Teuflische Kristalle

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Teuflische Kristalle
22 WISSEN & BILDUNG
Frankfurter Rundschau Samstag/Sonntag, 12./13. Januar 2013 69. Jahrgang Nr. 10 D/SB/R1/R2/R3/R4/R5/S
Dendriten Nervenfortsätze, die Impulse
von anderen Nervenzellen aufnehmen
SO WIRKT CANNABIS (THC)
SO WIRKT KOKAIN
SO WIRKT HEROIN
1 Die Substanz Tetrahydrocannabinol (THC)
bindet an den CB1-Rezeptor
des GABA-Neurons. Die GABAAusschüttung wird
vermindert.
CB1-Rezeptor
1 Kokain hemmt die Transporter, die Dopamin
in die Nervenzelle
Transporter zur Wiederaufnahme
wieder aufnehmen,
von Dopamin
so bleibt mehr Dopamin
Nervenim synaptischen Spalt.
impuls
1 Heroin bindet sich an den μ-Rezeptor.
Dadurch wird die Ausschüttung
des Botenstoffes GABA gehemmt.
Dopamin-Nervenzelle
THC
2 Das Dopamin-Neuron
1
wird dadurch enthemmt
und kann verstärkt Dopamin
ausschütten.
Die Folgen: GABA-Nervenzelle
Beruhigung, Euphorie,
Vesikel
Zellkörper
mit Zellkern
gesteigerte Gefühlsintensität,
intensivierte
Geschmackswahrnehmung
2
GABA
Dopamin
WISSEN & BILDUNG 23
Samstag/Sonntag, 12./13. Januar 2013 69. Jahrgang Nr. 10 D/SB/R1/R2/R3/R4/R5/S Frankfurter Rundschau
2
2 Die Dopamin-Rezeptoren
werden
Übertragende Nervenzelle
verstärkt
stimuliert.
1
der Blutdruck steigt,
gesteigerter Antrieb,
Euphorie
Dopamin-Rezeptor
SEIT ENDE DES
19. JAHRHUNDERTS
Das aus dem südamerikanischen Kokastrauch isolierte Stimulans Kokain wurde
bereits Ende des 19. Jahrhunderts genutzt, um eine Morphinabhängigkeit zu
behandeln. Darüber hinaus war es als lokales Anästhetikum im Einsatz. Sigmund
Freud verabreichte es seinen depressiven
Patienten. Auch die erste Rezeptur von
Coca-Cola enthielt einen Extrakt aus Kokablättern. Bis zirka 1906 soll ein Liter CocaCola rund 250 Milligramm Kokain enthalten haben. Zum Vergleich: Wer heute Kokain schnupft, nimmt meist 50 bis 100
Milligramm zu sich.
SEIT 1898
Diacetylmorphin, besser bekannt als Heroin, wurde seit 1898 von der Aktiengesellschaft Farbenfabriken Friedrich Bayer hergestellt und in einer groß angelegten Werbekampagne als ein oral einzunehmendes
Schmerz- und Hustenmittel vermarktet.
Auch gegen Bluthochdruck, Lungen- und
Herzerkrankungen sowie zur Geburtseinleitung wurde es eingesetzt. Im Jahr 1904
wurde das Suchtpotenzial von Heroin erkannt. Bayer stellte seine Produktion 1931
ein. Verkauft wurde Heroin hierzulande jedoch noch bis 1958. Offiziell verboten
wurde die Substanz im April 1971. Allerdings nur für knapp vier Jahrzehnte: Da der
medizinische Einsatz von Heroin zur Behandlung Schwerstabhängiger seit 2009 in
Deutschland unter strengen Auflagen wieder erlaubt ist, gibt es seither wieder eine
legale Heroinproduktion.
SEIT 1961
Auch das dem Methamphetamin verwandte Stimulans Fenetyllin war, unter
dem Handelsnamen Captagon, lange als
Arzneimittel erhältlich. Es kam im Jahr
1961 auf den deutschen Markt und wurde zunächst sogar bei Müdigkeit verordnet. Vorrangig kam es allerdings bei der
Behandlung von ADHS, zuweilen auch in
der Depressionstherapie zum Einsatz. Erst
1986 nahm das United Nations Office on
Drugs and Crime Fenetyllin in die Liste der
gefährlichen Drogen auf. Seither gilt es in
vielen Ländern als illegaler Suchtstoff.
SEIT 1983
LSD (Lysergsäurediethylamid) stellte im November 1938 erstmals der Schweizer Chemiker Albert Hofmann her. Eigentlich hatte
er ein Kreislaufstimulans entwickeln wollen. Die erhoffte Wirkung trat jedoch nicht
ein. Fünf Jahre später erst entdeckte Hofmann die psychoaktive Wirkung von LSD.
Unter dem Handelsnamen Delysid stellte
der Schweizer Pharmakonzern Sandoz LSD
bis Mitte der Sechzigerjahre unter anderem
zur psychiatrischen Behandlung her. Dem
Beipackzettel nach sollte Delysid die seelische Entspannung fördern, indem es verdrängtes Material freisetzt. Auch dem Analytiker selbst wurde empfohlen, Delysid
einnehmen, um so das Wesen der Psychosen besser zu verstehen. Erst in den Siebzigerjahren wurde LSD als nicht verkehrsfähiger Stoff eingestuft, sodass die Erforschung
und therapeutische Nutzung der Substanz
seither verboten sind.
Dopamin-Nervenzelle
1
2
3
2
3 Kokain hemmt auch
die WiederTransporter zur Wiederaufaufnahme
Kokain
von Noradrenalin. nahme von Noradrenalin
Die Folgen:
Synaptischer Spalt
Die Verwendung von Cannabis als Arzneimittel hat eine uralte Tradition. Schon
2737 vor Christus soll der chinesische Kaiser Shen Nung das Harz der Hanfpflanze
als Heilmittel unter anderem bei Verstopfung, Rheuma und Malaria empfohlen
haben. Erst in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts verschwanden Cannabispräparate vom Markt – aufgrund
rechtlicher Einschränkungen, aber auch,
weil es nun wirksamere Medikamente
gab. Die Renaissance der Cannabispflanze
begann mit der Isolierung ihres wichtigsten Wirkstoffes, dem Tetrahydrocannabinol (THC) im Jahr 1964. Derzeit darf die
Pflanze in vielen Ländern der Welt wieder
arzneilich genutzt werden. In Deutschland können die Ärzte cannabishaltige
Medikamente seit Mai 2011 zur Schmerzlinderung verschreiben, etwa bei Krebs
und Multipler Sklerose.
μ-Rezeptor
Heroin
Vesikel
SEIT 2737
VOR CHRISTUS
Dopamin
2
2
verstärkter
Nervenimpuls
Empfangende Nervenzelle
GABA-Nervenzelle
2
2 Das Dopamin-Neuron kann
dadurch verstärkt Dopamin
Vesikel
ausschütten.
Die Folgen:
2
GABA
Euphorie wird
ausgelöst
Dopamin
isolierende Myelinschicht
Mikrotubulus Röhre, die Vesikel
Übertragende Nervenzelle
mit Botenstoffen transportiert
SO WIRKT CRYSTAL (METHAMPHETAMIN)
Nervenimpuls
Axon lange Nervenfaser,
Methamphetamin stimuliert die
Ausschüttung von Dopamin
in den Synaptischen Spalt.
Das System der Nervenzellen, das
auf Dopamin reagiert, wird stimuliert.
Die Folgen:
1
die Impulse weiterleitet
Nervenfasern leiten elektrische Reize
blitzschnell weiter – von den Dendriten über
das Axon zum Synaptischen Spalt
Teuflische Kristalle
gesteigerter Antrieb,
Euphorie,
Glücksgefühl
Vesikel
Bläschen mit Botenstoffen
Designerdrogen werden immer beliebter. Die neuen Substanzen dürfen oft ganz legal verkauft werden,
sind deswegen aber nicht minder gefährlich
Von Anke Brodmerkel (Text) und Rita Böttcher (Grafik)
E
s macht wach, es macht stark, es
macht glücklich – und führt den,
der es nicht nur einmal probiert,
meist auf direktem Weg in die Hölle. Die Rede ist von Crystal oder, wie Chemiker sagen, N-Methylamphetamin, kurz
Methamphetamin. Das unscheinbare weiße Pulver gilt derzeit als eine der unheilvollsten Drogen überhaupt, gefährlicher als
Kokain und Heroin. Denn es macht nicht
nur extrem schnell abhängig, sondern zerstört auch innerhalb kürzester Zeit Psyche
und Körper.
Und dennoch ist Crystal weltweit auf
dem Vormarsch. Einem aktuellen Bericht
der Europäischen Beobachtungsstelle für
Drogen und Drogensucht (EBDD) nach wurden im Jahr 2010 allein in der EU rund 600
Kilogramm Methamphetamin beschlagnahmt. Fünf Jahre zuvor waren es noch 100
Kilogramm gewesen. Auch ist die Droge
nicht länger nur ein osteuropäisches Problem. War Crystal früher vor allem in Tschechien und der Slowakei verbreitet, taucht
das Pulver aus den dortigen Drogenküchen
nun immer häufiger auch in den angrenzenden Bundesländern Thüringen und Sachsen
auf. „Von den im Jahr 2011 in Deutschland
sichergestellten 18 Kilogramm Crystal fielen
13,5 Kilogramm in das Gebiet des Dresdener
Zollfahndungsamtes, das für Thüringen und
Sachsen zuständig ist“, sagt Norbert Drude,
der Präsident des deutschen Zollkriminalamtes. Auch Bayern sei vermehrt vom Drogenschmuggel betroffen.
Nicht nur Drude befürchtet zudem,
dass sich der Markt weiter öffnen wird.
Tschechien verfolgt nämlich eine recht liberale Drogenpolitik und geht gegen Dealer nicht konsequent vor. Hinzu kommt,
dass Crystal äußerst billig herzustellen ist.
Ausgangsstoff sind die Substanzen Ephedrin oder Pseudoephedrin, die beide in gängigen rezeptfreien Erkältungsmitteln enthalten sind. Um aus ihnen Methamphetamin herzustellen, braucht es nur ein paar
Chemikalien, die sich ebenfalls in jeder
Apotheke kaufen lassen. Und so kommt es,
dass Crystal auf dem Schwarzmarkt derzeit
leichter erhältlich ist als jede andere harte
Droge. Rund 30 Euro kostet ein Gramm in
Tschechien; in Deutschland erhalten Dealer locker 100 Euro dafür. Für den erhofften
Kick braucht es meist nur ein bisschen mehr
als zehn Milligramm. In den USA gilt Crystal daher schon seit Längerem als die Droge
der Armen.
Die weißen Kristalle werden geschnupft,
geraucht oder, in Wasser aufgelöst, injiziert. Die Wirkung tritt meist nach wenigen
Minuten ein. „Anfangs hab ich überhaupt
nichts gespürt, doch dann schossen die
Glücksgefühle einfach nur durch meinen
Körper. Ich war nicht mehr ich selbst. Ich
war total glücklich und hätte die ganze
Welt umarmen können“, beschreibt ein 17jähriges Mädchen auf der Internetseite
Drug Scouts seine ersten Erfahrungen mit
Crystal. Auch andere Konsumenten berichten davon, dass die Droge – zumindest in
der ersten Zeit – euphorisch macht, selbstbewusst und jegliches Bedürfnis nach
Schlaf, Essen und Trinken über Stunden,
manchmal Tage hinweg schwinden lässt.
Wie sie das macht, haben Wissenschaftler inzwischen ziemlich präzise durchschaut. „Methamphetamin bewirkt, dass
Nervenzellen des Gehirns große Mengen
Dopamin und Noradrenalin ausschütten“,
erläutert Andreas Ludwig, Direktor des Instituts für Experimentelle und Klinische
Pharmakologie und Toxikologie der Universität Erlangen-Nürnberg. „Darüber hinaus hemmt die Droge ähnlich wie Kokain
die Rückaufnahme dieser Neurotransmitter in die Nervenzellen, sodass sie länger
wirken können.“ Von beiden Botenstoffen
ist bekannt, dass sie antriebssteigernd sind.
Dopamin gilt darüber hinaus im Volksmund auch als Glückshormon.
„Da Methamphetamin fettlöslicher ist als
beispielsweise das als Medikament gegen
ADHS zugelassene Amphetamin, gelangt es
auch leichter als dieses ins Gehirn“, sagt Lud-
wig. Wegen seiner massiven Effekte, die es
dort erzielt, sind Konsumenten oft schon
nach dem zweiten oder dritten Rausch süchtig nach dem neuen Kick. Die Rückfallquote
Abhängiger liegt bei mehr als 90 Prozent.
Auch wenn Crystal im Gegensatz zu Heroin und Kokain zu den Designerdrogen
zählt: Eigentlich ist die Substanz eine uralte Bekannte. Erstmals im Jahr 1893 in Japan synthetisiert, brachten die Berliner
Temmler-Werke sie 1938 unter dem Namen
Pervitin in Form von Tabletten auf den
Markt. Deutsche Soldaten schluckten millionenfach die „Panzerschokolade“, um an
der Front länger durchzuhalten. Auch
Heinrich Böll soll seine Familie in Briefen
immer wieder um Nachschub gebeten haben. Erst 1988 wurde das süchtig machende Medikament vom Markt genommen.
Insekten unter der Haut
Verglichen mit dem Stoff von heute waren
die Pillen von damals allerdings geradezu
lächerlich niedrig dosiert: Eine Tablette
enthielt gerade einmal drei Milligramm
Wirkstoff. Wer heute Crystal schnupft,
nimmt dabei leicht die zehnfache Menge
auf. Mit fatalen Folgen: Zu hoch dosiert
lässt Methamphetamin massenweise Hirnzellen sterben. Es kommt zu Realitätsverlusten und Wahnvorstellungen. „CrystalKonsumenten haben oft den Eindruck, als
säßen unter ihrer Haut Insekten, weswegen
sie massiv zu kratzen anfangen und ihre
Haut dann mit Ekzemen übersät ist“, berichtet der Pharmakologe Ludwig. Da die
Droge auch zu starker Mundtrockenheit
führt, haben Dauerkonsumenten darüber
hinaus meist massive Probleme mit Karies.
So gilt Methamphetamin zwar als eine
der zerstörerischsten Drogen, die derzeit
auf dem Markt sind. Die Substanz ist aber
bei Weitem nicht das einzige DesignerRauschgift, das Experten Sorgen bereitet:
Wurden im Jahr 2010 der EBDD noch 24
neue Substanzen gemeldet, waren es 2011
bereits 49. In der noch nicht
vorliegenden Bilanz für 2012
wird die Zahl noch einmal
kräftig ansteigen. Synthetische
Opioide haben beispielsweise
Heroin, die noch immer tödlichste Droge, mancherorts vom
Markt verdrängt. Für viele Abhängige ist Fentanyl zur neuen
Hauptdroge geworden. Die Substanz, die extrem schwer dosierbar und daher deutlich gefährlicher als Heroin ist, kommt unter
anderem in Schmerzpflastern
vor, die schwer Krebskranken verabreicht werden. Auf der Suche
nach Stoff durchwühlen manche
Süchtige den Krankenhausmüll,
um benutzte Pflaster auszukochen und sich die so erhaltene Lösung zu spritzen. Andere lutschen
Pflaster, die oft noch deutliche Restmengen des Wirkstoffs enthalten, einfach aus – ein Experiment, das auch
hierzulande schon tödlich endete. Auch
künstliche Cannabinoide und Cathinone,
als Räuchermischungen, Pflanzennahrung
oder Badesalz getarnt, nehmen dem EBDDBericht zufolge an Beliebtheit zu.
Das Problem bei allen neuen Abkömmlingen bekannter Rauschmittel ist, dass sie
zwar meist ähnlich wirken wie die Stammsubstanz, aber noch nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fallen. Wird ein Wirkstoff verboten, ändern die Hersteller die
chemische Zusammensetzung geringfügig
und umgehen so die Kontrollen. Die EBDD
hat 2012 schon rund 700 Internetshops ermittelt, in denen solche Legal Highs genannten Wirkstoffe verkauft werden.
Legal Highs, das klingt in den Ohren vieler Menschen harmlos. Doch der Pharmakologe Andreas Ludwig warnt: „Gerade bei
diesen im Internet verkauften Stoffen weiß
der Konsument meist nicht, was genau
drinsteckt.“ Es ist ein Glücksspiel – mit
manchmal tödlichem Ausgang.
Botenstoff Dopamin
Methamphetamin
Dopamin
Dopaminrezeptoren
1
Synaptischer Spalt
verstärkter Nervenimpuls
Empfangende Nervenzelle