januar 1989 ausschließlich im Studio mit nur
drei Hauptschauplätzen: Küche, Restaurant und Parkplatz. Der
unpolitische Filmemacher stellte allegorisch politisiert das so veränderte ,
eigennützige und gierige Thatcher-England in den Mittelpunkt seiner
„Jacobean Revenge Tragedy.“ Greenaway bezeichnet diese
farbenprächtige Friß-und-Stirb-Groteske als "Melodram", als "eine nicht
unmögliche Erzählung, die in einem Restaurant spielt.“ Dort sei es
"normal, daß alles Mögliche und Unmögliche verspeist werden kann manches allerdings nur versuchsweise." Und wie es dazu kommen kann,
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Jean Luedeke: Die Schönheit des Schrecklichen
Richard, der Koch (Richard Bohringer):
Der 45jährige französische Koch Richard ist Inhaber des EdelRestaurants "Le Hollandais"; ein absoluter Perfektionist mit einer
ironischen Zunge. Sein Hauptziel ist, eine Kochkunst zu kreieren, die
alles Dagewesene weit übertrifft. Es schert ihn wenig, wer seine Gerichte
verspeist, ganz im Gegenteil, wirft er sogar einen Großteil seiner
Kreationen zur Freude der Straßenhunde in die Abfalltonnen hinter
seinem Restaurant. Richard erduldet die vulgäre, laute und unflätige Art
des Diebes nur, weil dessen Neureichtum ihm erlaubt, selbst die
ausgefallendsten kulina-rischen Experimente durchzuführen, um seine
Kunst zu vervollkommnen. Über seine Rolle sagt Richard Bohringer: "Für
mich ist der Koch ein faszinierender Charakter. Er hat etwas von dem
Engel, der alles sieht. Er scheint die Vernunft zu repräsentieren, und er
gibt den Ausschlag zugunsten des Liebespaares gegen das Chaos. Er
hat einen wundervollen schrägen Humor und er hält dem Dieb stand."
Albert Spica, der Dieb (Michael Gambon):
Albert, der etwa 50jährige Meisterdieb will nicht nur hoch hinaus, sondern
maßt sich außerdem an, ein Gourmet zu sein; dadurch gkaubt er, seinen
sozialen Status aufpolieren zu können. Im Grunde genommen ist er ein
cholerischer und ekelhafter Tyrann, der kultiviert erscheinen will, um
geachtet zu werden.
"Die Idee, jemanden zu verkörpern, der nicht viel Gutes an sich hat,
reizte mich mich sehr, denn sonst scheine ich nur nette Leute zu
verkörpern. Albert ist jedoch ein schlechter Mensch, obwohl er seine Frau
offensichtlich liebt. Das erklärt auch ein wenig sein Verhalten. Ich bin mit
Sicherheit noch nie jemandem wie ihm begegnet, aber ich nehme meine
Vorstellungskraft und Peters hervorragendes Drehbuch zur Hilfe",
resümiert Michael Gambon.
Georgina Spica, die Ehefrau (Helen Mirren):
Georgina (40) ist mit dem Dieb Albert verheiratet. Sie wirkt verängstigt
und gelangweilt. Die einzige Abwechslung in ihrem monotonen Dasein
scheinen die Besuche im Restaurant "Le Hollandais" zu sein. Der ewige
Despotismus ihres groben Mannes hat sie zwar verschüchtert, doch ihrer
Attraktivität keinen Abbruch getan. Georgina trägt nur extravagante und
luxuriöse Kleider; ein Vorzeige-Symbol der Renommiersucht und des
vorgeblich sozialen Aufstiegs von Albert. "Ich habe das Jakobinische
Drama schon immer gemocht. Die Kraft und der Wagemut, die in den
Jean Luedeke: Die Schönheit des Schrecklichen
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Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber
Vorwort
Stücken dieser Periode steckt, zeichnet auch dieses Drehbuch aus. Der
Film hat eine traumähnliche Beschaffenheit, zumindest vermittelt er aber
eine überzeichnete Realität. Georginas Beziehung mit Michael durchläuft
viele interessante Phasen - die anfängliche Anziehung, die heimlichen
Zusammenkünfte, die Flucht und die allmähliche Entdeckung, daß ihre
physische Verblendung sich in Liebe verwandelt hat. Diese Liebe heilt
ihre emotionellen Wunden und zerstört gleichzeitig Albert", erklärt Helen
Mirren.
Richard, von Richard Bohringer gespielt, steht ein wenig abseits von den
anderen Protagonisten, er beobachtet und studiert schweigend. Er ist der
Besitzer des weitläufigen Restaurants, in dem sich mehr als zwei Drittel
der Handlung abspielen. Das Restaurant heißt ‘Le Hollandais’ in
Anspielung auf das 1616 entstandene holländische Gemälde von Frans
Hals, ‘Das Festmahl der Offiziere der St. Georgs-Schützengilde’, das ein
opulentes Festmahl darstellt. Dieses Bild schmückt die Wände des
Restaurants und dient dem Dieb und seinen Gesellen als Vorbild“, faßt
Peter Greenaway zusammen.
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Michael, der Liebhaber (Alan Howard):
Michael ist ein sehr zurückhaltender und stiller Mensch, der zunächst
nicht auffällt. Er besitzt die Selbstironie des Gebildeten, nicht zuletzt, weil
er sich seines Daseins in dieser Welt und sinnentleerten
Bedeutungslosigkeit bewußt ist. Zentrum und gleichzeitig ideologisches
Refugium nimmt Michaels kleiner Buchladen ein. Er hat sich auf die
französische Literatur spezialisiert, insbesondere auf die Revolution von
1789. „Michael ist bis zu einem gewissen Grad an seiner Gefangenschaft
selbst schuld. Eingeschlossen in seine Welt der Bücher, ist sein Leben
dem leidigen Dasein von Georgina doch ähnlich. Deswegen ist ihre
Begegnung von ungeheurer Wichtigkeit. Ich glaube, sie fühlen sehr
schnell, daß sie sich möglicherweise gegenseitig helfen können, obwohl
er schon am Anfang dieser gefährlichen Affäre instinktiv spürt, welchen
Preis er dafür zahlen wird. Die Parallele zwischen Michaels Interesse für
die französische Revolution und dem Tod Alberts, dem 'König der
Unterwelt' finde ich sehr bemerkenswert. Außerdem bin ich von der
Rätselhaftigkeit meiner Rolle angetan gewesen. Die Tatsache, daß es
erst ziemlich lange dauert, bevor Michael einen Ton von sich gibt,
beweist dies noch", bemerkt Alan Howard.
Schon der barocke Titel „Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr
Liebhaber“ von Greenaways fünftem Spielfilm sagt viel über den Inhalt
aus; aber in dieser tödliche Tryptichon-Tragödie geht es eigentlich um
vier Charaktere in einer Dreiecksgeschichte, um zwei Tote in einem
Nobelrestaurant. „Der Film ist eine klassische Rachetragödie aus dem
Umkreis des ‘Theatre of Blood’, das in hohem Maße von den rein
körperlichen Funktionen des Menschen besessen ist - vom Essen,
Trinken und Ausscheiden, von der Paarung, vom Rülpsen und
Erbrechen, von Nacktheit und Blut. Vorbild ist das Jakobinische Theater,
das durchweg erotisch und natürlich schrill gewalttätig war. Im
Besonderen könnte der Film ein Drama wie John Fords ‘Tis a Pity She’s
a Whore“ zum Vorbild haben, das sehr ernsthaft, engagiert und offen ein
Tabuthema am äußersten Rand der menschlichen Gesellschaft aufgreift.
Es ist eine Liebesgeschichte mit Michael Gambon als dem Dieb, Helen
Mirren als der Ehefrau und Alan Howard als Liebhaber. Der Koch
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Jean Luedeke: Die Schönheit des Schrecklichen
Als oberster Ritter dieser Tafelrunde ist Albert Spica (Michael Gambon)
indes ein schlechtes Vorbild: Als mittelmäßiger Hai im Karpfenbecken
einer namenlosen Großstadt versucht er krampfhaft, seinen minablen
Nimbus mit Prestige zu penetrieren, indem er mit seiner Gang fast
allabendlich das exklusive Restaurant des Meisterkochs Richard Borst
(Richard Bohringer) aufsucht. Der Möchtegern-Gourmet und Gönner
merkt dabei nicht, wie sehr er sich mit seinem degenerierten Gebaren
und den unbedarften Französich-Kenntnissen ins Abseits stellt.
Wenigstens Richard gegenüber zeigt der bärtige Elefant im
Porzellanladen ob dessen Fähigkeit Respekt. Zu seiner hübschen Frau
Georgina (Helen Mirren) verhält er sich gemein, brutal und rücksichtslos.
Richard und seine buntgemischte Belegschaft, wie beispielsweise der
türkische Saucenkoch Troy (Tony Alleff), der schwarze Eden (Arnie
Breevelt), die nonnengleiche Alice (Janet Henfrey) oder der französiche
Kellner Philippe (Ian Sears) können den Unhold samt seinem Gesindel
nur schwerlich ertragen: „Der Koch und sein Personal in der Küche und
im Speisezimmer behandeln ihn mit Abscheu, aber dennoch
zuvorkommend, denn der örtlich bekannte Erpresser und Dieb ist sehr
gefährlich; die hauptsächliche Zielscheibe seiner Kränkungen ist seine
Gattin, die durch die jahrelangen Schikanen, die Zwangsherrschaft,
Erpressungen und die sexuellen Grausamkeiten ihres Mannes völlig
eingeschüchtert in eine stille Unterwürfigkeit verfallen ist“, präzisiert
Greenaway. Aus diesem Grund hat der Koch Mitleid mit der Gequälten
und verwöhnt sie mit besonderen kulinarischen Bonbons, was Albert
natürlich mehr als mißfällt. Gerade durch die nicht sonderlich dezenten
Auftritte von Albert und seiner Bande fällt Georgina ein stiller Gast am
Nebentisch auf, der stets allein speist und ein Buch liest. Der unauffällige
Tischnachbar beeindruckt die Unglückliche zusehends. Als er ihr
Interesse bemerkt, arrangieren die beiden ein zunächst unbeholfenes
Treffen in einer der Toilettenkabinen. Albert wird mißtrauisch, weil seine
Gattin allzu lange in dem stillen Großraumörtchen weilt und steigt ihr
nach. Er ertappt sie beinahe, wird ohne einen stichhaltigen Beweis eines
Ehebruches dennoch gewalttätig, indem er seine Frau vor den Augen
aller Gäste aus dem Lokal prügelt und vergewaltigt.
Jean Luedeke: Die Schönheit des Schrecklichen
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Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber
Georgina und Michael treffen sich trotzdem zu weiteren
Schäferstündchen in den Nebenräumen und der Speisekammer des
„Hollandais“, jedoch nicht ohne von Richard stillschweigend protegiert zu
werden. In ärgste Bedrängnis geraten die Liebenden jedoch bald, als
Albert eines Abends seinen Gangster-Rivalen Terence Fitch (Ian Dury)
mit einem Festmahl blenden will. Beim „Quicky“ zwischen Fitch und
seiner Konkubine Patricia (Emer Gillespie) hinter dem Restaurant
entdeckt sie das Liebespärchen durch ein Fenster. Am nächsten Tag
jubelt das Gangsterflittchen bei einem Streit Albert hämisch ihr Wissen
unter. Der sieht rot, sticht der Denunziantin vor Wut eine Gabel in die
Wange und rast durch das Feinschmecker-El Dorado, um nach Michael
und Georgina zu suchen: „Ich bring ihn um und freß`ihn auf“, schwört der
Tobende grausame Rache. Richard rettet die beiden Splitternackten,
indem er sie in einem mit verwestem Fleisch vollgestopften
Transportwagen verfrachtet und in Sicherheit bringen läßt. Die Gejagten
finden zunächst ein Refugium in Michaels Bücherdepot. In dieser
friedfertigen Oase hortet er unzählige Werke seines Fachgebietes, der
französischen Revolution, systematisiert in überfüllten Regalen. Richard
schickt den jungen Pub (Paul Russel) mit der Engelsstimme zu Georgina
und Michael, um die beiden mit einem Korb delikater Köstlichkeiten zu
versorgen. Auf dem Rückweg wird der Junge jedoch von Albert und
seinen Kumpanen abgefangen. Sie foltern den Kleinen auf grausamste
Weise, indem sieihm die Knöpfe seiner Jacke in den Rachen stopfen.
Pub wird seit dieser perfiden Prozedur zeitlebens an den Rollstuhl
gefesselt bleiben. Doch damit nicht genug, finden die Ganoven im Korb
des Gequälten Bücher, die mit Michaels Stempel versehen sind und
somit das Versteck der Verfolgten verraten. Abends besucht Richard an
Pubs stelle den Bücherladen, um Georgina und Michael zu berichten,
daß sein junger Angestelter nach der Begegnung mit den Verbrechern im
Krankenhaus vegetiert. Georgina besucht mit Richard das Opfer, nicht
zuletzt aus selbstquälerischen Motiven, hat Pub doch ihretwegen
höllische Schmerzen erleiden müssen.
Währenddessen fällt die Bande bei Michael ein und stopft ihm in einer
(für den Zuschauer) unerträglich langen und bestialischen Prozedur seine
geliebten Seiten der französischen Revolution in den Rachen, bis er
qualvoll krepiert. Als Georgina bei ihrer Rückkehr den regelrecht zu Tode
Gekröpften entdeckt, schwört sie, Alberts Greueltaten für immer ein Ende
zu bereiten - sarkastischerweise mit Hilfe ihres ermordeten Liebhabers.
Sie schafft es, Richard durch ihr entschlossenes und unbeirrbares
Auftreten zu überzeugen, Michael als fein garniertes Abendmahl zu
servieren; damit Albert seinen diabolischen wie kanniba-listischen
Schwur erfüllen kann. Der ahnungslose Albert wird zu diesem doch nicht
alltäglichen Abendschmaus ins „Hollandais“ eingeladen. Das
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Jean Luedeke: Die Schönheit des Schrecklichen
Vorwort
extraordinäre Dinner wird seine Freßgier final beenden, denn Geogina
zwingt mit vorgehaltener Waffe ihren Mann, den cross gebratenen
Michael zu goutieren: zunächst an dessen delikatester Stelle mit der
ernüchternden Erklärung: „Iß’ seinen Penis, du weiß, wo er gesteckt
hat.“. Nach dem ersten, offenbar ungenießbaren Happen - Albert muß
sich übergeben - richtet der rotgekleidete Racheengel Georgina den
Kapital-verbrecher Albert mit einem gezielten Schuß in die Stirn hin.
„Die ganze Welt stelle ich in dieser Tragödie als etwas dar, was
unweigerlich im Schlund eines gefräßigen Mundes verschwinden muß“,
erläutert Greenaway, der speziell den Mann auf den Mund-Magen-DarmAnus-Trakt und seinen Penis respektlos reduziert. Ein „Jacobean Drama“
wollte der dezent-egozentrische Filmemacher machen, eine jener
unappetittlichen, unverdaulichen und bluttriefenden Tragödien um Sex
and Crime, um Rache und Vergewaltigung, wie sie beispielsweise
Shakesspeare in jungen Jahren produzierte („Titus Andronicus“), die
gerade zur Zeit Jacobs I. schaurig populäre Urständ feierten. Aus diesem
Grunde ist es nicht allzu verwunderlich, daß selbst hartgesottene Trashund Splatter-Kinojünger gerade noch die Ermordungs-Sequenz von
Michael ertragen konnten, jedoch spätestens beim Anblick des
gebruzzelten Liebhabers zuhauf aus den Lichtspielhäusern flüchteten.
Es ist auch nicht verwunderlich, daß Greenaway - wie in „Das Wunder
von Macon“ - Film durch Theater-Termini terrorisiert, oder besser:
verkünstelt. Gleich zu Beginn des Films gleitet die grandios geführte
Kamera von Sascha Vierny durch einen purpurroten Vorhang, der am
Ende des Dramas wieder fallen muß. Mit der Errettung der physischen
Realität im Film hat Greenaway wenig im Sinn, karikiert er doch boshaft
die ereignisreiche Ergiebigkeit des gewohnten Erzählkinos durch
seine nahezu anmaßend analytischen und apokalyptischen Allegorien
der Bildsprache. Mit zentrierter Semiotik, verstörender Farbgebung und
stilisiertem Dekor desavouiert der filmische Einzelgänger die erprobte
Erfolgsrezeptur - Ereignis absorbiert Aktion und Montage - durch
gemächliche Parallelfahrten der Kamera in kunstvoll konfigurierten
Kadren.
Schon zu Beginn massakriert Greenaway die Sehgewohnheiten des
Zuschauers, vor allem jedoch dessen Farbempfinden: Straßenhunde
fallen auf dem in kaltes Blau getauchten Vorhof des Nobelrestaurants „Le
Hollandais“ über blutige Flischklumpen her. Danach tastet sich die
allererfassende Kamera vorbei an der in Violett leuchtenden
Neonfassade durch den goldgelb gefärbten Vorraum in die
Großküchenhalle, in der Grün facettenreich dominiert. Greenaway
schreibt dazu im Drehbuch: „Von Details abgesehen, ist der unheimliche
Parkplatz geährlich blau, die dominierende Farbe der Küche ist grün Jean Luedeke: Die Schönheit des Schrecklichen
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Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber
Inhalt des Buches
gefährlich grün, dunkelgrün, blatt-grün, smaragdgrün, blaßtürkis und
nilgrün - wie dieFarben eines unheimlichen Dschungels...“ Die Farbe
verrät bei Greenaway den Wesenszug, verfärbt das Gefühl und verteufelt
den Charakter-Moloch Mensch; denn schwarz sind schließlich dieSeele
und der Tod. Und der Tod spielt bei Greenway eine besondere Rolle:
„Daß meine Filme alle um das Thema Tod kreisen, ist mittlerweile ein
Klischee geworden; die gesamte europäische Kultur konzentriert sich auf
auf die Breiche, Sex und Tod. Wenn man sagt,daß ein Film den Tod
thematisiert, dann heißt daß ebenso für mich, daß er vom Leben
handelt“, philosophiert der Kino-Kamikaze Greenaway. Schon in „Ein Z
und zwei Nullen“ oder „Verschwörung der Frauen“ lotete Greenaway die
Grenzen der Erträglichkeit aus, indem er die Ästhetik der Gesetze und
Genese mit der erschütternden Ergebnislosikeit des Einzelnen verband.
Inhalt des Buches
Greenaways
bewundernswert
visuell
verzückendes
Veranschauungstheater von den durchgestylten sechs Hauptdekors und
des dazugehörigen Dekors (Ausstattung: Ben Van Os und Jan Roelfs)
bis hin zu den Par Excellence-Drapierungen eines Jean-Paul-Gaultier,
erfüllt das Spektrum von der Beschaulichkeit klassischer Bankett-Malerei
bis hin zu der Heillosigkeit von Hundekot. Im Grunde genommen erzählt
Greenaway hier eine einfache . linear struktrierte Geschichte, die sowohl
auf die Vertreibung aus dem Paradies anspielt, als auch auf den
egoistischen Härtekurs eines von der „Eisernen Lady“ regierten,
sozialdarwinistisch sedierten Armut-Staates. Greenaways düstere
Parabel über Sex, Kannibalismus , Kunst und Tod dermentiert jegliches
Erstreben nach Erfolg und erklärt gleichzeitig seine perfiden und
projektorientierten Willen nach
Wissen: Was dieser Regisseur weiß, will jedoch keiner wissen,
erschüttert er doch durch extrem ernüchternde Expeditionen in den
Hades die unheilbar gesunden Gesetze der Genetik, Geburt,
Gesellschaft und Gemeinschaft. Liebe liberalisiert Lust, Andacht und
Ästhetik anämischen Abschied. Sterben storniert Greenaway durch
stoische Stilistik und infizierten Idealismus. Wer stirbt, durfte sowieso
nicht leben. So endet Greenaways Gleichnis in Schrecken, Zerstörung
und Tod, weil Schönheit und Pracht nur schön und prächtig sein dürfen,
wenn Vergänglichkeit und Verwesung nicht verleugnet werden.
Greenaways Kino-Welt terrorisiert durch Trauer und Tragik, entfettet
selbst existenzialistische Erwartungslosigkeit und träumerischen
Nihilismus durch eisgekühlte Erkenntnisse, die niemand erkennen will,
denn zuviel Wahrheit tut weh, selbst wenn Wirklichkeit trist, und desolat
ist. Aber gerade deshalb werden die Bilder von Greenaway im Kopf
immer klarer und heller, heillos, sodaß man sie irgendwann vergessen
muß, um weitervegetieren zu können.
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Jean Luedeke: Die Schönheit des Schrecklichen
I. Kapitel: Biographie: Peter Greenaway - Eine Legende
ohne Lohn
II. Kapitel: Zeichen und Systeme: Die Kurz- und
Experimentalfilme
III. Kapitel: Die Schönheit des Schrecklichen:
1. Der Kontrakt des Zeichners
2. Ein Z und zwei Nullen
3. Der Bauch des Architekten
4. Verschwörung der Frauen
5. Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber
5.1 Laßt Farben sprechen: Greenaways Farbtechnik in
„Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber“
6. Prosperos Bücher
7. Das Wunder von Macon
7.1 Interview
8. Die Bettlektüre
IV. Kapitel: Peter Greenaway und die Kunst
V. Kapitel: Der Komponist Michael Nyman
VI. Kapitel: Peter Greenaway im Gespräch über ...
Anhang:
Filmographie, Expostionen
Namensverzeichnis
Jean Luedeke: Die Schönheit des Schrecklichen
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