Wer früher stirbt ist länger tot (Graves Décisions)

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Wer früher stirbt ist länger tot (Graves Décisions)
Wer früher stirbt ist länger tot (Graves Décisions)
Regie: Marcus Hausham Rosenmüller, Farbe, 102 Min., 2006
Ein Elfjähriger auf der Suche nach der Unsterblichkeit. Herrlich frech und
wahnsinnig bayerisch. Eine Lausbubengeschichte aus der Gegenwart von 2006.
Wunderbare Mischung aus Tiefgang und Herz mit authentischem Sinn für die
wichtigen kleinen Dinge im Leben.
In einem kleinen bayerischen Dorf lebt Lorenz Kandler. Er ist Witwer und
betreibt mit seinen beiden Söhnen Franz und Sebastian die Dorfwirtschaft, in der
es natürlich einen gepflegten Stammtisch gibt und dessen Mitglieder dazu noch
regelmäßig im Hinterzimmer für ein Passionsspiel proben, das sie demnächst zur
Aufführung bringen wollen.
Für den 11-jährigen Sebastian, einem aufgeweckten, frechen Lausbub ist das Leben
einerseits ein großes Abenteuer. Andererseits glaubt er, dass er verantwortlich für
den Tod seiner Mutter ist, die seine Geburt nicht überlebte. Neben dieser ‚Tötung’,
die ihm sein älterer Bruder Franz immer wieder vorhält, hat er auch eine ganze
Reihe weiterer schlimmer Missetaten auf dem Kerbholz, und so ist es inzwischen
die Regel, dass er Nacht für Nacht mit den Gewalten des Fegefeuers kämpft.
Im kindlichen Bemühen, dieser ewigen Hitze zu entgehen, setzt er alles daran, sich
von seinen Sünden reinzuwaschen, und die Stammtischbrüder stehen ihm dabei
mit freundschaftlichem Rat zur Seite.
Sebastians Übereifer führt jedoch nicht zum gewünschten Erfolg: die Sprengung
eines Kaninchenkadavers, als Folge einer fehlgeschlagenen Re-Animation; ein
unsittlicher Antrag, den er seiner Lehrerin, Frau Dorstreiter, ins Ohr flüstert; eine
beinahe zu Tode gebrachte Greisin aus der Nachbarschaft… all das trägt nicht
wirklich dazu bei, sein schlechtes Gewissen zu entlasten.
Schließlich meint Sebastian, von seiner Mutter ein Zeichen erhalten zu haben: er
muss für seinen Vater eine neue Frau finden. Das findet auch der Stammtisch:
„Aane mit G’schick, Grips und’m g’scheitn Arsch!“ Diese Attribute scheint die allein
stehende Nachbarin Frau Kramer zu erfüllen, die Sebastian fortan allerliebst und
wohlerzogen bezirzt und auf die Nöte seines Vaters hinweist. Lorenz Kandler
allerdings reagiert eher genervt auf die bald einsetzenden Besuche der redseligen
Frau Kramer – was Sebastian nämlich nicht weiß: auf unerklärliche, fast magische
Weise fühlen sich sein Vater und seine Lehrerin zueinander hingezogen!
Es gibt jedoch ein letztes Hindernis: Frau Dorstreiter ist verheiratet, und zwar mit
Alfred, einem Ur-Viech von DJ, der seine Kult-Radio-Show von hoch vom Berg
übers Land sendet. Doch Sebastian, der seinen Irrtum erkannt hat, wird auch
dieses kleine Problem noch in Angriff nehmen: ein weiteres Zeichen am Grab
seiner Mutter macht ihm klar: Alfred muss sterben …
Kritiken und Empfehlungen:
„Souverän und voller Witz inszeniert der Regisseur eine umtriebige
Lausbubengeschichte, mixt fantastisch-fiktive Elemente mit Rock'n'Roll und
bajuwarischer Bodenständigkeit. Zu Recht erhielt Rosenmüller, der offensichtlich
keine Scheu hat, Genre-Grenzen zu sprengen, auf dem diesjährigen Münchner
Filmfest den hoch dotierten Förderpreis Deutscher Film in der Kategorie Regie.
‚Wer früher stirbt, ist länger tot’ ist bestes bayerisches Volkstheater zwischen
Fegefeuer und Allmachtsphantasien - authentisch, einfallsreich und
herzerfrischend erzählt. Dieser Rosenmüller muss eine irre Kindheit gehabt
haben.“ (Bayerischer Rundfunk Fernsehen – Kino Kino)
„’Wer früher stirbt, ist länger tot’ überzeugt durch eine profunde Logik, in die viele
bayerische Überlebensweisheiten gemischt sind. Das lokale Idiom trägt
entscheidend zum Charme des Films bei.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung)
„’Wer früher stirbt, ist länger tot’ ist eine fabulierlustige Burleske, die mit
anarchischem Witz verblüfft und mit ihrem Reichtum an nuanciertem Gefühl zu
Herzen geht. Das wilde, doch nie chaotische Treiben trägt sich in jener Grauzone
zu, in der der Katholizismus bayrischer Ausprägung, ohnehin eine vergleichsweise
sinnenfrohe und opulente Angelegenheit, sich mit naturreligiösen Relikten,
abergläubischen Ritualen und althergebrachtem Brauchtum kreuzt.“ (Berliner
Zeitung)
„Das klingt wie Tom Waits und fügt sich reibungslos in die friedlich vor sich hin
groovende Bergwelt, in der dezentrierte Männer versuchen, einem Kind das Leben
und das Sterben zu erklären. Das ist oft saukomisch und führt bei Sebastian zu
einer wegweisenden Vermischung von Realität und Fiktion.“ (Frankfurter
Rundschau)
„So erreicht diese charmante Komödie stellenweise fast das Niveau des frühen
Detlev Buck. Und der Hauptdarsteller Markus Krojer ist eine echte Entdeckung.“
(Ticket-Beilage des Tagesspiegel)
Biographie des Regisseurs:
Marcus Hausham Rosenmüller wurde 1973 in Tegernsee geboren. Nach seinem
Abitur begann er ein Studium an der Hochschule für Fernsehen und Film,
München, Abteilung Film/Fernsehspiel, das er 2003 erfolgreich abgeschlossen hat.
Bereits während seiner Studienzeit machte Marcus H. Rosenmüller mit seinen
Filmen „Nur Schreiner machen Frauen glücklich“ (1998), „Kümmel und Korn“
(2000) und „Hotel Deepa“ (2001), gedreht in Indien, auf sich aufmerksam.
Außerdem drehte Marcus Hausham Rosenmüller für den Bayerischen Rundfunk
mehrere Folgen der Dokumentar-Reihe „Irgendwo in Bayern“, darunter „Den
Frieden in der Hand – Das Holzkirchner Wallfahrstgelübde“ (2003, in Co-Regie mit
Joseph Vilsmaier), „Almrauschen – Leben und Lieder auf der Alm“ (2004),
„Drachen und andere Originale“ (2004).
Für „Wer früher stirbt, ist länger tot“ wurde Marcus H. Rosenmüller eine Vielzahl
von Ehrungen zuteil, darunter erhielt er vier Auszeichnungen im Rahmen des
Deutschen Filmpreises 2007 (Bester Film, Beste Regie, Beste Filmmusik, Bestes
Drehbuch). Weitere Preise: Förderpreis Deutscher Film 2006 in der Kategorie
Regie und Bayerischer Filmpreis in den Kategorien Nachwuchsregie und
Im Winter ein Jahr (un an en hiver)
Regie: Caroline Link, Farbe, 128 Min., 2008
Die Innenarchitektin Eliane Richter gibt ein Bild in Auftrag: Max Hollander soll ein
Bild von ihren beiden Kinder malen. Tochter Lilli hält nichts von dieser Idee, denn
ihr Bruder Alexander hat Selbstmord begangen, und das Doppelporträt würde nur
eine dekorative Illusion bedeuten. Die Arbeit an dem Bild verändert alle, die direkt
oder indirekt damit zu tun haben.
Ursprünglich hatte Caroline Link für dieses Projekt von einer amerikanischen
Produktionsfirma einen Drehbuchauftrag erhalten, doch die Realisierung kam
nicht zustande – so wurde daraus ein deutscher Film. „Natürlich habe ich beim
Drehen ab und zu daran gedacht, wie es wohl liefe, wenn ich diesen Film in den
USA drehen würde. Und dann war ich immer gottfroh und dankbar, dass ich ihn
hier drehen konnte. In meiner Sprache, mit meinen Leuten.“ Diese Aussage der
Filmemacherin darf als absolut glaubhaft betrachtet werden, denn die Intensität
von IM WINTER EIN JAHR ergibt sich vor allem aus der Vertrautheit zwischen
Regie, Darstellern und Team. So ist letztlich auch ein sehr deutscher Familienfilm
entstanden.
„Wie in allen meinen Filmen geht es also wieder um das Thema Familie“, erklärte
Caroline Link. „Dieses Mal liegt allerdings eine wesentliche Figurenkonstellation
außerhalb der Familie, es gibt da den Maler und sein Vertrauensverhältnis zu dem
Mädchen.“ Ausgangspunkt ist der Freitod des Jugendlichen; die Hinterbliebenen
versuchen auf sehr unterschiedliche Weise, mit diesem Trauma fertig zu werden.
Natürlich ist dabei der Plan, den toten Alex und seine lebende Schwester von
einem Maler porträtieren zu lassen, auch ein Versuch, die beiden nicht nur visuell
noch einmal zu vereinen, sondern sie gleichsam zu verewigen – den Tod also auf
höchst irrationale Weise zu ignorieren. Die Bewältigung wird delegiert an einen
Künstler, und der nimmt den Auftrag ernst genug, um seinerseits nach den
Zusammenhängen und Ursachen zu forschen, obwohl er zur Genüge mit optischem
Material (Fotos und Videos) versorgt wurde. Ohne diesen Versuch, in den „Fall“
tiefer einzudringen, hätte es gereicht, einfach nur Fotos zu vergrößern und zu
montieren. Max Holländer muss so die Arbeit leisten, zu der die Familie weder den
Mut noch die Ausdauer hat. Aber auch er wird die Probleme nicht lösen und diesen
Tod nicht klären können – jedenfalls nicht zur Zufriedenheit seiner Auftraggeberin.
Und doch bietet der Film eine Reihe von Antworten an, die freilich auch in ihrer
Summe noch Fragen offen lassen. Es gilt, auf Details und kleine Gesten zu achten.
Einmal greift Lilli nach der Hand ihres Vaters, eine zärtliche Geste und Ausdruck
der Suche nach Nähe. Der Vater reagiert darauf mit der Frage: „Brauchst du Geld?“
Dass Lilli im Verlauf der Geschichte immer wieder glaubt, ihren Bruder zu sehen,
zeigt zudem, wie obsessiv sie sich mit dem Verlust beschäftigt. Die Eltern sind,
trotz ihres materiellen Wohlstands, hoffnungslos vereinsamt; sie wissen es nur
noch nicht. Selbst der erfolgreiche Maler hat eine gescheiterte Ehe hinter sich;
erfolglos versucht er herauszufinden, ob er vielleicht schwul sein könnte und blitzt
hoffnungslos ab, als er seinem Sohn eines seiner Bilder als Geburtstagsgeschenk
überbringt. Ihm bleibt als Trost, was schon Bert Brecht formuliert hat: Die
leichteste Weise der Existenz ist in der Kunst.
Caroline Link
Geboren 1964 in Bad Nauheim. Nach dem Abitur Aufenthalt in den USA und ein
Praktikum in den Münchner Bavaria-Studios. 1986 bis 1990: Regie-Studium an der
Münchner Hochschule für Fernsehen und Film.
Ihr Abschlussfilm SOMMERTAGE wird in Hof mit dem Kodak-Förderpreis
ausgezeichnet. Für ihren ersten Kinofilm JENSEITS DER STILLE erhielt Caroline
Link zwei Bayerische Filmpreise und eine Oscar-Nominierung. Ihr bislang größter
Erfolg war NIRGENDWO IN AFRIKA, für den sie fünf „Deutsche Filmpreise“ und
den Oscar in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“ erhielt. Caroline Link ist
Mitglied im Kuratorium des Vereins „Children for a better world“ und seit 2004
Trägerin des Bayerischen Verdienstordens. Sie lebt mit ihrem Lebensgefährten,
dem Filmemacher Dominik Graf, in München.
Von morgens bis mitternachts de l’aube à minuit)
Regie: Karlheinz Martin, s/w, 73 Min., 1920
Georg Kaisers expressionistisches Theaterstück "Von morgens bis mitternachts"
über den Kassierer einer Bank, der eines Tages aus seiner bürgerlichen Existenz
auszubrechen versucht, wurde von Regisseur Karlheinz Martin in einen
konsequent expressionistischen Stummfilm umgesetzt. Die Radikalität seiner
Inszenierung verschreckte seinerzeit die Kinobranche, so dass der Film keinen
Verleiher fand und nie in die deutschen Kinos gelangte. Lediglich in Japan lassen
sich Aufführungen nachweisen, und in Japan hat sich auch die einzige Kopie des
Films erhalten, die vom National Film Center umkopiert wurde. Das Filmmuseum
München hat den Film restauriert, das SchlagEnsemble H/F/M und der Komponist
Yati Durant haben für den Film zwei Musikbegleitungen erarbeitet, die die
Gestaltungsmittel des Films aufgreifen und weiterführen.
Yella
Regie: Christian Petzold, Farbe, 88 Min., 2007
Yella geht weg. Sie sehnt sich nach Zukunft. Ihre bisherige Existenz soll einfach nur
noch Vergangenheit sein. Unterwegs lernt sie einen Mann aus der Welt des
Risikokapitals kennen. Yella bewährt sich als seine Assistentin. Doch immer wieder
drängen sich Momente von früher in ihr neues Leben.
Yella will fort aus Wittenberge, wo die Firma ihres Manns Ben pleite gegangen,
ihre Ehe dramatisch gescheitert ist. Sie will nach Westen, jenseits der Elbe, wo es
Arbeit und Zukunft geben soll. Am Tag ihrer Abreise wartet Ben auf sie, um sie zum
Bahnhof zu bringen. Die Fahrt endet mit dem Sturz in die Elbe. Yella rettet sich.
Gerade noch erreicht sie ihren Zug nach Hannover.
In einem Apart-Hotel am Rande der Stadt begegnet sie Philipp, der für eine Privat
Equity Firma unterwegs ist. Philipp lädt sie ein, ihn zu einem Geschäftstermin
begleiten. Sie entdeckt die Welt des Venture Capitals, der gläsernen, kabellos
vernetzten Konferenzräume, der lautlos schnurrenden Leasing-Limousinen, der
unentwegten Bewegung. Alles scheint leicht, ein Spiel, das keine Verlierer zu
kennen scheint. Yella bewährt sich. Sie wird Philipps Assistentin, ohne Vertrag, bar
ausbezahlt am Ende des Arbeitstags. Sie verdient gut.
Yella kommt schnell voran. Präzise spielt sie Philipp die Stichworte zu, findet die
Schwachpunkte der Gegenseite, öffnet die Diskussion mit eigenen Vorschlägen. So
eingespielt die gemeinsame Arbeit ist, so distanziert bleibt Philipp zunächst im
Persönlichen. Yella begreift, dass er nach eigenen Regeln spielt. In seiner
unsentimentalen, aufmerksamen Entschiedenheit liegt ein Geheimnis, das er kaum
vor ihr zu verstecken versucht. Philipp betrügt seine Auftraggeber. Und er prüft
Yellas Aufrichtigkeit.
Als Yella eines Nachts in ihr Zimmer kommt, wartet Ben auf sie, mit neuen Plänen
für das alte Leben. Sie flüchtet sich über den Hotelflur zu Philipp. Die Situation ist
ungeplant, unverhofft. Sie verbringen die Nacht gemeinsam. Die Fremdheit des
ersten Augenblicks weicht einer ungewohnten Hingabe und Vertrautheit. Yella
nimmt teil an Philipps Traum. Er will richtig viel Geld verdienen, und er hat eine
unglaublich einfache und viel versprechende Geschäftsidee. Es geht um
Sicherungssysteme, Bohrlöcher, eine Investition in Irland. Er hat das das
Anfangskapital fast beisammen.
Doch Philipps Auftraggeber sind misstrauisch geworden. Das nächste Projekt in
Dessau wird sein letzter Auftrag sein. Die Verhandlung mit dem Firmenchef
Gunthen läuft schleppend, Philipp wirkt unentschlossen. Yella beschließt zu
handeln, um ihren Traum, dieses neue, zum Greifen nahe Leben zu retten.
Statement des Regisseurs:
In Marc Auges Buch „Orte und Nichtorte“ gibt es zu Beginn eine Erzählung. Ein
Pariser Geschäftsmann hat seine Koffer gepackt und sitzt im Taxi, im Stau, es ist
Rush Hour, und er muss zum Flughafen Charles de Gaulle. Dort, später, verschwitzt
– er hat gerade sein Gepäck aufgegeben, betritt er die Boarding Zone, diese Welt
aus Glas und Leder, Burberry, Rolex, Bulgari. Nichts trägt er mehr mit sich herum,
außer Pass, Bordkarte, Kreditkarten. Dieser Mann fühlt sich plötzlich leicht und
frei. Später, im Flugzeug, über Dubai, gibt es noch einmal ein Echo des Wirklichen,
des Sozialen, als für die Dauer des Überflugs kein Alkohol ausgeschenkt werden
darf. Eine Einsamkeit ist um diesen Reisenden, eine, die nicht romantisiert, eine
moderne, noch unbekannte Einsamkeit.
Auch Yella will in diese Zone. Sie geht über den Fluss, nach Westen. In die
Leichtigkeit. Die Einsamkeit. Aber das Alte, das Schwere, der Ballast, das, wovor sie
geflohen ist, taucht auf in ihrer neuen Welt wie das Alkoholverbot über Dubai. Es
zerrt an ihr, droht, sie hinab zu ziehen.
Yella kämpft. Gegen den Ballast. Aber auch gegen sich. Denn auch in der neuen
Welt gibt es die Liebe.
Kritiken und Empfehlungen:
„Yella“ ist ein beklemmend real-irrealer Schwebezustand geworden. (Der
Tagesspiegel)
Das Schöne an Petzolds Film ist, wie es ihm gelingt, das Persönliche und Politische
untrennbar miteinander zu verzahnen: Sein Film handelt nicht nur vom modernen
Kapitalismus, sondern auch davon, wie er sich bis in den Gang, die Gesten und
Bewegungen der Menschen einschreibt.“ (Welt am Sonntag)
Yella ist ein Film, indem sich die Genauigkeit eines Godard mit der Phantasie des
frühen Wenders mischt, ein französischer Blick mit einer deutschen
Empfindsamkeit. Also etwas ganz Unwahrscheinliches, Beglückendes. (Frankfurter
Allgemeine Zeitung)
Christian Petzolds Film ist ein präzise inszenierter, dicht verwobener
metaphysischer Thriller, der ihn als einen der besten deutschen Regisseure der
mittleren Generation bestätigt. (Variety)
„Ein echter Grund zur Freude ist der Silberne Bär für Nina Hoss – nicht nur, weil
damit die subtile Leistung einer Schauspielerin geehrt wird, sondern auch, weil
Petzold sich mit den Konflikten der Gegenwart befasst, ohne sich mit
vordergründigen filmischen Lösungen zufrieden zu geben. Je mehr
Understatement er sich, seiner Mise en Scène und seinen Darstellern abverlangt,
umso mehr genießt man in „Yella“ ein rares Erlebnis: Man sieht einen Film, der mit
der Intelligenz des Zuschauers arbeitet, nicht gegen sie. (Die Tageszeitung)
Ein stilistisches Meisterwerk (…) Mit intensiven Traumbildern lockt Petzold auf
falsche Fährten, beflügelt die Phantasie des Zuschauers, hält die atmosphärische
Dichte bis zur mehr als überraschenden Auflösung. Yella - fantastisch: Nina Hoss – ist
eine Grenzgängerin im doppelten Sinn. Wie ein Gespenst, ein Schattenwesen bewegt
sie sich in der gläsern verspiegelten Welt des Risiko-Kapitals. Und die Rolle des
Philipp ist eine neue Hochleistung von Devid Striesow. (Abendzeitung München)
Scheinwelten, Täuschungen und Maskeraden, Existenzkämpfe und Insolvenzen,
Sicherheiten oder Perspektiven – das sind die Motive in „Yella“, ganz nah an der
Realität und doch absolut gespenstisch in der Überzeichnung. Es lastet eine tiefere
Bedrohlichkeit auf der eigentlich doch einfachen Geschichte, die einem schier den
Atem nimmt. (Berliner Zeitung)
„Die neuen Wirklichkeiten kollidieren mit unserer altmodischen Seele. Von der
Liebe in Zeiten des Risikokapitals handeln alle Filme Petzolds. Da stoßen
verschiedene Welten aufeinander. (…) In „Yella“ bringt er das Kunststück fertig, die
ganze Dimension unserer Existenz, ihrer Tag- und Nachtseite, sichtbar zu machen,
indem er eine jederzeit plausible Geschichte erzählt. Es liegt an jedem selbst, ob er
nun die Symbolwelten, die sie mit sich führt, betritt oder nicht. Aber wenn man
den Schritt wagt, dann wird es zur gefährlichen Expedition ins Conradsche ‚Herz
der Finsternis’. (Neues Deutschland)
Biographie des Regisseurs:
Christian Petzold wurde 1960 in Hilden geboren. Seit 1981 lebt er in Berlin, wo er
zunächst Germanistik und Theaterwissenschaft studierte und als Filmkritiker
sowie in verschiedenen Funktionen fürs Fernsehen arbeitete. Von 1988 bis 1994
studierte er an der Deutschen Film und Fernsehakademie Berlin und arbeitete in
dieser Zeit auch als Regieassistent bei Harun Farocki und Hartmut Bitomsky.
1995 drehte Christian Petzolds seinen Abschlussfilm an der Filmakademie:
„Pilotinnen“. Danach entstanden „Cuba Libre“ (für den Film wurde er 1996 mit
dem Förderpreis des Max Ophüls Festivals ausgezeichnet) und „Die
Beischlafdiebin“ (1998). Mit „Die Innere Sicherheit“ gewann er 2001 den
Deutschen Filmpreis (Bester Spielfilm) sowie im gleichen Jahr den Preis der
internationalen Filmkritik beim Filmfestival von Cannes). Auch seine folgenden
Filme „Toter Mann“ (2002), „Wolfsburg“ (2003) und „Gespenster“ (2005) wurden
vielfach mit Preisen ausgezeichnet.
Abschied von gestern (Anita G)
Regie: Alexander Kluge, s/w, 88 Min., 1966
Anita G., eine Jüdin, kommt "von drüben". Mit dem Koffer in
der Hand trifft sie auf Fremde, die sie ein unbekanntes Land
entdecken lassen : die Bundesrepublik im Jahre 1966. Aus
der DDR stammend, verkörpert Anita eine unbewältigte
Vergangenheit und verfügt daher nicht über die
Voraussetzungen, die ihr eine erfolgreiche Eingliederung in
die bundesdeutsche Gesellschaft ermöglichen würden. Sie
kann nichts dafür, wenn sie hier und da aneckt. All die
Stolpersteine auf ihrem Weg werden uns durch Szenen von
fast dokumentarischem Wert gezeigt, welche mit höchstem
Gespür die grotesken Augenblicke des Alltags wiedergeben.
Anita G., 1937 von jüdischen Eltern geboren, steht in Braunschweig vor dem
Richter, weil sie ihrer Arbeitskollegin eine Strickjacke gestohlen hat. Sie gibt
leichthin die Tat zu und erhält ihre Strafe auf Bewährung. Frau Treiber, die
Bewährungshelferin, will Anita in das bürgerliche Leben einweisen. Sie ist sehr
fromm und betet gemeinsam mit Anita. Sie bringt Anita in einen besinnlichen
Haushalt, mit dem die junge Frau aber nichts anzufangen weiß.
Anita muß Geld verdienen. Sie bemüht sich, Sprachkurse in Form von Schallplatten
an den Mann zu bringen, hat aber trotz ihres Einsatzes keinen Erfolg. Sie kauft
einen Pelz auf Rechnung des Chefs, und als die Frau des Chefs hinter ein
Techtelmechtel zwischen ihrem Mann und Anita kommt, versichert ihr Mann:
"Damit du mir glaubst, werde ich sie anzeigen."
So verläßt Anita eilig ihren Arbeitsplatz. Sie gerät an die Universität, wo sie sich
bilden möchte. Doch die Vorlesungen sind entweder furchterregend oder
langweilig, und die Professoren reden kompliziert über Dinge, die für Anita sehr
fremd sind. In einem Gespräch mit einem Politologen merkt sie schließlich, daß
auch die Universität nicht der richtige Platz für sie ist.
Sie lernt den Ministerialrat Pichota kennen, dessen Geliebte sie wird. Als Anita
feststellt, daß sie schwanger ist, spürt Pichota, daß etwas zwischen beide getreten
ist und daß überhaupt dieses feste Verhältnis auf Dauer für einen höheren
Beamten problematisch ist. So trennen sie sich - beide haben sich nichts
vorzuwerfen. Anita wandert eine Zeitlang am Rhein entlang flußaufwärts, bis sie
sich endlich der Polizei stellt.
Anita ist ein Opfer ihrer Zeit: was sie tut, ist bestimmt von ihrer Erziehung. Sie ist
doppelt fremd, als Jüdin und DDR-Flüchtige, sie sucht sich zu integrieren, arbeitet
als Schallplattenverkäuferin oder Stubenmädchen und sucht bürgerliche
Geborgenheit. Und immer wieder stellt sich ihr nicht so sehr die böse Gesellschaft,
sondern ihr eigenes Ich in den Weg.
Kluge macht es sich nicht leicht mit der Gesellschaftskritik, Anita ist keine reine
Törin. Die Konflikte stecken in den Menschen. Anita schwindelt, sie kauft sich
einen Pelzmantel, klaut im Hotel und läßt sich ein Kind machen. Eine der Stärken
des Films liegt darin, daß trotz all dieser Mißgeschicke die Protagonistin weder
wehleidig noch tolpatschig erscheint. So, wie sie handelt, wird sie auch in Zukunft
handeln müssen.
Die Qualitäten des Films beschränken sich nicht allein auf das Glaubhaftmachen
von Anitas Schicksal. Kluge hat viele Filme gesehen und diese Einflüsse
verarbeitet; vor allem Jean-Luc Godard, der als erster die Auflösung der festen
filmischen Form, mit Einschüben von Zitaten, Inserts und Kapitelüberschriften und
mit dichotomischem Ton durchläufig angewandt hat. Dieses Stilprinzip ist weit
davon entfernt, l'art pour l'art zu sein: Kluge selbst hat in einem Interview darauf
hingewiesen, daß damit Assoziationen beim Zuschauer ausgelöst werden sollen. Er
nähert sich damit dem "epischen Theater" Brechts, das dem Zuschauer ständig
bewußt macht, daß er einem Spiel beiwohnt, welches ihn nicht in Erregung
versetzt, sondern zu einer wissenschaftlich-kritischen Betrachtung des Gezeigten
anhalten will. Deshalb hebt Kluge gelegentlich die Kinorealität auf, deshalb fügt er
mitunter dokumentarische Szenen ein und läßt das Technische durchschimmern
(wenn auf Fragen des Hotel-Geschäftsführers über seine Kriegserlebnisse die FilmEquipe antwortet oder Alexandra Kluge gelegentlich fragend zum Regisseur
blickt). Das erleichtert nicht das Verständnis des Films, und man möchte
prophylaktisch wünschen, sich den Film zweimal anzusehen. Nicht mehr an unser
Gefühl wird appelliert, sondern an unseren Verstand. Kluge kommt freilich auch
nicht ganz ohne herkömmliche Mittel aus. Seine Tangomusik, die für ihn offenbar
sentimentale Werte hat, evoziert im Zuschauer Stimmung und keine Reflexion.
Kluge bannt mit fast fotografischer Genauigkeit bestimmte Milieuebenen in seine
Sätze, manchmal so überscharf wie bei einer Blitzaufnahme gesehen. Die Sätze des
Richters zu Anfang des Films, der wissenschaftliche Jargon des Politologen, die
Floskeln der Bewährungshelferin sind schmerzend realistisch, so wie diese
Figuren schon physiognomisch genau getroffen sind. Kluges
halbdokumentarischer Schreibstil bewährt sich im Film. Und seine erlernte
juristische Präzision tut ein übriges. Alexandra Kluge, Schwester des Regisseurs, ist
ein kleines Wunder. Ihre Natürlichkeit spielt gelegentlich dem Bestreben ihres
Bruders einen Streich, durch Reflexion anstatt durch Mitgefühl zur Einsicht
vorzustoßen.
Kebab Connection
Regie: Anno Saul, 96 Min., Farbe, 2005
Fäuste fliegen, Schwerter und Flaschen klirren, Knochen krachen und Blut fließt dabei hat Ibo Secmez nur einen Werbespot für die Kneipe seines Onkels Ahmet im
Hamburger Schanzenviertel gedreht und seine Leidenschaft für Kung-Fu-Filme
vollauf eingebracht. Als Ahmets erster Zorn über das blutrünstige Opus dem Stolz
auf das junge Genie weicht, weil die Zuschauer aus dem Kino in Scharen und auf
direktem Weg zum "King of Kebab" eilen, sieht sich Ibo mit neuen, noch ernsteren
Problemen konfrontiert. Seine Freundin Titzi eröffnet ihm, das sie schwanger sei.
Ibo kommt damit nicht zurecht - jedenfalls nicht sofort und nicht ohne Umwege.
KEBAB CONNECTION erzählt vor allem von diesen Umwegen.
Ibos Vater Mehmet gerät über die Nachricht von der Schwangerschaft in rasende
Wut. Mit einer Deutschen einschlafen sei ja in Ordnung, man könne auch mit einer
Deutschen aufwachen, aber ein Kind dürfe man ihr, einer "Ungläubigen", nicht
machen. Mehmet wirft seinen Sohn aus der Wohnung, Ibo kommt bei Lefty unter,
dem Sohn eines griechischen Wirts; auch Lefty lebt, seit er Vegetarier wurde und
eine "arabische" Falafel-Bude eröffnet hat, im Streit mit seinem Vater. Titzis
Mutter, von ihrem Mann verlassen, reagiert ebenfalls skeptisch: "Hast du schon
mal einen Türken einen Kinderwagen schieben sehen?" Dass Titzi ihren Freund
genau dazu zu überlisten versucht, schafft nur neue Komplikationen.
Wenigstens bringt Ibos Mutter seinen Vater zur Vernunft. Während sich Titzi und
ihre Freundin für die Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule vorbereiten,
dreht Ibo, der weniger von einem Kind als vom ersten deutschen Kung-FuSpielfilm träumt, für den Onkel einen neuen, aber erfolglosen Spot, übt das
Wechseln von Windeln und besucht einen Kurs für werdende Mütter. Obwohl ihn
Stella, die Tochter des griechischen Wirts zu verführen versucht und mit Ouzo
abfüllt, ist Ibo, gemeinsam mit Mehmet, zugegen, als Titzi ein Mädchen zur Welt
bringt. Das große Kung-Fu-Projekt muß noch ein bißchen warten, denn Ibo nimmt
sein "Babyjahr".
Wenn das deutsche Kino früher vom Zusammenprall unterschiedlicher Kulturen,
namentlich von Konflikten zwischen Türken und Deutschen, erzählte, so
tendierten die Filme, zum Beispiel SHIRINS HOCHZEIT von Helma Sanders, 40 qm
DEUTSCHLAND von Tevfik Baser oder YASEMIN von Hark Bohm stets zum
Melodram, wenn nicht zur puren Tragödie. In den neunziger Jahren hat sich das mit einer neuen Generation von Autoren und Regisseuren, aber auch mit neuen
Erfahrungen, radikal geändert. Die Arbeiten von Fatih Akin, angefangen mit KURZ
UND SCHMERZLOS, liefern dafür die deutlichsten Belege. Für Akin, der die erste
Drehbuchfassung von KEBAB CONNECTION verfaßt hatte, hat sich die Situation
radikal entspannt. Auf den Hinweis, dass nun ein Deutscher diese "MultikultiKomödie" inszeniert habe und auf die Frage, ob nun der Begriff "Immigrantenfilm"
seine Relevanz verliere, antwortete er souverän: "Wenn es so wäre, dann sind wir
endlich da, wo ich immer hinwollte. Dass es ein bisschen egal ist, wo man
herkommt."
Eine Produktionsfirma wie die "WÜSTE Filmproduktion", konnte sich mit ihren
Filmen erfolgreich auf "Multikulti"-Themen konzentrieren. Zu dieser neuen Sicht
haben viele Entwicklungen beigetragen - nicht nur die Integrations-Politik der
ehemaligen Rot-Grünen Regierung. Komödien aus dem Ausland, wie BEND IT LIKE
BECKHAM, EAST IS EAST und MY BIG FAT GREEK WEDDING haben den Weg so
erfolgreich bereitet, dass der Zusammenprall der Kulturen selbst in den ComedyShows der privaten deutschen Fernsehstationen gewinnbringend vermarktet wird.
Die Lage hat sich entkrampft - auch wenn von der Politik inzwischen neuer Krampf
droht.
"KEBAB CONNECTION ist eine klassische Culture-Clash-Komödie", sagt Regisseur
und Co-Autor Anno Saul, "die von der zweiten Generation der Einwanderer erzählt,
den Teilassimilierten. Sie fühlen sich hier in gewisser Weise heimatlos. Und
entwickeln so etwas wie eine neue Kultur." KEBAB CONNECTION erzählt von
instabilen Charakteren und ihrem Wankelmut auf dem Weg zum Richtigen; dem
erliegt mitunter auch Anno Saul, der auch vor den Mitteln der derberen Klamotte
nicht zurückschreckt, um sich die Lacher des Publikums einzuholen. Onkel Ahmet
nennt den griechischen Konkurrenten Kirianis "Clitoris", Titzis Freundin Nadine
bedient das Klischee einer törichten Blondine, beim Wechseln von Babywindeln
spritzt dem armen Ibo buchstäblich die Kinderscheiße ins Gesicht. Auch sein
Besuch eines Kurses für werdende Mütter sorgt für eine eher dünne Lachnummer.
Selbst über den Wert des Zitats aus Sergej Eisensteins PANZERKREUZER
POTEMKIN (ein Kinderwagen mit einem Baby rollt eine Treppe hinunter) ließe
sich streiten. Wie viele deutsche Komödien unterliegt auch diese manchmal dem
profunden Mißverständnis, dass die bloße Übertreibung per se schon komisch sei.
Im Presseheft zum Film findet sich der zwiespältige Hinweis: "Für das
Gagpolishing zeichnet Jan Berger verantwortlich."
Dennoch ist KEBAB CONNECTION ein bemerkenswerter Film, nicht nur als
aufschlußreiches Dokument eines veränderten Klimas. Eine ganze Reihe kleinerer
Katastrophen erzählt von der potentiellen Gefährdung der Figuren, die nur aus
einem Grund unbeschadet davonkommen: Sie sind Protagonisten einer Komödie,
da dürfen sie unverwundbar bleiben. Und mitunter gelingen Anno Saul
überraschend berührende Momente. "Baba", fragt Ibo, dessen Kind gerade auf die
Welt kommt, "was macht einen guten Vater aus?" Der alte Mann antwortet: "Frag
dein Kind, nicht deinen Vater!"