Zorn - Thomas Schnura

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Zorn - Thomas Schnura
Thomas Schnura
Zorn
Der Bericht an die Kommission
Roman
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Zorn
Der Bericht an die Kommission
Thomas Schnura
Copyright © 2007 by Thomas Schnura
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Prolog
A
ls uns Antonio Sandmann von den hier beschriebenen Ereignissen berichtete, lagen sie
sieben Jahre zurück. Er war über seine Lebenszeit hinaus gealtert. Das war nicht so
sehr an seinem Aussehen festzumachen. Demnach wirkte er jünger, als es seinem biologischen Alter entsprach. Es war vielmehr der Eindruck, den er hinterließ: als habe man mit
einem Greis gesprochen. Er wirkte seelisch alt und sprach leise und so, als sei er heiser. Er
wirkte wie hermetisch in sich selbst verschlossen. Wir wissen allerdings nicht, ob dieser Eindruck nicht nur durch das Thema seines Berichtes erzeugt wurde. Solche Erscheinungen
beobachten wir bei der Thematik unserer Interviews regelmäßig.
Sein Bericht endet zwar in einer Phase seines Lebens, die nach hoffnungsvollem Aufbruch
aussah, und es machte den Eindruck, als hätte er gerne an diesem zuletzt beschriebenen
Morgen im Mai in Venedig auch sein Leben zu Ende gehen oder mindestens zum Stillstand
kommen lassen. Aber als wir ihn knapp drei Jahre nach unserer ersten Gesprächsserie und
damit nach dem Ende der hier berichteten Zeit wieder trafen, sagte er uns, die Dinge hätten
noch einmal eine unerwartete Wendung genommen. Nichts sei zu Ende gegangen, aber das
sei eine ganz andere Geschichte.
Antonio Sandmann hätte sich, so sagte er uns, niemals bereit erklärt, die Ereignisse des Mai
in Venedig selbst niederzuschreiben. Widerstrebend erteilte er uns die Erlaubnis. Als er uns
von ihnen erzählte, hatte er schon viele unterschiedliche Aspekte der Ereignisse erfahren
und zu einem Gesamtbild zusammengefügt. Das Manuskript hatte er allerdings auch nicht
mehr lesen wollen, insofern war er konsequent. Auf unsere Frage, woher er vom weiteren
Schicksal Gregor Steiners wusste, sagte er: „Das war in gewissermaßen ein Geschenk meines
hartherzigen, rachsüchtigen und über die Maßen anachronistischen, reichen Onkels. Er
hatte seine Leute dafür, so etwas herauszukriegen. Wie er für alles seine Leute hatte. Er
dachte, er täte mir einen Gefallen damit. Mich hatte es eigentlich nicht interessiert.“
Die Erforschung der Traumatisierung durch Unfälle mit Todesfolge macht einen kleinen
Teil der Aufgaben unseres Institutes für Psychosoziale Forschung aus. Wir beschäftigen uns
mit Menschen, die durch Unfälle oder andere katastrophale Ereignisse, Zug- oder Flugzeugunfall, Brand oder Erdbeben, Angehörige verloren haben und verfolgen die psychischen,
psychosomatischen und körperlichen Langzeitwirkungen solcher Lebenskrisen. Im Rahmen
einer größeren 10-Jahres-Studie im Landesauftrag hat unsere Abteilung ein besonderes
Augenmerk auf so genannte verwaiste Eltern gerichtet, eine aus offensichtlichen Gründen
besonders traumatisierte Klientengruppe. Der Auslöser für die Freigabe des Geldes für
diesen Auftrag war ein Eisenbahnunfall, der wegen der hohen Zahl an Todesopfern bei den
Ersthelfern langfristige psychische Belastungsstörungen hinterlassen hatte, die in einer
nennenswerten Zahl von Einzelfällen zu Arbeitsunfähigkeit geführt haben. Zu den Aufgaben dieser Studie gehört auch die Beobachtung von Langzeitfolgen in verschiedenen
psychosozialen Aspekten wie körperliche und psychische Gesundheit, Berufstätigkeit,
soziale Prognose und Entwicklung, familiäre Langzeitwirkungen.
Bei aller Bemühung um Objektivität und wissenschaftliche Distanz sind diese doch nicht
immer zu wahren. Auch Kriminalpolizisten und -kommissare vom Morddezernat werden
bisweilen von der Heftigkeit der Ereignisse erschüttert. Wir können es eigentlich nur den
intensiven Beschreibungen unseres Klienten entnehmen, warum sein Fall eine so nachhaltige Wirkung auf die ganze Familie gehabt hatte. Wir wissen schon aus langjährigen Beobachtungen, dass der Tod eines Kindes immer auch die Ehe der Eltern in eine Krise stürzt,
unabhängig von der Qualität der ehelichen Beziehung und bedingt durch unterschiedliche
Mechanismen der Krisenverarbeitung. Viele Ehen zerbrechen daran. In diesem Falle
allerdings hatten die Ereignisse ja nahezu eine ganze Familie verwüstet. Wir sind uns nicht
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sicher, welche intrafamiliären Beziehungen dies bewirkt haben, da eine präzise Analyse der
psychosozialen Strukturen nicht zu unseren Aufgaben gehört hatte. Als allerdings das involvierte Forschungsteam bei der Besprechung und der Sichtung des Materials vorschlug, es
sei nicht anders als mit einer extrem intensiven und damit pathologischen Bindung zu erklären, legten wir unser Votum separatum ein gegen diese Erklärung. Es gab keine signifikanten Hinweise darauf, dass die Beziehungen innerhalb des Systems einen pathologischen
Bindungsgrad aufgewiesen hätten. Das ist auch der Grund für unsere Niederschrift.
Eigentlich gehört es nicht zu unseren Aufgaben, chronologische oder auch nur nichtchronologische Niederschriften zu liefern. Da wir allerdings sehr viel Zeit mit der Thematik
verbracht haben und uns das Schicksal des Klienten nicht ganz gleichgültig bleiben konnte,
haben wir uns zu diesem sicherlich ungewöhnlichen Schritt entschlossen.
Antonio Sandmann drückte uns zur Eröffnung unseres ersten, als Interview begonnenen
Gespräches einen von Hand beschriebenen DinA5-Zettel in die Hand, der hier gleich im
Anschluss wiedergegeben ist. Es ist das einzige Dokument, das wir von ihm persönlich besitzen. Damals begannen wir recht früh zu ahnen, dass die Ereignisse, die sein Leben verrückt und aus der Bahn geworfen hatten, das Maß des bisher schon erlebten und in unseren
Interviews erfahrenen in den Schatten stellte. Die Anzahl der Todesopfer kann auch von
uns nicht mit absoluter Sicherheit festgestellt werden. Die Beschreibung der Ereignisse wird
klarstellen, warum das so ist.
Gez.: Dr. Till-Adrian Burk, Dipl.-Psych.
Dr. med. Sina-Tabea Blumberg
IPF – Institut für Psychosoziale Forschung
Abt. III, Evaluation von Unfallfolgen – Interviews
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Der einzige Zettel
D
as Herz stirbt einen langsamen und qualvollen Tod. Schicht um Schicht lösen sich
seine Ideale und Träume, seine Hoffnungen und sein Glaube von ihm ab und lassen
es schutzlos zurück, und es wird kalt und hart wie Stein mit den Jahren. Es verdorrt wie ein
uralter Baum am Rande der Wüste, und die Wüste wächst. Am Ende sind die Gespräche nur
noch Informationen, Berührungen sind nur noch Anfassen, Begegnungen finden nicht mehr
statt.
Wir schauen vereinsamt zurück und stellen voll Entsetzen fest, dass es alles wahr ist. Der
Verlust hat uns schon so wund gemacht wie blutig geschossene Vögel, dass wir kaum mehr
zu atmen vermögen und gar nicht mehr spüren, dass unser noch lebendiges Herz schon
längst fast zum Stillstand gekommen ist, so taub sind wir geworden und stumpf mit der
Zeit. Sterbensalt und müde treiben wir dahin und warten, dass es Abend werde und die
Nacht endlich kommt.
Jetzt kommt, zur Unzeit, ein dunkles Äquinoktium. Ein Abend hat alle Träume verwüstet.
Kein Schlaf fällt mehr ein. Nichts ist entschieden. Der bleiche Mond schimmert wie ein
kahler Schädel. Die Blätter welken und fallen ab. Die Feuer erlöschen. Die müde Taube
flattert zur Erde. Dunkelheit breitet sich aus. Alles verweht. Das purpurne Blut stockt in den
verengten Adern, Frost umklammert das schwer arbeitende Herz; die Seele schwindet;
sogar die Füße werden unzuverlässig. Worte versagen. Unser Führer gibt nun zu, dass wir
den Weg verloren haben. Auf kahlem Felsgrat sind wir allein. Festes wird transparent. Dinge
gleiten davon, es wird sehr einsam. Farben verblassen. Es ist eine graue Zeit, und ich
fürchte, dass sie eines Tages noch grauer wird. Bewohner des Hauses, Gedanken eines unfruchtbaren Hirns in einer unfruchtbaren Jahreszeit.
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I Das Ende
Anfang Mai, Venedig
Am Arsenal
A
ntonio Sandmann zog sich langsam und wie angeschossen in den Schatten zurück. Den
linken Arm hielt er an den Leib gepresst und versuchte, ihn nicht zu bewegen.
„Verdammt“, dachte er, und noch einmal, sozusagen lauter: „verdammt! Immer meine linke
Schulter. Immer tut mir meine linke Schulter weh. Was soll denn das.“ Er wusste es natürlich. Die Sekunden verstrichen. Mit dem Handballen der rechten Hand drückte er die
schmerzende Stelle etwas unter dem Schultergelenk. Ruhig und tief durchatmen.
Hämmernde Schmerzen. Er musste husten. Der Schmerz nahm zu. Atmen! Langsam ließ
der Schmerz wieder nach.
Nimm dich zusammen. Sechs Jahre lang hast du dich zusammengerissen, und jetzt machst
du auch nicht mehr schlapp, dachte er. Endspiel in knappem Befehlston. Was für ein
kurioses Kasperletheater! Hat es denn überhaupt noch einen Sinn, diesen Kampf zu Ende
zu führen? Egal jetzt, der Zeitpunkt, umzukehren, ist schon lange überschritten und vorbei.
Noch einmal atmete er tief durch, dann trat er mit entschlossenem Schritt aus dem seidigen
Halbschatten des historischen Schifffahrts-Museums, in den er sich zurückgezogen hatte, als
der Schmerz anfing, zurück in das gleißend grelle Licht des Fondamente di Arsenale. Von
der gegenüber liegenden roten Hauswand flatterte eine Taube durch die Vormittagshitze
davon. Ein Fensterladen knarrte. Es war schon kurz nach zehn Uhr. Er musste sich ein
bisschen beeilen.
Rechts, in der Richtung zum alten Arsenal, führte sein Weg zur Brücke. Es war stiller hier,
im Sestiere Castello, als auf der Touristenachse zwischen Rialto, San Marco und der Riva
degli Schiavoni. Von dem überflüssigen Gedrängel und Geschiebe war hier fast nichts mehr
zu merken. Da waren sogar noch freie Plätze in den kleinen Bars und Cafeterias, die hier
und da geöffnet hatten. Es war ungewöhnlich warm für einen Tag im Mai, und das schon
jetzt um zehn Uhr am Vormittag. Nur wenige Menschen saßen auf dem Campo Arsenale
und tranken Kaffee oder aßen die hier unvermeidlichen Sandwiches.
Am Ende war er hier angelangt, in der schönsten Stadt der Welt, der Serenissima, der Fürstlichen, in der Stadt, für die er vor vielen Jahren seine Italienischkenntnisse aufgefrischt hatte:
Venedig. Melancholisch, morbide, moribund und zugleich voller Licht, Leben und Kinder.
Die Stadt so vieler Dichter, Maler, Architekten und Komponisten, die beinahe unisono den
Verfall und das Leben zugleich gesucht und dargestellt hatten, in deren Zauber und Bann sie
sich wieder fanden. Venedig, die Stadt im Meer. Venedig, veni etiam, auch ich bin hierher
gekommen, die Losung der frühen Venezianer auf der Flucht vor den Hunnen: es wird dir
nichts nützen. Ich bin direkt hinter dir. Ich bin dein Hunne, ich bin dein Attila, ohne dass
du es wusstest, hast du genau das getan, was ich wollte, ich habe dich vor mir her in die
Sümpfe der Lagune getrieben, dein fester Boden ist trügerisch. Hier wollte ich dich herhaben, und hier bist du nun, und ich bin es, der dir dein Ende bereiten wird; und es wird
karg und ranzig sein. Du sollst sehen, wie es ist. Verrecken sollst du. Ich verfluche dich.
Die Flamme des Hasses, kaum aufgelodert verschwand sie auch schon wieder.
Was für ein Jammer, dachte er mit kurzem Bedauern, es hätte wirklich viele bessere Gründe
gegeben, hier zu sein. Über die Holzbrücke hinweg, über den Rio dell’ Arsenale vor der
alten Schiffswerft, dem Arsenal setzte er seinen Weg fort.
Vorbei am Institut für militärische Meeresstudien mit den beiden steinernen griechischen
Löwen und den Bronzefiguren neben dem schattigen Eingang. Der Schmerz in der Schulter
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war schließlich verschwunden. Auch die Atmung ging wieder beinahe von selbst ruhig, so,
wie er sich das in langer Übung angewöhnt hatte. Er betrat das Fondamenta di Fronte, eine
etwa dreißig Meter lange Gasse links neben einem Kanälchen, die an der Kirche San
Martino endete, dem Ziel seines Weges.
Vor ihm ging ein Mann, den er zunächst nicht weiter beachtet hatte, er bog dann links ab.
Aber in dem Moment sah er ihn im Profil und nicht mehr nur von hinten, und er sah, dass
er, völlig ungewöhnlich für die Jahres- und Tageszeit, eine Maske auf dem Gesicht trug. Es
war eine schwarze Ledermaske, eine von denen, die als Casanova-Masken verkauft werden
und der Maske des Pestdoktors ähneln, nur, dass der untere Teil der Maske um den Mund
herum freigelassen ist, mit der schwarzen oberen Gesichtshälfte und dem langen, rabenschnabelartigen unteren Teil über der Nase. Und auch jetzt erst nahm Sandmann bewusst
wahr, dass er einen langen, umhangartigen Mantel trug, der bei jedem Schritt hinter ihm
herwehte und ein leicht rauschendes Geräusch machte, wie der leise Flügelschlag eines sehr
großen Vogels in großer Höhe. Kaum hatte er diese eigenartige Maskerade bewusst wahrgenommen, schon war sie verschwunden. Zurück blieb ein leichtes Staunen und für zwei
oder drei Sekunden der Hall des Schrittes dieses maskierten Fremden.
Links an der Wand kündigte ein halb zerrissenes Plakat eine Tango-Veranstaltung an.
Libertango im Dorsoduro. Was für ein Hohn, dachte er. Womöglich auf den Stufen von
Santa Maria della Salute? Diese Kirche stand im Dorsoduro, dem Markusplatz gegenüber,
und war eines der am häufigsten gewählten Motive der Fotobildbände über Venedig.
Solange es nur nicht vor Il Redentore ist. Um mich herum ist tatsächlich alles in Bewegung;
nur ich stehe still, so kam es ihm vor. Merkwürdige Verzerrung der Zeit: vor seinen Augen,
auf dem Plakat ein tanzendes Paar. So haben wir getanzt, dachte er, und wir haben uns zugleich darauf gefreut, zu unseren Kindern zurückzukehren. Was für ein Abend war das gewesen! Sie kamen heim, er half ihr aus dem langen Mantel, den sie über dem schulterfreien,
weißen Kleid trug, sie gingen auf leisen Zehenspitzen noch einmal in das Schlafzimmer der
Kinder, wo alles ruhig war. Und was sie dann taten... Da war nichts großartig und sollte es
auch nicht sein. Aber jetzt war da gar nichts mehr.
Sandmann blieb einen Augenblick vor dem Plakat gegenüber dem Institut stehen. Seine
Augen suchten die Umgebung nach einem vertrauten Merkmal ab. Zuletzt war er vor ungefähr sieben Jahren und mit den beiden Kindern hier gewesen, er hatte sich seitdem nicht
mehr hergetraut, es war alles mit Erinnerungen überzogen. Und obwohl er sich natürlich an
den Stadtteil Castello, den Weg und auch an das Arsenal und die Brücke erinnern konnte,
war die Erinnerung doch so blass, dass besondere Einzelheiten nicht mehr darin vorkamen.
Auch dass die Brücke über den Rio dell’ Arsenale eine Holzbrücke war, hatte er vergessen.
Er schaute den entgegenkommenden und vorbeigehenden Menschen zu, denen er erstaunlich wenig auffiel. Sonst hätten sie einen Mann von fünfundvierzig Jahren gesehen, eine
stattliche Erscheinung mit einer relativ athletischen Gestalt, aber in die Jahre gekommen.
Seine Haare waren raspelkurz. Er war größer als die meisten Menschen, die ihm begegneten,
etwa einen Meter neunzig, die durch seinen aufrechten Gang und den langen Mantel aus
dunklem, leichtem Tuch noch präsenter wirken konnten, wenn er das wollte. Jetzt war seine
Haltung entspannt, sein Gang leise. Seine Haut war blass, seine Augen wirkten dunkel,
waren aber im Schatten seiner Stirn nicht gut zu sehen, und der Schmerz und die Erschöpfung hatte sie noch tiefer unter das Dach seiner Augenbrauen treten lassen. Augen wie
zwei Gewehrläufe, hatte er einmal vor Jahren gehört und sich sofort angesprochen gefühlt.
Wenn die Verzweiflung, der Schmerz und der Hass, den er nie wieder hatte vergessen
wollen, in ihm wach wurden, dann veränderte sich ihr Ausdruck, und sie wurden, ähnlich
wie seine Stimme, noch finsterer. An den Schläfen und der Stirn befanden sich einige graue
Strähnen in seinem Haar, die ihn allerdings nicht älter erscheinen ließen, als er war.
Etwas Distanziertes umgab ihn, etwas von der seltsamen Aura von Menschen, deren Biografie man zu kennen glaubt und die einem freimütig alles mögliche aus dem eigenen Leben
erzählen, und wenn man hinterher gefragt wird, stellt man fest, dass man eigentlich nichts
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von dem Menschen weiß. Als hätten sie mit etwas Wesentlichem hinterm Berg gehalten, nur
dass es dem Gegenüber anfangs nicht weiter auffiel. So hatte er eine scheinbare Offenheit
zu seiner effektivsten Tarnung gemacht, wäre sogar jederzeit freimütig bereit gewesen, diese
Taktik bekannt zu machen, was allerdings das Gefühl der Distanz nur noch vergrößerte.
Möglich war ihm das, weil ihm seit sechs Jahren, seit dem Tod seiner Familie, Nähe nichts,
aber auch gar nichts mehr bedeutete. Du kannst so viel von mir sehen, wie du willst, schien
diese Haltung zu sagen, du wirst mich doch nicht erkennen, hinter aller Offenheit bin ich
vollständig verborgen, denn du weißt nichts über mich, uns verbindet nichts. Das war nicht
immer so gewesen.
Er hielt sich an diese Strategie der offenbaren Unauffälligkeit eingedenk der Beobachtung,
dass es umso schwieriger für andere wird, ihn mit ihren Entdeckungen über ihn selbst zu
überraschen, je offensichtlicher und ungesicherter er seine scheinbaren Geheimnisse vor
sich her trug. Nun fürchtete er zwar nicht gerade Überraschungen, aber sie sind es doch, die
uns mit Unsicherheiten konfrontieren, da unsere Reaktion, unser Umgang damit nicht vorhersehbar und nicht rational ist. Erwischt, ertappt werden Kinder, erfahrene Kämpfer sehen
Unsicherheiten voraus. Und der Rest, das Geheimnis? In hochkonzentrierter Form liegt es
am Grunde der Seele und ist für Worte unzugänglich. Wer es allerdings wirklich kennt, wer
das Geheimnis teilt, hört dadurch auf, ein Gegner zu sein. Im Angesicht der Entdeckung
stellt er fest, dass er seinem Bruder und damit sich selbst gegenübersteht.
Nun war es ihm im Laufe der Jahre auch gelungen, die Fähigkeit zu entwickeln, mit der er
sich trotz seiner Größe durch Unauffälligkeit beinahe unsichtbar machen konnte. Auf ihn
persönlich machte es den Eindruck, als müsste er nur ganz vorsichtig, langsam, lang und
leise einatmen und dann entspannt den Atem wieder ausströmen lassen, und er würde
wesentlich ärmer an Kontrast gegenüber der Umgebung, als könnte er mit ihr verschmelzen,
indem er sie inhalierte – natürlich nur eine Metapher, aber er hatte keine Erklärung dafür.
Niemand bemerkt mich, so hieß sein Zaubersatz. Er kam sich nur wenig kindisch dabei vor,
hatte aber festgestellt, dass es zumeist wenigstens ansatzweise funktionierte. Und von
japanischen Kriegern hatte er einmal erfahren, die diese Fähigkeit kultiviert hatten für ihre
nächtlichen, schwarzen und geheimen Aufträge und Überfälle. Das war ihm sinnvoll erschienen, und insofern kam ihm diese Schattendisziplin jetzt zu Hilfe.
Seine Stimme war ruhig, sanft und reich an Modulationsmöglichkeiten, was ihm sehr wohl
bewusst war. Doch wenn es darauf ankam, konnte sie von einem Augenblick auf den
anderen in metallische Härte oder eisige Kälte umschlagen oder so schneidend grob werden
wie die eines Ausbilders beim Militär, so dass diejenigen, die ihn noch kannten seit seinem
Rückzug, sich in seiner Nähe vor seiner schneidenden Aggressivität und seinen ätzenden
Kommentaren nie völlig sicher fühlen konnten. Wenn er nicht gefragt wurde, sprach er
nicht über seinen Verlust, wie einer von den Männern, die, aus dem Krieg zurückgekehrt, in
Eis gehüllt für immer schweigen.
Seine Nase war einmal von einem Freund als römische oder auch Indianernase bezeichnet
worden, wegen ihres deutlichen Schwunges nach unten, und in seinem alten, etwas zum
Pathos neigenden Selbstbild hatte ihm das gut gefallen. Seitdem hatte sich aber vieles verändert. Heute erkannte er sich oft im Spiegel nicht mehr, die Worte trafen auf keinerlei
Widerhall und er war ratlos.
Noch wenige Schritte, und er stand vor dem Eingang der Kirche. Hier wollte er einen Boten
treffen. Ihm wurde bewusst, dass es keinen Weg zurück mehr geben würde, wenn er erst die
Schwelle dieser Kirche überschritten hatte. Damit hätte es dann endgültig angefangen,
dachte er. Das Räderwerk wäre dann in Bewegung gesetzt und nicht mehr zu bremsen.
Er öffnete die Kirchentür und trat in die angenehme Kühle dieses einfachen und fast
quadratischen Raumes ein. Für ein paar Augenblicke war er durch die Helligkeit in den
Gassen geblendet, und es dauerte einige Sekunden, bis sich seine Augen an das Halbdunkel
in der Kirche gewöhnt hatten. Allmählich schälte sich das im Schatten liegende Altar-
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triptychon des Giovanni Battista Tiepolo aus dem Dämmerlicht heraus: Der Kreuzweg
Christi auf den Kalvarienberg mit seinen finsteren roten und weißen Farben vor dem
Emblem der römischen Besatzung: SPQR, senatus populusque romanus, der Senat und das
römische Volk, und die in den Himmel ragende Posaune, die bei Trakl sicher die Fanfare
des Wahnsinns gewesen wäre. Hier ist es nur noch die erbärmlich banale Posaune meines
Triumphes, dachte er.
Nachdem sich Sandmanns Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, suchte er mit den
Augen die Sitzreihen der Kirche nach einem Menschen ab und sah ihn schließlich in der
Nähe des Altars ganz am Rande der zweiten Sitzreihe. Die Hände wie zum Gebet verschränkt saß er da und schien auf seine Umgebung nicht zu achten. Nachdem er festgestellt
hatte, dass sie allein waren in der Kirche, näherte er sich der dritten Reihe und setzte sich
schräg hinter den Mann.
„Ich bin da“, sagte er. Die ersten Worte seit urlanger Zeit.
„Ja.“ Raue Stimme.
Sinnloser Dialog, aber damit war klar, dass er erwartet worden war. Natürlich hatte der
Andere sein Kommen bemerkt, sich aber ganz still verhalten. Er nahm sich einen Moment
Zeit, den Anderen von der Seite her zu mustern.
Er zeigte ein auffällig süditalienisches Aussehen, mageren Körperbau, ein ungepflegter,
schwarzer Stoppelbart auf hageren Wangen stand in einem absurden Kontrast zu Haaren,
die in einem Lichtstrahl einen rötlichen Schimmer erkennen ließen, schwarz-weiße Kleidung
wie die eines Kellners, etwas schäbig, Augen wie dunkle Löcher, kaum zu sehen. Die Nase
kurz und aufgeworfen. Insgesamt unangenehm.
„Haben Sie etwas für mich?“ fragte er nach kurzer Zeit.
„Aspetti per favore.” Warten sie bitte. Gut.
Erst jetzt fiel Sandmann die Gebetskette auf, die der Andere zwischen den Fingern seiner
linken Hand bewegte, und er bemerkte, dass sie sich in unablässiger, kleiner Bewegung befand. Für einen Moment war er peinlich berührt, als hätte er einen Menschen bei einer
intimen Verrichtung gestört. Ungewöhnlich für Norditalien im einundzwanzigsten Jahrhundert, dachte er, aber für einen Süditaliener, was weiß denn ich. Was betete man denn
hier? Einen Rosenkranz? Gab es in Süditalien nicht sogar noch die Blutrache, die Vendetta?
Es ist erstaunlich, wie ausgedehnt unser Halbwissen über unsere Mitmenschen ist.
Nach einiger Zeit lehnte sich der Andere zurück und wandte den Kopf halb zu ihm um.
„Wir waren eher verabredet“, sagte er. Er sprach fehlerfreies Deutsch mit einem schweren
italienischen Akzent.
„Ich bin aufgehalten worden“, antwortete Sandmann. Meine Schmerzen gehen dich nichts
an, dachte er noch hinterher, ermahnte sich dann aber: nun werde mal nicht unhöflich! „Tut
mir leid. Ich habe eine Verletzung, die hat mich etwas aufgehalten.“
Fragender Blick.
„Meine Schulter.“ Er deutete unbestimmt auf seinen linken Oberkörper. Dass es auch das
Herz sein konnte, wies er als rein spekulativ zurück, außerdem ging das den Anderen wirklich nichts mehr an. Und letztlich wollte Sandmann davon auch selbst nichts wissen.
Ansonsten hätte er ja einen Arzt und Kollegen aufsuchen können. Überflüssiges Unterfangen. Und bald sollte es ihm sowieso egal sein.
Der Andere machte eine vage, unangenehm vertrauliche Kopfbewegung, als wollte er andeuten, dass er alles versteht. Verständnis von Kumpel zu Kumpel, von Mitwisser zu Auftraggeber? Diese Art von Vertraulichkeit fand er nicht angebracht. Sie war ihm unangenehm. Behalt doch deine Geschichten für dich, wies Sandmann sich innerlich selbst zurecht.
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„Ich soll Ihnen dies hier geben, von Signor Luca.“ Eine Hand mit einer weißen, kleinen
Tüte, halb so groß wie ein Briefumschlag, befand sich plötzlich in einem Sonnenstrahl, der
durch ein Fenster in die Kirche fiel. In der Tüte erkennbar ein zweiter, kleinerer Umschlag,
dessen Ausbeulung die erwartete kleine Menge eines bestimmten Pulvers ahnen ließ.
„Hat er Ihnen noch etwas dazu gesagt?“
„Ja. Sie sollen mir das Geld geben. Und Sie sollen vorsichtig damit sein. Nicht aus Versehen
schlucken. Sonst könnten Sie Probleme bekommen.“
Lautloses Lachen: „Ja, das habe ich mir schon gedacht.“ Sandmann reichte seinerseits einen
Umschlag über die Lehne der Kirchenbank. Der Bote nahm den Umschlag an sich und
steckte ihn ein, ohne den Inhalt einer weiteren Prüfung zu unterziehen. Er schien präzise
Anweisungen zu haben.
„Und es wirkt gut in Verbindung mit kalter Flüssigkeit. Nicht kochen, hat er gesagt, sonst ist
die Wirkung verloren.“
„Ich weiß. Sonst noch etwas?“
„Nein. Den Rest wissen Sie, sagte mir Signor Luca. Und Sie sollen Ihr Handy anlassen.“
„Gut.“
Sandmann ließ den Umschlag in seine Jackentasche gleiten und hatte dabei nach rechts
unten geschaut. In diesem Augenblick hatte sich der Andere schon wie ein Schatten erhoben und war dabei, die Kirche zu verlassen. Jetzt hörte er auch die leise Bewegung der
Tür in den Angeln, das Sonnenlicht, das durch die Kirchtür fiel, bedeckte kurz den Boden
der Kirche, der Fremde war verschwunden, und es wurde wieder dunkel und still. Sandmann war allein. Allein bin ich in dieser Welt.
Er wandte sich dem Altar zu. Allein in der Stille. Für einen Augenblick ließ er seine Gedanken schweifen, und er sah seinen Albtraum, seine private Hölle wieder vor sich. Hörte
wieder die Stimme seines Kindes, von der er sich geschworen hatte, dass er sie nie vergessen
wollte. Es ist so weit. Nicht mehr lange, und es ist so weit. Nur noch wenige Tage muss ich
diese Bilder ertragen, dann ist Ruhe, so oder so.
Ein Blick auf die Uhr: die Begegnung mit dem Boten hatte nur wenige Minuten gedauert.
Als er aufstehen wollte, spürte er die unendliche Last der letzen Jahre auf seinen Schultern.
Er ließ sich zurücksinken auf den harten Sitz. Wie einen unsichtbaren, schweren Rucksack
schleppte er seine Erinnerungen mit sich herum und wusste, dass er sie mit niemandem
teilen konnte. Wer solche Bilder nicht kennt, macht sich kein Bild davon, welche Qual jeder
einzelne Tag ist. Und wieder musst du aufstehen. Und wieder musst du grüßen. Und wieder
musst du einen sinnlosen, verfluchten Tag damit verplempern, dass du nur darauf warten
kannst, dass der letzte Tag endlich kommt. Nicht schwach werden, nicht aufgeben, niemals,
du hast noch eines vor dir, nur eines, aber das ist wichtig, damit du deine Ruhe wieder
findest, vielleicht, in einem einzigen, großen und letzten Moment. In diesem Augenblick
hatte er das Gefühl, dass der Boden unter ihm nachgab und ihn mit den Steinen wie in
einem Strudel in einen Abgrund riss, und die Zeit schien still zu stehen für einen endlosen
Moment. Der Sturz rückwärts erfolgte bei vollem Bewusstsein. Um sich herum sah er die
Wände der Kirche und sah jedes Stäubchen im schräg einfallenden Sonnenlicht in gespenstischer Klarheit. Er hörte die leisen Geräusche von draußen überklar hereindringen
und hörte in den Tiefen seines Gehörs das Kirchenschiff um sich herum dröhnen, so, wie
wir auch mit verbundenen Augen den Raum um uns her hören. Er wusste schmerzhaft von
der Sonne und den Menschen auf der anderen Seite der Wände, fühlte geradezu körperlich
die Nähe von tausenden und abertausenden von Menschen um sich herum und in der Entfernung der Dimensionen dieser Stadt, und zugleich fühlte er sich unendlich weit von allem
entfernt. Ich bin allein. In diesem blutroten Universum aus Hass, Verzweiflung und Verbitterung bin ich allein. Keine zärtliche Gleichgültigkeit, keine Ruhe, nur Einsamkeit und
blutrote Gedanken. Und dann hörte er seinen Namen und die einzige Assoziation von
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E.T.A. Hoffmann, die er zu seinem oft harmlos erscheinenden Namen akzeptierte seit
Jahren: „Der Sandmann? Ei weißt du das denn noch nicht? Das ist ein böser Mann, der
kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen und wirft ihnen Händevoll
Sand in die Augen, dass sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack
und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest
und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.“i
Nun ist aber Schluss. Sandmann erhob sich mit einem groben Ruck, stemmte sich hoch und
machte sich auf den Weg, die Kirche zu verlassen. Als er auf die Gasse hinaustrat, hatte er
für einen Augenblick das Gefühl, dass die Menschen vor ihm zurückwichen wie vor einer
bösen Erscheinung und sich ihm sofort näherten wie zusammenschlagendes Wasser.
Beherrsch dich, dachte er zum zweiten Mal in kurzer Zeit, du wirst hier noch auffallen, und
das war zu diesem Zeitpunkt das letzte, was er wollte. Er hatte sich seine Fähigkeit zur Unauffälligkeit erworben, um sie in Momenten wie diesen einsetzen zu können.
Auf dem Weg zu seinem kleinen Hotel im Sestiere San Polo, ganz in der Nähe des Campo
dei Frari mit seiner gotischen Kirche, hatte er genügend Zeit, den Umschlag in seiner
Jackentasche zu fühlen. Es wog fast nichts, nicht viel mehr als das Gewicht des Papiers.
Höchstens fünfzehn bis zwanzig Gramm, von denen das meiste noch das Papier des Umschlags ausmachte.
Sandmann ertastete den Inhalt des zweiten kleinen Umschlags. Ein stark wirksames, die
Skelettmuskulatur lähmendes Entspannungsmittel sollte es sein, aus der neuesten Forschung
der pharmazeutischen Industrie, Signor Luca kannte jemanden, der jemanden kannte, der
dort arbeitete, interessiert mich nicht, dachte er, ich will gar nichts davon wissen. Wichtig
war ihm nur, dass es mit herkömmlichen Methoden zur Zeit nicht nachweisbar war im Blut
oder Urin dessen, der es eingenommen hatte. Ein gutes und machtvolles Gefühl ging von
diesem unscheinbaren Umschlag aus.
Es hatte ihn eine erhebliche Menge Geld gekostet, an dieses noch unerforschte Medikament
heran zu kommen. Zunächst hatte man geglaubt, er sei an Industriespionage interessiert. Es
war nicht leicht gewesen, über Luca zu vermitteln, dass er weder über Analysegerätschaften
verfügte noch seinerseits irgendjemanden kannte, der jemanden von der Konkurrenz kannte
und so weiter, und dass er auch keinerlei Interesse hatte, sich zu bereichern. Dann nämlich
wäre dieses kleine Pröbchen eines noch unbekannten Erlkönigs der Pharmaindustrie unbezahlbar gewesen. Erst nach erheblicher Überzeugungsarbeit hatte er klarmachen können,
dass er lediglich „für ganz private Zwecke, einen Streich“ ein wirksames Medikament
brauchte, das bisher noch niemand kannte. Den Vorschlag, so genannte k.o.-Tropfen zu
nehmen, hatte er abgelehnt, weil sie ihr Opfer betäubten, und daran war ihm nicht gelegen.
Eine Bedingung für die Investition war gewesen, dass die Hirnfunktionen des Opfers erhalten blieben, dass das Opfer bei Bewusstsein bleibt.
Was die Anderen über diesen Teil der Bedingungen dachten, war ihm egal. Er wollte
sowieso nur für die nächsten Tage unentdeckt bleiben, der Rest war nicht mehr wichtig.
Schließlich war es ihm gelungen, über reichlich Verhandlungen, und nun war er im Besitz
dieses Mittels.
Der Rückweg in sein Hotel war etwa zwei Kilometer lang, bestimmt eine dreiviertel Stunde
Fußweg, aber es gab keine sinnvolle Alternative. Mit der Linie 1 bis San Tomà zu fahren war
ihm in seiner aufgewühlten Verfassung nicht angenehm, zu viel Gedrängel mit anderen
Menschen. Also zu Fuß. Bis zu seiner nächsten Verabredung hatte er noch mindestens fünf
Stunden Zeit, und so beschloss er auf halbem Wege, einen kleinen Schlenker zu machen. Er
steuerte das nächste kleinere Café an, suchte sich einen Platz an einem weiter hinten gelegenen Tisch im Schatten und bestellte sich einen Espresso. Etwas versonnen holte er den
Umschlag aus seiner Tasche und legte ihn vor sich auf das Tischchen. Unscheinbar, unauffällig, genau das war es, was er gewollt, worauf er bestanden hatte. Er ging noch einmal
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seinen Plan durch, um ihn auf Fehler und Lücken zu überprüfen. Er war jedoch so simpel,
dass er nicht lange zu suchen brauchte. Es war ganz klar: eine eingefädelte Verabredung mit
einer bezahlten Unbekannten, ein abgelenkter Kellner, einige Momente abwarten, dann
sollte der Augenblick der Übernahme erfolgen. Sandmann spürte, wie sein Herz schneller zu
schlagen begann. Er wandte seinen Blick nach draußen und schaute gedankenlos auf die
Vorbeigehenden.
„Ich sollte eine Kamera dabeihaben“ fiel ihm ein. „Morgen, morgen Abend geht der Zauber
los, und ich habe keine Gelegenheit, irgendetwas von den Ereignissen festzuhalten.“
Außerdem konnte er auf diese Weise Kontakt zu seinem Gefangenen halten, konnte ihn
überwachen: eine Kamera, ein Handy, Internetverbindung, fertig. Und schließlich war genügend Zeit übrig, um sich mit Nebensächlichem zu beschäftigen. Also bezahlte er seinen
Kaffee und machte sich auf den Weg, nach einem von den Fotogeschäften zu suchen, die es
in allen touristisch überlaufenen Städten in mehr als ausreichender Zahl gab. Kurz nach elf.
Sein Handy klingelte. Er sah auf das Display, das ihm aber nur einen unbekannten Anrufer
meldete.
„Sandmann.“
„Ich bin’s, Luca.“ Die bekannte leise Stimme, fast als würde sein Gesprächspartner flüstern.
„Hat alles geklappt?“
„Ja, ich habe den Umschlag bekommen. Hast du eine neue Handynummer?“
„Nein, warum?“
„Weil dein Name nicht auf meinem Display erschienen ist. Na gut, ist ja nicht so wichtig.
Hat es noch irgendwelche Schwierigkeiten gegeben?“
„Kann man so nicht sagen. Ich habe nur von meinem Lieferanten gehört, dass das Zeug
noch stärker ist, als er ursprünglich angenommen hat. Die ersten Tierversuche sollen ziemlich, hm, er sagte brutal, die sollen also ziemlich überzeugend ausgefallen sein. Es kann
durchaus sein, dass eine vollständige und tödliche Muskellähmung eintritt.“
„Was soll denn das heißen? Habe ich hier jetzt eine Überdosis?“
„Nein, nein, aber er sagte, wenn du mit dem Zeug wirklich nur einem Freund einen Streich
spielen willst, was er unter uns gesagt gar nicht glaubt, dann solltest du dir überlegen, ob du
nicht doch lieber auf bekanntere Sachen ausweichen willst. Und ansonsten erst einmal nur
die halbe Dosis. Danach kannst du ja immer noch... “
„Ist ja schon gut, ich komme schon klar!“ Schroff beinahe.
„Hey! Ich sag’s dir doch nur, du hast schließlich gefragt. Außerdem finde ich, du solltest das
wissen, der Mann hat immerhin schon eine ganze Zeit mit dem Zeug experimentiert. Er
sagte irgendetwas von der Atemmuskulatur.“
„Ja, tut mir leid, du hast Recht. Entschuldige bitte. Ich weiß, was er mit der Atemmuskulatur
meint, ich kenne das Problem aus der Chirurgie. Ich bin etwas überreizt. Außerdem geht es
mir gerade nicht so gut.“ Er spürte, wie nach all den Jahren langsam der bevorstehende
Triumph in ihm aufstieg, und das machte ihn auf eine fast manische Weise euphorisch und
gereizt zugleich. Luca, sein Gesprächspartner schien das recht deutlich zu spüren, denn er
ging auf die kleine Unfreundlichkeit nicht weiter ein, wie es sonst seine Art gewesen wäre.
„Bist du sicher, dass du klarkommst? Du wirkst nicht gerade sehr gelassen.“
Da hast du allerdings recht, dachte Sandmann. Bin ich auch nicht. „Nein, es ist o.k., mach
dir keine Gedanken. Ich habe mich gleich wieder gefangen. Es ist nur die Vorfreude.“
„Gut. Ich habe von dem Lieferanten gleich noch eine ganze Hand voll Listen und Tabellen
bekommen. Soll ich dir die Sachen schicken? Ich weiß nicht, ob du etwas damit anfangen
kannst.“
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„Ja, schick mir die Sachen als E-Mail. Da stehen ja wohl keine Namen oder ähnliches drin?“
„Na ja, deiner und meiner nicht.“
„Ich meine von dem Mittel.“
„Ist eine ganz anonyme Datei. Keine Wasserzeichen oder geheimen Markierungen, soweit
ich das überblicke, keine Viren oder Trojaner. Keine Sorge, ich hab’s natürlich checken
lassen. Also gut, ich schicke dir das an deine Adresse. Wenn du willst, kann ich dir das auch
verschlüsseln. Ich mache das einfach mal. Der Schlüssel ist dann unser bekanntes Passwort,
du weißt schon. Ist gleich bei dir.“
„Es hat keine Eile, ich komme im Moment sowieso nicht an meinen Laptop. Und wie
kommt dein Lieferant überhaupt dazu, so vertraulich mit seinen Informationen umzugehen?
Soll das eine Falle sein? Wir kennen uns doch gar nicht.“
„Ich kenne ihn über zwei Ecken. Er schuldete mir noch einen kleinen Gefallen. Nein, ansonsten ist das nur ein unzufriedener Mitarbeiter. Mediziner. Dr. Haller oder so ähnlich.“
„Wer?“ Sandmann hätte sich fast verschluckt, auf jeden Fall fragte er sehr hastig.
„Haller, der Mann heißt Haller.“
„Kennst du seinen Vornamen?“
„Nein. So groß ist der Gefallen auch wieder nicht, den er mir schuldet. Ich habe ihn nur
ganz allgemein nach dem gefragt, was du mir aufgetragen hast, und er hat gleich auf sich
selbst gedeutet.“
Sandmann wurde nicht recht schlau aus Luca.
„Hast du meinen Namen erwähnt?“
„Bin ich wahnsinnig? Natürlich nicht.“
„Na, dann ist ja gut.“
„Also wirklich. Kennst du ihn?“
„Ich weiß es nicht, so selten ist der Name ja nicht. Ich kenne einen Arzt, einen Kollegen,
der so heißt, aber der war und ist wohl noch Pathologe und hat nicht in der Forschung gearbeitet. Hm, möglich wäre es immerhin...“
„Na, wie dem auch sei, er war wohl der Meinung, er würde für seine Arbeit zu schlecht bezahlt. Schließlich hast du ihm wohl mit deinem guten Angebot geschmeichelt. Darüber
hinaus gibt es keine Verbindung zwischen dir und ihm, sei beruhigt. Der Kontakt zwischen
euch ist die ganze Zeit über mehrere Mittelsmänner gelaufen. Und auch die Verbindung
zwischen uns beiden wird niemand herstellen können. Alles ist abgesichert. Ich soll dir halt
nur sagen, dass es, wie du wolltest die, wart mal, ich hab’s mir aufgeschrieben, ich kann mir
so etwas nicht merken, also: die Dopamin-Rezeptoren blockiert. Was immer das verdammt
noch mal heißen soll. Was war denn das noch mal?“
Es hatte sich fast als schwieriger herausgestellt, Luca klarzumachen, was er haben wollte, als
es zu beschaffen.
„Das sind so kleine Dingerchen in deiner Muskulatur. Hast du auch. Ohne die würdest du
dich, schlicht gesagt, nicht mehr bewegen können. Na gut. Ist ja auch egal. Ich weiß nicht,
von wem das Mittel ist und will es auch nicht wissen. Sonst noch etwas?
„Nein. Wir treffen uns demnächst, um den Rest zu erledigen, o.k.?“
„Wann?“
„Ruf mich an, wenn du Zeit hast.“
„Ist gut. Ciao.“
„Ciao. Ach so, Luca?“
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„Ja?“
„Ich danke dir.“
„Ist schon gut. Ciao.“
Sandmann legte auf. Er setzte seinen Weg fort, um sich eine digitale Kamera zu besorgen.
Im nächsten Fotogeschäft unterbreitete ihm der Verkäufer umständlich und mit unprofessionell erzwungen wirkender Höflichkeit sein ganzes Repertoire. Sandmann ließ es
aber mehr oder weniger unbeachtet, da er sich auf den ersten Blick für ein ganz besonders
kleines Exemplar entschieden hatte. Es war nicht viel größer als eine Handfläche.
„Ich nehme diese.“
„Aber diese ist auch gut.“
„Und noch ein kleines Klemmstativ bitte.“
Er zahlte bar und ging.
Die Temperatur hatte noch deutlich zugenommen. Für einen Tag im Mai war es inzwischen
ungewöhnlich warm, fast drückend, schwül, und ein schwerer, träger Wind schien aufzukommen. Er lag über der Stadt, wie Sandmann es bisher noch nicht erlebt hatte in Venedig.
Er schien die Luft mit gelb-grauem Staub aufzufüllen und verdrehte nicht nur Sandmanns
Stimmung ins Missmutige, Verdrossene und Unruhige. Er fühlte sich gereizt. Luca hatte
recht, er sollte sich beruhigen und sammeln.
Ins Hotel jetzt also. Während sich Antonio Sandmann San Marco näherte, wurde das Gedrängel dichter, die Menschen schoben sich durch die engen Gassen, stießen sich an und
blieben stehen. Die schwer erträgliche Nähe zu den vielen Menschen machte ihm erheblich
zu schaffen. Das vielsprachige Stimmengewirr und das Geschrei von Kindern nahm von
Gasse zu Gasse zu, die Geschwindigkeit nahm in gleichem Maße ab. An der einen oder
anderen Stelle schien es ihm, als habe der Unterton der Stimmen heute etwas deutlich Genervtes. Die Bereitschaft von Gewalt schien in der Luft zu liegen, und hätte er sich nicht
bewusst gemacht, wo er war, dann hätte er annehmen können, er befände sich in einem
Stadion in der Westkurve mit den Stehplätzen der unterlegenen Mannschaft bei einem Auswärtsspiel kurz vor Ende der zweiten Halbzeit. Als er schließlich den Markusplatz erreichte,
war es schon fast zwölf Uhr. Die Sonne schien beinahe senkrecht in die Gassen, aber das
Licht, das ihn sonst immer besänftigt hatte, wirkte trotz der Helligkeit irgendwie trübe und
matt, und er fühlte sich, als sei er völlig übermüdet und habe viel zu viel und viel zu starken
Kaffee getrunken. Als für einen Moment Wolken vorbeizogen, lag der Platz in sonnenloser,
gelblicher Schwüle. Die Zeit schien still zu stehen.
Ihm fiel auf, dass er sich von der Masse wie in einem Traum beinahe hatte mittragen lassen,
da er ja eigentlich zum Markusplatz gar nicht gewollt hatte. So hielt er sich jetzt rechts, ungefähr in der Richtung Rialto, da er auf der anderen Seite des Canale Grande wohnte. Das
war in der Mitte der Stadt die einzige Möglichkeit, den Kanal zu Fuß zu überqueren. Hier, in
den engen dunklen Geschäftsstraßen, war das Gedrängel am größten, hier befand er sich
genau dort, wo die Stadt nach seinem Empfinden am uninteressantesten war, da auf dieser
Strecke all die Händler ihre größeren oder kleineren Lädchen geöffnet hatten, die den
Touristen gaben, was den Touristen gebührte: Venedigkitsch, Glasperlen und Masken. Er
musste unwillkürlich an die spanischen Eroberer und Missionare Amerikas denken, wie sie
den Eingeborenen unermesslich reiches Land für Kitsch abgeschwindelt hatten. Als er kurz
darauf die Rialto-Brücke erreichte, war er fast schon durchgeschwitzt. Beim Überqueren
versuchte er so gut es ging, sich im Schatten zu halten, auf der linken Seite der inneren Geschäftsreihe, die den Überweg über die Brücke säumte. Ein kleines Geschäft mit
interessanten Auslagen fiel ihm auf, Rivalto, mit in Leder gebundenen Kalendern und Tagebüchern und verschiedenen Schreibutensilien wie Federn aus Glas und Metall, Tintenfässern
und ähnlichen Dingen. Er widerstand dem Impuls aus alter Zeit, hinein zu gehen und für
seine Frau oder Kinder einiges zu kaufen.
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Hinunter, dann links Richtung Campo San Polo am Fischmarkt vorbei, es wurde schon
wieder deutlich leerer, noch einige Schritte und Biegungen, und er stand vor seinem Hotel.
Erst als er in der Kühle des Foyers stand, wurde ihm bewusst, dass er nicht zweckmäßig
gekleidet war. Zu warm. Auf jeden Fall den Mantel hier lassen! Die junge Frau am Empfang,
offensichtlich auch angeschlagen vom Klima, saß trotz der Klimaanlage im Luftzug eines
Ventilators, der ihre Haare leicht nach hinten wehte, und wollte ihm wortlos seinen
Zimmerschlüssel aushändigen.
„Was ist denn das da draußen?“ fragte Sandmann langsam und deutlich auf Deutsch und
machte eine unbestimmte Bewegung hin zur Glastür des Hotels. Er wollte nicht, dass seine
italienische Sprachkenntnis bekannt wurde und bei längerem Aufenthalt zu Plausch und
Vertraulichkeit führte.
„Hm? Ach so. Ich weiß auch nicht, vielleicht der Scirocco. Haben wir hier manchmal im
Mai, aber nicht so oft.“
„Hält das lange an?“
„Weiß auch nicht, Signor Sandmann. Vielleicht nicht. Wenn wir Glück haben.“
„Na gut, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“
Er ging auf sein Zimmer.
Im Cannaregio
Einen knappen Kilometer entfernt, im Cannaregio in der Nähe des Campo dei Mori,
machte sich Prosperina daran, sich auf den Termin am Nachmittag vorzubereiten.
Prosperina, mehr nicht, so pflegte sie ihren Kunden zu sagen, denen die Vorstellung, über
sie wenn auch noch so diffus an der alten römischen Mythologie teilzuhaben, offensichtlich
gefiel. Ihr selbst war nur bekannt, dass Prosperina eine Göttin der Fruchtbarkeit war. Der
unterirdische Anteil des Mythos, der sie auch zu einer Totengöttin und Göttin der Unterwelt
machte, war ihr nicht bekannt. Siebenundzwanzig Jahre alt, mit bürgerlichem Namen Chiara
Negroponte, wirkte sie durch ihren angenommenen Namen älter, und so konnte sie sich
jedes Mal freuen, wenn sie sah, dass einer ihrer Kunden auf ihre jugendliche Erscheinung
angenehm überrascht reagierte. Ihr Kunde, mit dem sie heute Nachmittag um sechzehn Uhr
verabredet war, schien da anders zu sein. Er hatte nicht nach ihrem Alter, sondern nur nach
ihrer Erfahrung gefragt. Es schien einer der anspruchsvollen Kunden zu sein, denen es auf
einige Euro mehr oder weniger nicht ankam. Er hatte etwas von einer vierstelligen Summe
geäußert, „zwei- bis dreitausend Euro, aber dafür erwarte ich auch äußerste Diskretion,“
und sie werde schon zufrieden sein. Er benötige ihre Dienste allerdings auch für einen
halben Tag und eine ganze Nacht. Sie hatte den Kontakt über einen ihrer Kunden aus der
Agentur aus Deutschland vermittelt bekommen, der sich als erheblich eifersüchtig herausstellte. Einer von denen, die sich in eine Frau aus dem bezahlten Gewerbe verlieben. Ein
blöder, ein unverzeihlicher Fehler.
Zufrieden wandte sie sich dem Spiegel zu, um sich ausdauernd die etwas mehr als schulterlangen, glatten Haare zu bürsten. Ihr gefiel, was sie sah: eine junge, gut aussehende Frau mit
dunkelblondem Haar und leicht gebräunter Haut, runden Formen und hohen Wangenknochen, die ihr ein vornehm distanziertes Aussehen verliehen. Einige ihrer Kunden schien
das ganz verrückt zu machen, es gab nicht wenige Versuche, sie ganz für sich zu gewinnen,
und einige der Männer sprachen sogar davon, sie retten zu wollen. Tatsächlich gelang ihnen
das nicht, da sie gar nicht gerettet werden wollte und auch nicht das Gefühl hatte, sie müsste
es. Es erzeugte in ihr vielmehr einen Hochmut, der die Kunden noch närrischer werden ließ.
Aber sie hatte stets nur gelacht. So hatte sie allmählich gelernt, dass genau dies ihre be-
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sondere Stärke, ihr Kapital sozusagen war: die unüberwindbare, professionelle und elegante
Distanz.
Gekleidet war sie in ein helles, leichtes Sommerkleid mit großem Blumenmuster in freundlichen Farben, das etwas konservativ wirkte. Sie war sich ihres Stilgefühls sicher. In Gedanken traf sie eine Entscheidung über die Garderobe, die sie zu der Verabredung tragen
wollte. „In dem Café am Campo San Polo“, hatte der Kunde vorgeschlagen, und das bedeutete, dass er sie in der Öffentlichkeit treffen wollte. Und das wiederum bedeutete, dass er
sicherlich kein großes Aufsehen wollte, sonst hätte er es irgendwie, mindestens vorsichtig
angedeutet. Sie kannte die Kundschaft. So entschied sie sich für einen nur sehr wenig gewagten Rock und eine schlichte Bluse. Darunter konnte sie Wäsche tragen, von der sie ganz
allgemein wusste, dass sie anspruchsvollen Kunden gefiel. Der Kunde selbst hatte jedenfalls
keine Wünsche geäußert, und so blieb es ihrer Fantasie und ihrem Einfühlungsvermögen
überlassen, in sozusagen vorauseilender Geschicklichkeit sich auch auf diesen Kunden einzustellen.
Sie legte in Ruhe ihre Kleider bereit auf einen Sessel in ihrem Zimmer und beschloss, vor
dem Termin ein Bad zu nehmen. Das Wetter hatte sich geändert am Vormittag, es war beinahe schlagartig, jedenfalls innerhalb kurzer Zeit schwül geworden, ein dumpfer Wind war
aufgekommen, und so wusste sie, dass es sinnvoll war, sich so langsam wie möglich, ohne
schweißtreibende Hektik auf diesen Termin vorzubereiten. Sie legte sich alles so weit wie
möglich zurecht, ließ Wasser in ihre Badewanne laufen, gab ein leicht duftendes Öl hinzu,
zog sich aus und stieg hinein. Sie schloss entspannt ihre Augen und ließ noch einmal das
Telefongespräch vom frühen Abend des Vortages in ihrer Erinnerung an sich vorbeilaufen.
„Sprechen Sie ein wenig Englisch?“ hatte der Fremde sie gestern Abend gefragt. Sanfte und
souveräne Stimme. Angenehm. Sie hatte im Laufe der Jahre gelernt, Stimmen Gesichter zuzuordnen und Gesichtern Persönlichkeitszüge. So wusste sie, welche Stimmen und Gesichter sie mochte, und diese hier war ihr eindeutig angenehm. Wie alter Whiskey, so dachte
sie, sehr alt. Und etwas unberechenbar; der konnte einen leicht um die Vernunft bringen.
Der Akzent allerdings war eindeutig nicht englisch.
„Ich spreche auch ein wenig Deutsch“, hatte sie freundlich lächelnd und auf gut Glück geantwortet und ins Schwarze getroffen. Dabei war das untertrieben, ihr Deutsch war gut. Sie
wusste aber, dass Untertreibungen immer die Chance zu einer positiven Überraschung in
sich bergen und reines Kapital sein konnten.
„Sehr schön. Ich hatte das gehofft. Danke sehr. Wir könnten auch italienisch sprechen, aber
ich bin etwas aus der Übung. Mein Name ist Antonio Sandmann.“ Antonio Sandmann,
registrierte sie. „Ich habe Ihre Telefonnummer von einem Bekannten aus München. Frank.
Er sagte, ich könnte mich mit meinem Anliegen an sie wenden.“
Mit meinem Anliegen? Warum machen es sich meine Kunden nur immer so schwer?
Wollen sie mir nicht zu nahe treten? Es geschah selten, dass ein Kunde bei der Kontaktaufnahme den richtigen Tonfall zwischen Vertraulichkeit und Respekt trafen. Zumeist war das
ein Zeichen mangelnder Erfahrung, aber das war ja auch grundsätzlich in Ordnung.
Andererseits war sie in ihrem Geschäft, in der Prostitution, erfahren und gefragt genug, um
sich Plumpheiten nicht bieten lassen zu müssen. Hätte der Kunde sie um Begleitung bei der
Biennale gebeten, so wäre sie eine gute Wahl gewesen, das wusste sie aus Erfahrung, so wie
es auch möglich war, mit extravagantesten Wünschen an sie heran zu treten; es war immer
nur ein Frage des Geldes. Sie saß nirgendwo im Fenster von Stundenhotels oder ging die
Straßen auf und ab, immer hatte sie mit ihren Kunden ausschließlich telefonischen Erstkontakt aufgenommen, und so hatte sie sich den Luxus erarbeitet, Kundentermine absagen
zu können. Ordinäre Frechheiten und Betrunkene lehnte sie von vornherein ab. Sie
arbeitete zwar für ihren Lebensunterhalt, das bedeutete aber nicht, dass sie sich aus Not
billig verkaufte.
„Ja?“ sagte sie einfach.
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„Können wir uns treffen, um die Einzelheiten zu besprechen?“
„Selbstverständlich. Aber hat Ihnen Ihr Bekannter aus München auch gesagt, dass ich mir
meine Zeit recht gut bezahlen lasse?“ Ganz leiser, freundlicher Unterton von Spott in ihrer
Stimme.
„Ja, sicher. Das war ja überhaupt die Voraussetzung. Ich hatte danach gefragt.“ Aha. „Also
mit zweitausend bis dreitausend Euro hatte ich schon gerechnet.“ Oho. „Allerdings möchte
ich Ihre Dienste dafür auch für etwas länger in Anspruch nehmen, einen halben Tag und
eine ganze Nacht. Und ich möchte Sie um äußerste Diskretion bitten.“ Gewählte Ausdrucksweise. Scheint gebildet zu sein. Aber er bittet nicht, auch wenn er es so sagt. Bitten
klangen irgendwie anders. Das klang sehr bestimmt, sehr wie ein Befehl, ohne dass sie das
an seinem Tonfall hätte festmachen oder anderweitig begründen können. Es war eine Art
von Unbedingtheit in seiner Stimme, die keinen Widerspruch zu dulden schien. „Können
wir uns morgen treffen?“
„Ja, das ist möglich. Wann und wo?“ Sie wollte ihm die Wahl zuschieben, um auf diese
Weise etwas mehr über ihn zu erfahren, zum Beispiel auch, ob er sich hier auskannte und
wenn ja, wie gut, oder auch, welcher Art seine Interessen waren. Er ging aber nicht weiter
darauf ein, sondern sagte prompt:
„Sechzehn Uhr. Am Campo San Polo. In dem kleinen Café gegenüber der Kirche.“ Also
kein geheimer Treffpunkt. Kein stickiges Hotelzimmer. Gute Orientierung und Planung. Ihr
war das immer lieber.
„Ist gut. Und woran werde ich Sie erkennen?“
„Das werden Sie nicht. Ich werde Sie erkennen.“ Ups. Der wusste aber, was er wollte.
Chiara merkte auch jetzt noch, etwa achtzehn Stunden nach dem Telefongespräch, wie ihr
ein unerwarteter kleiner Schauer den Rücken hinunterlief, als sie an diese Stelle des Gespräches und seine Stimme dabei dachte. Merkwürdiger Gegensatz: da ruft einer eine
Prostituierte an und spricht von „meinem Anliegen“, als könnte er kein Wort für Sex in den
Mund nehmen, und andererseits bestimmt er ganz einfach und klar die Spielregeln, gibt sich
nicht zu erkennen, ohne dabei etwa verunsichert zu wirken wie die Angestellten, die sich
schlecht getarnt nach Feierabend für fünfzig Euro zu ihrer Prostituierten schleichen, dafür
extra eine schwitzige Viertelstunde eher Dienstschluss machen und nur hoffen, dass ihre
Ehefrau das nie herausfindet. „Das werden Sie nicht. Ich werde Sie erkennen.“ Ach so. Er
hatte dabei ganz selbstverständlich und völlig sicher gewirkt, so, wie ein Vater, der seinem
kleinen Kind erklärt, dass man nicht bei Rot über die Straße geht. Sie nahm sich vor solchen
Männern immer sehr in Acht, und hätte seine Stimme auch nur ein bisschen zu aggressiv, zu
überzeugt, fordernd oder selbstsicher gewirkt, hätte sie die Verabredung sofort abgesagt,
dreitausend Euro hin oder her. Aber es war dieses gewisse Etwas in seiner Stimme, er
kokettierte nicht einmal damit, er wusste nur einfach und zumindest in dieser Hinsicht
genau, was er wollte. Es duldete keinen Diskussion seiner Bedingungen, und eben das war
der Grund für ihre grundsätzliche Vorsicht mit solchen Kunden. Das war es, was ihr bei
einigen, allerdings nur sehr wenigen Männern so gut gefiel und was ihr so selten begegnete:
sie schienen eine natürliche Autorität zu haben, um die sie sich noch nicht einmal besonders
bemühen mussten. „Das werden Sie nicht. Ich werde Sie erkennen. Ich habe ein Foto von
Ihnen. Ich erkenne Sie.“
Na, dann ist ja gut. „In Ordnung. Ich werde morgen um sechzehn Uhr da sein. Ciao.“ Cool.
Nur nichts anmerken lassen. Es war immer das Beste, freundlich indifferent zu wirken,
damit hielt sie sich alle Möglichkeiten offen.
Sie ließ sich etwas tiefer in ihr Badewasser sinken, als könnte das den kleinen Kälteschauer
in ihr oder auf ihrer Haut beruhigen, der von ihrem Nacken aus abwärts rieselte bis in subtropische Regionen. Normalerweise machte sie sich keine Gedanken über ihre Kunden. Sie
erledigte ihre Job professionell, freundlich, diszipliniert. Aber irgendetwas an diesem hier
war anders. Irgendetwas an diesem hier wirkte, wirkte... Sie dachte nach: Hm, mindestens so
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professionell wie sie selber. Und das war bei ihren anderen Kunden anders. Die mochten in
den unterschiedlichsten Berufen unterschiedlich erfolgreich und erfahren sein, sobald sie
ihre Liebesdienste in Anspruch nahmen, wirkten sie oft kindisch, albern und unbeholfen,
wirkten meistens so wie einer, der nicht recht weiß, wie man mit Behinderten politisch
korrekt umgeht und irgendwie nichts falsch machen will und eben deshalb immer wieder
den falschen Ton trifft. Anfangs hatte sie bei diesem, wie hieß er noch, Sandmann, Antonio
Sandmann, auch gedacht, er sei einer von den unsicheren Kandidaten, die man am besten
bei der Hand nimmt und einführt, in was auch immer. Aber dann war dieser Eindruck umgeschlagen, und das in einem Gespräch von nur ein oder zwei Minuten, sobald er wusste,
dass sie sich auf seine Bedingungen einlassen würde, und er hatte mit einer Bestimmtheit die
Führung übernommen, die keinen Widerspruch zu dulden schien. Und das ohne jede Anstrengung. Da war nichts Bemühtes. Und plötzlich wurde ihr bewusst, was sie da gehört
hatte in dem kurzen Gespräch. Der Mann hatte ein Geheimnis. Womöglich war es das, was
ihm bereits am Telefon diese bemerkenswerte Aura der Autorität verlieh.
„Madonna“, dachte sie, „das kann ja spannend werden!“
Chiara Prosperina Negroponte, siebenundzwanzig Jahre alt und Prostituierte im gehobenen
Milieu, erreichbar nur durch Verbindungen und für viel Geld, erhob sich aus der Badewanne
und machte sich an ihre aufwendigen Vorbereitungen.
Im Hotel
Für einen Augenblick wünschte sich Sandmann, er hätte darauf bestanden, ein Zimmer mit
Klimaanlage zu bekommen. „Seit wann lässt du dich vom Wetter klein kriegen“, schalt er
sich innerlich, musste sich aber eingestehen, dass es bei diesem hier anders war. Auch die
Beduinen passen sich der Wüste an, nicht umgekehrt. Nun gut, dachte er, dann werde ich
mich eben damit arrangieren, und dann musste er über sich schmunzeln, als er registrierte,
wie gnädig herablassend seine Haltung war.
Er setzte sich auf seinem Bett in den Lotussitz, in dem er sich so lange Zeit geübt hatte,
nicht, um sich zu beruhigen, sondern um sich selbst in geordnete Bahnen zu bringen. Die
Daumen und Mittelfinger beider Hände berührten sich so leicht, dass er einen Schmetterling
dazwischen hätte halten können, ohne seine Flügel zu verletzen. Er konzentrierte sich
leichthin und ohne große Anstrengung auf seine Atmung. Ein, aus, ein, aus, und langsam
ließ er sein persönliches Mantra in die Atmung einschwingen, bis er in der Tiefe seines
Bauches spürte, dass sich ein Knoten löste. Sein Kopf wurde kühl und klar. Dann spürte er,
wie das Universum um ihn herum sich auf seinen Rhythmus einstellte und sich im Takte
seines Atmens ausdehnte und zusammenzog. Ruhig, gleichmäßig und von ungeheurer Kraft,
ausdehnen, zusammenziehen. Für einen Augenblick erschienen vor seinem inneren Auge
die Schmerzen in der linken Schulter, in Herznähe, die ihn vor kurzer Zeit geplagt hatten,
wie eine dunkle Wolke, und er stellte sich vor, er sei die Sonne, die diese Wolke mit ihrem
heißen Atem auflöste. Er stellte sich vor, dass sie sich auflöste wie ein langer und alter
Schmerz, der ohne jeden Zeugen vergeht. Gleichmut. Ob ich im Erzbergbau des fünfzehnten Jahrhunderts verrecke oder in Venedig im einundzwanzigsten, es ist gleichgültig.
Niemand wird je meinen Namen nennen, niemand wird mein Lied singen. Er ließ die samtschwarze Farbe seiner Lieblingszeile aus Camus’ „Der Fremde“ vor sich aufsteigen: „...wurde
ich angesichts dieser Nacht voller Zeichen und Sterne zum ersten mal empfänglich für die
zärtliche Gleichgültigkeit der Welt.“ Die zärtliche Gleichgültigkeit. Ich bin fremd in dieser
Welt, und das ist gut. Einatmen, ausatmen, alles ist erfüllt von äußerster Entfernung. Ich
atme den Wind ein und ich atme ihn aus, ich bin der Wind. Ich bin der gelbe Wind aus der
Wüste. Ich bin der heiße Wüstenwind. Ich folge den Spuren, die der Schweiß auf meine
Haut zeichnet und bin in jeder Pore der Wind in meinen Lungen, ich bin unsichtbar, ich bin
überall.
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Für einen langen Augenblick spürte Sandmann die intensive Lust, einfach hier zu bleiben in
den Tiefen seiner Meditation, nicht mehr zurückzukehren in die Welt voller Verrichtungen
und Notwendigkeiten. Sie werden an meine Tür klopfen, sie werden mich vorfinden und
abtransportieren, sie werden mich in merkwürdige Kleidung hüllen und meinen Körper versorgen, während ich hier draußen bin, weit von allem entfernt. Sie werden Apparaturen an
mich anschließen, wie man sie für Geld nur kaufen kann, und sie werden nichts finden in
mir als Fleisch, nur Hülle, und ich werde sie lachend dabei beobachten, wie sie an mir
herumhantieren.
Einatmen, ausatmen, den Rhythmus verlangsamen jetzt, nur noch knapp vier tiefe Atemzüge pro Minute, dann drei. Zehn Sekunden ein, zehn Sekunden aus. Sein Herz schlug sehr
langsam jetzt. „Hnnnnnnn....“ Ein endlos erscheinender Atemzug. Mindestens zwanzig
Sekunden. Er zählte nicht.
Dann begann er allmählich, wie an Fäden die Teile seiner selbst zurückzuholen, sie erneut
zu sortieren und anzuordnen, in den Tiefen seiner selbst sich selbst zu rekonstruieren. Er
hatte diese Technik, seine eigene Technik, in seiner schlimmsten Zeit erlernt, als er das Gefühl hatte, einfach zu sterben und wusste, dass er doch am Leben bleiben wollte, um diese
Tage hier zu Ende zu bringen. Ich erschaffe mich neu, so hatte er es genannt, mit meinem
tiefen und machtvollen Wort erschaffe ich mich neu, kalt und klar. Langsam fühlte er sich
wieder vollständig, und nachdem er vor seinen geschlossenen Augen den Eindruck von sich
selbst hatte wie von einer Bronzestatue, überzog er sie wie mit einem schützenden Film aus
Plasma. Er öffnete die Augen.
Aus seinem kleinen Handgepäck holte er seinen Kocher, seine japanische Teekanne und
diese eine kleine Teeschale, das einzige, an dem ihm neben seinem Wakizashi lag. Er bereitete sich einen Tee, den er in einer kleinen Dose aus Speckstein mit sich führte, schwarz,
stark und bitter, er ließ ihn lange ziehen. Dann holte er die Schale aus dem Tuch heraus, in
das er sie auf seinen Reisen wickelte. Nach seinem eigenen, kleinen Ritual trank er eine
Schale, noch eine, dann reinigte er alles und verpackte es wieder sorgfältig in einer festen
Schachtel aus Bambus. Dann ging er unter die Dusche. Es wurde langsam Zeit, sich in aller
Ruhe auf den Weg zu machen. Ein Weg von fünf Minuten.
Als er sich dem Treffpunkt näherte, wurde ihm bewusst, dass sich das Klima in den letzten
ein oder zwei Stunden verbessert hatte, lediglich eine leichte Verspannung im Nacken und
Kopf hinterlassen hatte, und in der aufsteigenden und frischen Luft fühlte er sich für einen
Moment wie der Meister des Universums. Dann musste er über sich selbst lächeln. „Sei
nicht albern, Antonio“, dachte er. Und dann war er am Campo San Polo. Aus einigen
Metern Entfernung, als er sich dem Café näherte, musterte er die Menschen, die vor dem
Café saßen, so unauffällig wie möglich, und da sah er sie sitzen: elegant gekleidet, aber der
Tageszeit angemessen. Stilvoll und unaufdringlich, eine attraktive Frau. Ihm fiel ein kleiner
Stein vom Herzen. In dem Augenblick, als er auf sie zutrat, um sich vorzustellen, kam wie
aus dem Nichts ein kleiner, kühler Lufthauch auf, der sich auf dem Platz verfangen hatte,
und wirbelte mit einigem Rascheln ein paar Zeitungsblätter auf dem Nebentisch durcheinander.
Campo San Polo
Chiara Prosperina Negroponte spürte mehr als dass sie sah, wie sich ein dunkler Schatten
dem Tisch näherte, an dem sie saß. Sie versuchte aus den Augenwinkeln und unbemerkt
dem entgegenzuschauen, was auf sie zukam. Groß, gepflegt, mit den leisen und geschmeidigen Bewegungen einer Raubkatze: voller Kraft, ungezähmt und nicht zu bändigen.
„Der bewegt sich nicht einfach nur, der fühlt sich wohl in seiner Haut“, dachte sie, um im
nächsten Augenblick und beim Blick in sein Gesicht das Gegenteil wahrzunehmen: tief zer-
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quält und innerlich zerrissen. Das war das Gesicht von Menschen, die etwas mit sich herumtragen, das sie tief in sich vergraben hatten. Sie hätte nicht beschreiben können, was es war,
aber sie war sich annähernd sicher. Etwas wie eine Resonanz zwischen ihr und den
Menschen, mit denen sie zu tun hatte, sagte ihr das fast untrüglich. Ja, der Mann hat ein
Geheimnis. Ihr Gefühl vom Vormittag bestätigte und verstärkte sich, wurde zur Gewissheit.
Wie ein kühler Lufthauch lief ihr ein Schauer über den Rücken, und sie hatte die unbestimmte, wie aus dem Nichts kommende Assoziation, eine neue Seite im Buch ihres
Lebens werde aufgeschlagen.
„Sie sind Prosperina“, sagte er mit leiser Stimme, als müsse er ihr das erklären, ohne die
nahe Sitzenden einzuweihen. „Ich bin Antonio Sandmann.“ Er hielt ihr die Hand hin, ein
wenig mit der Innenfläche nach oben gewandt, die sie leicht ergriff. Ganz leichte Verneigung des Kopfes, dezent und doch eindeutig genug, um nicht zufällig zu wirken. Ihr fiel
sofort eine äußerste Diszipliniertheit in seinen Bewegungen auf, die sie so noch nicht gesehen hatte bei einem anderen Menschen, und sie hatte keine Ahnung, wie man zu so etwas
kommen konnte. Das aber nahm sie wahr, und das war schon ungewöhnlich, denn den
meisten Menschen fiel sie nicht auf.
Er setzte sich schräg neben sie an den Tisch und sah sich nach einem Kellner um. Das
machte er so langsam, als wollte er ihr Gelegenheit geben, ihn anzuschauen. Und was sie
sah, gefiel ihr so gut wie ihr seine Stimme und seine Art zu reden gefallen hatte. Blasse Haut,
dunkle Augen und kurze Haare mit den ersten grauen Strähnen darin. Eine Erscheinung, die
etwas Raubtierhaftes an sich hatte und zugleich asketisch wirkte, und wieder wurde ihr klar,
warum sie sich vor solchen Kunden grundsätzlich lieber ferngehalten hätte. Zu attraktiv, zu
anziehend. Und er schien sich dessen zu allem Überfluss noch nicht einmal sonderlich
bewusst zu sein, denn seine Bewegungen hatten nichts von der Geckenhaftigkeit derer, die
von ihrer Attraktivität wissen und sie eitel zu ihrem Vorteil einsetzen. „Madonna“, dachte
sie nun schon zum zweiten Male an diesem Tage, und das war nicht unbedingt typisch für
sie.
Seine Kleidung war hell und sommerlich, helle Hose mit frischer Bügelfalte, graues Hemd,
offener Kragen, leichtes Sommerjackett aus Leinen, gepflegte Schuhe mit weichen Sohlen.
Er bestellte, nachdem er sich mit einem kurzen Blick vergewissert hatte, dass sie noch einen
Kaffee vor sich stehen hatte, einen doppelten Espresso. Mit dem Kellner sprach er ein
scheinbar unbeholfenes Italienisch, aber fehlerfrei: so als habe er diese Sprache länger nicht
gesprochen. Im Vergleich zu dem, was Deutsche hier sonst so ablieferten, schien er zu
wissen, was er sagte und wollte. Er hatte sich das kleine bisschen Mühe gegeben, das man
als Reverenz der Höflichkeit an ein Gastland verstehen konnte. Wenn man wollte.
„So, was ist nun Ihr Anliegen?“ Ganz leicht lächelnder Unterton, als sie ihn zitierte, verbindlich und nicht kränkend. Sie verstand sich selbst nicht und fühlte sich unbeholfen, hatte aber
keine Zeit, darüber nachzudenken.
„Ich möchte, dass Sie für mich arbeiten.“
Enttäuschung. Erleichterung? Nein. Ja. Besser so. „Ach.“ Mehr bekam sie im ersten Augenblick nicht heraus. Räuspern. Zurechtrücken.
„Ja. Ich möchte, dass Sie einem Freund von mir ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk
machen. Genauer gesagt: Sie sollen dieses Geburtstagsgeschenk sein. Ich bezahle Sie. Er
weiß von nichts und auch nicht, dass ich in Venedig bin. Er soll es auch auf keinen Fall erfahren, ich werde mich im Hintergrund halten. Wir beide werden Kontakt miteinander
haben, aber er wird mich nicht zu sehen bekommen. Er ist allein hier in Venedig, und er soll
annehmen, dass Sie sich ihm aus rein privatem Interesse zuwenden. Außerdem hatte er in
der letzten Zeit etwas Pech, muntern Sie ihn ein wenig auf. Denken Sie, dass Ihnen das
möglich ist? Können Sie das?“
Ach du liebe Zeit, der geht aber ran. Prosperina hatte die Gefühlsaufwallung noch nicht
ganz hinter sich gebracht, die es ausgelöst hatte, dass Sandmann gar nicht ihr Kunde war,
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oder jedenfalls nicht direkt, und da stürmte dieser Fremde schon mit einem ganzen, großen
Plan auf sie ein. Um einen Moment Zeit zu gewinnen, nahm sie einen Schluck von ihrem
Kaffee und war in diesem Moment froh, dass sie ihn nicht vorhin schon ausgetrunken hatte.
Für das Geburtstagsgeschenk für einen Freund gibt er so viel Geld aus? Entweder hat er es
richtig dicke, oder er ist schwul, aber nein, so wirkt er überhaupt nicht, da war sie sich ihrer
Treffsicherheit ziemlich sicher, oder dieser Freund muss ihm einmal mindestens das Leben
gerettet haben. Ohne ihre Antwort abzuwarten, sprach er einfach weiter. Er will mir Zeit
geben, dachte sie angenehm berührt.
„Ich möchte, dass mein Freund wirklich keinen Verdacht schöpft, dass ich Sie bezahle. Und
es soll auf ihn wie einer von diesen seltenen, glücklichen One-night-stands wirken, die auf
Anhieb funktionieren. Wissen Sie, was ich meine? Der Termin wäre dann morgen Abend,
weil er übermorgen wieder abreist. Sie sollten ihm ein wirklich gutes Schauspiel hinlegen.
Meinen Sie, das ist möglich?“
„Ja natürlich, sicherlich ist das möglich. Aber...“
„Das ist gut“, murmelte er mehr so vor sich hin, und es schien etwas wie eine Last von ihm
abzufallen. Er lehnte sich zurück und sah neben sich auf den Boden. Sie konnte sich offensichtlich immer noch Zeit nehmen, ihn in aller Ruhe zu mustern, fast hatte sie den Eindruck, dass er das vorsätzlich so einrichtete und ihr damit die Erlaubnis erteilte, und in
diesem Moment fiel ihr auf, dass seine Augen im Schatten seiner Stirn aussahen wie die
eines Menschen, der lange Zeit in einer Wüste gelebt hatte: Blick in unendliche Ferne. Voller
Sehnsucht, Weite und leerem Raum.
„Wenn es Ihnen recht ist, erledigen wir das Finanzielle gleich?“
„Hallo, hallo, Sie haben es aber eilig. Ich kenne Ihren Freund doch gar nicht.“
„Selbstverständlich nicht. Ich habe ein Foto von ihm und werde Ihnen seine Adresse
geben.“ Er griff in seine Tasche, um Dinge herauszuholen.
„Halt“, sagte sie beinahe lachend, „ich habe doch noch gar nicht zugesagt. Ich muss es mir
erst einmal überlegen. Wollen Sie mir nicht vielleicht erst einmal sagen, weshalb Sie so viel
Aufwand für einen Freund betreiben? Ich meine, Sie kommen nach Venedig, halten sich im
Hintergrund, bezahlen eine nicht gerade billige, hm, Hostess für einen Liebesdienst und
haben selber gar nichts davon? Oder wollen Sie irgendwann mitten in der Nacht in sein
Hotelzimmer platzen und unter Blitzlichtgewitter Happy Birthday singen?“
„Nein, nein, so war das wirklich nicht gedacht.“ Er lachte kurz auf. „Dieser Freund hat mein
Leben verändert, ich schulde ihm etwas. Manchmal gibt es so etwas. Außerdem hatte er zuletzt, wie gesagt, ziemlich Pech, und manchmal muss man von außen nachhelfen, um das
Blatt zu wenden.“
„So etwas gibt es zwischen Männern, oder?“
„Das kann man schon sagen.“
„Nun gut. In Ordnung, ich denke, ich kann das machen.“ Irgendetwas an seiner Erklärung
klang eigenartig, sie hatte den Eindruck, dass ihn nicht eben Dankbarkeit mit seinem Freund
verband, eher Schuld oder Verpflichtung, aber Prosperina gab sich keine weitere Rechenschaft darüber ab. Tatsächlich war sie durch einige Dinge in seiner Gegenwart abgelenkt
genug, um sich keine weiteren Fragen zu stellen.
Wortlos schob Sandmann einen Briefumschlag über den Tisch zu ihr hinüber, in dem sich
Geld und noch einiges andere zu befinden schien. Als sie den Umschlag nicht an sich nahm,
sagte er:
„Zweitausendfünfhundert Euro, ein Foto, die Adresse des Hotels sowie der Treffpunkt mit
meinem Freund. Sind Sie einverstanden?“, fragte er.
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„Für diese Summe können Sie aber eine ganze Menge von mir erwarten“, sagte sie, ehe sie
es sich versah. Halt, Stopp, Chiara!, ermahnte sie sich selbst, was redest du denn da? Vergiss
nie gegenüber Kunden deine professionelle Haltung.
„Ja“, sagte er leise und wie in einem Traum vor sich hin, während er schon wieder auf den
Boden neben sich schaute. Und als habe er eben erst so richtig registriert, was sie da zu ihm
gesagt hatte, blickte er sie mit seinen erstaunlichen Augen an und sagte: „Ach ja. Schön,
dann tun Sie mir doch den Gefallen und begleiten mich heute Abend zum Essen. Ich bin
allein hier und würde mich freuen. Können Sie uns etwas empfehlen hier in Venedig, was
mehr ist als dieses furchtbare Touristenmenü? Oder haben Sie heute Abend vielleicht schon
etwas vor?“ Einen Augenblick sah sie ihn verdutzt an, er schaute zurück, und dann mussten
beide lachen. Sein Lachen war leise und zurückhaltend.
„Möchten Sie vielleicht noch etwas trinken? Selbstverständlich lade ich Sie ein. Sie sind mein
Gast.“
Der perfekte Gentleman, alte Schule, dachte sie und war angenehm berührt davon, wie
leicht er es ihr machen konnte. Was ist bloß los mit ihm? So widersprüchlich und so völlig
antiquiert. Will er gar nichts von mir? Er hätte doch alles haben können. Warum schaut er
mich nicht an? Aber er behandelt mich jedenfalls sehr höflich und zuvorkommend. Wie eine
italienische Dame, die er kennen gelernt hatte und nun zu einer interessanten Konversation
einladen wollte, und nicht wie eine Prostituierte. Einige ihrer Kunden hatten, zumindest
gegen Ende ihrer geschäftlichen Beziehung, offenbar das Bedürfnis entwickelt, sie spüren zu
lassen, dass sie in ihren Augen nur eine wenn auch teure Prostituierte war. Es hatte sie nie
gekränkt, denn sie wusste das ja. Was sie allerdings anfänglich verwundert hatte, war der
Versuch selbst, mit dem sich ihre Kunden gleichsam sich selbst eine Absolution erteilten
angesichts eines Verhaltens, das sie selbst als verwerflich empfanden. Sie spürten den Betrug
an ihrer Familie und rächten sich hilflos mit Beleidigung. Oder versuchten, ihr Verhalten zu
relativieren, da sie ja nur eine Nutte war und der Betrug somit nichts zu bedeuten hatte.
Sie schlug ihm ein kleines Restaurant vor, in einer winzig kleinen Gasse in einem Hinterhof
irgendwo zwischen Castello und San Marco, ganz in der Nähe der Riva degli Schiavoni, „das
kennen Sie bestimmt nicht. Wollen wir uns treffen, und ich zeige Ihnen den Weg? Das
Essen und der Wein dort sind großartig, zwar nur italienischer Landwein, aber wirklich gut.“
Sie ahnte nicht, dass Sandmann sie in diesem Moment in mehrfacher Hinsicht auf die Probe
gestellt hatte. Natürlich wusste er, dass er ihr ein mehr als großzügiges Angebot gemacht
und noch dazu einen ganzen Tag im Voraus bezahlt hatte. Das war so sicherlich nicht üblich. Was er nicht wusste, aber wissen wollte: war sie so zuverlässig, fähig, bereit, sich auf die
Aufgabe einzulassen, dass sie die Falle, die er mit ihr stellte, zuschnappen lassen konnte?
War sie der bereitwillige Köder, den er brauchte?
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II Teurer Cognac
Sechs Jahre früher, Ende November
Autobahn
S
chweres Wetter. Der Schnee fiel nun schon seit Stunden auf die Windschutzscheibe von
Gregor Steiners großer Limousine. Er fuhr im Grunde zu schnell für seine eigenen und
die Verhältnisse des Wetters. Aber durch den Schnee hatte sich die Rückfahrt ohnehin
schon deutlich verzögert, und jetzt wollte er nur noch schnell nach Hause kommen. Kurz
hinter Nürnberg hatte sich der Schnee auch noch mit Regen vermischt, was das Wetter
nicht leichter machte, und die Scheibenwischer arbeiteten heftig gegen die Schnee- und
Wassermassen an. Statt der geplanten sechs Stunden für siebenhundert Kilometer bis hierher war er jetzt geschlagene neun Stunden unterwegs und erheblich genervt, und es wurde
auch schon wieder dunkel. Er fühlte sich zunehmend erschöpft. Er zündete sich eine
weitere Zigarette an.
Er war schon seit dem frühen Morgen gegen sechs Uhr unterwegs, ununterbrochen mit
Licht gefahren und hatte reichlich von seiner Lichthupe Gebrauch gemacht. Steiner hatte
zuletzt immer wieder kurze Pausen eingelegt und auf der Fahrt seine Erschöpfung mit lauter
Musik und Kaffee bekämpft. Die Strecke, die er sonst üblicherweise in knapp zwölf Stunden
geschafft hätte, schien sich jetzt locker auf mindestens sechzehn, siebzehn Stunden für eintausenddreihundert Kilometer auszudehnen, wenn das Wetter nicht noch schlechter werden
sollte. Er hatte schon in Erwägung gezogen, im nächstbesten Motel zu übernachten, sich
dann aber doch anders entschieden: gegen diese Absteigen am Rand der Autobahnen, die
ihm so zuwider waren mit ihrer unpersönlichen, künstlichen, ausschließlich auf Kundenfang
getrimmten falschen Gastlichkeit. Natürlich, was denn sonst, dachte er, aber er war für
Reflexionen dieser Art nicht mehr wach genug und sowieso schon auf Krawall gebürstet,
wie er sagen würde.
Die Geschäfte der letzten Tage allerdings waren entgegen allen Erwartungen mehr als gut
verlaufen. Mit der Provision sollten mindestens achtundzwanzigtausend DM bei ihm
hängen bleiben. Und das für nur eine Woche Arbeit und Verhandlungen. Er beglückwünschte sich selbst zu seinem Verhandlungsgeschick und der sicher nur für ihn glücklichen
Situation eines völlig ins Wasser gefallenen Karnevals in Venedig, der den Kunden und
Händlern Lust und Geschäft vermasselt hatte. So waren die Händler verhandlungsbereiter
als sonst, da sie auch auf ihren Schnitt kommen wollten. Das Jahr ist gerettet, dachte er, und
wenn dieses Geschäft anläuft, dann hast du auch im nächsten Jahr keine Sorgen mehr durch
die Option auf weitere günstige Einkäufe. Jetzt musst du nur noch die Auftraggeber in
Deutschland überzeugen und den Kundenkreis erweitern, und die Sache ist in trockenen
Tüchern. Und das sollte nicht all zu schwer sein. Sein Geschäft war der Import von
venezianischem Trödel: Glas aus Murano, Masken aus den kleinen Masken-Manufakturen,
seltene und wertvolle Schreibutensilien, Tücher, Kunsthandwerk, noch nicht in dem großen
Stil, den er für angemessen hielt, aber er hatte seine feste Zahl von Abnehmern in exklusiven Geschäften im norddeutschen Raum, bevorzugt solche, die Rondo Veneziano,
Dies & Das oder so ähnlich hießen und in den leicht alternativ angehauchten Stadtteilen
lagen, in denen sich die Lehrerehepaare ihre Eigentumswohnungen für die Zeit als
Pensionäre gekauft hatten. Er war zwar noch selbst als Einkäufer unterwegs, nahm sich aber
vor, bald die Fahrerei seinem Mitarbeiter ganz zu überlassen, um sich dem wichtigeren Teil
der Kundenwerbung widmen zu können. Er hatte in allen größeren Städten in Norddeutschland seine Kunden und hoffte, dass es durch die günstigen Konditionen, die er ausgehandelt hatte, bald noch mehr werden würden. Er würde einen kleinen Teil der Ver-
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günstigungen weitergeben, der größere Teil sollte allerdings bei ihm bleiben. Das Weihnachtsgeschäft dieses Jahr sollte jedenfalls ein Kracher werden.
Er beschloss, die nächste Raststätte anzufahren und noch einen Kaffee zu trinken. Auf der
Raststätte klatschte ihm der Schneeregen so heftig ins Gesicht, wie das an Autobahnraststätten oft der Fall ist: als gebe sich das Wetter jeweils noch einmal extra Mühe, alle
Reisenden, jeden persönlich, von der Vergeblichkeit ihres Tuns zu überzeugen. Ein anfahrender Lkw mit österreichischem Kennzeichen spritzte ihm die Hose bis zu den Knien
mit Schneematsch voll, und aus dem Augenwinkel meinte er auch noch das höhnische
Grinsen des Fahrers wahrnehmen zu können. Das hat der verdammte Schweinehund absichtlich gemacht, dachte er und ekelte sich bereits im Voraus vor dem Fahren mit nasser
Hose. Dabei habe ich den doch spätestens bei Kassel wieder erwischt, mal sehen, was ich
dann mit dem anstelle; mindestens ausbremsen werde ich den. So kam er innerlich laut
fluchend im Restaurant an. Verärgert wollte er sich erst in eine stille Ecke setzen und seinen
Groll runterschlucken. Er entschied sich dann aber doch noch anders und setzte sich an die
Theke, an der einige andere Fernfahrer saßen und ihre letzten Informationen über die
Straßenlage austauschten. Er bestellte sich einen Kaffee und eine Portion Pommes Frites
mit Mayonnaise. „Nein, mehr nicht. Danke.“
Während er sich die im Fett ertränkten Fritten einverleibte und seinen Kaffee halb austrank,
schnappte er mit halbem Ohr auf, dass die Verkehrs- und Wettersituation hinter den
Kasseler Bergen besser werden sollte. Na, was für ein Glück, dachte er, dann komme ich ja
vielleicht doch noch zur Tagesschau nach Hause, wenn ich ordentlich aufs Gas trete. Von
hier aus sind es vielleicht noch fünf Stunden, das müsste zu schaffen sein. Siebenhundert
Kilometer hinter mir, noch sechshundert vor mir, da kommt ganz schön was zusammen,
dachte er. Er ging zur Toilette. Als er zurück kam, war sein halber Pott Kaffee weg: abgeräumt. Ärgerlich bestellte er sich einen weiteren und stellte fest, dass ihm die Pommes
Frites wie Wackersteine auf dem Magen lagen. Ach was soll’s, dachte er, und bestellte sich,
im Grunde erleichtert, als habe er ein Alibi erhalten, einen Cognac zum Kaffee. Ja, ruhig
noch einen. Dann zahlte er und machte sich, nachdem er noch eine Zigarette geraucht hatte,
wieder auf den Weg.
Der Cognac erleichterte und wärmte seinen Magen und verschaffte ihm ein Gefühl angenehm wacher Entspanntheit. Auch die Verbissenheit in Gestalt seines Bleifußes hatte ein
wenig nachgelassen, er fuhr jetzt gelassener. Nun stellte er allerdings fest, dass er soeben an
der Raststätte den fünften oder sechsten Kaffee dieses Tages getrunken hatte. Ich fühle
mich wirklich angepisst, dachte er mit enormer Klarheit und musste zugleich über den
Wortwitz in seinem Satz kichern. Also gut, die nächste Raststätte nehme ich noch nicht, erst
die übernächste, so komme ich ja nie in Hamburg an. Mein Tank ist halb leer und meine
Blase fast voll. Dass es da noch nichts gibt für unterwegs, dachte er und erinnerte sich, dass
er mal von einer Einrichtung für Fernfahrer gehört hatte, die nicht allzu oft anhalten
wollten. Das ist doch noch eine echte Marktlücke. Muss ich mal im Internet nachforschen.
Was gibt man denn da wohl ein? Man kann doch heute aus allem ein Geschäft machen.
Irgendwie wird das doch zu vermarkten sein, und im Geiste entwarf er eine MarketingKampagne: Steiners fahrendes Langstrecken-Lkw-Urinal, nur nicht zu albern, eher etwas
Witziges. Als er die Hinweisschilder für die nächste Raststätte sah, stellte er fest, dass er sich
im Fassungsvermögen seiner Blase doch verschätzt hatte.
Also gut, wieder rechts ran. Aber angenehm ist es ja doch. Na ja, einen Cognac kann ich ja
wohl noch trinken. Aber diesmal nehme ich einen aus der Tankstelle, dann kann ich bei der
Gelegenheit gleich tanken. Sehr komisch. Muss ich ja sowieso noch mal vor Hamburg, dann
ist es ja auch egal. Tanken. Und geben Sie mir bitte noch einen Cognac. Nein, einen Flachmann, bitte. Ja, nein, nicht den ganz billigen. Ja, danke schön, ebenfalls gute Fahrt noch.
Hm? Egal. Wieder auf die A7. Oder war das jetzt mein zweiter Cognac? Etwas sparsamer
sollte ich wohl doch sein.
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Anders als erwartet wurden die Straßenverhältnisse in Richtung Kassel doch noch einmal
schlechter, aber mit der letzten großen Abfahrt Richtung Norden nach Kassel hinunter
hörten Schnee und Regen auf, und Steiner konnte endlich erleichtert so aufs Gaspedal
treten, wie nur Berufsfahrer das tun. Schließlich raste er mit etwas über 200 km/h den Berg
hinunter. Von jetzt ab sollte fast nur noch flache Strecke vor ihm liegen. Er kannte diesen
Teil seines Weges wie seine Westentasche, wie er zu sagen pflegte, obwohl ihm dieser Vergleich plötzlich nicht mehr sehr zutreffend vorkam, weil ihm einfiel, dass er im Moment
sehr wenig über seine Westentasche hätte aussagen können. Was man so alles denkt, wenn
man leicht beduselt auf seiner Heimreise ist.
Kurz vor dem Ende der abschüssigen Strecke sah er den österreichischen Lkw, der ihm auf
der Raststätte die Hose nass gespritzt hatte; jedenfalls glaubte er, sich zu erinnern, dass es
ein Österreicher war. In angenehm entspannter Verzeihung schwelgend beschloss er, es bei
einem großzügigen Verwarnen durch das Fernlicht zu belassen und den Fahrer lediglich
anzuhupen. Als er den Lkw passiert hatte, stelle er empört fest, dass der Schnösel auch noch
zurückblinkte und glaubte, für einen Augenblick sogar ein hämisches Lachen im Rückspiegel
sehen zu können, obwohl das sowohl bei den Wetterbedingungen als auch überhaupt im
Rückspiegel und mit Licht gar nicht möglich war. Aber wenn wir einmal gereizt sind, dann
ist es die ganze Welt mit uns, und am Ende können wir schon gar nichts mehr unterscheiden. Will der sich etwa mit mir anlegen?, fragte sich Steiner. Empört setzte er vor den
Laster und hob drohend die Faust, in der Hoffnung, der Fahrer möge sie sehen, und dann
überschlugen sich die Ereignisse. Die Fahrbahn war nass und hatte Spurrillen. Sein Wagen
fing zunächst leicht an zu schlingern, und Steiner machte eine ausgleichende Lenkbewegung.
Dabei stellte er fest, dass er sich in deren Ausmaß vertan hatte, er musste noch einmal
korrigieren und wäre beinahe in die rechte Leitplanke gekracht. Wieder zog er den Wagen
nach links, stellte aber zu seinem Entsetzen fest, dass er die Gewalt über seinen Wagen
völlig verloren hatte. Er sah, dass er sich in erschreckendem Tempo schleudernd einem
Wagen auf der mittleren Spur näherte, er hörte ein Krachen und Splittern, er schloss instinktiv und in Angst seine Augen, und als er die Augen wieder öffnete, lag er im Krankenhaus.
Diese Runde hatte Gregor Steiner verloren.
Krankenhaus
„Verdammte Scheiße, Totalschaden“, war das erste, was er dachte. Er schaute sich um, sah
eine Krankenschwester am Fußende seines Bettes stehen und unbekannte Dinge tun, die in
dem Moment, als sie sah, dass er wieder zu Bewusstsein kam, prompt das Zimmer verließ.
So blieb er allein in seinem Krankenzimmer liegen und sah sich um. Blinkende Gerätschaften. Dann begannen die Einzelheiten in seinem Kopf wieder Gestalt anzunehmen. Er
erinnerte sich an die Autobahn, den Lkw, mit dem er sich ein lächerliches Duell geliefert
hatte, und an die endlos scheinende Rutschpartie über die Spurrillen unter veränderten Zeitverhältnissen. Er hatte keine Schmerzen gespürt, hatte auch jetzt nur leichte Kopfschmerzen
und erinnerte sich, schon einmal davon gelesen zu haben, dass Schwerverletzte ihre Verletzung oft nicht wahrnehmen. So tastete er unter der Decke seinen Körper ab, stellte aber
erleichtert fest, dass alles noch an Ort und Stelle war, auch wertvollere Teile, wie er zu
scherzen pflegte, sein kleiner Herr Steiner, und atmete vorsichtig durch: funktionierte ebenfalls, also hatte er aller Wahrscheinlichkeit nach auch keine inneren Verletzungen. Außer er
stand unter dem Einfluss starker Schmerzmittel; aber es fühlte sich nicht so an.
Wahrscheinlich nur eine Gehirnerschütterung, dachte er. Nur irgend etwas an seiner Erinnerung schien nicht so recht zu stimmen, denn er sah einen anderen Wagen als seinen in
die mittlere Leitplanke fahren. Ach Unfug, sagte er sich, ich war ja ganz allein auf der Autobahn.
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Steiner hatte ein erhebliches Verlangen danach, eine Zigarette zu rauchen, aber er sah seine
Kleidung nirgends herumliegen, und so wusste er nicht, wo er danach hätte suchen sollen.
Ein Arzt kam herein. Steiner las das Namensschild, stellte aber fest, dass er den arabisch
klingenden Namen nicht entziffern konnte, zumal er sich erheblich benommen fühlte. So
wartete er einfach ab, was der Arzt sagen würde. Der fing auch gleich an:
„Na, da haben Sie aber Glück gehabt, dass Sie nur eine Commotio cerebri erlitten haben.“
„Wie bitte?“
„Eine Gehirnerschütterung.“ Also doch. „Außerdem haben Sie sich eine schwere Prellung
und ein paar Quetschungen an der linken Schulter und den Rippen zugezogen, aber soweit
wir das beurteilen können, ist das alles.“
Jetzt spürte Steiner auch die Schmerzen in seiner linken Schulter. Da muss ich wohl ziemlich
schlimm in den Türholm gekracht sein, dachte er. Zum Glück war ich angeschnallt.
„Und ist mein Wagen, der ist Schrott, was?“
„Darüber weiß ich nichts, das wird Ihr Rechtsanwalt mit Ihnen besprechen.“
„Ach, Sie haben schon meinen Rechtsanwalt benachrichtigt. Das ist sehr tüchtig von Ihnen.“
„Wir waren das nicht, das war die Polizei.“
„Aha. Sind ja doch ganz schön gut, die Jungs, nicht wahr?“
„Das kann schon sein“, sagte der Arzt zurückhaltend und anscheinend leicht befremdet.
„Ich muss Sie jetzt noch etwas untersuchen. Sie müssen mir ein wenig dabei helfen.“
Der Arzt klopfte, drückte, untersuchte, maß den Blutdruck, testete die Reflexe, stellte verschiedene Fragen und sagte dann: „Wissen Sie, dass sie 1,8 Promille Alkohol im Blut hatten,
als Sie eingeliefert wurden?“
Steiner zwinkerte dem Arzt kumpelhaft zu und sagte: „Tja, ganz schön blöd, was? Na ja,
zum Glück habe ich eine gute Rechtsschutzversicherung.“
Das schien irgendwie nicht die Antwort zu sein, auf die der Arzt gewartet hatte, und Steiner
erinnerte sich daran, auf dem Brustschild einen arabischen Namen gelesen zu haben. Die
haben ja was gegen den Alkohol, diese arabischen Fritzen, dachte er.
„Die werden Sie wohl auch brauchen“, antwortete der Arzt, ohne auf das Angebot der
Kumpanei einzugehen. „Ihr Rechtsanwalt wird übrigens gleich bei Ihnen sein. Fühlen Sie
sich stark genug, Besuch zu empfangen?“
„Sicher, aber sagen Sie, wie spät ist es denn?“
„Wir haben jetzt ungefähr zwanzig Uhr:“
„Ach je, dann war ich ja drei Stunden bewusstlos. Muss doch schlimmer gewesen sein als
ich mich erinnern kann, mein Unfall.“
„Nein, Herr Steiner, Sie waren siebenundzwanzig Stunden bewusstlos. Ihr Unfall war
gestern. Wir wissen auch nicht, weshalb Sie so lange bewusstlos waren. Wir vermuten, dass
es an Ihrem Alkoholspiegel zum Zeitpunkt des Unfalls gelegen hat.“
Jetzt war Gregor Steiner doch das erste Mal etwas ernsthafter beunruhigt. Nach einer Weile
fragte er: „Werde ich irgendwelche bleibenden Schäden behalten?“
„Das kann ich zwar jetzt noch nicht sagen, aber ich glaube, dass Sie körperlich intakt sind.
Soweit wir das in Ihrem Zustand festgestellt haben, haben Sie keine inneren Verletzungen.
Was mit Ihrem Kopf ist, ob Sie irgendwelche Ausfälle zurückbehalten, wissen wir noch
nicht, aber erfahrungsgemäß gehen Gehirnerschütterungen spurlos vorbei. Manchmal
bleiben Kopfschmerzen zurück, aber häufiger bei den leichteren Gehirnerschütterungen.
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Wir werden Sie auf jeden Fall für drei bis fünf Tage zur Beobachtung hier behalten müssen.
Wir haben schon ein CT gemacht und ein EEG, und da sah alles soweit ohne Befund aus.
Das heißt, so, wie es aussieht, sind Sie gesund. Gut, ich werde Sie jetzt allein lassen.
Irgendwann demnächst müsste Ihr Rechtsanwalt kommen. Wir werden ihn dann gleich zu
Ihnen schicken. Ihre Familie in Hamburg haben wir übrigens schon verständigt, sie lässt
ausrichten, Sie sollten sich keine Sorgen machen, Sie stehen das schon durch.“
„Ja. Ach übrigens, wo bin ich hier eigentlich?“
„Sie sind hier im städtischen Unfallkrankenhaus von Kassel.“
„Kann ich bitte auch noch mit meiner Firma telefonieren“, wollte er noch fragen, aber der
Arzt ging schon hinaus. Er suchte sein Handy in seinem Nachtschrank, fand es aber nicht
und stellte fest, dass er seine Anrufe auf später verschieben musste.
Komische Nachricht: ich stehe das durch. Was denn eigentlich, fragte sich Steiner. Dann
ließ er sich wieder in einen Dämmerzustand sinken, der offenbar irgendwie medikamentös
unterstützt war. Im Halbdämmer sah er noch, wie die Krankenschwester wieder ins Zimmer
kam und am Fußende seines Bettes Platz nahm; er war offenbar auf einer Aufwachstation,
sonst sitzt doch keine Krankenschwester am Bett? Steiner fiel wieder in Schlaf. Als er wieder
die Augen öffnete, war die Krankenschwester weg, statt dessen saß ein Unbekannter im
Trenchcoat neben seinem Bett. In der Hand hielt er eine Aktenmappe, in der er sich irgendwie zu schaffen machte, er blätterte hin und her und schrieb hier und da in krummer
Haltung irgendetwas hinein. Er schien ziemlich kurzsichtig zu sein, seine Brillengläser waren
enorm. Sie verstärkten die Bewegungen seiner flinken Augen so sehr, dass sie auch quasi
von oben zu sehen waren, einer Position, aus der heraus Steiner ihn beobachtete, da der
Andere weit über das Papier gebeugt war und ihm nur die wenig behaarte Stirn zuwandte.
Zwischendurch feuchtete er seinen Finger an, um besser in den Papieren blättern zu
können. Steiner beobachtete ihn eine Weile durch die halb geschlossenen Augen seines
Dämmerzustandes, dann bewegte er sich ein wenig und öffnete seine Augen ganz.
„Ah ja, Sie sind ja schon wach. Darf ich mich vorstellen, Walter Grabowski, ich bin Ihr
Rechtsanwalt, erst einmal Ihr Pflichtverteidiger. Verkehrsrecht. Ihre Familie hat mich angerufen. Ich brauche noch eine Unterschrift von ihnen, hier bitte. Sie werden noch einen
anderen Rechtsanwalt brauchen, der auch für Strafrecht zuständig ist. Haben Sie einen?
Kann ich Ihnen aber zur Not auch besorgen. Haben Sie schon mit der Polizei gesprochen?
Ah, ich sehe, haben Sie noch nicht. Das ist gut so. Egal was die Polizei sagt oder fragt, Sie
verweigern die Aussage. Sollen die doch aus dem Schrott ablesen, was da los war. Den
Brüdern muss man es ja so schwer machen wie möglich, sonst hängen die einem wer weiß
was an mit ihrer Kaffeesatzleserei. So, dann wollen wir mal sehen. Aha, betrunken Auto
gefahren, schwerer Unfall mit Todesfolge. Tja ja. Ja, und wie ich sehe, sind Sie nicht vorbestraft. Selbstständig, wie ich sehe, ja, gut, und es gibt auch keinen Führerscheinentzug in
der Vorgeschichte. Viel unterwegs mit dem Auto, nicht wahr? Sie kommen gerade aus
Italien? Ach nein, gestern schon, ja, ich sehe. Mistwetter, was? Aha, ja. Na, das sieht doch
gar nicht so schlecht aus, da kommen sie vielleicht, nein wahrscheinlich sogar mit Bewährung davon, wenn wir das gut einrichten. Ja, und ich habe mir dann schon mal Ihre
Unterlagen angesehen. Das kriegen wir schon wieder hin.“
Steiner konnte dem leiernden Sermon nur undeutlich folgen, aber an irgendetwas war sein
nach wie vor benebelter Verstand hängen geblieben. Der soll mich jetzt nur nicht nerven,
dachte er. Der Rechtsanwalt machte auf Steiner einen ausgesprochen mittelmäßigen Eindruck mit seiner viel zu starken Brille und seinem billig wirkenden Trenchcoat. Außerdem
meinte er, eine leichte Alkoholfahne wahrnehmen zu können, war sich aber nicht sicher, ob
es nicht seine eigene war. Es wurde ihm nicht bewusst, dass das nach eineinhalb Tagen nicht
mehr sein konnte.
„Was haben Sie da gesagt? Unfall mit Todesfolge? Aber ich lebe doch noch.“
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„Wie, man hat Ihnen noch nichts gesagt? Ach ja, wie auch, wo bin ich nur mit meinen Gedanken. Tja, Sie haben da jemanden totgefahren. Tut mir leid. Ja.“
„Wie bitte?“ Ich bin noch bewusstlos. Ich träume noch. Der macht sich über mich lustig.
Das ist der Teufel der armen Seelen der Unfallopfer. Der wird hier einfach sitzen bleiben,
wenn ich nicht gleich aufwache. Ich würde jetzt gerne aufwachen, es reicht dann auch.
„Ja, eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter, neun Jahre alt. Das andere Kind, ein Junge,
siebeneinhalb, liegt noch im Koma. Ist nicht sicher, ob er durchkommt. Ist aber auf jeden
Fall schlimm entstellt, ein Bein ist zerquetscht und musste amputiert werden, der Unterleib
einschließlich der Hoden ist verletzt, wird wohl keine Kinder mehr kriegen, der Junge.
Ziemlich schlimm. Dumme Geschichte, das.“
Mit einem Male schrien sämtliche Alarmglocken in Steiners benebeltem Gehirn auf. Es
wurde rot um ihn und er hörte das düstere, purpurne Meeresrauschen seines Blutes im
Kopf. Dieses Geräusch wollte er nie wieder hören, aber es sollte anders kommen.
„Das war der Lkw“, konnte Steiner noch murmeln, ohne so recht zu wissen, was er damit
meinte, dann versank er in Bewusstlosigkeit.
Dann öffnete er wieder die Augen. Er war allein im Zimmer, nur die teilnahmslose
Krankenschwester saß an seinem Fußende. Steiner wollte aufstehen, ohne zu wissen,
warum. Er wollte weggehen.
„Sie müssen liegen bleiben“, sagte sie, und Steiner sank zurück in seine Verzweiflung.
Drei Tage nach dem Unfall starb das zweite Kind an den Folgen seiner Verletzungen.
„Da war kein Lkw, niemand, den wir ausfindig machen konnten. Aber wir können das ja
noch mal versuchen. Immerhin ist das ein Ansatz. Soll doch die Polizei auf den Bildern vom
Unfallort danach suchen“, sagte Steiners Anwalt. Die Suchmeldungen und die Befragung
des einzigen Zeugen blieben selbstverständlich ergebnislos, aber Steiner beharrte auf seiner
Version der Ereignisse: ein Lkw habe ihn behindert und so weiter und so weiter, es war unerfreulich. Schließlich verbiss er sich so in die Mitschuld eines ominösen Anderen, dass es
sogar seinen beiden Anwälten zuwider wurde; aber angesichts eines ansonsten aussichtslosen Falles machten sie das Beste daraus.
Zuhause
Die Nachricht erreichte Antonio Sandmann in Gestalt des Polizisten Roman Krüger und
eines zweiten Polizeibeamten, der sich nach Sandmanns brüchiger Erinnerung nicht vorgestellt hatte. Er war zuhause damit beschäftigt, seine beruflichen Angelegenheiten für
diesen Tag zu regeln, wie es seine Angewohnheit war, um den Tag abzuschließen, und
wartete nebenbei auf seine Familie, seine Frau und die beiden Kinder, die einen Tagesausflug zu einer befreundeten Familie gemacht hatten. Es war schon etwas später, als er sie erwartet hatte, er wusste aber, dass die Kinder zum Trödeln neigten und es immer Verzögerungen geben konnte. Seine Frau hatte angerufen und gesagt, dass es wohl etwas später
werden würde und er solle sich keine Sorgen machen und das Wetter und so weiter. Er
wusste, dass seine Frau eine gute und umsichtige Fahrerin war und nicht dazu neigte, die
Kinder zur Eile anzutreiben, wenn es nicht notwendig war. So machte er sich keine Sorgen.
Er rechnete jeden Moment mit ihrer Heimkehr.
Als es klingelte, wunderte er sich zunächst, dass seine Frau offensichtlich den Schlüssel nicht
mitgenommen hatte. Es stand dann aber ein Polizist vor der Tür, der umständlich, aber
nachdrücklich bat, hereinkommen zu dürfen. Er überbrachte die Todesnachricht von Sandmanns Frau und der Tochter und berichtete, dass sein Sohn schwer verletzt im Koma liege,
verstümmelt, Verkehrsunfall, schlechte Wetterverhältnisse und Dämmerung, sehr bedauer-
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lich, selbstverständlich, keine Schuld, der Andere mit Trunkenheit am Steuer, Scherben,
Klirren, reißendes Metall, schrille Töne, Sandmann verstand nicht recht, alles schien in
weißem Rauschen zu verschwinden, aus dem einzelne Worte auftauchten, der Polizeibeamte
verhielt sich sehr taktvoll. Sandmann war dann plötzlich sehr ruhig geworden.
Der Polizist, im Überbringen schlechter Nachrichten mehr schlecht als recht geübt durch
eine kleine Zusatzqualifikation, die er einmal vor vielen Jahren im Rahmen einer Aktion des
Landesinnenministeriums, einer Art Anflug von Großzügigkeit, hinter sich gebracht hatte,
hatte diese Reaktion schon bisweilen, wenn auch selten erlebt und wusste aus seiner Ausbildung und vor allem langjähriger Berufserfahrung, dass dies die ungünstigste aller möglichen Reaktionen war. Angehörige von Opfern, die sich in ihrem Schmerz und ihrer Trauer
auflehnten gegen den Gang der Dinge, verloren zwar vorübergehend die Fassung und das
Gesicht, aber nur so waren sie in der Lage, beides früher oder später wieder zu finden.
Dieser hier reagierte sehr kurz sehr intensiv, einen Moment lang dachte er schon, der Mann
würde ihn unvermittelt zusammenschlagen, auch auf solche Reaktionen war er vorbereitet
worden, und dann schien etwas in dem Ehemann und Vater zu sterben. Nicht, dass die
Menschen vorsätzlich über diese Reaktion verfügten, es geschah ihnen, etwas wie ein
schützender Kokon schien sich um sie zu legen, der sie aber zugleich einschloss in den
Kerkern der Verzweiflung.
„Herr Sandmann, ist alles in Ordnung?“
„Ja. Ja. Ich muss mich um die Angelegenheiten kümmern.“
„Nein, Herr Sandmann, das müssen Sie nicht. Wir bringen sie zum Krankenhaus, zu Ihrem
Sohn, wenn Sie das wollen.“
„Ist schon gut, ich schaffe das schon alleine.“
„Sind Sie sicher?“
„Ja. Welches Krankenhaus, sagten Sie?“
Wie ferngesteuert. Nur noch Hülse.
Das Gericht
Pathologie
Es war eine scheußliche Arbeit. Absolut grauenvoll. Die schlimmste seiner nicht gerade unerheblichen medizinischen Laufbahn. Dr. Andreas Haller kannte die beiden Toten, die auf
seinem Untersuchungstisch lagen: die Frau und die Tochter seines Kollegen und Freundes
Antonio Sandmann. Er hatte die Aufgabe vom Gericht übernommen. Die Möglichkeit, den
Auftrag abzulehnen, hatte er ignoriert, auch wenn ihm sein eigener Mut eine Heidenangst
machte. So, dachte er, konnte er alles noch einigermaßen in der Hand behalten, sich selbst
und die anderen, wozu auch immer. Und was da noch blieb an erbärmlichem Rest. Was
konnte er sonst schon tun.
Er sollte klären, woran zwei der drei Toten eines Verkehrsunfalls auf der A7 gestorben
waren und ob es schnell gegangen war oder ob sie noch eine Zeit lang im völlig zerfetzten
Unfallwagen am Leben gewesen waren. Außerdem war die Fahrtüchtigkeit der Fahrerin zum
Todeszeitpunkt zu klären gewesen, die Anwälte des betrunkenen Todesfahrers hatten das
ganz grundsätzlich in Frage gestellt und angefragt, ob nicht auch auf der anderen Seite
Alkohol oder eine Stoffwechselentgleisung im Spiel gewesen sein könnte.
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Speziell das machte übrigens Sandmanns Gefühle abgrundtief. Darüber hinaus kannte er die
Pathologie. Er wusste, was dort geschah. Zum Glück, allerbitterster Trost, war sein Freund
der ausführende Arzt.
Der, wie er erst später erfuhr, dritte Tote, der Sohn seines Kollegen – Andreas Haller dachte
zur Zeit nur noch so von ihm, der Freund fiel weg, das war seine Art, Schutz zu suchen –,
war unter klinischer Behandlung an den Spätfolgen des Unfalls, an den Folgen der notwendigen Amputation und letztlich den inneren Verletzungen nach drei Tagen gestorben.
Er war trotz allem ärztlichen Handeln nicht zu retten gewesen; da war die Sache gründlich
anders, und eine Obduktion erübrigte sich.
Als er den Körper der Toten vor sich auf dem Seziertisch aus Edelstahl liegen sah, überkam
ihn eine heillose Wut. Er erinnerte sich, wie er die Frau vor vielen Jahren auf einem kleinen
Kongress für angehende Mediziner kennen gelernt und sich sogleich in sie verliebt hatte:
ihre strahlende Erscheinung, ihr klarer Blick, ihr hoher Gang, ihre schöne Gestalt...! Sie war
seine Verkörperung aus dem Hohelied Salomonis, eine Begegnung, die er für einmalig im
Leben hielt. Für ihn jedenfalls war es eine von diesen Begegnungen, wie sie nur ganz selten
im Leben stattfinden, das spürte er sofort; in vielen Leben finden solche Begegnungen gar
nicht statt. Seine Welt fing an zu singen. Er war bereit gewesen, ihr sofort und kompromisslos sein Leben zu Füßen zu legen. Die Vollständigkeit seiner Bereitschaft war umfassend. Es
waren große und, als er feststellte, dass er sie nicht für sich gewinnen konnte, verzweifelte
Gefühle.
Sie hatte sich ihm freundlich zugewandt, als sie aber sah, welche Erschütterungen sie in
seinem Leben verursachte, hatte sie sich ebenso sanft wie bestimmt zurückgezogen. Sie
hatte sich für Antonio entschieden. Beides war voneinander unabhängig geschehen.
Andreas Haller verstand nicht, wie sich diese so lebendige und warmherzige Frau mit
seinem viel spröderen, wortkargen Freund hatte abgeben mögen, der zwar auch gut aussah,
sicherlich, nur nicht halb so viel hermachte wie er selber. Aber schließlich musste er zähneknirschend akzeptieren. Es kostete ihn jede Menge Kraft und einen Teil der Gesundheit
seiner Zähne im Schlaf. Er war nie wirklich darüber hinweggekommen, auch wenn er seinen
Schmerz und das Gefühl der Niederlage vor seinem Freund für immer verheimlicht hatte,
und auch wenn er sah, wie gut die Verbindung der beiden war: der Neid hatte nie ganz aufgehört. Dass es sein Freund war, der sie letztlich bekommen hatte, machte einen eigenen,
höchst ambivalenten Teil des Dramas aus.
Antonio dagegen schien von Andreas’ Kampf nichts mitzukriegen. Er hatte kurz registriert,
dass sich sein Freund verliebt hatte, aber genauer hingesehen hatte er damals und auch
später nicht. Sein Blick war seit jeher introvertierter.
Wann immer Andreas Haller sich vorstellte, er selbst lebte an ihrer Seite, empfand er einen
Stich, auch noch Jahre später. Und dass er zum Trauzeugen bestellt worden war, bekam er
nur ganz knapp an seiner persönlichen Interpretation einer bitterbösen Ironie vorbei interpretiert.
Sie waren verliebt bis über beide Ohren und sahen nur sich an, und so war es nicht böse
oder tröstend gemeint, als sie ihn fragten. Verena ahnte, was in Andreas vorging, hatte sie
doch auf seine Werbung deutlich reagiert, allerdings ahnte sie nicht und niemals das ganze
Ausmaß. In ihrer warmherzigen Art war sie etwas ratlos, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Als sie aber wieder zu ihrem Antonio hinschaute, waren alle Unsicherheiten
verflogen, und sie schien sehr früh zu wissen, wo ihr Heim war: an seiner Seite.
Sie war zweifellos die Stärkere von den Beiden. Jedenfalls nach außen hin.
Schließlich war er, er wusste sich nicht anders zu helfen, in gewissermaßen auf sich selbst
bezogenem Zynismus, in seinem Beruf zur forensischen Pathologie gekommen. Den Zusammenhang konnte er nicht erklären, aber er spürte ihn. Ihm wurde klar, dass es sich um
einen Nachhall seiner Niederlage und seines Verlustes handelte: wenn er den Umgang mit
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dem Leben, wie er es sich vorstellte, nicht bekam, dann sollte es eben der Tod sein.
Daneben hatte er jede Menge Affären mit verschiedenen Frauen und auch mit unterschiedlichen Zweigen seiner Wissenschaft. Nur diese Obduktion, diese letzte Begegnung mit der,
jetzt wagte er es endlich, es zu sagen: Königin seines Herzens war ganz gewiss nicht das Ziel
seiner Ausbildung gewesen.
Nun lag sie hier vor ihm, bis auf die äußeren Blessuren schön, wie er sie sich vorgestellt
hatte, immer noch schön, und war quasi in den Armen eines Anderen gestorben, und leider
nicht einmal das. Kurz dachte er und lachte beinahe schrill und irre, bei ihm wäre ihr das
nicht passiert. Dann kriegte er sich wieder ein. Alle Erinnerungen an die intensive Zeit nach
ihr fluteten zurück in seine Gegenwart. All das, was er vergraben hatte in der Hoffnung, es
nie wieder zu Gesicht zu bekommen, lag vor ihm. Diese Nacht, dieser Tag, diese endlos
lange Zeit der Obduktion stellte sein finsterstes Abschiedsritual dar. Er war kurz vor der
Nekrophagie. Irrsinnige praktizieren so etwas.
Es war offensichtlich keinem Vertreter der Staatsmacht bewusst, welche Abgründe an
Zwischenmenschlichkeit sich hier öffneten, die Seele des verbleibenden Beteiligten verschlangen, ihr Schaden zufügten und diese untote Seele zurückschickten in die kurzfristig
leere Körperhülse.
Als er ihren Leichnam öffnete, fand er schon bald seine Erwartungen bestätigt: die Frau,
Verena Sandmann, hatte zahlreiche innere Verletzungen auf der linken Körperseite, die Milz
war infolge des Zusammenpralls gerissen und hatte schwere innere Blutungen erzeugt, der
linke Lungenflügel war gerissen und kollabiert, mehrere Rippen gebrochen, eine davon hatte
das Perikard, den Herzbeutel verletzt. Die Bauchspeicheldrüse war gestaucht und gequetscht, und so war es schon allein wegen der wahrscheinlichen Schmerzen ihr Glück gewesen, dass sie sofort gestorben war. Außerdem wies sie eine schwere rechtsseitige laterale
Trümmerfraktur der Halswirbel C3 und C4 sowie einen linkslateralen Bänderabriss der
ligamenta intertransversaria C2 bis C6 und einen Riss des ligamentum longitudinale
posterius in der Halswirbelsäule auf, eine Folge der enormen Aufprallkräfte beim Unfall.
Vor allem der Riss des ligamentum longitudinale und die gleichzeitige Fraktur der Wirbelkörper zeigte, wie heftig der Aufprall gewesen sein musste. Es war eines von den Bändern,
die der Wirbelsäule Stabilität und dem Rückenmark Schutz gaben, die rissen nur bei extremen Belastungen. Das Auto war mit unverständlich viel Schwung von rechts hinten angestoßen worden, was die Wirbelsäulenverletzungen erklärte, die Kopfstütze hatte wegen
der Trägheitsbewegung nach rechts hinten nichts genutzt, der Kopf war glatt daran vorbeigeschleudert worden. Dann war das Auto mit der linken Vorderseite gegen die linke Leitplanke geschleudert worden, was die inneren Verletzungen zur Folge hatte. Der Airbag hatte
sich geöffnet, aber um den entscheidenden kleinen Teil an der Person vorbei. Sie war dann
links in die Tür gekracht, nicht frontal in die Lenksäule. Der Tod war sofort eingetreten,
wahrscheinlich war sie schon tot, als sie in die Leitplanke prallte.
Solche Unfälle in Zeitlupe mit Crash-test-dummies zu sehen, war schlimm genug, aber an
einem Menschen waren die Folgen verheerend. Die seitlichen, versetzten Unfälle stellten
sich fast immer als viel folgenschwerer dar als Frontalunfälle. Die Scherkräfte konnten
gerade bei den Geschwindigkeiten, die auf Autobahnen gefahren wurden, auch von ausgebildeten Bodybuildern oder Boxern nicht abgefangen werden, geschweige denn von einer
untrainierten Frau. Spätestens ab zirka achtzig Stundenkilometern war jeder derartige Versuch für jeden Menschen vollkommen aussichtslos.
Die Untersuchung auf Alkohol oder Restalkohol verlief negativ. Selbst der so genannte
Pilotentest, der Alkoholkonsum auch nach langer Zeit noch nachweisen konnte, wies
keinerlei Ergebnis auf. Gleichwohl war es demütigend, den Test machen zu müssen.
Andreas Haller verfluchte die Anwälte, auch wenn er sie verstand. Ihre Aufgabe war
meistens undankbar und für den juristischen Laien meistens nicht einzusehen.
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Der Tod der Tochter seines Kollegen stellte sich anders dar. Sie hatte rechts hinten gesessen, im Sicherheitsgurt. Das Auto war gleichsam unter ihr weggestoßen worden, wodurch
die Masseträgheit wirksam wurde. Ihr Kopf war gegen die hintere rechte Fensterscheibe
geprallt, die möglicherweise erst durch diesen Aufprall zerstört worden war. Anders war das
Ausmaß der Verletzung nicht zu erklären. Sie wies ein großes, subdurales Hämatom auf, das
nach einer folgenden oder auch gleichzeitigen Ruptur der Arachnoidea zu massiven Einblutungen in das Hirngewebe geführt hatte. Sie hatte zwar ebenfalls keine Chance gehabt,
hatte aber vermutlich noch einige Zeit lebendig im zertrümmerten Auto gesessen. Es ließ
sich nicht feststellen, ob sie bei Bewusstsein gewesen war, er hoffte es aber nicht.
Wahrscheinlich war, dass sie das Bewusstsein verloren hatte, aber bei Kindern und Jugendlichen wiesen die Knochenstrukturen oft noch ein gewisses Maß an Raum gebender
Flexibilität auf, sodass es nicht genau zu sagen war. Ihr rechter Arm war ebenfalls gequetscht, wie bei ihrem Bruder das linke Bein und der Unterleib. Das Auto musste direkt
angehoben und quasi wie in einem kleinen, erschrockenen Satz nach links fliegend in die
Leitplanke geschleudert worden sein, denn es ging eine Aufpralllinie von rechts hinten oben
nach links vorne unten durch das Auto, als sei es von oben herab auf das Hindernis geprallt.
Ähnlich wie bei einer Gehirnerschütterung konnte man aus den Verletzungspunkten des
Gehirns auf die Richtung schließen, aus der der Aufprall gekommen war. Das festzulegen
gehörte allerdings nicht zu Hallers Aufgaben. Dafür gab es die Gutachter von der Unfallforschung.
Die Tochter war jedenfalls nicht sofort tot gewesen, sondern hatte noch eine Weile gelebt.
Er beschloss, dass der Tod in der Bewusstlosigkeit eingetreten war. Die Vorstellung, dass
dieses Kind im Grunde vielleicht noch einige Minuten bei Bewusstsein im Angesicht des
Todes ihrer Mutter und mit dem stöhnenden oder schreienden Bruder auf dem Nebensitz
ausgeharrt haben sollte, in einer dunklen und verschneiten Autobahnnacht, das war zu viel
schon für ihn, und auf jeden Fall für den Vater des Kindes.
„Es ist alles sehr schnell gegangen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit waren
beide sofort tot“, sagte er ihm am Telefon. Es war der letzte Gefallen, den er seinem Freund
tun konnte. Gleichzeitig hasste er sich selbst für seine verbeamtetes Sprache und merkte,
wie falsch sie war. Auch dies war ein Weg, die Distanz zu erhöhen und zugleich Ausdruck
seiner Ratlosigkeit.
„Was soll das heißen: mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit?“
„Antonio!“ Beinahe hätte er geschrien, seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. „Sie
waren sofort tot. Ich war doch nicht dabei, das soll es heißen! Du weißt doch, wie das ist.
Verdammt noch mal.“ Lange Pause, Andreas Haller hörte nur das leise Atmen seines
Freundes. Manchmal, auf jeden Fall aber dieses Mal, erzeugte das den Eindruck, der Andere
sei direkt an unserer Seite. Andreas Haller meinte, spüren zu können, wie die Worte langsam
durch die Etagen des Hauses sickerten, bis sie den Keller erreichten.
„Und? War es schlimm?“ fragte Sandmann schließlich.
„Ja.“ So oder so.
Haller schrieb: Tod durch Contusio cerebri, Hirnquetschung, ohne dass das Kind noch einmal zu Bewusstsein kam. Er dachte darüber nach, seinen Beruf aufzugeben, auch aus den
allerpersönlichsten Gründen.
Der Tag des Gerichts
Die Gerichtsverhandlung war ein Debakel. Die Anwälte von Gregor Steiner beharrten
emotionslos auf der möglichen Beteiligung eines österreichischen Lkws an dem Unfallgeschehen und dass „eine eindeutige, hundertprozentige und über allen Zweifel erhabene
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Spur...“ und ähnliche juristische Feinheiten. Und der Fahrer dieses Lkws sei ihrem
Mandanten schon an der Raststätte zuvor durch sein rücksichtsloses Verhalten aufgefallen.
Und es habe Verwicklungen gegeben, an denen eben ein Dritter beteiligt gewesen sei, und
Steiner war bei seiner Aussage weinerlich und selbstgerecht, es war am Ende einfach nur
noch zum Kotzen.
„Wir konnten den Spuren Ihres Autos an der Unfallstelle entnehmen, dass Sie mit deutlich
überhöhter Geschwindigkeit gefahren sind, vor allem bei den gegebenen Wetterbedingungen.“
„Ich war völlig erschöpft, ich war schon neun Stunden lang unterwegs, ich wollte einfach
nur noch schnell nach Hause.“
„Wir haben von Ihren Anwälten gehört, dass Sie eine Art Auseinandersetzung mit einem
Lkw gehabt haben wollen. Können Sie uns sagen, was da vorgefallen war?“
„Er ist auf der Raststätte so dicht an mir vorbeigefahren, dass ich völlig nass gespritzt
worden bin und mit nasser Hose weiterfahren musste. Und da wollte ich ihm zu verstehen
geben, dass das so nicht geht. Ich war ziemlich wütend auf der Raststätte, aber was dann
geschah, daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern, ich...“
„...und das mit annähernd zwei Promille?“
„Einspruch, Herr Richter, es waren 1,8 Promille, und die gegnerische Partei weiß das. Unser
Mandant soll hier offenbar verleumdet werden.“
Es klang alles, was sie sagten, so aufgeblasen und wichtig, als sollte die Französische
Revolution mit allen ihren Errungenschaften zu Grabe getragen werden. Sandmann hörte
angewidert zu.
Die Begutachtungen des Unfallortes hatten frische Bremsspuren ergeben, Gott weiß, wo sie
die herausgekramt hatten, die von einem Lkw stammten und zeitlich wie örtlich in das
Muster der Bremsspuren von Steiners Limousine passen konnten, auch wenn es keine Drittbeteiligung gegeben hatte und keine Zeugen, die eine Beteiligung eine Lkws bestätigen
konnten. Außerdem wurde dieser Lkw nie gefunden. Aber es war jedenfalls eine Beteiligung
nicht völlig auszuschließen gewesen, und so schwebte eine wenn auch kleine oder nicht
näher zu quantifizierende Mitschuld frei im Raume und landete auf niemandes Schultern im
Besonderen. Die Gutachter ließen sich nicht eindeutig aus und bedauerten im Übrigen sehr.
Dem Staatsanwalt musste an dem Tag schlecht gewesen sein, oder es war mit der Verhandlung über einen Verkehrsunfall unter Einfluss von Alkohol ein Thema dran, bei dem er
an der Universität die Masern gehabt hatte. Er war nicht bei der Sache.
Als Dr. Haller, der vom Gericht bestellte Pathologe, in erzwungen sachlichem Ton vortrug,
hörte Antonio Sandmann nicht mehr richtig zu. Er konnte seinen Freund und Kollegen
nicht anschauen, und auch der vermied es, zu Sandmann hinüber zu schauen. Der Schmerz
in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen und die Obduktion stand wie ein Berg
zwischen ihnen. Es war nichts mehr gerecht, beide wussten das, aber darum ging es auch
nicht mehr.
Gregor Steiner erfuhr niemals, in welchen Schlingen er sich befand. Er erfuhr am Tag der
Urteilsverkündung lediglich, dass er nach Paragraf 69 mit Entziehung der Fahrerlaubnis bestraft wegen Trunkenheit im Straßenverkehr und nach Paragraf 315c mit einem Jahr Freiheitsentzug, ausgesetzt zur Bewährung, und Zahlung einer Geldstrafe wegen fahrlässiger
Tötung. Er hatte, anders als es den ersten Anschein hatte, gute Anwälte, die ihm vorgeschlagen hatten, auf Filmriss zu plädieren, so könnte er wegen der Sauferei bestraft
werden und nicht wegen des Totschlags, es gäbe Präzedenzfälle, es bestünde eine gewisse
Chance auf Strafmilderung wegen Unzurechnungsfähigkeit.ii
Gleichwohl hatte er nicht auf sie gehört, als sie ihm dringend empfahlen, mit Sandmann zu
sprechen, das komme bei Gericht gut an. „Was soll ich denn sagen? Tut mir leid? Als hätte
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ich sein Spielzeug kaputt gemacht? Das kann ich nicht. Außerdem...“ Außerdem beharrte er
wie ein störrisches Kind auf seinem beteiligten Lkw. Und so sprachen Steiner und Sandmann das erste Mal im Gerichtssaal miteinander.
Bevor Sandmann sich dann aufmachte, das Verhandlungszimmer zu verlassen, ging er zu
Steiner hinüber, und es ist möglich, dass der bei dem Blick in seine Augen als einziger erkannte, wie sehr Sandmann innerlich brannte, dass er das Grauen erkannte, das sich in
seinem Inneren aufgetan haben musste. Es war geradezu erschreckend für ihn und er wäre
beinahe vor Entsetzen zurückgesprungen in der Erwartung, Sandmann würde eine Waffe
ziehen oder sich auf ihn stürzen und ihn mit seinen bloßen Händen erschlagen oder erwürgen. Allen Anderen kam Sandmann wie erloschen vor. Er beugte sich ganz leicht zu
Steiner hinüber, und der wollte gerade irgend etwas stammeln im Sinne von alles sei ganz
furchtbar, und es tue ihm alles entsetzlich leid und da könne man nichts machen, es wurde
ihm auch in diesem panischen Sekundenbruchteil bewusst, dass er auf seine Anwälte hätte
hören sollen, als sie ihn aufgefordert hatten, den Überlebenden aufzusuchen, nun aber war
es zu spät. Aber bevor er noch ansetzen konnte, sagte Sandmann ruhig und leise, aber deutlich und beinahe höflich zu Steiner: „Sie werden mich nicht vergessen.“ Es kostete Sandmann das Äußerste seiner Kraft, seine Stimme unter Kontrolle zu behalten.
Gregor Steiner wusste, dass es in einer Hinsicht sowieso so sein würde: natürlich würde er
den Mann nicht vergessen, dessen Familie er im Rausch ausgelöscht hatte, aber nun ahnte
er, dass das in mehrfacher Hinsicht stimmen sollte, und zu seinem Unbehagen wegen seiner
Tat gesellte sich erstmalig Angst, eine abgrundtiefe und erschütternde Angst vor diesem
Mann. Das erschreckende Ausmaß dieser Angst erkannte er sofort, ohne es je ganz verstehen zu können; er hatte das Gefühl, verflucht worden zu sein. Hilfe suchend sah er sich
nach seinem Rechtsanwalt um, sah auch, dass dieser wie alle anderen im Gerichtssaal die
Begegnung zwischen Sandmann und Steiner mit wachen Augen verfolgt hatte, um gegebenenfalls eingreifen zu können, dann überlegte er kurz, was da soeben eigentlich geschehen war, und ihm wurde bewusst, dass er nichts sagen konnte. Was hätte er tun sollen?
Sollte er sich beim Richter beschweren?
Sandmanns Anwalt schlug ihm Widerspruch gegen das Urteil vor, erklärte auch die Aussichten für recht gut, aber da Sandmann keine Kraft mehr zu haben schien, sich um die
Fortsetzung dieses Prozesses zu kümmern, es jedenfalls nicht tun wollte, sah es aus, als
resignierte er, und so blieb es bei dem Urteil. „Lassen Sie es sein“, sagte Sandmann seinem
Anwalt. Tatsächlich schien er am Ende des Prozesses eine Verurteilung von Gregor Steiner
gar nicht mehr zu wünschen. Sandmann wirkte verbissen und abwesend zugleich. Seinem
Anwalt kam der schlimme Verdacht, Sandmann könne sich persönlich an Steiner noch im
Gerichtssaal rächen wollen, aber zu seiner Erleichterung bewahrheitete sich der Verdacht
nicht. Er erlebte es, als er sah, wie Sandmann zu Steiner hinüberging, aber lediglich einige
Worte sagte, die er nicht verstand. Sein Mandant sprach zu leise.
Der Gedanke kam Sandmann mittlerweile unerträglich vor, Gregor Steiner der Exekutive zu
überlassen. Absitzen, aussitzen mit dem Gedanken, seine Schuld zu tilgen, die dann am
Ende des Sitzens als getilgt zu gelten hätte: das war ihm zu viel. Ihm kam eine mögliche Gefängnisstrafe lächerlich vor. Zwar wusste er nichts von Steiners geistigem Format, konnte
sich auch kaum vorstellen, dass man nach einer Haftstrafe wieder seinen alltäglichen Verrichtungen nachgeht, aber hier war ihm zu Vieles Spekulation. Der Versuch, einem nicht
vorhandenen Österreicher eine Teilschuld oder gar die ganze zuzuschieben, dokumentierte
den jedenfalls verständlichen Reflex, möglichst unversehrt aus der Sache herauszukommen.
Und Steiner hatte auch keinen einzigen Versuch unternommen, irgend eine Art von
Kontakt mit Sandmann aufzunehmen. Sandmann war nicht der Meinung, Steiner hätte das
tun müssen, um sich zum Beispiel zu entschuldigen. Es war ihm klar, dass man, solange
man Autos selbst steuert, immer auch potenziell auf die Vernichtung zusteuert und dass es
mal schief gehen kann. Die Chance war zwar gering, aber sie existierte. Hätte ihm Steiner
gesagt, wie sehr er unter dem Unfall litte, er hätte einen Zugang zum Totschläger seiner
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Familie gefunden. Und wäre er auch nur gekommen, um zu stammeln oder zu schweigen,
was ja immerhin menschlich gewesen wäre, er hätte ihn in seine Wohnung gesetzt, und sie
hätten zusammen gestammelt und geschwiegen; was gab es schon zu sagen.
Vielleicht hätte er hier noch die Gelegenheit gehabt, das gesamte Ausmaß des Unheils zu
erfahren, das er angerichtet hatte. Alle Toten, die es gab.
Aber eine Welt zu zersprengen und dann die Hände zu heben und entrüstet zu rufen, ich
war’s nicht, der da war’s, zu tun, als habe man mit dem allen nichts zu tun und dann seine
Rechtsanwälte zu schicken, das war mehr, als er mit ruhigem Verstand ertragen konnte. Der
bezahlte seine Anwälte oder ließ sie vielleicht sogar von der amtlich bestallten Stelle für
Prozesskostenhilfe bezahlen, und damit hatte es sich erledigt: das ging nicht. Erst damit
wurde er in Sandmanns Augen endgültig vom Totschläger zum Mörder. Er wusste es besser
und sagte es schlechter. Steiner stahl sich vor seiner Verantwortung davon wie der Mörder
in der Nacht. Erst der Vorsatz macht aus dem Zufall die Absicht, und wenn der Vorsatz,
Deckung zu suchen, im Nachhinein kam, dann kam er eben später.
Als Antonio Sandmanns Mutter in Italien von dem Urteil erfuhr, wandte sie den Blick nur
dumpf zur Seite, sagte zwar nichts, sprach aber auch in der Folgezeit mit kaum noch einem
Menschen. Ihr Herz war gebrochen, die Sonne erloschen. Ein knappes halbes Jahr später
starb sie an irgendetwas. Als Antonio sie kurz vor ihrem Tode noch einmal besuchte, sagte
sie nur „ach, mein Junge“ und verfiel wieder in Schwermut. Das war ihre letzte Äußerung.
Sandmann verschwand wie auf der Flucht, wie von Furien gehetzt. Es war unerträglich,
diese Mittelsäule seines ehemaligen Lebens eingestürzt zu sehen.
Was wäre Glück, das sich nicht mäße an der unmessbaren Trauer dessen was ist? Denn verstört ist der Weltlauf.iii
Zwischenwelt
Die erste Zeit war unvergleichlich gewesen. Antonio Sandmann trieb sich herum und war
ein halber, ein unvollständiger Schatten seiner selbst. Die Monate bis zur Gerichtsverhandlung und die Zeit danach verbrachte er wie in einem Albtraum, der in atemberaubend
zähem Sirup erstickte, immer wieder unterbrochen von noch entsetzlicherem Erwachen.
Sein Schlaf war flach und oberflächlich, und wenn er wach lag, spürte er die Wurzeln der
Einsamkeit durch seinen Leib wachsen. Besonders die Zeit unmittelbar nach dem täglichen
Erwachen, in der er versuchte, sich in seiner Welt zu orientieren und keinen vertrauten
Boden mehr fand, war immer wieder schlimm. Das war die Zeit, in der er oft dachte, er sei
noch nicht richtig wach geworden, denn er träumte ja, dass seine Familie tot war. Vor allem
um diese Zeit herum fühlte er sich schutzlos ausgeliefert, ohne dass er sagen könnte, an wen
oder an was. Mit irgend einer Art von Realität konnte das alles nichts mehr zu tun haben. Er
hatte nicht gewusst, dass es so etwas gab.
Antonio Sandmann hatte dann nach der Verhandlung damit begonnen, das Haus, in dem er
mit seiner Familie gelebt hatte, leer zu räumen und konnte eines Tages nicht mehr damit
aufhören. Tag für Tag, Woche um Woche wurde sein Haus leerer, es kam alles in den Müll.
Er versuchte sogar, den Müll vor den Nachbarn zu verstecken, als schämte er sich seines
Verlustes. Er hatte seine Familie verloren, und so hatten Besitz, Freundlichkeit, Bemühen,
Gerechtigkeit und Zusammenhalt für ihn keinen Sinn und Inhalt mehr. Wo andere verwaiste Eltern die Zimmer der verstorbenen Kinder abschließen und nichts mehr berühren,
als erwarteten sie die Rückkehr jeden Moment, betrieb er, ohne es recht zu merken, ein
dunkles Fest der Vernichtung. Die Sachen, die ihm unter die Hände kamen, wurden kurz
gesichtet, dann kamen sie weg. An ein paar kleinen Dingen blieb seine Aufmerksamkeit
hängen, einiges von seiner toten Frau, einiges von seinen toten Kindern. Die Bilder, die sich
bei den Dingen einstellten, waren zugleich schmerzhaft und furchtbar, weil er, egal, was er
tat, in der Tiefe seiner Seele ununterbrochen spürte, dass diese Menschen für immer vorbei
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waren wie schönere Tage. Jeder kleine Augenblick konnte ein kleines, perfides Erschrecken
bedeuten, und selbst wenn es nicht eintrat, das Bewusstsein davon war allgegenwärtig.
Die Spielsachen und Kleider seiner Kinder: es war grauenhaft. Wie gegenstandslos sie geworden waren ohne die Kinder, die ihnen ihr kleines Leben eingaben, wie diese Dinge
vampirgleich nicht sein Blut, sondern seine ganze Seele wegsaugten. Sie waren wie reines
Löschpapier aus reiner Asche. Anders konnte er es nicht mehr empfinden. Dieses eine
Murmelchen, um das es damals so viele Tränen gegeben hatte: dahin. Dieses eine Spiel für
kleine Kinder, das sie noch aufbewahrt hatten: er hatte sich immer gewundert, mit welcher
Geduld seine Frau ihren Stein jeweils ein Feld hatte vorrücken können, und er war ihr
damals dankbar gewesen, dass sie ihm das abgenommen hatte. Heute hätte er sein Leben
gegeben, um es noch einmal mit ihnen spielen zu können, und er hätte es gerne gegeben.
Dabei kam ihm dieses imaginäre Angebot an den Engel der Geschichte mies vor, denn was,
so empfand er, war sein Leben schon noch wert, was bot er als Tausch schon an.
Besonders schlimm waren all die kleinen Dinge, die schon ein bisschen angeschlagen oder
gar entzwei waren, vergessen, und die unaufgeräumt am Boden der Spielkisten lagen. Sie
trugen die Spuren der damaligen Zeit und machten noch deutlicher, wie viel anders, wie viel
leerer und sinnloser die jetzige war.
Und noch einmal kamen die Erinnerungen wie unerwünschter Besuch. Sie kamen ungeordnet und in einer wilden Schar, der sämtliche Zeit abhanden gekommen war:
wie sein kleiner Sohn, damals vielleicht zwei Jahre alt, eines Morgens, gegen drei Uhr, in
seinem hellblauen Schlafoverall aus Frottee auf allen vieren über den Flur gekrochen kam,
mit seinem Bären im Arm; es war nur ein merkwürdiges, scharrendes Geräusch auf dem
Teppich zu hören gewesen, das er nicht kannte aus seinem Haus; er war hingegangen, fand
seinem Sohn vor, hatte ihn hochgenommen und festgestellt, dass er im Schlaf unterwegs
war; er nahm ihn mit ins elterliche Bett;
oder wie er mit seiner knapp dreijährigen Tochter auf dem Arm bei Gewitter am Fenster
stand, um ihr das Wetter zu zeigen, und als es blitzte, schaute sie ihn an und fragte: „Foto?“
Sie hatte ihrem Papa immer die erstaunlichsten Fragen gestellt und die unglaublichsten
Perspektiven eröffnet.
Das Gefühl, dass es ihm das Herz aus dem Leibe riss, wurde in Momenten solcher Erinnerungen realer denn je; er trug eine Narbe mitten im Leben und hoffte, wünschte sich
inständig, dass sie sich nicht schließen möge. Und deutlicher denn je sah er, dass ihre
Schuhe nie wieder neben seiner Tür stehen, dass die Schritte ihrer bloßen Füße nie mehr
durch das Haus seines Lebens tapsen würden.
Und zugleich spürte er auch den doppelten Verrat, den er mit diesen Erinnerungen beging.
Zu der Zeit wäre er aber noch nicht in der Lage gewesen, zu erfassen, was daran der Verrat
war. Es sollte noch sehr lange dauern, bis er es konnte. Bis er verstand, dass der Verrat,
nämlich das Zerschlagen der Erinnerung an Menschen in einzelne Bilder ein notwendiger
Prozess war, das eigentlich Unbegreifliche langsam zu begreifen. Auf einen Sitz hätte keine
Seele und kein Geist dies geschluckt, dies eisenharte Brot. Der andere Verrat war, dass er
auf die Seite des Lebens desertiert war, dass er geblieben war, wo er hätte gehen sollen. Es
wäre seine Aufgabe gewesen, hinzugehen, um Charon in seinem uralten Gefährt zu bestechen, umzukehren, es sei dies alles nur infolge eines furchtbaren Irrtums geschehen,
eigentlich sei ja doch er gemeint gewesen, das werde sich sicherlich bald aufklären; irgendwie
seien ihm nur diese aschenen Formulare abhanden gekommen. Nun war er selbst zum
Toten- und Rachegott geworden, ohne sich dessen bewusst zu sein. Er war sein eigenes Gefährt über den Styx, den Fluss des Totenreiches geworden. Jahre nach diesen Nächten erinnerte er sich und verstand sein Befremden.
Und dann die Sachen seiner Frau. Er hatte sich nur einmal kurz gefragt, ob er nicht
wenigstens diesen einen Schal, den sie so gerne hatte, aufbewahren sollte, aber plötzlich, in
einem Anfall von Tränen zerbeißender Wut, hatte er den Plastiksack geöffnet und danach
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noch einen und immer wieder einen und alles hineingestopft, alles, besinnungslos, unwillkürlich und zugleich in wilder Entschlossenheit, in dem ungeheuerlichen Wissen, dass
die wichtigsten Dinge sowieso in seiner Erinnerung am blutigen Grunde seiner Seele liegen
würden bis in alle Ewigkeit und nicht zu verbannen waren, selbst wenn er es noch so sehr
gewollt hätte. All ihre Wäsche: er hatte sie dann in dumpfer Verzweiflung verbrannt. Er war
gegen Abend in den Garten gegangen. Die Nachbarn hatten von Ferne, vorsichtig, argwöhnisch und um seinen Geisteszustand besorgt, gewartet, dass er wie Rumpelstilzchen um
das Feuer tanzen, am Ende den einen Fuß in den Boden stampfen und sich am anderen
selbst entzwei reißen würde. Nur konnte niemand ihm nahe kommen, ihn zu fragen oder
gar aufzuhalten.
Sie sahen seine Silhouette, schwarz und kurz von einer flackernden Lohe umrandet, er
stand, als hielte der schwarze Tod böse Ernte, mit dem Rechen in der Hand vor dem Feuer
und kaute sich die Unterlippe durch bis aufs Blut. Aber auch dieser äußere Schmerz erreichte ihn nicht, er war in unerreichbaren Tiefen versunken. Mit verbissener Entschlossenheit warf er, nun wieder langsam und bedächtig, Stück für Stück wie Herbstlaub in die
Flammen, und als er nach Stunden des lohenden Brennens sicher war, dass seine Zuschauer
und Beobachter in den Nachbarhäusern, die ja von Allem wussten, die ja alles erfahren
hatten, erleichtert sich wieder ihren abendlichen Dingen zuwandten, hatte er die persönlichste Wäsche seiner Frau geholt, die nur noch ihm selbst galt. Welche Höllenfeuer in
diesen Momenten in ihm brannten, konnte niemand mehr beschreiben.
Manches von dem, was verbrannte, veränderte die Farbe der Flammen, und so, wie das
Feuer unerwartete Farbspektren durchlief, flackerte seine Welt in ihm, und jeder bis zu
diesem Tag bekannte Rhythmus seines Lebens war dahin. Und ein neuer Rhythmus kam
auf, die dunklen Trommeln schlugen mit Macht. Und dann am Ende der Nacht: Eos
rhododaktylos, die rosenfingrige Morgenröte aus steingrauer Vorzeit kam auf, aber eine, die
ihm von einem atomarem Feuer herzurühren schien. Sie verzehrte alles, es war ein furchtbares Morgengrauen, und als schließlich der letzte Teil der Kleider verbrannt war, ging auch
die andere Sonne wieder auf und es wurde Tag. Ein grauer Tag.
Und dann hatte er plötzlich sein Lieblingsfoto von seiner Frau und den Kindern in der
Hand. Es wurde ruhig in ihm und um ihn herum, ganz still. Er hörte die Zeit. Diese besondere Zeit. Er war sich sicher, die Erde bliebe nun stehen, nur für ihn, und weit auf der
anderen Seite der Erde kam gerade jemand um vor Schmerz, jemand, der natürlich nicht er
selbst war. Etwas in ihm wechselte die Perspektive und er sah sich von außen: wie er das
Foto in der Hand hielt, wie er es hinhielt in den leeren Raum um sich her, in einer leeren
Bewegung, ja, aber da war keine andere Hand, die sich öffnete, diese letzte Gabe zu
empfangen, die Bewegungen liefen in Zeitlupe ab, und so ließ er es los, ja, er lies es los und
es fiel zu Boden. Und das Foto landete im Feuer, und ja, es verbrannte in der letzten Glut
und wurde zu Nebel.
Die ersten Nachbarn verließen in den frühen Morgenstunden ihre Häuser, die Asche wurde
kalt, das Leben ging weiter. Antonio Sandmann aber, an der kalten Glut stehend, hätte lauthals und Mord schreiend durch die Straßen laufen mögen. Er tat es nicht. Der Irrsinn tobte
weiterhin hinter verschlossenen Fenstern.
Schließlich beschloss er, alles wegzugeben, alle Möbel, alles Geschirr, auch das der Kinder.
Auch von seinen eigenen Sachen behielt er nichts mehr, kein Buch, keine Musik, keine Erinnerungsstücke oder Fotos. Eine Zeitlang stand noch sein Bett. Sein wahres Bett stand
sowieso seit Langem an ganz anderer Stelle, und es war leer. Dann verkaufte er sein Haus
weit unter Preis, übergab seine bis dahin gut laufende Arztpraxis einem jungen Kollegen zu
einem Spottpreis, man fragte sich schon, ob er sich das Leben nehmen wollte oder ob er
vielleicht wahnsinnig geworden war und nicht mehr wusste, was er tat. Hätte man ihn gefragt, die Antwort wäre unklar gewesen. Aber niemand fragte ihn, niemand hielt ihn auf.
Wer hätte es tun sollen.
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Er war innerlich zerfressen wie ein ausgebranntes Haus. Er löste alle Verträge auf, kündigte
sämtlichen Versicherungen die Verträge, zog alles Geld an sich zurück, stellte alle
Zahlungen ein, kümmerte sich um keinerlei Fristen mehr, Einwände liefen ins Leere, ein
letzter Anwalt verhinderte sie. Dann machte er ein letztes Konto auf und zahlte sein Geld
ein, bis auf einen kleinen Restbetrag. Er handelte folgerichtig und konsequent.
Es bedarf des Unglücks, um gewisse geheimnisvolle, in dem menschlichen Verstand verborgene Minen zu graben; es bedarf des Drucks, um das Pulver zum Ausbruch zu bringen.iv
Er verschwand für Jahre.
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III Ein Abend in Venedig
Anfang Mai, Venedig
Am Molo
W
enige Minuten vor acht stand Antonio Sandmann am Molo, der Anlegestelle der
Gondeln am Markusplatz, und wartete auf Prosperina, auf seine abendliche Verabredung und Begleitung.
Die Luft war inzwischen wieder angenehm lau geworden, und es hatte am späteren Nachmittag eine erfrischende Abkühlung gegeben, sodass es jetzt angemessen war, eine leichte
Jacke zu tragen. Er stand mit dem Rücken zum Markusplatz, zwischen den beiden Säulen
von San Marco und San Teodoro, und sah über das Wasser, den Canale della Giudecca zur
Kirche Il Redentore hinüber, von hier aus links neben der Punta della Dogana, Richtung
Südsüdwest, wie er sich zu seinem Zeitvertreib errechnete. Er sah einem Vaporetto hinterher, der sich zwischen den Anlegestellen Zitelle und Redentore auf der Giudecca befand
und die zweite schon fast erreicht hatte. Er beobachtete die schaukelnde Reflexion der
ersten Lichter des Vaporetto auf der Wasseroberfläche, die plötzlich unterbrochen wurden,
als eine Gondel den Lichtstrahl zwischen seinem Standort und dem Vaporetto kreuzte und
dadurch die rhythmischen Bewegungen des Gondoliere wie in einem Schattenriss sichtbar
wurden. Sandmann war die Gondel zunächst nicht aufgefallen, und nun sah er, dass sie
ebenfalls zur Giudecca hinüberfuhr, allerdings in einem anderen Winkel, sodass sie eher von
Osten nach Westen fuhr. Es war etwa eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang, und als der
Gondoliere mit seiner Rudertätigkeit einmal aufhörte, blickte er in die Sonne, die schon fast
den Horizont berührte: er musste also freie Sicht auf sie haben, denn er bedeckte seine
Augen mit der Hand und schaute ihr für einen Moment so hinterher, als wollte er sie ein
letztes Mal anschauen. So jedenfalls kam es Sandmann vor, der die Szene aus der Ferne beobachtete. Und obwohl die Strecke zur anderen Insel hinüber fast einen Kilometer betragen
mochte, wirkte dieses Bild irreal nahe.
Unter bestimmten atmosphärischen Bedingungen, so wusste er aus eigener Beobachtung,
wirken ferne Dinge manchmal unwirklich nahe, so dass man meint, man müsse sie bald berühren können; aber das ist nur scheinbar, denn wenn man sich ihnen nähert, ziehen sie sich
zurück und werden für uns unerreichbar wie in einem Traum, in dem man laufen will und
nicht von der Stelle kommt. Für einen endlos scheinenden Moment verharrte der
Gondoliere in seiner Haltung, es wirkte, als wische er sich über die Augen oder berührte
sich an der Stirn, ob aus Erschöpfung oder um sich gegen die Sonne zu schützen und in die
Ferne zu schauen, war nicht zu erkennen. Und so brannte sich das Bild ein in Antonio
Sandmanns Netzhaut und seine Erinnerung, und einige Bilder unseres Lebens, deren besondere Bedeutung oder deren Umstände wir gar nicht kennen, bleiben uns im Gedächtnis
für den Rest unseres Lebens. Im richtigen Abstand beginnt alles zu flimmern, wir wissen
nichts mehr davon, wie viel Distanz zwischen den Dingen und uns liegt, und nun verlieren
wir den Überblick. Dieses Bild sollte eines davon werden.
In tiefen Zügen wie ein Durstender das Wasser nahm Sandmann es in sich auf, es nahm ihn
fast ganz gefangen in seinem eigenartigen atmosphärischen Zauber, erschien es ihm doch in
so vieler Hinsicht ein Abbild seines Lebens.
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Im Restaurant
Sandmann hörte ein Räuspern hinter sich und registrierte, dass er Prosperinas Gegenwart
schon einige Sekunden lang gespürt hatte, ohne sie sich allerdings bewusst zu machen. Er
drehte sich langsam zu ihr um.
„Guten Abend“, sagte er, „schön, Sie zu sehen.“
„Guten Abend, ja, ich freue mich auch.“
„Diese Szene hier Richtung Il Redentore erinnerte mich eben an ein Bild von William
Turner.“ Er drehte sich zum Wasser hin um, um ihr zu zeigen, was er meinte, aber die
Gondel war nicht mehr da. Er war verblüfft. „Komisch“, sagte er wie zu sich selbst, „weg.“
Prosperina half ihm aus der Klemme.
„Ich kenne William Turner nicht. Muss man ihn kennen?“ Ein etwas unsicheres Lächeln
zog über ihr Gesicht. Zwei, drei Sekunden lang musterte er sie von oben nach unten, ohne
dabei allerdings respektlos oder anmaßend zu erscheinen, er beherrschte diese Kunst ohne
es zu wissen, und ließ ein freundliches, wie zustimmendes Lächeln auf seinem Gesicht erscheinen, als freute ihn, was er sah. Er wirkte dabei kein bisschen verlegen oder versuchte
auch nur, seinen Blick zu verstecken. Allerdings wirkte er bei Prosperinas Anblick schlagartig sehr viel jünger als noch in dem Moment zuvor.
„Nein, nein. Ich kenne ihn auch nur, weil er viele seiner Bilder in Venedig gemalt hat, und
ich mag diese Stadt. Ich habe mir seine Bilder irgendwann einmal in einem Katalog angesehen, verstehe aber nichts davon. Er ist bekannt für das Licht, das er in seinen Bildern
wiedergegeben hat. Das ist alles, was ich über ihn weiß, angelesen. Ich dachte für einen
Moment, ich hätte eines seiner Motive gesehen, aber eigentlich bin ich, was Bilder angeht,
ein Laie. Gut, sollen wir uns auf den Weg machen? Sie kennen den Weg, sie führen.“
„In Ordnung. Was machen Sie übrigens in Venedig, sind Sie nur wegen Ihres Freundes
hier?“ Small Talk jetzt erst einmal. Sie wandten sich nach links, der Riva degli Schiavoni zu
und überquerten die Ponte della Paglia, die Strohbrücke, von der aus man die Seufzerbrücke
auf der Ostseite des Dogenpalastes sehen konnte. Es waren wie immer viele Menschen
unterwegs, außerdem Händler, Kellner, Maler, Karikaturisten, die ihre Dienste anboten, ein
Gewimmel von Abertausenden, und so war man gezwungen, sich dem Schritttempo anzupassen, wenn man nebeneinander gehen wollte. Sie blieben einige Momente auf der Brücke
stehen wie die meisten Touristen und schauten sich das historische Bauwerk und den
darunter liegenden Kanal an.
„Nein. Ich wollte sowieso schon lange einmal wieder hierher kommen.“
In diesem Augenblick gab es auf der Bücke ein kleines Gedrängel. Antonio Sandmann
wurde von hinten leicht angestoßen, und er drehte sich um, um zu sehen, wer da gegen ihn
geschubst worden war. Er war verblüfft. Vor ihm stand der Mann mit der Casanova-Maske
und dem dunklen Umhang, der ihm am Morgen schon in der Nähe der Kirche San Martino
aufgefallen war. Und immer noch trug er die für die Jahreszeit unpassende Kleidung, was
aber den anwesenden Besuchern nicht aufzufallen schien. Wie ein Einheimischer hatte er
einen zügigen Schritt vorgelegt, Touristen gehen langsamer, und dabei war es wohl zu einem
kleinen Zusammenprall gekommen. Für einen Moment hielt der Maskierte inne und schaute
Sandmann durch die Augenöffnungen der Maske hindurch an. Seine Augen waren kaum zu
erkennen, fast nur ein Schimmer in der Tiefe der Dunkelheit hinter dem Leder, aus dem die
Maske gefertigt war. Dann hörte er eine leise, heisere Stimme „Scusa“ murmeln. Die
Stimme klang, als käme sie aus einem anderen Raum, was wohl durch die besondere Akustik
unter dem Rabenschnabel zu erklären war. Sandmann war sich nicht sicher, ob der
Maskierte wirklich gesprochen hatte oder ob er nur die Lippen wie zufällig bewegt hatte und
Sandmann hatte zur gleichen Zeit ein Wort aus der Umgebung aufgeschnappt. Die Berührung war leicht und eine Entschuldigung eigentlich nicht nötig gewesen. Bei dem Gedrängel auf der Riva degli Schiavoni waren solche Berührungen kaum zu vermeiden.
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Trotzdem hatte Sandmann das Gefühl, dass der Maskierte sich speziell bei ihm entschuldigte und zugleich den Eindruck, die Entschuldigung sei nicht ernst gemeint gewesen.
Bevor er sich noch weitere Gedanken machen konnte, war die auffällige Gestalt schon
wieder dabei, ihren Weg mit ungewöhnlich zügigem Schritt fortzusetzen und verschwand
alsbald in der Menge. Für diesen einen Moment abgelenkt, dauerte es zwei, drei Sekunden,
bis er sich wieder auf seine Antwort besinnen konnte. Er fuhr fort. Allerdings blieb etwas
wie eine unausgesprochene Frage um ihn herum, da er nicht recht wusste, was er von dieser
merkwürdigen zweiten Begegnung innerhalb eines Tages halten sollte.
„Ach, Venedig. Ich habe hier auch noch eine Reihe von Dingen zu erledigen, ein Teil
meiner Familie lebt hier.“ Als wäre das Erklärung genug. „Aber es ist mir im Grunde so ergangen wie vielen anderen vor mir: ich habe mich in diese Stadt verliebt. Von Ferne wirkt
es, als würde Venedig auf dem stillen Meer treiben, eine treibende Welt, was auch eine
japanische Bezeichnung ist für die Welt der Geishas: beides Welten voller Kunst, Schönheit
und vor allem voller Vergänglichkeit. Für mich persönlich ist es die schönste Stadt des Universums.“ Er geriet wie so oft angesichts dieser Stadt ins Staunen und ließ seinen Worten
freien Lauf. „Die Gassen, das Licht, die Luft, so etwas gibt es nicht noch einmal auf der
Welt. Jetzt bin ich das erste Mal seit fünf oder sechs Jahren wieder hier. Es gibt so viele
Dinge in dieser Stadt, die mir gefallen und gut tun und die es nirgendwo sonst gibt. Hier
kann man sich nicht verlaufen, man kann nicht verloren gehen, weil man von allen Seiten
von Wasser umgeben ist, und wenn man nur lange genug geradeaus geht, kommt man
irgendwann an einer bekannten Stelle heraus. Trotzdem dauert es sehr lange, bis man sich
hier auskennt. Die höchste Geschwindigkeit in dieser Stadt ist ganz menschlich, die des
Fußgängers oder Vaporettos. Zu Fuß vom Markusplatz bis zum Rialto brauche ich so lange
wie mit der Linie 1. Hier ist die Welt zugleich überschaubar und unergründlich, keine langen
und geraden Straßen, alles ist verwinkelt, jeder Schritt überraschend. Die Dimensionen hier
entsprechen der Wahrnehmungsfähigkeit eines Menschen und überschreiten sie nicht so
heillos, wie die Schneisen der Ein- und Ausfallsstraßen das tun. Der Broadway mit seinen
endlosen Kilometern ist eine Illusion, Venedig ist menschlich. Und es ist eine doch zumindest ehemalige Weltmacht. Aber was erzähle ich einer Venezianerin über ihre Stadt!
Wussten Sie übrigens, dass sich ganz in der Nähe der Seufzerbrücke die Folterkammer des
Dogenpalastes befindet?“
„Nein. Aber täuschen Sie sich da mal nicht, Venezianerin hin oder her: es geht mir wie den
meisten Menschen, die in Venedig leben. Wir wissen, dass es hier von Geschichte, Kunst
und Kunstraub nur so wimmelt, Geschichte aus vielen Jahrhunderten des Abend- und
Morgenlandes, wir sehen täglich die dreißigtausend Touristen, die ja nicht ohne Grund
kommen, und würden eigentlich gerne einen Numerus clausus für Stadtbesucher vergeben,
eine Zulassungsbeschränkung. Und vielleicht nehmen wir uns sogar schon einmal vor, das
alles selbst anzuschauen, aber wir machen das immer erst morgen, domani, und dabei bleibt
es dann. Waren Sie denn schon einmal drin in der Folterkammer?“
„Ich bin es immer noch“, murmelte er sehr leise.
„Wie bitte?“
„Entschuldigung, ich war kurz in Gedanken. Nein, ich habe das auch nur gelesen. Heute bin
ich hier im Wesentlichen Tourist wie so viele Andere.“
Also, dachte sich Prosperina und gab sich einen Ruck, jetzt aber direkt: „Sagen Sie, stört es
Sie eigentlich nicht, dass Sie sich in Gesellschaft einer Prostituierten befinden?“
„Stören?“ Als sei er eben erst auf den Gedanken gebracht worden. „Nein, warum sollte es
das? Es würde mich ja auch nicht stören, mit einem, sagen wir mal Taxifahrer oder einer
Schauspielerin hier zu sein. Sie haben einen Beruf, ich habe einen Beruf, und so lange sie
keinem Menschen Schaden zufügen oder gegen seinen erklärten Willen handeln, ist es mir
egal, ob Sie eine Prostituierte sind oder sonst etwas. Sie bieten eine gefragte Ware an,
Jugend, Sex und vielleicht sogar die Illusion von Liebe,“ es gab ihr einen kleinen Stich, dass
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er es so sah, „und es wäre dumm, das nicht zu tun, wenn es gefragt ist. Jeder Geschäftsmann handelt so. Ich nehme Ihre Dienste in Anspruch, ich kann es ja auch lassen, wenn ich
es für verwerflich halte, und ich halte Ihr Gewerbe für ehrbarer als das von Waffenhändlern,
dummen Popstars und modernen jungen Werbefachleuten, die ihren Reibach machen, indem sie auch schon Kindern Zigaretten, Alkohol und anderen Unsinn verkaufen, ohne sich
auch nur einen Scheißdreck um ihre Verantwortung zu kümmern. Sie dagegen sagen, was
Sie verkaufen, nennen den Preis und verkaufen es. Ganz real – soweit ich mich auskenne“,
fügte er hinzu.
Ganz leicht, vielleicht auch bestätigend, jedenfalls aber wie fragend, legte sie im Weitergehen
ihren Arm auf Sandmanns Unterarm, so dass man sie für ein Liebespaar hätte halten
können, das am Abend neben den vielen anderen Touristen einen Bummel am Wasser entlang macht.
„Was sind Sie denn von Beruf?“
„Ich war mal Arzt, Neurologe und Neurochirurg, habe meinen Beruf aber aufgegeben.“
Antonio Sandmann räusperte sich leicht, als wollte er das Thema wechseln. Mit seiner freien
Hand machte er eine kurze, wie zustimmende Bewegung hin zu ihrer Hand auf seinem
Unterarm, als wollte er ihre unausgesprochene Frage beantworten. Nach einiger Zeit bogen
sie links ab von der Riva degli Schiavoni, wechselten im Gewirr der Gassen mehrmals kurz
hintereinander die Richtung und standen schließlich in einem Innenhof, Corte dei irgendwas, er hatte es schon wieder vergessen, in dem vor einem Restaurant ohne Leuchtreklame,
mit weiß getünchten Wänden und schmucklosen, großen Fenstern mehrere einfache Tische
und Stühle standen. Die Tische waren mit rustikalen, bräunlichen Papierdecken gedeckt, fast
wie aus Packpapier, auf dem die Kellner einfach ihre Rechnungen schrieben. War ein Gast
gegangen, dann wurde eine neue Decke von einer Papierrolle abgerissen und die alte zu
einer packpapier’nen Kugel gerollt, wie er amüsiert dachte. Sie setzten sich an einen leeren
Tisch vor dem Restaurant, bekamen Weißbrot und bestellten erst einmal Wasser für Sandmann und Wein für Prosperina, dann etwas zu Essen. Es war inzwischen, gerade in den
engeren Gassen, weitgehend Dunkel geworden, obwohl der Himmel noch abendlich blau
leuchtete.
„Antonio, so ist doch Ihr Name, nicht wahr? Wie kommt es, dass Sie einen italienischen
Vornamen haben?“ fragte Prosperina.
„Ich hatte eine italienische Mutter. Tja, meine Mutter lebte in der Nähe von Mestre, hier am
Festland gegenüber, als mein Vater sie kennen lernte. Ursprünglich lebte ihre Familie in
Süditalien. Als kleiner Junge war ich öfter hier, bei der Familie meiner Mutter: Onkel, Tante
und eine Cousine und ein Cousin. Wir sind dann immer wieder einmal nach Venedig gefahren, Karneval anschauen für die Kinder und auch sonst, das war beeindruckend, ein
Riesenspaß für uns. Leider haben sich meine Eltern dafür entschieden, uns, also meinen
Bruder und mich, hauptsächlich deutschsprachig aufwachsen zu lassen. Ich bedaure das
sehr. Mir hätte es gut gefallen, ganz zweisprachig zu leben, Italienisch so zu sprechen wie
Deutsch, als zweite oder dann ja eigentlich erste Muttersprache. So musste ich diese Sprache
mühselig lernen, so, wie man englisch in der Schule lernt.“
„Na ja, aber es geht doch sehr gut mit ihrem Italienisch. Warum sagen Sie übrigens, Sie
hatten eine italienische Mutter? Haben Sie die nicht mehr?“
„Sie ist vor etwas mehr als fünf Jahren gestorben. Relativ jung, mit wenig über sechzig
Jahren.“
„Oh, das tut mir leid.“
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Die Überlebenden
Die Mutter
Ja, dachte Sandmann voller Verbitterung, mir tut es auch leid. Und ihm fielen wieder die
letzten Bilder seiner Mutter ein: wie sie in anfangs nahezu völliger und wilder Verzweiflung
langsam eingegangen war wie eine Blume in der Wüste. Als habe sie ihr Leben einfach losgelassen. Der Tod ihrer Enkelkinder hatte ihr das Herz zerrissen, ihr Leid war von fundamentaler Wucht gewesen, wie eine zu Tal gehende Lawine hatte es ihre gesamte Lebendigkeit unter sich begraben.
Er hatte die Bilder von seiner Mutter auf der Beerdigung der Kinder und seiner Frau immer
noch vor Augen. Eine Zeit lang hatte er tatsächlich befürchtet, sie würde den Verstand verlieren, obwohl er das immer für eine Phrase gehalten hatte wie den Nervenzusammenbruch.
Sie hatte geschrien und geschrien und schien nicht mehr aufhören zu wollen, obwohl ihre
Stimme immer leiser und schwächer wurde. Sie hatte jegliche Scham verloren und ihren
Schmerz nach außen getragen, dass es wehtat. Er hatte gedacht, sie würde sich in das Grab
stürzen, während sein Vater nur wie versteinert und taub dabeigestanden hatte und keiner
Rührung mehr fähig gewesen war. Er machte auch keinen Versuch, seine Frau zurückzuhalten.
Er wusste nicht, was er schlimmer fand: die Versteinerung seines Vaters oder den himmelschreienden Kummer seiner Mutter. Ganz offensichtlich gingen sie aber in ihrer Trauer weit
aneinander vorbei wie Hochseeschiffe, die sich nachts im Nebel begegnen. Sandmann selbst
kannte beide Welten, seine Eltern nur die jeweils eigene. Es hatte zwischen seinen Eltern in
der Folge hässliche und gänzlich überflüssige Szenen gegeben und Vorwürfe, die sich auf
die Art des Trauerns bezogen. Letztlich entstammten die Energie zu den Auseinandersetzungen dem Schmerz, dem Leid, das auf keine Art der Welt zu überwinden gewesen war,
obwohl das der unausgesprochene Anspruch der gesamten Familie in Deutschland und
überhaupt der Umwelt war. Mit einer Amputation kann man nichts anfangen, etwas ist weg,
es passiert eben. Es war nicht hinnehmbar und doch real. Es gab offenbar keinen Weg,
diesen Verlust in das Leben zu integrieren.
Zeit des Lebens der allem Anschein nach starke Kern der Familie, war seine Mutter so
grundlegend aus ihrer Mitte geworfen worden, dass der Rest der Familie vorübergehend die
Orientierung verloren hatte, als sei ein Leuchtturm unter den Wellenschlägen einer alles zermalmenden Springflut zusammengebrochen.
Die Missverständnisse zwischen seinen Eltern waren nicht zu klären, die Positionen nicht zu
vermitteln gewesen. Das war umso schlimmer, als es ja eigentlich um nichts ging: sie
mussten sich nicht für irgend etwas entscheiden und hatten keine entgegengesetzte
Meinungen. Sie gingen nur unterschiedlich mit derselben Sache um. Da sie aber hilflos vor
dem Debakel standen, verließ sie alle Erfahrung. Es hatte sich aber auch niemand mehr die
Mühe gemacht, zu vermitteln, oder hätte es auch nur gekonnt, da alle Beteiligten selbst in
schlechtester Verfassung gewesen waren. Selbst ihr Seelsorger stieß auf völlig vernarbte
Ohren, sie hörte nichts mehr.
In solchem Verlust nicht geübt, hatte es sie völlig unvorbereitet getroffen und entzwei geschlagen. Schließlich hatte es die Ehe seiner Eltern nach über vierzig Jahren zersprengt, was
bei solchen Familienkatastrophen gar nicht so selten geschah. Sie hatte viel auf sich genommen, um ihren deutschen Mann zu heiraten, es hatte Streit und Auseinandersetzungen
mit ihrer italienischen, ihrer venezianischen Familie gegeben. Jetzt war sie überfordert.
Seine Mutter war schließlich, als es in Deutschland nicht mehr auszuhalten war, nach Italien
zu ihrer Familie, ihren Brüdern und Schwestern und deren Kindern zurückgegangen, hatte
aber im Grunde auch dort nicht mehr heimgefunden. Als sie dann vom Ausgang der Gerichtsverhandlung hörte, hatte sie sich nur noch weiter in ihren Schmerz zurückgezogen und
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war ein knappes halbes Jahr später an ihrem Kummer gestorben. Ärzte hatte sie nicht befragt, auch ihren eigenen Sohn nicht. Sie wollte einfach nicht mehr.
Die Schwägerin
Antonios jüngeren Bruder, Giovanni Sandmann, hatte es ebenfalls sehr schlimm getroffen.
Seine noch jüngere Frau Sandra war die Patentante der Kinder gewesen, sie hatte sie sehr
gerne gemocht, und die Kinder waren auch gern bei ihr, hatten sich zu ihr verzogen, wenn
zuhause irgend etwas schief lag, und die beteiligten Erwachsenen hatten das innige Verhältnis gern gesehen. Sie war eher die große, die erwachsene Schwester als eine Tante für die
Kinder. Es hätte nicht viel gefehlt, und die Kinder hätten bei ihrer Tante ein eigenes
Zimmer bekommen, über das sie nach Bedarf verfügen konnten. Manchmal gab es nur eine
kurze Information per Telefon, „die Kinder sind hier bei uns, sie wollen hier schlafen“, und
dann war es gut.
Sie behauptete, die Kinder hätten eine besondere Gabe, zu unterscheiden und zu erkennen,
in kleinen wie in großen Dingen: Entscheidungen in den verschiedenen Bereichen des
Lebens, Farben der Kleider, Musik, oft nur Kleinigkeiten, manchmal auch in wichtigen Angelegenheiten, „pass auf Dein“ – ungeborenes – „Kind auf, das ist wichtig“, aber es war
nach ihrem Empfinden fundamental. „Wie Sternenkinder“, sagte sie. Manchmal waren ihr
die Instinkte der beiden richtig unheimlich, und sie hatte das Gefühl, sie wären so etwas wie
ein Medium. Die Aufforderung, auf ihr Kind aufzupassen, hatte sie lange beschäftigt. Jetzt
wusste sie, warum:
Sandra war zur Zeit des Todes der Kinder und ihrer Schwägerin schwanger gewesen, sie
hatten es frühzeitig gewusst. Sie hatten auch das Geschlecht ihres ungeborenen Kindes gewusst, allerdings, so behauptete Sandra, nicht durch Raten, denn das war ja einfach und
nahe liegend, sondern „sie haben es einfach gewusst, und zwar beide, ich weiß nicht wie. Sie
haben sich auch bestimmt nicht abgesprochen, es war einfach klar gewesen“. Sie vertraute
der stark ausgeprägten Intuition der Kinder und war sicher, sie ginge über das normale Maß
hinaus. Sie waren auf die Geburt von Sandras Jungen gespannt, freuten sich auf den
Familienzuwachs, suchten mit nach einem Namen für das Kind und schmiedeten schon
Pläne.
Es war eine unsichere und leider nicht einmal die erste kritische, aber hoffnungsvolle
Schwangerschaft. Ihrer Ärztin war das schon bekannt, und sie hatte alle außergewöhnlichen
Belastungen untersagt. Sie war tatsächlich hoher Hoffnung, und Giovanni und Sandra waren
voller Vorfreude, eigentlich die ganze Familie. Aber in der Aufregung kam es zu einer Fehlgeburt: die Fruchtblase war einfach zerrissen. Bevor ein Notarzt eingreifen konnte, starb das
Kind noch im Mutterleib. Es war die einundzwanzigste Schwangerschaftswoche.
Auch Giovanni und Sandra hatten also durch den Unfall ein Kind verloren, wenn auch indirekt, zeitverzögert. Als sie vom Tod des einen Kindes sowie der Mutter und der Verstümmelung des anderen gehört hatte, fiel ihr das Telefon aus der Hand, und nun fiel ihr
eigenes Kind aus ihrem Leben. In der alles entscheidenden Zeit konnte sie nichts mehr
halten. Giovanni, ihr Mann, kam an diesem Abend spät heim. So kam alles zusammen.
Schließlich war der schwierige und von ausgedehnten Entzündungen begleitete Heilungsprozess nach der Fehlgeburt, sicherlich aus der angeschlagenen Widerstandskraft
resultierend, der Grund für eine bleibende Unfruchtbarkeit der jungen Frau geworden. Es
hatte böse Narben gegeben, in jeder Hinsicht. Die Enttäuschung war riesig und unendlich
tief, das Zerwürfnis mit ihrem Mann, Antonios Bruder, bitter und von beiderseitigen Vorwürfen und von einsamer Verzweiflung geprägt, die letzten Endes ebenfalls zu einer
Scheidung geführt hatte. Sandra war an den Ereignissen beinahe zerbrochen, aus der
gesunden jungen Frau wurde vorübergehend ein Wrack, das sich in psychiatrische Behandlung begeben musste, um damit fertig zu werden. Wir sind nicht geübt darin, solche
Katastrophen zu bewältigen. Als Antonio einmal versucht hatte, mit ihr über die Ereignisse
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zu sprechen, hatte sie ihn nur mit verweinten Augen angesehen, und so konnten beide
nichts sagen.
„Willst du nicht darüber sprechen?“
„Nein.“
Sie saßen stumm.
Der Bruder
Sein Bruder, ein trockener Alkoholiker, kam mit den Schlägen, die ihn selbst und seine
Familie ereilt und dezimiert hatten, am allerwenigsten zurecht. Er war schon einmal abhängig gewesen, die Folgen von jugendlichem Leichtsinn und von Unwissenheit, so fand er
sich in seinem wiederholten Rausch wieder, hatte sich aber mit der Hilfe seiner Frau und um
sie zu halten, aber auch mit der Hilfe seiner Familie weitgehend lösen können aus dem
Alkoholismus, letzten Endes zwar aus eigener Kraft, aber mit reichlich Unterstützung.
Er gab sich eine Mitschuld am Tod seines eigenen Kindes, da er ja nicht daheim gewesen
war; als hätte er etwas ändern können. Ja, sagte er, er hätte eher einen Notarzt verständigt.
Das für Alkoholiker so typische Nebeneinander von Größenwahn und weinerlicher Schuldbereitschaft zeigte sich schon sehr früh wieder. Seine Verzweiflung bekam etwas Wildes,
Schreiendes, da er es aber nicht erklären konnte, ging es ihm wie so vielen anderen
Menschen: er fing wieder in brutalem Ausmaß an, sich zu betrinken, was seinen Niedergang
in jeder Hinsicht beschleunigte.
Am Ende wusste er nicht mehr, ob er wieder zum Alkoholiker wurde, weil seine Frau ihn
verließ, oder ob seine Frau ihn verließ, weil er wieder zum Alkoholiker wurde, und es war
ihm im Grunde auch so egal, wie das bei Alkoholikern oft ist: rein theoretisch und auch im
tiefsten Grunde ihres Herzens möchten sie schon von ihrer Droge loskommen, andererseits
kriegen sie die schier übermenschliche Kraft nicht zusammen, die es braucht, um abstinent
zu bleiben und dem Stoff zu widerstehen. Er entwickelt im Zusammentreffen mit dem
Menschen eine unbegreifliche Kraft, und nachdem er einmal die kritische Grenze überschritten hat, und die ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich, folgt er seinen eigenen
Gesetzmäßigkeiten. So ergeben sie sich resignierend und nennen es fatal, nämlich schicksalhaft. Und es war in diesem wie in jedem anderen Falle schwer, dagegen zu argumentieren.
Argumenten war Giovanni nicht zugänglich, nur der Tiefe seiner für ihn unerträglichen Gefühle. Die aber hörten nicht auf Verstand und Einsicht.
Jetzt brachen nicht nur alle seine Stützen weg, auch seine Hoffnung auf eine ruhige Zukunft
löste sich in Nichts auf, seine Seele war wehrlos, und so war der Weg in den Sumpf nur
noch kurz. Er ging ihn.
Der Vater
Sein Vater war, so schien es, in seiner Versteinerung geblieben und kaum mehr ansprechbar.
Er hatte sechs bis sieben Menschen verloren, im Grunde fast seine ganze Familie: zwei
Enkelkinder, tot, die Schwiegertochter, tot, seine Ehefrau und damit die Mutter seiner
Kinder, erst weg, später tot, dann die jüngere Schwiegertochter, Trennung, und deren ungeborenes Kind, tot, genau genommen auch seinen älteren Sohn und Vater seiner beiden
Enkelkinder. Der war seit diesen Ereignissen nicht mehr sozialfähig, sondern schien in
seiner eigenen Welt verloren gegangen zu sein. Und nicht zuletzt auch noch seinen jüngeren
Sohn. Verschwunden in den sumpfigen Niederungen des Alkohols. Am Ende blieb ihm
niemand. Das war umso schlimmer, als er auf die Familie ausgerichtet gelebt hatte.
So war Antonio Sandmanns Vater in einer Depression versunken, aus der er sehr lange
nicht mehr aufgetaucht war, hatte seit dem Verlust und späteren Tod seiner Frau nur noch
sich selbst versorgt und dem Geschehen um sich herum scheinbar unbeteiligt zugeschaut.
Es schien so, als wollte er gar nicht mehr an die Oberfläche seiner ehemaligen Welt zurück.
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Wohin aber auch. Seine Distanz war unüberbrückbarer geworden denn je. Zur Beerdigung
seiner Frau war er noch nach Italien gefahren, er hatte dort auch seine Söhne getroffen.
Giovanni war betrunken wie meist und musste von den Anwesenden dezent zurückgehalten
werden. Da aber die italienische Familie dort mit der Art des Trauerns ihres deutschen
Schwagers ebenfalls nicht umgehen zu können schien, sie verhielt sich anders, hatte er kurz
nach dem Ende des Totenmahls den nächsten Zug genommen und war nach Deutschland
zurückgekehrt.
Später im Jahr der vielen Toten, hatte Sandmann noch einmal mit seinem Vater über ihre
gemeinsamen Verluste sprechen wollen.
„Was machst du denn jetzt?“ fragte er seinen Vater.
„Was soll ich machen. Die beiden Sterne meines Lebens sind untergegangen, fast meine
ganze Familie ist tot oder verkommen. Was soll ich denn wohl machen.“
„Ich weiß es auch nicht. Es ist grauenvoll.“
„Ja. Und was wirst du machen? Um dich mache ich mir viel mehr Sorgen.“
„Ich weiß es noch nicht. Aber ich werde mit ihm abrechnen. Ich weiß nur noch nicht, wie.
Vielleicht sollten wir uns öfter sehen.“
„Nein. Wozu? Um gemeinsam zu trauern? Ich bitte dich...“
„Ich weiß. Du hast Recht.“
Antonio Sandmanns Vater hatte dann ein weiterführendes Gespräch darüber abgelehnt.
„Lass es gut sein, mein Junge. Es gibt nichts zu sagen. Tu, was du tun musst und finde
deinen Frieden. Für mich hat es alles keinen Zweck mehr.“ Und so hatten sie geschwiegen,
lauter als je zuvor. Sein Vater hatte noch einen Kaffee gemacht, der absolut furchtbar
schmeckte, Sandmann hatte nicht gewusst, dass man Kaffee so hinkriegen konnte.
Zusammen hatten sie ihn dann aber doch noch zu Ende getrunken, wie eine symbolische
oder rituelle Handlung. Nicht einmal mehr über den Kaffee konnten sie schmunzeln, es war
alles einfach nur schrecklich.
Sein Vater war wie seine jüngere ehemalige Schwiegertochter Sandra der Meinung, irgendein
besonderer Stern habe bei der Geburt seiner ersten beiden Enkelkinder geleuchtet, irgendetwas an ihnen sei anders als an anderen Kindern gewesen; sie waren sein Stolz, seine
Sternenkinder, er war am Ende seines Lebens ein gebrochener Mann. Er wollte nichts mehr
hören oder sehen, er hatte sich in einer finsteren, unzugänglichen und furchtbaren Welt
voller kalter, schmerzhafter Stürme verkrochen und sich nur noch versorgt. Er hätte den
Mond zerdrückt mit seiner schweren Hand. Es gab nichts zu sagen. Der Versuch, ihn zu
erreichen, konnte ein für alle Mal als gescheitert betrachtet werden.
Sandmann
Sandmann selbst hatte in der Stille der Beerdigung seiner Frau und seiner Kinder nichts
mehr empfunden; er war nur noch da, aber seine Familie war fort, und er wusste, dass kein
Schiff der Welt kommen und sie heimbringen würde. Das Leid der anderen nahm er nur am
Rande wahr. Er war am Leben geblieben inmitten eines unendlichen Ozeans von Zeit.
Fragwürdiges Privileg, das er jedoch nach seiner Einschätzung sich selbst zu verdanken
hatte, da ihn ein unbändiger Lebenswille trieb. Er hatte allerdings nur noch gewartet. Er
wollte abrechnen. Er hatte sich in einer wie unwirklich wirkenden Stille merkwürdige Dinge
gefragt: wie lang ist das Leben, kann man das sagen: es geht über in den Tod. Oder der Tod
beginnt. Oder geht über aus dem Leben. Wie ist das genau? Es gibt keine Grenze. Das
Leben geht nicht zu Ende. Und der Tod fängt nicht an. Das kann man nicht sagen. Und es
ist der Ort, an dem ich lebe. An der Grenze zwischen Leben und Tod.v
Einige der Trauergäste nahmen seine Regungslosigkeit mit Unbehagen auf. Nicht, weil sie
dachten, dass ihm das Geschehene egal sei, das wussten sie besser. Alle wussten, dass es
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seine Wunschfamilie und eine Ausnahme gewesen war. Vielmehr glaubten sie, das Wüten
der Katastrophe, des Sturms hinter diesen verschlossenen Türen verspüren zu können. Sie
ahnten es jedenfalls. Alle Aufforderungen, Angebote und Bitten waren jedoch an ihm abgeprallt und er hatte keinerlei Einladung angenommen, lediglich behauptet, er brauche jetzt
Zeit für sich, und es dabei bewenden lassen. Er fühlte sich nicht in der Lage, irgendetwas zu
besprechen oder das Bedürfnis seiner Leute, ihn in Sicherheit zu wissen, zu befriedigen. Es
gab nichts zu sagen. Es gab nichts zu tun für ihn.
Der italienische Zweig seiner Familie, vor allem sein Onkel Angelo Scipione, der ältere
Bruder seiner Mutter, hatte erstaunlicherweise verständnisvoller reagiert, als von ihm anzunehmen gewesen war. Er hatte Antonio mit brennenden Augen beobachtet, ihn am Ende
nur kurz beiseite genommen und gesagt: „Wir sind dann für dich da. Wann immer du willst.
Wir erwarten dich.“ – „Ja“, hatte Sandmann damals nur gesagt und es sofort wieder vergessen.
Die Katastrophe war über diese Familie hereingebrochen wie der Tsunami und hatte sie im
sichtbaren Teil von neun Menschen auf drei Überlebende dezimiert: Sandmanns Vater,
seinen Bruder Giovanni und ihn selbst. Es war ein Desaster. Am Ende verschwand Sandmann dann auch noch ganz, nachdem er seine gesamte materielle Existenz in Deutschland
einfach aufgelöst hatte, weit unter Wert und so schnell wie möglich. Er hatte alle Dinge von
sich geworfen. Er hinterließ lediglich die Bitte, nicht nach ihm zu suchen und er werde sich
schon melden. Dann war er verschwunden. Für lange Zeit. Für fünf lange Jahre. Niemand
wusste etwas.
Santa Maria della Salute
Mit diesen Gedanken hatte etwas sehr Altes seine Gesichtszüge gestreift und verdunkelt,
denn er sah, dass Prosperina ihn irritiert und beinahe ein wenig erschrocken, auf jeden Fall
aber fragend anschaute. Sie hatte etwas gesehen, was sonst niemand in so kurzer Zeit gesehen hatte auf seinem Gesicht. Er hatte seine Anwesenheit beendet für eine gewisse Zeit.
Sein Gesicht hatte sich verschlossen, der Blick ging nach innen, über innere Täler und
Berge, über den Fluss und in die Wälder. Aber gleichzeitig hatte sie den Schimmer gesehen,
der wie eine Spiegelung fernen Abendrot seine Züge verändert hatte. Er schien bei
Menschen gewesen zu sein, die er in seinem Innersten hütete.
„Ach ja, das war eine üble Geschichte.“
„War Ihre Mutter krank?“
„Nein, sie war eigentlich völlig gesund. Sie ist an gebrochenem Herzen gestorben.“ Er
wechselte abrupt das Thema. „Wie kommen Sie übrigens zu Ihrem Namen? Prosperina ist ja
nun nicht gerade ein sehr häufiger Name. Eher ein sehr alter.“
Aha, dachte sie, nicht sein Thema, hier also liegt sein Geheimnis begraben, und antwortete:
„Ja, nun, das ist mein Künstlername. Prosperina ist ja die Göttin der Fruchtbarkeit,
außerdem dachte ich mir, dass ich damit die Götter des Reichtums für mich einnehmen und
freundlich stimmen kann. Sie sollten mir ein kleines bisschen Wohlstand schenken. Na, wie
es aussieht, hat es ja geklappt. Bis heute jedenfalls.“ Sie sah ihn mit strahlenden Augen an.
„Wissen Sie nicht, dass Prosperina oder Persephone, wie sie in der griechischen Mythologie
heißt, auch eine Göttin der Unterwelt und damit eine Totengöttin ist?“
„Nein, das habe ich nicht gewusst.“
„Sie ist Tochter des Zeus und seiner Schwester Demeter. Ein Kind der Inzucht also, es kam
aber noch schlimmer. Zeus, der ja nun schon immer an Leib und Seele wüst war, verliebte
sich in seine eigene Tochter, die ja als Tochter seiner Schwester zugleich auch seine Nichte
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war, sehr kompliziert, das alles, und zeugte in der Gestalt einer Schlange mit ihr auch noch
ein Kind. Er war Vater und Großvater, sie Mutter und Schwester dieses Kindes zugleich.
Aber vielleicht sollte ich Ihnen das alles gar nicht erzählen. Ich will Ihnen nichts verderben.“
„Doch, doch, das ist sehr interessant. Nichts verdirbt.“
Sandmann musste kurz über ihre Formulierung lachen. Sie unterhielten sich zum größten
Teil auf deutsch.
„Tja, dann verliebte sich auch noch ihr Onkel in sie, Hades, der Bruder von Zeus, und entführte sie in die Unterwelt, ohne dass Zeus etwas dagegen unternommen hätte, weil er inzwischen genug von ihr als Geliebter hatte. Daraufhin, und erstaunlicherweise erst jetzt,
reichte es auch ihrer Mutter, sie wandte sich vom Olymp und den anderen Göttern ab und
ließ die Pflanzen eingehen und die Welt veröden. Sie musste sich, um ihre Tochter zurück
zu bekommen, mit Ihrem Bruder und eben gleichzeitig dem Vater ihrer Tochter, mit Zeus,
auf einen miesen Handel einlassen. Demzufolge musste die Tochter vier Monate im Jahr in
der Unterwelt zubringen, in denen nichts auf der Erde blüht und gedeiht. Das ist der
Winter, die unfruchtbare Zeit. Allerdings die Rückkehr: Persephones Rückkehr in die Welt
der Lebenden wurde als der Frühlingsbeginn gefeiert. Ihre Wiedergeburt ist Symbol für die
Wiedergeburt allen Lebens auf der Erde.“
„Na, das klingt doch aber sehr hoffnungsvoll, oder?“
„Ja, so kann man das eigentlich auch betrachten.“ Er lächelte sie freundlich über den Tisch
hinweg an. Gleich berührt er mich, dachte sie, gleich bewegt er sich, und wunderte sich
plötzlich über ihre eigene, völlig unerwartete Schüchternheit, aber er blieb ruhig und mit
verschränkten Händen sitzen und machte nicht einmal den Versuch.
Als das Essen kam, verlief ihr Gespräch zunächst etwas ruhiger und beschränkte sich
vorübergehend auf Nebensächlichkeiten. Sie hatten sich Meerestiere bestellt, in verschiedenen Zubereitungen, als Vorspeise, Hauptgericht, Spaghetti alle vongole, Sardine in
saor, Miesmuscheln und andere verschiedene Kleinigkeiten, Prosperina sagte „hier, probieren Sie mal das, typisch venezianisch“ und hielt ihm die Gabel hin, und es wurde etwas
wärmer um ihn und die Spannung, die ihn ständig zu umgeben schien, löste sich ein wenig.
Sie begann, sich in seiner Gegenwart einzufinden und richtig wohl zu fühlen.
Es war mittlerweile auch eine Gruppe junger, elegant gekleideter Italiener angekommen, die
sich zwar in das Restaurant hineingesetzt hatten, sich aber trotzdem so vernehmlich laut
unterhielten, dass es draußen noch zu hören war. Drinnen und an der kleinen Bar ging es
inzwischen einigermaßen hoch her. Die Stimmung schien fröhlich zu sein, aber auf der
Kippe. Es wurde getrunken und ein Streit schien zu entbrennen, denn ohne dass Einzelheiten zu verstehen waren, bekamen die Stimmen einen erkennbar gereizten bis aggressiven
Unterton.
„Warum verdienen Sie Ihr Geld übrigens als Prostituierte?“ Prosperina war erstaunt, dass er
es schaffte, diese regelmäßig auftauchende, unvermeidliche Frage so zu stellen, als fragte er
sie nach ihrem Geburtsort, ganz neutral und nicht wie ein verständnisloser, abgewiesener
Liebhaber oder ein Missionar, der sie gegen ihren Willen retten wollte. Es geht also doch,
dachte sie nur kurz und ärgerte sich nachträglich noch viel kürzer über all die zudringlichen
und unerwünschten Retter. Sie dachte daran, wie jungenhaft albern ihr ihre Verehrer oft
vorgekommen waren, wie schwelgerisch oder wild romantisch sie sich benommen hatten,
als seien sie Schauspieler in einer Liebeskomödie. Es war nicht ein ernstzunehmender Liebhaber dabei gewesen, so dass sie sich schon gefragt hatte, ob sie vielleicht unfähig sei, sich
zu verlieben. Eine Antwort hatte sie bisher noch nicht bekommen, und plötzlich schien sich
das Blatt zu wenden.
„Nun, sagen wir mal so: ich war jung und brauchte das Geld. Schöne Phrase, nicht wahr?
Ich hatte studiert, aber offenbar das Falsche, Jura und Sprachen an der Universität von
Bologna. Ich wollte Juristin für Europarecht werden, Jura auf Wunsch meines Vaters, und
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Sprachen deshalb, weil ich das interessant fand, bis ich feststellte, dass ich mich vertan habe.
So habe ich halt den Beruf gewechselt und bin wieder nach Venedig zurückgekommen, und
es machte mir Spaß. Vielleicht studiere ich ja auch noch einmal. Ich hatte übrigens sehr früh
das Glück, eine Frau kennen zu lernen, die mir die Adressen anspruchsvoller und wohlhabender Kunden vermittelte und meine Telefonnummer nach Absprache und nur mit
meiner Erlaubnis weitergab. Und dann stellte ich fest, dass es mir gut gefiel, mit den Begierden meiner Kundschaft spielen zu können. Für mich ist das ein Spiel, bei dem ich hin
und wieder interessante Menschen kennen lerne. Selten, ja. Viele meiner Kolleginnen enden
früher oder später im sozialen Abstieg; ich glaube, mir wird dieses Schicksal erspart bleiben.
Ich sehe noch eine strahlende Zukunft vor mir, auch wenn ich noch nicht weiß, wie die aussieht. Ich habe eine Reihe von Kunden, die mir mehr oder weniger treu sind und mich auch
sonst großzügig unterstützen. Und ich muss mich nicht auf die Probleme einer festen Beziehung einlassen. Ich habe, so viel ich will, und das ist mir genug.“
„Es ist gar nicht so einfach, zufrieden zu sein mit dem, was man hat“, antwortete ihr Sandmann.
„Ich habe davon gehört, aber es ist mir fremd. Ich glaube, ich habe ein besonderes Talent
dafür. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass ich mich für diese Fähigkeit je hätte anstrengen müssen. Meine Eltern und Lehrer haben jedenfalls häufig beklagt, dass ich mich
einfach nicht genug anstrenge und nur das tue, was mir in den Schoß fällt.“
Sandmann lachte auf: „Ja, das kommt mir bekannt vor, ich habe das während meiner Schulzeit auch zu hören bekommen.“
„Mich hat es nicht gestört, ich fand es nur zu verständlich. Ich habe mich gefragt, warum
ich mich für etwas anstrengen sollte, was mir nicht liegt. In dem, was ich gerne tue, bin ich
gut. Einstein war ja nicht einmal in der Lage, sich selbst korrekt anzuziehen. Mozart hatte,
soweit ich weiß, Probleme mit der Miete. Und immerhin hatte er ja seine Constanze. Ich
finde, wenn jeder das tut, was er gut und gerne tut, dann ist das meiste getan. Tja“, sie
wechselte das Themas „und Ihr Freund, sie sagten, er habe Ihr Leben verändert. Mögen Sie
nicht darüber sprechen, soll ich lieber nicht fragen? Sie haben sich vorhin etwa so geäußert.“
„Ja. Nein, es ist mir lieber, wenn wir nicht über ihn sprechen. Manche Dinge bleiben besser
zwischen zwei Menschen.“
Das war aber kein lustiges Geheimnis, dachte Prosperina, während sie das Gesicht ihres
Gegenübers beobachtete. Da schien ja eine ganze Menge an Geheimnissen zu schlummern.
„Ja“, sagte sie mit dunkler Stimme, „manchmal ist das wohl so.“ Lange Pause. Sie musste
ihre Neugier beherrschen, nicht weiter zu fragen; die Erfahrung und noch einiges anderes
geboten ihr, klug zu sein. „Wie lange sind Sie denn noch in Venedig? Reisen Sie auch übermorgen ab?“
„Das kann ich heute noch nicht sagen, aber übermorgen ganz bestimmt noch nicht.
Vielleicht bin ich nur noch eine Woche hier, wahrscheinlich aber länger, das weiß ich noch
nicht. Ganz wie es meine Angelegenheiten ergeben. Vielleicht bleibe ich auch hier.“ Au ja,
dachte sie, das mach mal, sagte aber:
„Diese Freiheit haben Sie? Sie sind in einer ziemlich ungewöhnlichen Situation, wenn Sie
das so entscheiden können.“
Keine eigene Familie, freie Wahl des Wohnortes, unabhängig, registrierte sie. Das ist interessant.
Inzwischen war der Streit im Restaurant eskaliert, jedenfalls kam einer der jungen Italiener
wütend heraus, vom Wein und Grappa deutlich angetrunkener als ihm gut tat, schimpfte
noch etwas in das Lokal hinein und wollte gehen. Dabei rempelte er im Umdrehen torkelnd
und mit einigem Ungestüm gegen Prosperinas Stuhl und riss sie beinahe zu Boden. Ihr Stuhl
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kippelte erheblich und sic konnte sich nur durch einen von diesen Ausfallschritten vor dem
unkontrollierten Sturz bewahren, die den Ausübenden so albern aussehen lassen.
In einem Sekundenbruchteil verwandelte sich Sandmanns Haltung in die eines Raubtieres
im Dschungel. Blitzartig schnellte er hoch, drehte sich ebenso schnell um, die Haut schlagartig fahl wie Asche, und stand mit geballter Faust vor dem jungen Mann. Es fehlte nicht
viel, und er hätte ihm mit ungeheurer Gewalttätigkeit seine Faust ins Gesicht geschlagen.
Der Mann hätte, zumal in seinem betrunkenen Zustand, nicht die Spur einer Chance gehabt,
sich zur Wehr zu setzen oder gar zu entschuldigen. Prosperina wollte schon beschwichtigend eingreifen, aber genauso schnell, wie er hochgefahren war, entspannte sich
Sandmann mit einem ganz leisen Ausatmen wieder als komme er zu Bewusstsein, schob den
Anderen nur grob zur Seite und half Prosperina, sich ihrerseits zu sammeln. Der Betrunkene
musste die Gefahr gespürt haben, in der er für wenige Sekunden geschwebt hatte, denn er
stand wie vom Donner gerührt still, murmelte auf italienisch eine Entschuldigung, wiederholte sic noch und trollte sich. Sandmann schien erst einige Sekunden später als der Betrunkene zu realisieren, was da eben geschehen war. Er setzte sich wieder.
„Entschuldigung, es tut mir leid“, sagte er zu seiner Begleiterin, und wie zur Erklärung: „Ich
mag Betrunkene nicht. Deshalb trinke ich selber auch nie Alkohol.“
„Madonna“, dachte sie zum dritten Male an diesem Tag, und das war ungewöhnlich für sie,
weil es sonst nicht ihre Art war, so intensiv emotional und nach ihrem eigenem Verständnis
unprofessionell auf ihre Kunden zu reagieren, „was macht denn dieser Mann mit mir!“
Einen Moment lang entstand ein Schweigen, wie es auftritt, wenn ein Mensch unversehens
etwas aus seinem Innersten preisgegeben hatte, ohne es zu wollen. Sie legte beruhigend ihre
Hand auf seinen Unterarm. „Es ist ja nichts passiert. Das kommt schon mal vor.“
Prosperina wechselte nach kurzer Zeit entgegenkommend das Thema: „Wo wohnen Sie
eigentlich?“
„Ich wohne nicht mehr. Ich habe in Deutschland eine Adresse bei meinem Bruder, aber nur
noch für das Amt, ansonsten wohne ich nicht. Ich bin auf Reisen.“
Sie stutzte einen Moment. „Nein, ich meinte eigentlich, wo Sie hier in Venedig wohnen.“
„Ach so, ja hier wohne ich in einem kleinen Hotel in der Nähe des Campo dei Frari.
Ziemlich klein, das Hotel, und ruhig gelegen.“
„Warum so bescheiden? Sie scheinen genügend Geld für bessere Hotels am Canale Grande
oder der Riva degli Schiavoni zu haben.“
„Ach wissen Sie, ich liebe meine Unabhängigkeit, und in den teuren Hotels bin ich nicht
unabhängig, sondern beobachtet. In den kleinen Hotels kümmert sich jeder um seinen eigenen Kram. Ich will weder sehen noch gesehen werden, weder gehört werden noch hören,
außer ich entscheide das. Und die Hoteldiener und Pagen mit ihrer hochaufmerksamen
Diskretion gehen mir auf die Nerven. Ich habe zu oft in teuren Hotels gelebt, um mich
noch blenden zu lassen und das nicht zu bemerken. Sie täuschen mich nicht. Das Hotel, in
dem ich hier bin, lässt mich in Ruhe, man beachtet mich kaum, ein kleines, gleichgültiges
Hotel, und das ist außer einem sauberen Bett alles, was ich will.“
„Und in Deutschland haben Sie gar keine Wohnung mehr?“
„Sie glauben gar nicht, mit wie wenig man durchs Leben kommt, wenn man einen Laptop
und zwei, drei wichtige kleine Dinge hat.“
„Und wie viele Dinge haben Sie?“, fragte sie lachend, indem sie ihn beim Wort nahm, aber
Sandmann dachte kurz nach und sagte dann ernst und ohne zu zögern oder auf den freundlichen Spott einzugehen:
„Fünf.“
„Ach so.“ Pause. „Welche?“
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„Eine Teekanne, einen sehr alten Becher, ein Wakizashi und ein Katana sowie meinen
Laptop. Alles andere besorge ich mir, wenn ich es brauche.“
„Ein was?“
„Hm? Ach so, ein Wakizashi, auch Shoto genannt. Das ist ein japanisches Kampfmesser.
Das kürzere Gegenstück zum Katana, zu meinem Kampfschwert. Nummer fünf. Sehr wertvoll.“
„Aha. Verstehe.“ Ich verstehe diesen Mann nicht, dachte sie. „Japanisch?“
„Ich war einige Jahre in Japan. Ich habe es mir von dort mitgebracht.“
„Haben Sie denn keine Familie?“
„In Deutschland nicht mehr. Nur noch hier in Italien, aber ich kenne sie fast gar nicht mehr.
Ich habe sie zuletzt auf der Beerdigung meiner Mutter gesehen, und auch da nur kurz. Ich
glaube manchmal, ich würde meine Leute nicht erkennen, wenn ich ihnen begegnen würde.
Natürlich stimmt das nicht, aber es kommt mir so vor. Sicherlich habe in erster Linie ich
mich verändert.“ Er war damals fast blind gewesen vor Schmerz und kaum mehr in der
Lage, seine Umgebung wahrzunehmen.
„Haben Sie denn keinen Kontakt zu ihrer Familie hier?“
„Doch, schon, aber wenig. Als ich klein war, da waren wir noch öfters in den Ferien oder zu
den verschiedenen Familienfeiern hier, aber das hat später mehr oder weniger aufgehört, es
wurde sehr selten als mein Bruder und ich zum Gymnasium kamen. Ich bin dann eher mit
meinem Bruder nach Borneo gereist, oder sonst wohin.“
„Und Freunde? Das ist doch sicher nicht einfach, wenn man keinen festen Platz hat auf der
Welt.“
„Freunde? Ich habe im Laufe der Zeit festgestellt, dass meine Freunde überlastet oder desinteressiert waren oder ein eigenes Verhältnis zur Wahrheit und zum Vertrauen hatten. Wir
können über Kunst, Philosophie oder Fußball reden, aber nicht über ernste Dinge oder was
ich dafür halte. Und die anderen Gespräche kann ich auch mit meinen Büchern führen. Ich
habe wohl Zeit meines Lebens nicht gerade eine glückliche Hand bewiesen, was die Auswahl meiner Freunde angeht. Aber ich weiß, auf wen ich mich verlassen kann. Und das ist
doch schon mal was.“ Er versuchte, leicht amüsiert zu schauen, aber es wollte ihm nicht
recht gelingen. Und abgesehen davon, dass er kaum einen nennenswerten Humor hatte, war
der Witz auch nicht sehr offensichtlich. „Außerdem habe ich zu viel verloren, um mein
Boot noch einmal irgendwo anzubinden“, fügte er mehr für sich leise hinzu. Es klang wie
eine Frage, die er sich selber stellte.
Etwas betreten antwortete sie nach einer Zeit, in der sie die Sätze in sich hatte nachklingen
lassen: „Das hört sich aber ziemlich traurig und resigniert an.“
„Tja, das tut es wohl. Obwohl ich das nicht resigniert nennen würde, sondern eher realistisch. Von Träumen kann ich nicht leben, und dass die Hoffnung zuletzt stirbt, ist ein
großes Elend für die Menschen, die mit ihr leben müssen. Sie macht nach meiner Erfahrung
die meisten Menschen nur verrückt. Es ist ausgesprochen schwierig, mit ihr so umzugehen,
dass man nicht völlig besinnungslos wird. Mit der Hoffnung, meine ich. Ich bevorzuge es
heute, klar und wach zu sein und von einfachen Dingen zu leben.“
„Aber Sie sind immer noch vom Geld abhängig.“
„Das stimmt.“ Es schien ihm aber nichts auszumachen. Finanzielle Sorgen hatte er offensichtlich nicht, diesen Eindruck machte es auf Prosperina.
Als sei das Geld ein Stichwort gewesen, wandte sich Sandmann dem Ober zu, um die
Rechnung zu bestellen. Er bezahlte, und dann erhoben sie sich, um sich auf den Weg zurück
zu machen. Prosperina sagte: „Haben Sie noch Zeit? Ich würde Ihnen gerne etwas zeigen.“
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Er stimmte zu, und sie führte ihn eine ganze Weile durch die Gassen und Unterführungen,
über die kleinen und größeren Plätze, über die hölzerne Brücke bei der Akademie, die erst
als Provisorium gedacht war und dann doch blieb, dann links, bis sie zur Kirche Santa Maria
della Salute kamen. Dort setzte sie sich auf die Stufen der Kirche und blickte hinüber zum
eleganten Palazzo Contarini der Desdemona und dreihundert Meter weiter rechts zum Dogenpalast. Sandmann setzte sich neben sie.
„Sehen Sie“, sagte sie nur und schwieg dann.
Sie machte sich Gedanken über diesen sonderbaren Mann neben ihr, der sie so verwirrte
und anzog und der, ganz anders als sie das von Männern gewohnt war, gar nicht auf ihre
stillschweigenden Angebote einging. Er erweckte nicht einmal den Eindruck, dass er sie unattraktiv oder ihre Gesellschaft unangenehm fand, er schien nur einfach ungeheuer weit entfernt zu sein. Sie wusste nun nach diesem gemeinsamen Abend zwar einiges über ihn, aber
das waren nur Daten, und so hatte sie das Gefühl, irgend etwas Entscheidendes, was ihn
anging, noch nicht einmal zu ahnen. Dass er ein Geheimnis hatte, sah und spürte sie deutlich, dass es etwas mit seiner Familie zu tun hatte, konnte sie seinen Bemerkungen entnehmen. Aber da war noch etwas Anderes. Als er sich neben sie setzte, spürte sie, wie eine
überwältigende Woge von Ruhe und Kraft von ihm herüberkam, die sie wie eine sanfte
Welle im Indischen Ozean mit sich nahm, und für einen winzigen Moment wünschte sie, die
Zeit möge stehen bleiben. Selten hatte sie sich so gefühlt. In Gedanken schalt sie sich eine
Närrin. In Gedanken lehnte sie sich an seine Schulter.
Sandmann saß neben Prosperina und blickte ebenfalls über das Wasser auf die Lichter auf
der anderen Seite des Kanals. Der Trubel war gut zu erkennen, aber er war weit entfernt und
still.
„Es ist schön hier“, sagte er. „Ich war schon so oft in Venedig, aber diesen Ausblick kannte
ich noch nicht, und schon gar nicht in der Nacht. Nur den von der anderen Seite hier herüber.“
„Ich habe diese Stelle auch erst vor einigen Jahren kennen gelernt, als ich langsam erwachsen wurde und einen Platz suchte, an dem ich mit mir allein sein konnte. Jeder Touristenführer zeigt uns diese Stelle, aber kaum ein Mensch kommt um diese Zeit noch hierher.
Es ist wirklich angenehm, nicht wahr? Das soll mein Geschenk an Sie sein, als Dank für den
angenehmen Abend mit Ihnen und für das gute Essen.“
So saßen sie eine Weile nebeneinander auf den Stufen der Kirche, fast berührten sich ihre
Schultern, und schauten schweigend über das Wasser. Dann gab sie sich einen kleinen Ruck
und beschloss, wirklich mit ihm zu sprechen. Behutsam fing sie an. Sie sprach leise, als
wollte sie ihn nicht erschrecken.
„Sehen Sie, ich spüre, dass Sie irgend ein Schmerz begleitet. Irgend etwas Unerklärliches
umgibt Sie. Sie werden wissen, was es ist, Sie werden verstehen, wovon ich spreche. Ich dagegen sehe nur die oberflächlichen Verwirbelungen davon. Ich höre es in Ihren Worten und
ahne es in Ihrer Haltung. Es macht Sie allerdings unnahbar, und es erweckt den Eindruck,
als seien Sie hermetisch abgeschlossen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich will nicht
unhöflich sein und Sie bedrängen. Ich kenne Sie so gut wie gar nicht, Sie kennen mich nicht,
warum sollten Sie sich mir anvertrauen. Ich respektieren Ihre Haltung selbstverständlich. Sie
sollen nur wissen, dass ich sie wahrnehme.“
Sandmann schwieg. Er war überrascht von dem, was sie sagte. Er hatte schon lange nicht
mehr erlebt, dass ein Mensch zu ihm über ihn sprach; zuletzt war es seine Frau gewesen.
Zum ersten Male war er kurz davor, zu einem fremden Menschen von seiner Geschichte zu
sprechen. Dann entschied er sich dagegen. Prosperina berührte ihn leicht am Arm.
„Erlauben Sie mir eine Frage?“
„Ja.“
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„Waren oder sind Sie Soldat?“
„Nein. Nie gewesen. Wie kommen sie darauf?“
„Ich weiß es nicht. Entschuldigen Sie, nur so ein Gedanke.“
„Sie müssen sich nicht entschuldigen.“ Sie ahnt wohl nicht, wie nah sie dran ist, dachte
Sandmann.
„Wenn Sie sich entscheiden, werde ich Ihnen zuhören.“ Mehr sagte sie nicht, und die sich
ankündigende Woge der Erleichterung zog sich von den Gestaden seiner Seele zurück. Er
war zugleich angenehm berührt von dem Taktgefühl, das ihm begegnete.
Es kam eine kleine Gruppe junger Menschen, etwa vier oder fünf Paare, was nicht so genau
zu unterscheiden war, da sie durcheinander gingen, die sich auf einigen mitgebrachten
Klappstühlen und den Stufen in der Nähe niederließen und auf irgend etwas zu warten
schienen. Sie waren dunkel und elegant gekleidet und trugen weiße Hemden, fast etwas wie
eine Uniform. Irgendjemand öffnete zwei Sektflaschen, man hörte die Korken knallen und
Gläser klingen, so still war es.
„Lassen Sie uns noch die paar Schritte zur Punta della Dogana gehen“, schlug Prosperina
vor, und so gingen sie auch diese knapp zweihundert Meter zur äußersten Spitze des
Dorsoduro. Dort standen sie unter der Wetterfahne der Fortuna auf der goldenen Weltkugel
und schauten hinüber zum Markusplatz. Als ein leichter, etwas frischer nächtlicher Wind
aufkam, stellte sich Prosperina leicht fröstelnd näher an Antonio Sandmann heran, bis sie
die Ausstrahlung seiner Körperwärme wahrnahm, und fragte sich, ob sie ihm noch näher
treten sollte, aber irgend etwas hielt sie davon ab. Und er war in Gedanken anscheinend weit
entfernt und reagierte auf das unausgesprochene Angebot nicht oder nahm es nicht wahr.
Oder wollte es nicht wahrnehmen. Prosperina war sich selten so unsicher gewesen. Still
kehrten sie um.
Vor den Stufen der Kirche tanzten inzwischen fünf Paare Tango argentino. Sie hatten einen
tragbaren CD-Spieler mitgebracht und bewegten sich zu den leichten und zugleich schwermütigen Klängen der Musik in der nächtlichen Brise. Es war auf dem Kirchenvorplatz eine
beinahe intime Atmosphäre durch die leise Musik und die wie versunken zu einem langsamen Tango tanzenden Paare entstanden. Sandmann und Prosperina beschlossen, doch
noch eine Weile zu bleiben und den Tänzern zuzuschauen. So setzten sie sich noch einmal
etwas abseits auf die Stufen, die Größe der Kirche ließ die Beiden unauffällig und klein
wirken, und sie versuchten, sich ganz unaufdringlich zu verhalten. Sandmann verspürte
einen alten Schmerz, als er den sich im Rhythmus bewegenden Paaren zusah, wie eine alte
Erfrierung, die sich jedes Mal bei Kälte wieder meldet. Aber er ließ sich nichts anmerken.
Mit beinahe brennenden Augen sah er hin, bis das Bild vor seinem inneren Blick verschwamm. Die Paare tanzten eine Milonga. Dann wandte er sich Prosperina zu und sagte:
„Entschuldigen Sie, ich bin gerade sehr unaufmerksam. Ich habe früher selbst einmal getanzt, tue es aber schon seit Jahren nicht mehr. Übrigens weiß ich gar nicht, was mit mir los
ist, ich pflege normalerweise nicht darüber zu sprechen. Aber es hat mich doch sehr überrascht, hier Tänzer anzutreffen, obwohl ich glaube, ein Plakat von diesen Tänzern gesehen
zu haben. Wissen Sie, ob hier öfter getanzt wird?“
„Nein, ich weiß es nicht, ich glaube aber nicht. Ich sehe es heute selber zum ersten Mal.“
Einen Augenblick lang dachte sie, Sandmann könnte sie gleich auffordern, mit ihm zu tanzen, und es sah gerade so aus, als wollte er sie ansprechen, aber dann atmete er nur durch
und der Moment war vorbei.
Sie machten sich auf den Heimweg. Die Gassen waren um diese Zeit, es war nach dreiundzwanzig Uhr, fast schon menschenleer. Es war still, nur an wenigen Stellen hörte man Geräusche, die menschlicher Herkunft waren, und die Schritte hallten von den Hauswänden
wider. Sobald man in die Gassen hineinging, wurde es wärmer, von der frischen Luft an der
Punta della Dogana war hier nichts mehr zu merken. So gingen sie langsam schlendernd
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Richtung Rialto zurück. Kurz bevor es zu der Brücke links abging, trennten sich ihre Wege.
Für einen Moment standen sie voreinander, Prosperina etwas ratlos und fragend, Antonio
Sandmann schien ein wenig verlegen zu sein, bis er das Wort ergriff und dabei beinahe ein
wenig feierlich wirkte.
„Ich danke Ihnen für die angenehme Begleitung“, sagte er.
„Ja, es war ein schöner Abend“, sagte sie und fragte sich, ob sie wohl innerhalb der letzten
paar Minuten einen leichten Schlaganfall mit teilweisem Ausfall ihres Sprachzentrums erlitten habe. Sie kannte sich selbst weder als dermaßen auf den Mund gefallen noch hatte sie
geahnt, dass sie sich einem Mann gegenüber so hilflos verhalten konnte.
„Tja. Gut, sehen wir uns morgen um achtzehn Uhr, in dem Café dort drüben, damit wir die
letzten Einzelheiten besprechen können? Ich schlage vor, wir trinken dann noch einen
Kaffee zusammen, bevor Sie sich an Ihren Auftrag machen.“
In dem Moment hätte Prosperina ihn ohrfeigen oder lieber gleich zu Boden schlagen
mögen. Natürlich hielt sie sich zurück, und obwohl sie beinahe einen Fieberschauer bekommen hätte, bedankte sich nur, umarmte Sandmann kurz, wofür sie sich selber hätte ohrfeigen mögen, und sie verabschiedeten sich voneinander. Als sie ging, dachte sie, gleich falle
ich um.
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IV San Michele
Mai, Venedig, der nächste Tag
Cimitero
D
er Scirocco, der Glutwind war über Nacht zurückgekommen und hatte gegen Morgen
sein gelblich dumpfes Haupt erhoben, heftiger diesmal und mit seinem staubigen
Dunst. Die Luft war vom Sandstaub aus der Sahara wie von einem ganz leichten Nebel gefüllt, der alle Farben verwischte und der jegliche Stimmung umschlagen lassen konnte. Und
so lag eine missmutige und bange Erwartung über der Stadt, die ihre Besucher unruhig und
gereizt machte, den Händlern das Geschäft vermasselte und den Musikern auf dem Markusplatz die Instrumente verstimmte. In dieser seltenen atmosphärischen Entgleisung, die bisweilen nach Norden bis über die Alpen hinweg reichte, war Venedig nicht geeignet für
Touristen oder Verliebte, da sie zu Zank und Auseinandersetzung anregte und die
Menschen krank machte.
Die Kinder waren quengelig und unleidlich, die Eltern ungeduldig, Ehepaare zankten sich
über den Weg, den sie gehen sollten, und alles schien doch wie ein Hund in Erwartung eines
bösen Schlages innezuhalten und zu warten, was noch alles kam.
Sandmann hatte sich auf den Weg zum Fondamenta Nuove gemacht. Dort fuhren die
Linien 41 und 42 zur Insel San Michele, der Friedhofsinsel von Venedig. Den Weg zur
Haltestelle legte er zu Fuß zurück: zum Campo San Polo, über die Rialto-Brücke, dann links
durch mehrere kleine Gassen bis zum nordöstlichen Ufer, knapp eineinhalb Kilometer oder
gut zwanzig Minuten. Er befand sich hier in einem der ruhigeren Teile der Stadt. Je näher er
dem Fondamenta Nuove kam, umso weniger Menschen waren unterwegs. Von hier aus war
es dann nur eine Station bis nach San Michele. Er wählte den zeitlich längeren Fußweg, anstatt zum näher liegenden Bahnhof zu gehen und von dort aus mit einer der beiden Linien
zu fahren. Er mochte den Bahnhof nicht gerne. Dieser Neubau aus den fünfziger Jahren
berührte Venedig nur am Rande, machte aber den Empfang hier zu einem Allerweltsgeschehen mit einem Allerweltsgesicht. Es hätte der Bahnhof einer Stadt in einem der
Kohlereviere der Welt sein können. Er hätte sich seit jeher den Empfang weniger prosaisch
gewünscht. Dampflokomotiven hätten seiner Vorstellung entsprochen.
In einer der kleinen Bars, die es in der Nähe der Haltestelle des Vaporetto gab, bestellte er
sich einen Cappuccino, einen Orangensaft und ein panino, sein Frühstück an diesem
Morgen, das er im Hotel nicht hatte nehmen wollen, weil er Kontakte möglichst vermied.
Er wollte in keiner Erinnerung vorkommen und hielt sich weitgehend von Menschen fern,
die ihn regelmäßig sehen oder sich gar an ihn erinnern konnten. Er tat das nicht etwa aus
wohlbedachter Strategie, sondern weil er irgendwo gelesen hatte, man könne nicht vorsichtig genug sein. Warum also nicht, dachte er sich, wenn es doch so einfach durchführbar
war. Auch wenn fast alle Menschen weitgehend angenehm unachtsam sind und nicht
interessiert an ihren Mitmenschen, so wollte er diese Unachtsamkeit doch noch so weit wie
möglich bedienen und unbemerkt bleiben. Außerdem konnte er sich ihrer nicht völlig sicher
sein.
Er dachte noch einmal über die E-Mail nach, die er heute morgen von Luca abgerufen hatte:
es war wie angekündigt Datenmaterial über das Gift, das er gestern von Lucas stumpfnasigem Boten bekommen hatte, eine Reihe von Listen und Tabellen mit Konzentrationsangaben, spekulative Angaben über das Verhältnis von Körpergewicht und Wirkstoffkonzentration, spekulativ deshalb, weil die erste Phase der Arzneimittelzulassung zum Einsatz am Menschen noch nicht erreicht war, Toxizitätsgrenzen, Antidotwirkungen und ihre
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Risiken, auch Atropin ist nicht ungefährlich, und über die Wirkungszeiten des Giftes.
Sicherlich wäre der Hersteller des Medikamentes am Ergebnis seines geplanten Feldversuchs
interessiert gewesen.
Soweit er das überblicken konnte in der Kürze der Zeit, waren das die Forschungsergebnisse von mindestens zwei Jahren Arbeit im fortgeschrittenen Entwicklungsstadium eines
neuen Medikaments. Der Mann muss wirklich erheblichen Zorn auf seinen Geld- und
Arbeitgeber verspürt haben, sonst hätte er nie im Leben so leichtfertig diese Menge an
Arbeitsergebnissen aus der Hand gegeben.
Da es sich um ein synthetisches, besser dosierbares Muskelrelaxans, also ein Entspannungsmittel handelte, ein Ersatzstoff für das immer noch in der Chirurgie verwendete
Pfeilgift Curare, das den Patienten bei vollem Bewusstsein hielt, sollte sich das Gift als
Medikament in der Chirurgie bald bezahlt machen. Es war ein Neurorezeptoren-Blocker, in
der Wirkung dem Pfeilgift ähnlich, sollte aber weniger von den unerwünschten Wirkungen
enthalten und ein höheres Maß an Berechenbarkeit aufweisen, um so das Risiko einer
Atemmuskellähmung zu verringern. Seine Wirkung war die schlaffe Lähmung der
Muskulatur ohne Bewusstseinsverlust oder Einschränkung des Empfindungsvermögens.
Dieser Anteil der Wirkung war Sandmann besonders wichtig gewesen. „Stellen sie sich vor,
sie liegen auf dem OP-Tisch und stellen fest, dass aus irgend einem Grunde die Betäubung,
die Schmerzbeseitigung nicht wirkt, und sie wollen den Ärzten etwas sagen, es geht aber
nicht, weil ihre Muskeln ihnen nicht mehr gehorchen. Nicht einmal Sprechen ist möglich. So
etwa“, hatte er die Wirkung einmal beschrieben. „Sie sind lebendig in ihrem eigenen Körper
begraben. Man nennt so etwas in der Neurologie ein Locked-in-Syndrom: im eigenen Gehirn lebendig begraben.“
Sein Boot kam, er stieg ein. Sandmann ließ sich die eine Station zum Friedhof hinüberfahren. Als er an den Terrakottamauern auf der Nordwestseite des Friedhofes entlangfuhr
und die dunklen, wie mahnende Finger erhobenen Zypressen sah, fielen ihm wieder die drei
Tage der Beerdigung seiner Mutter ein. Sie waren ein Albtraum. Das Jahr damals war sehr
schlimm gewesen, und er konnte sich noch gut an die Verzweiflung erinnern, die ihn damals
beinahe besiegt hatte.
Sein Vater war zur Beerdigung aufgetaucht wie ein Gespenst und ebenso wieder verschwunden. Er herrschte allgemeine Fassungs- und Sprachlosigkeit. Niemand konnte mehr
verstehen, wie das alles geschehen durfte. Nach all dem Tod nun auch noch dieser. Die
ganze Familie fühlte sich wie unter dem Unstern eines persönlich gegen sie geführten Krieges.
Nachdem er auf dem Friedhof angekommen war, machte er sich gleich auf den Weg zum
Familiengrab, in dem seine Mutter beigesetzt war. Antonio Sandmann hatte etwas Geld
dafür ausgegeben, dass der Steinmetz an versteckter Stelle ein Abbild von Charun, dem
blauhäutigen und hakennasigen Totendämon der Etrusker nach seiner Vorlage auf den
Namensstein seiner Mutter eingraviert hatte, eine Darstellung der furchtbaren Seite des
Todes. Weiß Gott, ihr Tod war nicht friedlich gewesen, wie es ihr zugestanden hätte, sie war
unter seelischsten Qualen verreckt. Es tat ihm heute noch weh, sich das auch nur vorzustellen. Er entfernte einige Zweige, wunderte sich über die frischen Blumen, stand eine
Weile sinnierend und zugleich gedankenverloren vor der Grabplatte und wurde dann leise
angesprochen.
„Du bist endlich gekommen.“
Er drehte sich um. Sein Onkel Angelo Scipione stand vor ihm.
„Ja“, antwortete Sandmann nur.
„Es ist jetzt so weit, nicht wahr?“
„Ja.“
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Sie umarmten sich. Es wirkte ein wenig wie die Inszenierung eines Theaterstückes zweier
großer, schwerblütiger Männer, die über Nacht alt geworden waren.
„Und was tust du hier auf dem Friedhof?“ fragte der Onkel.
„Ich habe hier eine Verabredung. Mit meiner Mutter.“
„Ach so.“
Helle Hose, kurzärmliges, dunkles Hemd, heller Hut auf dem Kopf, ein typischer Süditaliener im Norden. Er war das, was man eine stattliche Erscheinung nannte. Er ähnelte ein
wenig dem heiligen Thomas, der bekanntlich nicht durch jede Tür passte. Er war etwa
siebzig Jahre alt, wirkte aber jünger, hatte fast weiße Haare und einen sehr gepflegten
Schnurrbart.
Sein Onkel war Antonio Sandmann in sehr eigenartiger, etwas zwiespältiger Erinnerung geblieben, eine Erinnerung, die zu revidieren er sich bis heute nicht die Zeit genommen hatte:
freundlich und doch streng zu den Kindern, großzügig und manchmal auf eine sonderbare,
beinahe albern hartnäckige Art geizig in Kleinigkeiten, vor allem, was seine Kleidung anging,
sehr leicht zu lautem Lachen zu bewegen, aber furchtbar in seinem Zorn. Die Kinder hatten
ihn trotzdem immer wieder geneckt und herausgefordert, da sie wussten, dass er im Grunde
seines Herzen noch ein Kind geblieben war, das gerne selbst einmal den anderen Erwachsenen eins ausgewischt hätte, vor allem, wenn er auf den Familienfeiern etwas zu viel
von seinem geliebten roten Bardolino getrunken hatte. Er war durch einen kleinen Weinberg im Norden Venedigs, auf dem er kurioserweise einen erstklassigen Soave anbaute – er
selbst bevorzugte Rotwein –, zu einigem Wohlstand gekommen. Trotzdem machte es bisweilen den Eindruck, als verfüge er über unbegrenzte Mittel, die sich über seinen Weinbau
allein nicht erklären ließen.
Das zeigte sich in einem aufwendigen Lebensstil und in dem großzügigen Haus, beide
wiederum sehr wenig geizig, in dem er in der Nähe des Campo Francesco Morosini lebte
und am liebsten mit seiner ganzen Familie und deren reichhaltiger Kinderschar gelebt hätte.
So hatte er gerne ein volles Haus und zeigte sich dann auch immer sehr gastfrei. Nur seine
Frau, Tante Giulia, klagte öfter darüber, dass sie zu wenig Geld von ihrem Mann bekam.
Ihm waren ihre Klagen im Laufe der Zeit wohl gleichgültig geworden, ja er machte sich
geradezu einen Sport daraus, die Ausgaben seiner Frau durch Vorrechnen zu unterbieten
und sie so zur mindestens gespielten Weißglut zu treiben, und so ergaben sich immer wieder
Streitigkeiten, die für den Rest der Familie zur allgemeinen Erheiterung wurden, auch weil
sie so routiniert und eingespielt wirkten. Was aber seine Geschäfte anging, so führte er ein
auf altem machismo basierendes, herrisches und unduldsames Regiment: er bestimmte, er befahl seinen Bauern, er prüfte die Bücher trotz seines recht hohen Alters. Und er hatte da
offenbar eine nicht versiegende Einnahmequelle. Antonio hatte einmal explizit nicht mehr
nach einer sehr patriarchalisch und hierarchisch organisierten kalabresischen, süditalienischen Familie gefragt, einer besonderen Art von Familie eben, als er merkte, dass sein
Onkel ihn von diesem Thema hatte fortlenken wollen. „Frag einfach nicht, glaub mir einfach, die Familie ist wichtig“, hatte er gesagt. Und so wusste er nichts, ahnte nur einiges.
„Woher hast du gewusst, dass ich hier bin?“
„Von Luca.“
„Von meinem Luca?“
„Natürlich. Du glaubst doch wohl nicht, dass mein Neffe, der Sohn meiner kleinen
Schwester, hierher kommt und ich erfahre nichts davon. Luca ist ein Freund unserer
Familie. Nimm ihm das nicht übel, ich habe ihn außerdem gebeten, dir nichts zu sagen. Er
hat mir nur gesagt, dass du in Venedig bist, den Rest habe ich mir zusammengereimt.“
„Aha.“ Etwas ratlos. „Was weißt du noch von ihm?“
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„Ich weiß Bescheid. Ich habe eure kleine Transaktion mitbekommen. Aber mach dir keine
Sorgen, wenn du nichts in dieser Richtung getan hättest, dann hätte ich etwas in die Wege
geleitet. Wir haben das die ganze Zeit beobachtet. Niemand pfuscht mit seinen dreckigen
Händen in meiner Familie herum.“ Kurz wurde das freundliche Gesicht seines Onkels unbarmherzig hart.
Antonio Sandmann schwieg und wartete.
„Wir haben vor sechs Jahren lange über den Unglücksfall und alles, was damit zu tun hatte,
gesprochen, und ich habe schon damals, bei der Beerdigung, gewusst, dass du die Sache bereinigen würdest, wenn der Zeitpunkt gekommen ist. Ich habe dich beobachtet. Ich weiß,
wie ein Mann aussieht, der eine Entscheidung getroffen hat oder kurz davor ist, sie zu
treffen. Darum haben wir nichts weiter unternommen. Wir wollten das dir überlassen, ich
habe darauf bestanden, auch wenn das unsere Geduld sehr auf die Probe gestellt hat. Was
denkst du denn, warum deine Nachfragen, Bemühungen und Bestellungen in dieser Stadt so
glatt gelaufen sind und alles so reibungslos geklappt hat, auch wenn ich nicht recht verstanden habe, was du da tust? Ich habe nachgeholfen. Luca ist mit einigen Leuten befreundet, die etwas Druck ausüben können und die du besser nicht kennst, aber du hast das
ja alles ganz gut angefangen hier. Gregor Steiner ist schon unter unserer ständigen Beobachtung, seit er hier ist.“
„Wer sind wir? Von wem sprichst du?“
„Nun, ich hatte einige Freunde aus Kalabrien, aus der Nähe von Maratea gebeten, mit zur
Beerdigung zu kommen. Alte Freunde. Ich komme schließlich daher, und irgendwie muss es
sich auch mal lohnen. Der Sprung hierher in den Norden war schwierig genug...“ Er schien
einen Moment nach innen zu schauen und seinen Erinnerungen nachzugehen. „Na ja, du
hast sie nicht gesehen, sie haben sich im Hintergrund gehalten, und du warst ja auch fast
blind. Das ist auch gut so, du brauchst sie noch nicht zu kennen. Außerdem ist da auch
noch deine Tante. Sie hatte deine Mutter sehr gern und hat sie übrigens im letzten Jahr ihres
Lebens häufig gesehen und einige Male mit ihr gesprochen. Soweit das möglich war. Deine
Mutter war ja fast nur noch schwermütig. Sie hat mir oft gesagt, Angelo, tu doch etwas,
unternimm irgend etwas, als könnte ich ein Wunder vollbringen, aber ich habe ihr gesagt,
dass das zuerst deine Angelegenheit ist und dann erst unsere. Als sie starb, war ich kurz
davor, durchzudrehen. Mir hat das alles sehr leid getan, aber mir waren ja quasi die Hände
gebunden. Wie auch immer, es waren jedenfalls einige Leute dabei, die ich gebeten habe.
So“, sagte er mit einem Seufzer, „ich habe hier eine kleine Flasche Wein für uns mitgebracht. Wir trinken jetzt ein Glas.“
Am Grab
„Ich muss hier noch etwas erledigen. Deswegen bin ich hier.“
Er ging zum Grab und nestelte, indem er seinem Onkel den Rücken zuwandte, mit einem
kleinen Taschenmesser an dem Grabstein herum. Dann hielt er einen kleinen, fest verschlossenen Plastikumschlag in der Hand, nicht viel größer als eine halbe Kreditkarte, den er
ganz tief aus einer Ritze zwischen dem Stein und dem Grab hervorholte. Wer nicht wusste,
dass dort etwas zu finden war, hätte es nicht gesehen. Aus dem Umschlag nahm er einen
mehrfach gefalteten Zettel.
„Ich habe dies hier hinterlegt und beschlossen, es erst dann wieder hervorzuholen, wenn
die Zeit gekommen ist. Ein Pfand, das ich jetzt einlösen werde.“
„Was ist das?“
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Sandmann reichte seinem Onkel den Zettel, auf dem etwas in Handschrift geschrieben
stand. Angelo Scipione las.
Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben.
Die nackten Toten, die sollen eins
Mit dem Mann im Wind und im Westmond sein;
Blankbeinig und bar des blanken Gebeins
Ruht ihr Arm und ihr Fuß auf den Sternen.
Wenn sie irr werden, solln sie die Wahrheit sehn,
Wenn sie sinken ins Meer, sollen sie auferstehn.
Wenn die Liebenden fallen – die Liebe fällt nicht.
Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben.vi
„Das ist meine Verbindung über die Zeit hinweg, zwischen der Vergangenheit und der
Gegenwart. Manchmal brauchen wir wohl so etwas wie Erinnerungsanker. Ich habe es vor
fünf Jahren hier für diesen Tag hinterlassen.“
„Sag mal, wenn du so poetisch veranlagt bist, wie kannst du es dann mit deinem Gewissen
vereinen, dass du die Rache in die Hand nimmst?“ Sein Onkel hatte einen leicht provozierenden Unterton, eher so, als wollte er seinen Neffen auf die Probe stellen. Und Antonio
Sandmann wurde schlagartig sehr ernst.
„Hör zu. Es ist eine Frage von Recht und Gerechtigkeit“, sagte er und trat am Grab seiner
Mutter ganz nah an seinen Onkel heran, und plötzlich öffnete sich sein Herz und quoll über
durch den Mund, und er sprach, wie er seit Jahren nicht gesprochen hatte, vielleicht noch
nie in seinem Leben. „Mir hatte bis zur Vernichtung meiner Familie nie jemand gesagt, dass
es neben dem Recht auch noch Gerechtigkeit gibt. Dass unser Gesetz zwar Recht sprechen
lässt durch seine Vertreter, aber keine Gerechtigkeit walten lässt. Es geht ja auch gar nicht.
Darauf können wir warten, wenn wir wissen, dass wir warten können. Ich war nicht darauf
vorbereitet. Mir ist bei der Gerichtsverhandlung klar geworden: was soll ihm denn passieren,
dem betrunkenen Fahrer und Mörder? Gefängnisstrafe? Für wie lange? Sollte ich ihm denn
ein Lebenslang wünschen und das für gerecht halten können? Nein, das wäre nur fair, und
mir hat niemand Fairness angeboten. Ich bin gar nicht gefragt worden und wollte das am
Ende auch gar nicht mehr. Mir war es ganz recht, dass Steiner auf freiem Fuße war. So war
er mir nicht entzogen, in zweifacher Hinsicht. Im Gefängnis hätte ich ihn nie erreicht, und
ihn hätte es zurückgelassen mit der beruhigenden Illusion, seine Strafe abgesessen und der
Gerechtigkeit Genüge getan zu haben. Da mir alle anderen Dinge, mein Besitz und mein
Wohlergehen, egal waren und sind, da mir nur die Last geblieben ist, werde ich jetzt dafür
Sorge tragen, dass jemand Anderem mein Teil der Last der Jahre auf den Schultern liegt.
Auf meinen liegt genug. Ich brauche nicht mehr. Non ho bisogno. Putrefarà. Er wird verfaulen.“ Es war ein hässliches Fauchen. Und dann sprach er noch mehr und es brach aus
ihm hervor, wie die Flut ins Land bricht, wenn die Deiche nicht mehr halten.
„Nachdem wir aus dem Zentrum verstoßen wurden, nachdem uns die Krone der
Schöpfung aberkannt wurde und wir schließlich auch noch verbittert feststellen mussten,
dass wir nicht einmal Herr im eigenen Hause und unter dem Dach unseres Schädels sind,
und sei es auch nur, weil diese Forderung Quatsch ist, schmerzt es doch sehr, feststellen zu
müssen, dass uns auch die eigenen Kinder nicht mehr prinzipiell sicher sind, dass es nicht
wenigstens da eine Art Naturgesetz gibt, das verhindert, dass wir verwaiste Eltern werden.
Unser Fundament ist brüchig. Ich erkenne es an, aber es ist dünn seit jeher.“
Der ganze alte Hass von Jahren stieg jetzt in ihm auf, und beinahe wäre Sandmann laut geworden und hätte seinen Onkel beim Revers gepackt. Er sprach wie ein dunkler Prophet.
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„Es gibt die Eltern, die ihre Kinder in den Beschießungen und Belagerungen der Kriege verloren haben. Die Eltern, deren Kinder man vergewaltigt, ermordet und verbrannt gefunden
hat, allein in den Wäldern unseres Grauens, entführt von Gevatter Zufall mit seinem
dummdreisten Gulaschgesicht. Deren Kinder in den Gettos von Warschau und der Welt
verhungert wurden. Deren Kinder man entführte und behielt. Deren Kinder von besoffenen Autofahrern mit zwei Tonnen Hochgeschwindigkeit erwischt wurden. Die wissen
es nun: es gibt keine Gerechtigkeit. Urteile lindern die Schmerzen nicht. Wissen lindert die
Schmerzen nicht. Alle haben mich angeschaut damals: das Gericht, die Rechtsanwälte, der
Reporter. Niemandes Antlitz sagte: Du wirst keinen Mord begehen. Es sagte nur: es ist doch
egal. Es kommt nicht drauf an. Es tut uns ja auch leid. Mach mit mir, was Du willst. So bin
ich nun hier und tue nicht einmal das, sondern nur, was ich tun muss. Wer mich zwingt?
Das tote Gesicht der Mutter, deren Kinder totgefahren wurden. Wir schauen hilflos verwirrt
und unerlöst in das ausdruckslose Gesicht eines Heeres von Handelnden, in das banale und
dumme Gesicht einer Soldateska, die eben deshalb, weil sie eine ist, nie wirklich zur Rechenschaft gezogen werden wird. Niemals. Und das tue jetzt ich.“
„Amen, mein Junge“, antwortete sein Onkel und versuchte mühsam, seine Erschütterung zu
verbergen. Es gelang ihm nicht, aber Antonio Sandmann war es egal, er hatte mehr für sich
gesprochen.
Die Worte waren aus ihm heraus gequollen wie Wasser aus einem gebrochenen Damm.
Nun taumelte er zurück und wäre beinahe in sich zusammengesunken und gestürzt. In der
momentanen Anspannung zeigte sich wie durch eine spaltbreit geöffnete Tür das gleißend
weiße Licht hinter seinem verfinsterten Gesicht, und dann war es wieder still an der Oberfläche.
Angelo holte die Weinflasche und zwei Gläser aus einer Tasche, die er etwas abseits abgestellt hatte, schenkte ihnen beiden ein, Rotwein, ein kleines Glas, und so saßen sie für ein
paar Augenblicke und tranken, jeder in seine Gedanken versunken. Antonio Sandmann
trank nur einen einzigen kleinen Schluck, den Rest aber ließ er auf den Kiesboden vor dem
Grab seiner Mutter laufen, dass es aussah, als sei dort Blut vergossen worden.
„So“, sagte sein Onkel, „und nun komm.“
Heimkommen
Der Onkel war mit einem Wassertaxi gekommen, das er während seiner Zeit auf dem Friedhof hatte warten lassen. Das Boot lag an der Anlegestelle fest. Der Fahrer hatte in der Vormittagssonne gedöst. Nun stiegen sie ein und fuhren zurück: neben der Haltestelle am
Fondamenta Nuove in den Rio dei Gesuiti, links durch eine Reihe kleinerer Kanäle durch
das Sestiere San Marco hindurch, Richtung Tevatron La Fenice, dem Phönix-Theater, noch
einmal rechts, dann links, und in der Nähe von San Maurizio stiegen sie dann aus. Der
Onkel zahlte. Von hier aus waren es nur noch wenige Schritte bis zum Haus seiner Familie.
Antonio Sandmann kannte das Haus gut.
Unterwegs fragte sein Onkel noch, allerdings ohne Vorwurf im Ton, eher aus reinem
Interesse: „Warum hast du dich nicht an mich gewandt, um deine Pläne umzusetzen?“
„Ich wollte meine verbleibende Familie da rauslassen. Es hätte vielleicht etwas nahe gelegen,
bei euch nachzufragen, wenn irgend etwas von meinen Plänen bekannt werden sollte. Ich
glaube es nicht, aber es ist ja möglich.“
„Klug von Dir“, murmelte er vor sich hin.
Wenige Schritte vor dem Haus drehte Sandmann sich um, weil er ein Geräusch hinter sich
gehört hatte. Nun ist ein Geräusch für eine Stadt um die Mittagszeit ja nichts Ungewöhn-
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liches, und doch war irgend etwas Besonderes an den Schritten, die er hinter sich hörte. Es
waren, das wurde ihm erst später bewusst, die Schritte eines Mannes, entschieden und unbeirrbar ruhig. Und doch klangen sie für Männerschritte etwas zu laut und hallten zu lang
nach, als kämen sie von hochhackigen und hart beschlagenen Schuhen in einer großen Halle
oder einem Saal. Aber nicht das war es, was ihn aufmerksam machte, ganz und gar nicht.
Nur, hätte man ihn gefragt, was es denn war, was ihn aufmerksam werden ließ, so hätte er es
nicht sagen können. Und dann sah er ihn zum dritten Male innerhalb von nur zwei Tagen:
den Mann in der dunklen Ledermaske und dem nachwehenden Mantel. Sandmann blieb wie
angewurzelt stehen. Eine erschreckende Kälte überkam in im gleichen Moment, in der er
den Maskierten wieder aus den Augen verlor, weil er um die nächste Ecke bog, noch bevor
er seinen Onkel auf den anderen aufmerksam machen konnte.
Sandmann fühlte sich sonderbar. Dieses Zusammentreffen konnte kein Zufall mehr sein:
gestern im Stadtteil Arsenal und im Sestiere San Marco auf der Riva degli Schiavoni, und
heute schon wieder, hier nahe dem Campo San Maurizio, und es war jedes Mal die gleiche
Erscheinung, der gleiche Mann: seine Bewegungen hatten etwas eckiges, abgehacktes, als
müssten seine Muskeln bei jeder Bewegung ein Räderwerk von Widerständen überwinden.
Venedig war nicht besonders groß, und manchmal liefen auch Verkleidete mit barocken
Kostümen durch die von Touristen belebten Straßen, aber dies hier war etwas anderes, denn
der Maskierte blieb nicht etwa ruhig stehen und ließ sich gegen Geld mit einer weißen Rose
in der Hand vor pittoreskem Hintergrund fotografieren, sondern er schien in einer
ständigen und eigenen Gesetzmäßigkeiten folgenden Bewegung zu sein. Und jedes Mal war
er gleich wieder verschwunden. Er überlegte schon, ob er ihm folgen und ihn zur Rede
stellen sollte, aber er wusste nicht, was er hätte sagen sollen, und dann war es auch schon
wieder zu spät: die schattenhafte Erscheinung war weg.
Na gut, dachte er, dann habe ich eben merkwürdige Begegnungen. Der Maskierte schien ja
nichts von ihm zu wollen und bedrohte ihn auch nicht, er tauchte jeweils nur kurz auf und
verschwand dann wieder. Wenn er etwas von ihm gewollt hätte, dann hätte er ja ohne
weiteres auf ihn zukommen und ihn ansprechen können.
Sein Onkel hatte von der merkwürdigen Begegnung nichts mitbekommen und auch die Bestürzung seines Neffen nicht registriert.
„Warum wohnst du eigentlich nicht bei uns? Das Haus ist doch groß genug“, fragte er,
während er die Tür aufschloss. „Und wir könnten dich auch völlig in Ruhe lassen. Du
kannst kommen und gehen, wie du es willst.“
„Ich möchte das nicht“, sagte Sandmann einfach, während er noch versuchte, sich von
seinem Erstaunen zu fangen.
„Wir reden noch darüber. Später.“ Und nach oben hin: „Giulia! Schau, wen ich uns mitgebracht habe!“ Wie seine Beute, dachte Sandmann, und musste schmunzeln.
Ein kleiner Aufschrei, und seine Tante kam ihnen mit ausgebreiteten Armen entgegen.
„Antonio? Antonio! Da bist du ja endlich! Wir haben so lange auf dich gewartet. Du hast dir
aber Zeit gelassen, meine Güte. Ach du liebe Zeit. Hast du schon gefrühstückt, willst du was
essen, was trinken? Lass dich mal ansehen. Du siehst nicht gut aus, Junge. Ganz abgemagert.
Wie geht es dir? Bist du schon lange hier? Warum kommst du erst jetzt? Wir haben uns
solche Sorgen gemacht.“ Und an ihren Mann gewandt: „Angelo! Warum hast du mir nicht
gesagt, dass mein Neffe kommt, ich hätte doch etwas vorbereitet. Jetzt habe ich gar nichts
im Hause. Ich mache dir gleich Dein altes Zimmer fertig, in dem du als kleiner Junge immer
geschlafen hast. Es ist zwar jetzt unser Gästezimmer, aber du wirst es noch kennen. So viel
hat sich nicht geändert seit damals. Das Bett ist jedenfalls groß genug für dich.“
Sandmann lachte: „Halt, halt, das ist alles noch gar nicht beschlossene Sache. Ich habe hier
in der Nähe ein Hotel, und da möchte ich auch bleiben.“
„Willst Du mich beleidigen?!“
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„Auf gar keinen Fall, Tante Giulia, nein, auf gar keinen Fall, das würde ich mir im Leben
nicht erlauben, und das weißt du auch, nicht wahr? Aber es ist besser so. Glaub mir.“
Seine Tante schaute ihn prüfend an und wusste, dass er es ernst meinte. Dann umarmte sie
ihn noch einmal.
„Gut, va bene“, sagte sie also, „aber jetzt kommst du erst einmal hier an. Sei willkommen in
meinem Hause.“
„Ich danke dir.“
„Ich bringe uns jetzt einen Kaffee. Du hast doch etwas Zeit?“
„Ja, danke.“
„Ach, Tonino“, sagte sie noch im Fortgehen und nannte ihn so, wie sie ihn als Kind immer
gerufen hatte, „Ich wünschte, ich könnte sagen, schön, dass du wieder zuhause bist, aber du
wohnst ja nicht hier. Komm doch ganz nach Venedig, bei uns bist du immer willkommen.“
„Ich weiß, Tante Giulia.“
Sie war eine attraktive und moderne, norditalienische Frau von etwas über sechzig Jahren,
die es gut verstand, in Würde zu altern. Sie versuchte nicht, sich mit kosmetischen Mitteln
jünger zu machen, als sie war, was vielen älteren Frauen etwas Würdeloses gab. Ihre
schwarzen Haare wurden langsam grau; sie war immer noch temperamentvoll, über zehn
Jahre jünger als ihr Mann, und sie war der Grund dafür, dass er nach Venedig gekommen
war. Angelos Schwester, Sandmanns Mutter, war ihrem Bruder nach Venedig gefolgt, sie
hatte immer schon lieber im eleganteren Norden leben wollen, und so hatte sie die Gelegenheit ergriffen und ihren Bruder begleitet. Antonio hatte verstanden, warum seine Tante
nicht nach Kalabrien gegangen war, und wenn er sie ansah, konnte er sich vorstellen, dass
sein Onkel einmal schier verrückt nach ihr gewesen war und sich ein Bein für sie ausgerissen
hätte. Er hatte all seinen Einfluss geltend gemacht und seine Möglichkeiten eingesetzt, um
sie heiraten zu können. Er vergötterte sie noch immer, klagte allerdings immer wieder über
„ihre Verschwendungssucht“. Es war aber allen klar, dass er das nie wirklich so meinte,
denn sie führte sein Haus gut und mit resoluter Hand. Sie kleidete sich elegant, was ihm gut
gefiel und ihn stolz machte auf seine Frau. Sein Onkel mit seiner auf den Vorstellungen des
machismo beruhenden Erziehung aus dem Mezzogiorno hatte sicherlich oft genug reichlich
Schwierigkeiten mit ihrer selbstbewussten Art gehabt. Aber im Laufe der Zeit waren sie
auch ein gutes Team geworden, das sich gerne Scheingefechte lieferte, sozusagen in Erinnerung an alte Zeiten. Es war ein Teil ihrer Art geworden, jung zu bleiben.
Temperamentvoll waren sie beide, wenn auch in unterschiedlicher Art.
Sie sorgte wie eine Löwin für sich und ihre Familie, mit der gleichen Kraft, und sie hatte gut
verstehen können, was mit Antonios Mutter geschah, als der Unfall die Familie verwüstet
hatte. So hatte sie oft mit ihr gesessen, wortlos, und war einfach da gewesen. Das eine oder
andere Mal hatten sie wortlos gemeinsam gegessen. Es war ihr klar gewesen, dass es nichts
zu sagen gab, sie war wohl auch die erste gewesen, die gesehen hatte, dass das Sterben bei
ihrer Schwägerin begonnen hatte. Und sie hatte nicht versucht, sie aufzuhalten, sie hatte sie
nicht aufgefordert, sich zusammenzunehmen. Am Ende hatte sich ein stilles Einverständnis
entwickelt, und so war die Schwägerin nicht ganz vereinsamt gestorben.
Als seine Tante hinausgegangen war, setzten sie sich ins großzügig eingerichtete Wohnzimmer. Antonio sah sich um und ließ alte Erinnerungen wach werden. Ihm fiel auf, dass
beide gesagt hatten, da sei er ja endlich, als hätten sie ihn erwartet. Nun, dachte er, mein
Onkel ist ein umsichtiger Mann, der kennt die Menschen. Sein Onkel wandte sich an ihn:
„So, Antonio, jetzt beantworte mir mal eine Frage: warum nimmst du nicht einen von
meinen Leuten zur Hilfe, warum hast du die Puta, diese kleine Nutte da mit reingezogen?“
„Rede nicht so von ihr!“
„Aber das ist sie doch. Bist du etwa in sie verliebt?“
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Sandmanns Gesicht wurde schlagartig hart, sein Mund schmal wie der Schnitt eines Messers
und seine Augen sehr kalt, so kalt, dass sein Onkel Angelo unwillkürlich zurückzuckte, als er
ihm fast bis auf Handbreite nahe kam. „Und wenn’s so wäre? Was geht’s dich an? Ich
komme sehr gut allein zurecht. Woher weißt du das überhaupt? Seit wann eigentlich genau
spionierst du mir schon hinterher?“, zischte er seinen Onkel an.
„Scusa, scusa. Ich hab’s nicht so gemeint. Meine Güte. Du hast ja das Temperament
deiner Mutter!“
„Dann red nicht so, wenn du es nicht so gemeint hast. Sag was Du meinst und verschone
mich mit dummem Geschwätz.“
Einen Augenblick lang dachte Sandmann, sein Onkel würde handgreiflich werden. Doch
dann lachte er etwas gezwungen und sagte: „Hey, ganz ruhig. Ich wollte dich doch nur auf
die Probe stellen. Ich wollte nur wissen, ob du alles im Griff hast. Ob Du ein Mann bist
oder eine Maus. Wenn du also in Zukunft irgendeine Hilfe brauchst, dann sag es mir. Ich
habe es wirklich nicht so gemeint. Aber nun mal im Ernst, warum ziehst Du jemand Unbeteiligtes da mit hinein?“
Sandmann musste schlucken, um sich nicht noch weiter über die Frage seines Onkels aufzuregen.
„Was soll denn das für eine Probe sein? Sind wir hier beim Theater? Glaubst du, ich komme
hierher, um zu spielen? Hast du eine Idee, was ich hier vorhabe? Überlass es mir, ich habe
alles vorbereitet. Lange genug Zeit hatte ich ja. Ich brauche mehrere Deckungen für das,
was ich vorhabe. Gregor Steiner wird hier die schlimmsten Tage seines Lebens verbringen
und nicht nur einen bösen Sonntagnachmittag mit verkokstem Sonnenuntergang. Ich hatte
und habe Zeit.“ Sandmann beruhigte sich allmählich wieder. „Er wird sich dringend
wünschen, in seinem Grab zu erwachen. Lebendig begraben, das wird ihm wie eine Erlösung vorkommen. Dann weiß er nämlich, dass er bald stirbt, und es gibt dann noch genau
die eine Freiheit, die er hat, und sogar die werde ich ihm nehmen: die Freiheit zu sterben.“
Sein Herz schlug erst jetzt wieder ruhig und normal. Dafür wurde jetzt sein Onkel kurzfristig still und es schien ihn zu gruseln, denn er schüttelte sich mit introvertiertem Blick, als
ob es ihn fröstelte, atmete hörbar durch und bekreuzigte sich.
„Ich habe es wirklich nicht so gemeint“, murmelte er und dachte noch bei sich, sein Neffe
habe das Temperament einer Viper, und dann fragte er: „Wie willst du das anstellen?“
„Du vergisst, ich bin immer noch Arzt, auch wenn ich nicht mehr praktiziere. Mein Wissen
und Können ist noch da, ich kenne Mittel und Wege. Ich habe dazugelernt in den letzten
Jahren.“
„Nein, ich meine, wie willst du ihn in deine Gewalt bringen?“
„Es ist alles schon geplant.“
„Erzähl es mir.“
„Onkel Angelo, es ist doch wie mit deinen so genannten alten Freunden: wenn du es nicht
weißt, kann es Dich auch nicht in Schwierigkeiten bringen. Ich weiß schon, was ich tue. Ich
danke dir für Deine Hilfe und stille Unterstützung, aber das war und ist nicht nötig. Es ist
tatsächlich nicht immer klar, wer deine Freunde sind, wer dich unterstützt und wer vielleicht
nur interessiert ist. Ich habe genug Geld, um alles hier zu regeln.“
„Ich weiß es. Ich kriege hier keine Schwierigkeiten mehr, ich habe mich schon sehr weit aus
den Geschäften der Familie zurückgezogen, nicht ganz, aber so gut wie ganz. Es ist in
Ordnung, wenn du nichts verraten willst. Und was war das für ein Mittel, das du dir über
Luca hast besorgen lassen?“ Er war nicht der Mann, der sich mit unbestimmten Antworten
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abspeisen ließ. Er wusste, wie er erfahren konnte, was er wissen wollte. Aber es widerstrebte
Sandmann, über unerledigte Pläne zu reden und sie zur Disposition zu stellen.
„Kennst du Curare?“
„Von den Indianern? Irgend so ein Gift, das sie auf der Jagd verwenden, oder? Willst du
Steiner jagen?“
„Du liebe Zeit, nein. Wir sind hier nicht im Dschungel. Aber das Mittel wirkt ganz ähnlich,
man kann es nur noch nicht im Körper des Opfers nachweisen, weder sofort noch später,
weil es ganz neu ist. Der Mann wird bei vollständig erhaltenem Bewusstsein nicht mehr in
der Lage sein, sich zu bewegen. Er wird sich völlig kraftlos fühlen. Er wird noch nicht einmal schreien oder auch nur sprechen können, ich bräuchte ihm noch nicht einmal den
Mund zuzunähen, um ihn stumm zu kriegen. Er wird mich verstehen, aber nicht antworten
können. Ich nehme ihn einfach von dem Tisch ab, an dem er sitzt, wie eine reife Pflaume
vom Baum. Und es wird lange dauern, bis ihn irgend jemand vermisst, wenn überhaupt,
denn er wird abreisen wollen und daher in seinem Hotel schon abgemeldet sein. Sein Gepäck wird bereits am Bahnhof sein, weil er den Sechsuhrzug morgen früh nehmen will.“
„Morgen früh reist er ab?“
„Ja. Oder besser gesagt, nein. Ich verhindere das. Ich habe alles schon geplant, wie du
siehst.“
„Das habe ich mir schon gedacht. Und wenn du mit ihm fertig bist, was willst du dann
machen?“
„Das ist mir egal. Das werde ich dann entscheiden. Ich habe einen Verbündeten. Mein
wahrer Verbündeter, das sind nicht die Götter. Es ist der Tod. Er wird der Höhepunkt in
meinem Leben sein. Das ist der Weg. Und ich harre mit Freuden des Tages, an dem ich
sterben werde. Es wird der Tag meiner Erlösung sein.“
Ungläubig und mit offenem Mund schaute sein Onkel ihn an: „Bist Du wahnsinnig?“
Sandmann spürte seine eigene innere Zerrissenheit. Diese Frage hatte er sich selbst schon
gestellt, und die Antwort war meist eindeutig ausgefallen. Sie hinterließ jedes Mal einen
bitteren Geschmack auf der Zunge. Er war sich nicht sicher, ob die Grundlage seiner
Urteile, sein Verstand, intakt geblieben war.
„Vielleicht. Ich weiß es nicht. Von mir aus. Ich war lange genug allein.“ Die Antwort war
auf einer anderen Ebene als die Frage seines Onkels. Sein Onkel fragte sozusagen auf
Umgangssprachlich, Sandmann antwortete gewissermaßen auf Medizinisch. Das Missverständnis blieb unentdeckt.
„Was soll das heißen? Ist es dir egal, ob du stirbst?“
„Ja. Das heißt nicht, dass ich sterben will. Weiß Gott, ich lege es nicht darauf an. Heute lebe
ich sogar wieder einigermaßen gerne, und ich werde alles tun, was nötig ist, um am Leben
und in Freiheit zu bleiben. Aber wenn es passiert, dann passiert es eben. Früher oder später
ist es doch sowieso so weit. Und es ist eine Tür, die offen ist, wenn alle anderen Wege verlegt sind, wenn es keinen Ausweg mehr gibt.“
„Ja.“ Nachdenkliche Pause. Seine Tante kam mit einem Tablett voller Kaffeetassen, Milch
und Zucker herein. Sein Onkel wechselte das Thema:
„Wir werden noch darüber sprechen. Aber jetzt, Antonio, etwas anderes. Ich weiß nicht
recht, wie ich es dir sagen soll, denn du bist mein Neffe, daher sage ich es dir ganz direkt:
lass die Gräber deiner Frau und deiner Kinder hierher umsetzen. Hier haben sie eine
Familie. Fünfzigtausend Euro kostet ein Familiengrab auf San Michele für 100 Jahre. Das
Geld ist schon ausgegeben. Es ist alles bezahlt. Lass sie heimkommen zu ihrer Familie.“
„Nein. Mein Vater...“
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„Wir sorgen für ihn. Das haben wir bedacht.“
„Das habt ihr doch in den letzten sechs Jahren auch nicht getan. Der Mann ist ein lebender
Toter.“
„Antonio, bitte! Wir haben ihn begleitet und unterstützt und ihm Mittel zukommen lassen.
Wir haben ihn besucht. Wenn du nichts davon weißt, dann deshalb, weil wir ihn gebeten
haben, zu dir nicht davon zu sprechen. Wir wussten, dass du auf Einmischungen empfindlich reagierst. Außerdem warst du doch jahrelang weg. Ich weiß, in was für einem furchtbaren Zustand mein Schwager ist, ich habe es selbst gesehen. Glaubst du, mir ist das egal?
Glaubst du, er ist mir gleichgültig? Mit ihm habe ich in all den Jahren immer wieder gesprochen. Ich weiß auch, was mit dir ist. Lass sie alle herkommen. Du bist das Familienoberhaupt. Wir brauchen dich, wenn wir wieder stark werden wollen. Du allein bist noch
stark, ich weiß das jetzt. Unsere Kinder hatten es nur gut hier in der Stadt, sie sind freundlich und klug, aber nicht wirklich stark. Auf ihre Art schon, aber nicht wirklich. Was ist bloß
aus meiner Familie geworden. Was für ein Jammer“, sagte er mehr zu sich selbst, dann aber
wieder: „Antonio, bitte, lass sie hierher kommen. Es sind doch auch fast meine Enkel gewesen.“
„Ich werde darüber nachdenken.“
„Wenn du ja sagst, regele ich den ganzen Rest, die Ämter, die Überführung, alles. Das Grab
ist da. Es wird gepflegt. Wir kümmern uns darum. Du wirst keine Mühe haben. Denk
darüber nach. Und ich kann dich auch sehr gut hier gebrauchen; wenn du hier bleiben willst,
helfe ich dir.“
„Ich denke darüber nach.“
„Gut. Vergiss nicht, die Familie ist das Wichtigste. Ohne sie sind wir klein und bedeutungslos. Jetzt, wo du angefangen hast, hier Ordnung zu machen, müssen wir mehr als je zuvor
zusammenhalten. Es war und ist auch meine Familie.“
Sandmann dachte über die Worte seines Onkels nach. Warum dachte er, der Mensch sei
klein? War nicht die Natur, war nicht die Welt nur deshalb groß, weil sie sich im menschlichen Auge spiegelte? Erwachten selbst all die Götter nicht erst dann wirklich zum Sein,
wenn sie mit den Herzen der Sterblichen Zwiesprache hielten?vii Sandmann war anderer Ansicht als sein Onkel, ließ es aber auf sich beruhen. Es war nicht wirklich wichtig, und tatsächlich hatte es auch für ihn selbst etwas Tröstliches, die Begräbnisstätten seiner Frau und
seiner Kinder hier bei ihrer, bei seiner Familie zu wissen, so absurd ihm das auch vorkam.
Im anderen Grunde waren ihm Gräber gleichgültig. Er beschloss, dass es jetzt nicht an der
Zeit war, eine Entscheidung zu treffen.
„Antonio, du bleibst doch zum Mittagessen?“ Seine Tante bestimmte das mehr als dass sie
fragte. „Sag ja, bitte, ich rufe dann auch Lisa und Simon an, und ihr könnt euch wieder
sehen. Die freuen sich bestimmt auch.“
Er dachte gerne an seine Cousine und seinen Cousin zurück. Sie hatten als Kinder bisweilen
zusammen gespielt und sich zu manchen Streichen und Abenteuern verbündet. Auf den
Karnevalsausflügen hatten die Eltern die Kinder immer gemeinsam mit Giovanni, Antonios
jüngerem Bruder losziehen lassen, und sie hatten zu viert Venedig erkundet und unsicher
gemacht. Vor allem Lisa war in ihrer quirligen Art sehr nach ihrer Mutter gekommen und
hatte die kleine Kinderbande als die Älteste in alle möglichen Hinterhöfe, Gassen und
Schleichpfade geführt und Antonio auch viele Schönheiten der Stadt gezeigt. Sie war nur
wenig älter als Antonio Sandmann. Sie hatten sich schon lange nicht mehr gesehen, und so
nahm er schließlich die Einladung seiner Tante gern an. Er freute sich auf sie.
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Die Familie
Seine Tante Giulia war ganz aufgeregt und erledigte dies und das. Sie telefonierte,
informierte Antonio und ihren Mann über das Besprochene, machte Besorgungen, fragte
„brauchst du noch etwas“ und war auch schon wieder draußen. Onkel Angelo schaute ihr
hinterher, und Sandmann meinte, auch in seinem Alter etwas wie Verliebtheit in seinen
Augen erkennen zu können. Schmunzelnd und voller Stolz schaute er zu seinem Neffen hin,
deutete auf seine Frau als wollte er sagen „siehst du“, und dann klingelte es, und Simon kam.
Die Begrüßung war unerwartet freundlich und herzlich. Unerwartet, da sie sich ja schon seit
über fünf Jahren nicht gesehen hatten. Simon umarmte Antonio Sandmann lange und fest.
„Es tut mir alles so leid“, sagte er, „ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr.“ Er sah seinem
Cousin in die Augen, und er sah die Tränen darin. Dann lachten sie beide ein wenig, und es
war wie ein stiller Regenbogen, der zwischen ihnen aufgegangen war. Sandmann fühlte sich
nach vielen Jahren wieder einmal wie daheim. Simon, seit jeher der Stillere der beiden
Scipione-Kinder, fragte auch nicht viel sondern setzte sich nur in die Nähe seines Cousins
und ließ ihn nicht aus den dunklen Augen. Er hatte weiche, schöne Gesichtszüge. Sie waren
sehr deutlich norditalienisch geprägt. Die Härte und Entschlossenheit seines Vaters Angelo
war überhaupt nicht darin zu entdecken, viel eher die Erziehung durch seine norditalienische Mutter, die viel Wert auf Kultur gelegt hatte und die sich vor allem deshalb
durchgesetzt hatte, weil ihr Mann sie mehr liebte als beherrschte.
Kurze Zeit später klapperte der Schlüssel im Schloss, und Lisa stand mit strahlenden Augen
und ihrem Lachen auf dem Gesicht im Wohnzimmer. Es gab ein großes Hallo, Umarmungen, Küsse und neue Umarmungen. Die Geschwister, Lisa und Simon, gaben ihrem
Cousin in ihrer offenen und einladenden Art das Gefühl, nur kurz weg gewesen zu sein, wie
ein Familienmitglied, das wegen eines Unfalls im Krankenhaus ist, aber bei seiner Rückkehr
wie selbstverständlich wieder aufgenommen wird, oder wie ein Weltreisender, der heimkommt. Sie setzten sich zu beiden Seiten ihres Gastes und ließen ihn spüren, dass er
willkommen war wie ein Bruder, das dritte Kind der Familie. Dann gab es noch mehr
Kaffee und Kekse und Fragen und noch einmal Umarmungen.
Lisa kam in ihrer Art und ihrem Aussehen viel mehr nach ihrem Vater, den das einigermaßen in Erstaunen versetzte. Er hätte sich viel eher einen starken Sohn als eine starke
Tochter gewünscht. Die Auseinandersetzungen mit ihrem Vater um unendlich viele
Kleinigkeiten hatten nicht wenig dazu beigetragen, die Persönlichkeit von Lisa zu schärfen
und zu konturieren. Sie befand sich in einer Zwittersituation. Allen waren die Größenverhältnisse zwischen Lisa und Simon bewusst, aber der einzige, der seinen Segen dazu hätte
geben müssen, verweigerte seine Akzeptanz. Angelo drohte, Opfer seiner eigenen, überkommenen Ansichten und der Gesetze seiner Familie zu werden.
Antonio Sandmann schmunzelte in sich hinein, als er an das bekannte Familienthema dachte
und wie es sich unter anderem sogar darin zeigte, dass Simon klingelte und Lisa mit einem
eigenen Schlüssel in die Wohnung ihrer Eltern kam. Selbst um solche Kleinigkeiten hatte es
endlose und harte Auseinandersetzungen zwischen Vater und Tochter gegeben. Das war
allerdings Jahre her.
Für einige Zeit konnte Sandmann alles vergessen, was seit vielen Jahren tonnenschwer und
grau wie Blei auf seinem Herzen und seinen Schultern gelegen hatte. Sehr alte Erinnerungen
aus den gemeinsamen Tagen der Kindheit wurden angesprochen und tauchten gleich wieder
unter, nur um gegen neue ausgetauscht zu werden. Eine Zeit lang fühlten sich die Drei sogar
wieder wie die Kinder, die vor vielen Jahren, damals noch zu viert mit Giovanni, neue
Unternehmungen planten, was die Eltern klug und wissend durchgehen ließen. Lisa fragte
Antonio, wann er sie und ihren Mann und die Kinder besuchen kommen würde, und es
wurde wieder ernst um sie. Es war aber nicht so, als hätte sie aus Versehen ein falsches
Thema angesprochen, sondern als wollte sie ihm sagen: komm und sieh und fühl dich auch
bei uns zuhause; meine Tür ist immer offen für dich.
69
„Ich weiß es noch nicht. Es kann sein, dass ich für lange hier in Venedig bleibe, es kann
sein, dass ich bald wieder abreisen muss. Aber wenn ich bleibe und es möglich ist, verspreche ich dir, dass ich dich besuchen und bleiben werde, nicht nur kurz.“
Lisa schaute fragend zu ihrem Vater hinüber, und der nickte und sagte: “Ja, es ist so weit. Er
ist gekommen, um die Dinge hier zu Ende zu bringen.“
Sandmann war erstaunt, wie weit hier über ihn gesprochen worden sein musste, zumal er
wusste, dass die Geschwister inzwischen selber Familie hatten und das Wissen um Sandmanns Pläne sie in Gefahr bringen konnte. Er war der Meinung, dass manches Wissen nicht
gut sei für die Familie. Der Onkel erläuterte ihm jedoch, dass es eine Reihe von Dingen gab,
die unbedingt und auf jeden Fall in der Blutsfamilie bleiben müssen, um alle zu schützen,
das sei ja auch der Grund, warum die Familie das Wichtigste überhaupt sei. Noch erstaunter
war er jedoch, als er, anders als erwartet, auf stilles, auf schweigendes Einverständnis traf
und nicht auf Kritik und Einwände. Je länger er diese Erkenntnis auf sich einwirken ließ,
umso mehr fühlte er sich, als sei er ein Puzzleteil, das seinen Platz gefunden hatte und nicht
mehr heimatlos in der Weltgeschichte herumvagabundierte.
„Was hast du vor?“ fragte sie ihn.
„Lisa, wie lange kennst du mich?“
„Lass mich überlegen. Ich glaube, es sind vierzig Jahre. Warum fragst du?“
„Hast du schon einmal erlebt, dass ich viel erzähle und nichts tue? Du weißt doch, dass es
Dinge gibt, über die man besser nicht spricht, die man einfach nur macht und dann schaut
man, was weiterhin wird. Du hast eine Familie, du musst sie schützen. Ich habe meine
Familie nicht mehr, ich muss niemanden mehr schützen, ich habe jegliche Grenze verloren.
Hätte ich noch Frau und Kinder, ich würde nicht wissen wollen, was du vorhast. Besser
also, du fragst nicht.“
Sie sah ihm in die Augen. Dann beugte sie sich zu ihm hinüber, umarmte ihn lange, küsste
ihn auf die Wange und sagte: „Du hast Recht. Ti voglio tanto bene. Du bist immer noch
mein Lieblingscousin, wie mein etwas kleinerer Bruder. Weißt du eigentlich, dass ich damals
fast ein bisschen verliebt war in dich, in meinen eigenen Cousin? Kannst du dir so etwas
vorstellen? Ich fand dich einfach toll, mit deinen dunklen und unergründlichen Augen und
deiner imponierenden Größe. Ich habe nicht verstanden, warum ich immer die Führung
übernehmen durfte, warum immer ich sagen durfte, was wir machen, nach meinem Gefühl
hättest du das tun sollen. Und im Ernst: trotz all der Katastrophen hast du dich im Grunde
deines Herzens nicht verändert. Ich erkenne dich immer noch wieder, obwohl deine Augen
noch dunkler geworden sind. Du wirst es gut machen. Gott, ich habe Dich oft vermisst; in
Gedanken war ich bei dir und habe für dich gebetet. Es hat mir alles so weh getan. Auch
dass du deine Frau verloren hast. Ich war fast ein bisschen eifersüchtig, als du sie geheiratet
hast, aber als ich sie dann kennen gelernt hatte, habe ich gesehen, wie gut sie für dich war.
Das habe ich schon gesehen, bevor es dir wirklich bewusst war. Heute weißt du das alles,
nicht wahr?“ Er musste hart schlucken. Auch in ihren Augen, in ihrem Blick sah er die echte
Anteilnahme und nickte. „Wo warst Du all die Jahre? Papa“, sie sah zu ihrem Vater hinüber,
„sagte immer, eines Tages wirst du wieder auftauchen, und da bist du jetzt. Wo warst du?“
„Ich war in Japan. In einem Kloster.“
„Bitte wo?“ Ungläubig.
„Ja. Ich war in der Nähe von Kyoto in einem Zen-Kloster, im Daitokuji, um genau zu sein.
Erst war ich im Gästehaus, später war ich dann im Kloster selbst, im Daisenin mit seinem
Steingarten, und habe mich dort in Zen-Buddhismus geübt. Ich habe dort gelebt.“
„Fünf Jahre lang?“
„Fünf lange Jahre lang.“
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„Aber du hättest uns trotzdem etwas sagen sollen. Wir sind deine Familie. Wir haben uns
Sorgen gemacht. Ich, Antonio, ich hatte Angst um dich. Ich hatte Angst, dass du nie wiederkommst. Ich hatte gedacht, dass du gestorben sein könntest. Was hast du denn dort nur
getan in dem Kloster? Und warum Japan, und seit wann bist du wieder hier? Und warum
hast du uns bloß nichts gesagt?“
Im Daitokuji
„Nein, Lisa, das ging nicht, ich konnte euch nichts sagen. Da war nichts zu sagen. Ich
wusste selbst nicht, wo ich hingehe. Ich bin einfach weggegangen, es hat mich einfach fortgerissen, aber ich wusste nicht, wo ich ankommen würde, die Entscheidung fiel, glaube ich,
erst am Flughafen, jedenfalls kam es mir so vor, und so gab es nichts zu sagen. Ich war im
Kloster, habe den größten Teil meiner Zeit auf dem Hintern gesessen“, er lächelte jetzt
kaum sichtbar vor sich hin und sprach sehr ruhig, leise fast, „dann habe ich dort Klosterarbeit verrichtet und ein bisschen Disziplin gelernt, das war wohl nötig, und nebenbei habe
ich auch noch eine kleine Ausbildung in den Kampfkünsten über mich ergehen lassen. Ich
bin nichts gefragt worden dort. Es war oft kalt oder es war spartanisch, oder es war beides,
kalt und spartanisch, jedenfalls steht das in meinen Erinnerungen ganz oben. Obwohl es
natürlich auch warme Tage dort gab, und der Sommer ist oft sogar feucht-warm, aber die
Kälte beißt sich tiefer ins Fleisch und bleibt daher besser in Erinnerung. Der Tag begann
um halb sechs und hörte um zehn Uhr abends auf, das Essen war einfach, oft gab es in Salz
und Kleie eingelegten Rettich, viel Tee, und ich hatte sehr viel Zeit, alles auf mich wirken zu
lassen, alles nachklingen zu lassen, was mir hier passiert ist. Es musste ja auch sein. Außer
Essen, Schlafen, Meditation und einfacher Arbeit gab es dort nichts.“
Und dann erinnerte Sandmann sich an seine Zeit im Kloster: wie er dort ankam und um
Einlass gebeten hatte, und wie er zunächst auf Skepsis gestoßen war, die er kaum verstand,
da er ja nichts von seiner mörderischen Biografie erzählte; an die Übungen, die Zen-Koans
und Fragen, bei denen er manchmal das Gefühl hatte, er würde seinen Verstand verlieren.
Fragen wie: wie klingt das Klatschen einer Hand?, warum ging Buddha nach Osten?, oder:
der Meister hält seinen Stab hoch und sagt: wenn ihr das einen Stab nennt, dann stellt ihr
euch gegen seine Natur, wenn ihr es keinen Stab nennt, dann leugnet ihr die Tatsache; sagt
mir, wie werdet ihr es nennen?, und so weiter. Von der Monotonie des Lebens im Kloster
und der Monotonie der Übungen des Za-Zen, der Einfachheit des Lebens dort und von den
Bildern, die ihn all die Zeit über begleitet hatten. Von der nervenzerfetzenden Stille. Von
den Kämpfen, die er mit sich auszutragen hatte und von seiner Einsamkeit.
Es hatte lange gedauert, bis er begriff, dass er seinen Verstand nicht verlieren konnte, dass
das nur eine Phrase war oder ein Wunschtraum, der mit keinerlei Realisierungsmöglichkeit
zu tun hatte. Er hatte die Phrase dann fallen gelassen. Noch länger dauerte es, bis er die anfängliche Skepsis begriff.
Am Anfang war es Hass gewesen, der ihn erfüllte, der ihn von innen her auffraß wie ein
Parasit, ein Wurm, der sich seines Inneren bemächtigte und all seine Organe besetzte, auch
sein Gehirn. Er machte ihn stumm.
Eines Tages sprach sein Lehrer ihn an. „Du trägst eine schwere Last“, hatte Shokojin
Riyoshi zu ihm gesagt. Er hatte den Hass natürlich bemerkt und überlegt, ob er den Gast
von den Mönchen absondern sollte. Er war es, der skeptisch gewesen war. Dann hatte er
sich gegen die Skepsis entschieden und beschlossen, dass es erträglich sein musste, was der
Fremde mit sich brachte, denn der lebte ja schließlich auch damit. Außerdem war er davon
ausgegangen, dass seine Mönche und sein Kloster stark genug waren, auch dieses zu tragen.
„So ist es“, hatte Sandmann nur geantwortet.
71
„Zeig mir die Last.“
„Ich kann sie dir nicht zeigen.“
„Dann ist sie nicht deine wahre Natur. Als du geboren wurdest, hattest du sie nicht, und
deine Eltern gaben sie dir nicht. Denke darüber nach.“
Deine Eltern... Er glaubte, diese Sätze schon einmal gehört zu haben, wusste aber nicht, wo
das gewesen sein konnte. „Meine Mutter starb an gebrochenem Herzen. Meine Frau und
meine Kinder sind tot. Sie wurden getötet.“
„Geh jetzt hinaus.“ Shokojin Riyoshi sprach nach einem fast unmerklichen Zögern unerwartet sanft. Er wirkte nicht überrascht oder peinlich betreten, wie es andernorts üblich
war, wenn man aus Versehen auf dieses Thema zu sprechen kam.
Der Lehrer hatte dann nicht mehr darüber gesprochen, so dass Antonio Sandmann glaubte,
er sei missverstanden oder vergessen worden. Es war aber nicht üblich, mit dem Lehrer zu
diskutieren, ihn zu erinnern oder gar zu ermahnen. So schwieg er und machte weiter seine
Übungen. Erst sehr viel später wurde ihm bewusst und begriff er, dass das Missverständnis
auf seiner Seite gewesen war.
Nur noch einmal hatte der Lehrer das Thema noch aufgegriffen und dann zu ihm gesagt:
„Du Narr. Du verblendeter, zorniger Narr! Du hast noch einen sehr langen Weg vor dir.
Mach deine Übungen. Menschen sterben.“
Sandmann war wütend geworden, so wütend, dass er für mehrere Tage in Versuchung war,
das Kloster zu verlassen. Ihm wurde deutlich, wie sehr er erwartet hatte, dass die Welt ihren
Lauf ändern würde, weil ihm Unglück widerfahren war. Nichts dergleichen geschah.
Menschen sterben. Es war ihm unbegreiflich. Hätte er angenommen, dass sein Lehrer rücksichtslos gewesen war, er hätte sofort seine drei Sachen gepackt. Aber er kannte ihn inzwischen besser. Sein Lehrer wusste, was er sagte, nichts geschah hier unbedacht.
Dann, eines Tages, kam Shokojin Riyoshi zu ihm, trat ihm gegenüber, schaute ihm in die
Augen, lächelte undurchschaubar tiefgründig und sagte: “Hier. Ich schenke dir diese leere
Tasse. Sie ist von meinem Lehrer, der sie von seinem Lehrer erhielt. Also bewahr sie gut auf.
Sie ist größer, als du denkst.“
Ein scheinbar schmuckloser Klumpen Ton, zu einem kleinen Becher geformt, kaum größer
als zwei Hände voll. Er schaute ihn an und hatte das Gefühl, dass in dieses Gefäß seine
Seele gepasst hätte, sie wurde fast von ihm eingesaugt in die dunkle Tiefe ihres Raumes. Als
Sandmann sie in die Hand nahm, ging ein Ruck durch das Gefüge seiner Welt. Beinahe wäre
er gestürzt. Vorsichtig setzte er sich, dann stellte er die Tasse neben sich ab, und dann begann er zu weinen. Und er weinte und weinte. Dann nahm er wahr, dass sein Lehrer fort
gegangen war, und er glaubte, noch ein „Aha“ zu hören, das der Lehrer geäußert hatte, als er
ging. Und er weinte. Dann brachte ihm nach einiger Zeit ein Mönch des Klosters Reis, Gemüse und Tee, stellte es nur wortlos ab und ging wieder. Antonio Sandmann weinte. Fünf
Tage lang. Man ließ ihn in Ruhe. Er aß nichts. Man holte den Reis wieder ab. Dann wurde
er krank. Fiebrig, völlig geschwächt und halb vertrocknet lag er da, es kam kein Arzt, wozu
auch, man brachte ihm nur noch Tee. Bitteren, schwarzen Tee, mehr nicht. „Er ist so bitter
wie das Leben selbst“, hatte der Lehrer irgendwann einmal zu ihm gesagt. Schließlich fing er
wieder an zu trinken, danach zu essen. Als es kurz nach diesen Tagen einmal regnete, Frühlingsregen, ging er hinaus und stand stundenlang im Regen und spürte die abertausend Berührungen des Wassers. Shokojin Riyoshi gab ihm sozusagen frei, all das zu tun. Und dann
machte Sandmann sich wieder ruhig an seine Übungen.
Es war ein kleiner Teil seiner persönlichen Katharsis gewesen, aber Shokojin Riyoshi
lächelte ein wenig vor sich hin.
In diesen Tagen hatte er nahezu zwanzig Kilogramm an Gewicht verloren. Es zehrte ihn
aus, als sei er am Sterben.
72
Später hatte sein Lehrer von ihm gefordert, er möge sich mit seinem medizinischen Wissen
um die kleinen Malessen seiner Mitmenschen im Kloster kümmern. Außerdem hatte er ihm
einen anderen Lehrer für die Ausbildung in den alten Kampfkünsten vermittelt. Die Monotonie war mit den schmerzenden Muskeln, der Erschöpfung und durch die körperlichen
Übungen leichter zu ertragen. So hatte er vor allem Kenyukai, den Weg des Schwertes, aber
auch andere Kampftechniken ohne Waffen gelernt. Shokojin Riyoshi hatte das für richtig
gehalten, und Antonio Sandmann hätte die Entscheidungen seines Lehrers zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr in Frage gestellt. Dieser sehr alte Mann wusste viel mehr, als
er jemals sagte.
Es war in der Kampfausbildung oberflächlich betrachtet immer nur um Disziplin gegangen,
die Kunst des kampflosen Kampfes und die geheimen Lehren eines Mönches namens
Takuan Soho aus dem sechzehnten Jahrhundert, der übrigens auch einer der Lehrer des
Miyamoto Musashi war. Geheim wurde vieles genannt, aber in einem anderen als dem uns
bekannten Sinn. Es bedeutete oft, dass man es zwar sehen, aber dennoch nicht verstehen
konnte: offensichtlich unverständlich. Man konnte diese geheimen Techniken aufschreiben
und veröffentlichen, und das geschah auch, wer das Verständnis für die Schritte nicht hatte,
die ein Schüler gehen musste, um sie zu erlernen, konnte nichts damit anfangen. Sie waren
bis zu einem gewissen Grad hermetisch durch sich selbst geschützt gegen Missbrauch. Und
wer sich auf den Weg machte, die Geheimnisse zu erschließen, verließ dabei einen Pfad, auf
dem ein Missbrauch denkbar war. Das war der Gedanke.
Er hatte auch erfahren, dass es durch spezielle, geheime Techniken möglich sei, sich so gut
wie unsichtbar zu machen, indem man sich in die Unauffälligkeit so zurückzieht wie ein
Mensch, der an einer Haltestelle steht, sich bei einsetzendem Regen unter das Dach zurückzieht: vollkommen unauffällig. Es sei eine geistige Disziplin, kein „Firlefanz“, sagte sein
Lehrer. Einmal hatte er breit grinsend dieses deutsche Wort gebraucht, sich dabei aber beinahe die Zunge gebrochen; Sandmann glaubte, sich verhört zu haben. „Mach einfach einen
Schritt zurück. Tu es einfach.“ Es war eine der Paradoxien gewesen, die ihn irgendwie weich
gemacht hatten.
„Ich verstehe es nicht!“ hatte er eines Nachmittags durch die Zähne gepresst und beinahe
seinen lächelnden Meister angefallen, denn das immerwährende Lächeln seines Lehrers kam
ihm plötzlich vor wie eine einzige Provokation. Vielleicht war es das auch. Natürlich wäre er
absolut chancenlos gewesen gegen den lächelnden alten Mann. Und oft hatte er sich ihm
gegenüber wie ein dummer Schuljunge gefühlt. Wahrscheinlich traf es das ja auch, denn
dieser Mann stand mit beiden Beinen in einer alten Tradition und war dabei, sie fortzuführen, Glied einer sehr langen Kette. Sandmann hingegen stand in gar nichts, war sämtlicher Bindungen beraubt. Er sollte nie erfahren, dass dies die Bedingung gewesen war, unter
der Shokojin Riyoshi ihn in das Kloster gelassen hatte. Hätte er einen Hadernden vorgefunden, er hätte ihm geraten, seine Heimat aufzusuchen.
Später, sein Lehrer hatte die Erlaubnis erteilt, ja ihn geradezu aufgefordert, durfte er sich
sein eigenes Schwert kaufen. Innerhalb der Welt, in der er dort lebte, fühlte sich das für
Sandmann an, als seien alle Weihnachten für Kinder auf einmal.
Antonio Sandmann erinnerte sich an den Morgen im Daitokuji, als sein Kenyukai-Lehrer zu
ihm gekommen war, um ihm zu sagen, es sei nun an der Zeit, dass er seine eigenen
Schwerter bekomme. Er hatte niemals damit gerechnet, diese Aufforderung auch anfangs
gar nicht verstanden. Hatte er doch angenommen, dass der Besitz, vor allem der alten und
guten Schwerter, den Samurai und ihren Familien vorbehalten gewesen sei. Dann stellte es
sein Lehrer so dar, dass das der nächste Schritt auf dem Weg seiner Ausbildung sei. „Du
musst jetzt lernen, wofür du die Dinge dieser Welt brauchst. Und du musst lernen, dich von
ihnen zu lösen. Sie sind nichts. Aber dafür brauchst du sie.“ Wieder eine von diesen merkwürdigen Paradoxien. Umso erstaunlicher war ihm die Erlaubnis vorgekommen.
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Selbstverständlich hatte er die Schwerter noch. Er wusste nicht, wie lange noch, aber noch
hatte er sie. Diese Dinge waren heute das Wertvollste, was er besaß.
Dann hatte er sich mit seinem Lehrer zusammen auf den Weg zu einem Schmied gemacht.
Er war sich dabei kaum der Sonderbehandlung bewusst, die er bekam. Sein Lehrer und der
Schmied hatten miteinander gesprochen, er verstand kaum etwas von dem Gespräch. Nur
das Wort zornig kam öfter vor, als ihm lieb sein konnte; irgend etwas von einem zornigen
Mann. Dann war der Schmied an ihn herangetreten und hatte ihn lange gemustert. Er war
ein zäher, kleiner Mann, ausgetrocknet von dem ständigen Kontakt mit dem Schmiedefeuer,
mit einem weißen Stirnband, einer Lederschürze und harten, ledernen Gesichtszügen. Er
trug eine Brille mit Gläsern, dick wie Flaschenböden, einen langen, dünnen Ziegenbart und
eine Haartracht, die aussah wie die eines Samurai. Wahrscheinlich war er sogar einer. Unter
merkwürdigem Gemurmel hatte er verschiedene Messungen an Antonio vorgenommen,
tastete mit hageren Fingern, stark wie Schraubstöcke, Hände, Arme, Körper, und dann
wurde er verabschiedet. Sechs Wochen später hielt er die Schwerter in den Händen: ein
Katana und ein Wakizashi. Sushu Kitae – Arbeiten. Sie schienen ihm vollkommen. Sandmann
hätte beinahe wieder angefangen, zu weinen, diesmal aber berührt von der stählernen
Schönheit dieser Waffen.
Und wieder sollte es lange dauern, bis es in der Lage war, seine eigenen Schwerter zu verstehen. Zunächst hatte ihn die Kraft beeindruckt, die von ihnen ausging und sich auf ihn, so
schien es, übertrug. Lange hatte er mit den neuen Schwertern seine bisherigen Übungen im
Dojo allein gemacht, wiederholt, was er bisher gelernt hatte und es auf seine Schwerter angewandt. Er hatte ihr Gewicht, ihre Statik, ihr Schwingungsverhalten und ihr Geräusch gelernt, hatte gelernt, ihnen dabei zuzuhören wie sie sangen, wenn er sie zog oder wenn sie die
Luft zerschnitten. Und er hatte natürlich auch gelernt, seine Schwerter selbst zu pflegen und
zu schärfen. „Du wirst hier nicht ewig bleiben und dich trotzdem um deine Schwerter
kümmern müssen“, sagte sein Lehrer dazu. Dann hatte er Sandmann gesagt, er solle danach
streben, dass diese Dinge überflüssig würden, er solle sich nicht an den Besitz solcher Kraftquellen binden. Für seine wahren Kämpfe und Siege könne man keine Schwerter mehr gebrauchen. Er sollte dann die Schwerter zurückschicken.
Wenige Monate später hatte Sandmann das Kloster verlassen. Es war ein schwerer Abschied. Seine Zeit sei nun gekommen, sagte er Shokojin Riyoshi.
„Ich weiß“, antwortete der. Dann hatten sie sich umarmt, und Sandmann nahm immer noch
die sehr intensive Berührung des sehr alten Mannes wahr. Das war nun zwei Monate her.
Während er sich an diese Zeit zurückerinnert hatte, waren vielleicht zehn Sekunden vergangen, in denen er vor sich hin geschwiegen hatte. Und als würde er aus einem kurzen
Traum erwachen, wandte er sich wieder seiner Cousine zu und sagte zu ihr:
„Es war schlimm vor fünf Jahren, nach der Gerichtsverhandlung. Ich hatte die Wahl, durchzudrehen, irrsinnig und krank zu werden oder zu sterben und damit alle Ereignisse auf sich
beruhen zu lassen. Das erschien mir alles sehr verlockend damals. Oder ich konnte etwas
ganz anderes machen, und dafür habe ich mich mehr oder weniger widerwillig entschieden.
Es ging dann alles sehr schnell: ich habe in Deutschland meinen gesamten Besitz vernichtet
oder verkauft, habe meine Angelegenheiten geregelt und bin gegangen. Und das war gut so.“
Mit dem Geld, das er dann besaß, hatte Sandmann nichts anfangen können. Demzufolge
hatte er heute so viel übrig, dass er sich um sein Leben keine Gedanken zu machen brauchte.
Lisa nahm seine Hand und schaute ihn lange an.
„Es war offensichtlich gut“, sagte sie dann. „Und seit wann bist du wieder hier?“
„In Europa seit zwei Monaten, es ist also alles noch ganz frisch. Ich bin noch gar nicht
richtig angekommen nach all den Jahren in der Fremde und in der Einsamkeit. Das war wie
auf einem anderen Stern. Ohne diese Menschen im Kloster hätte ich vielleicht nicht über-
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lebt. Ich verdanke ihnen noch mehr als mein Leben. In gewisser Weise war das der Ort
meiner Wiedergeburt.“
„Und seit wann bist Du hier in Venedig?“
„Seit fünf Tagen.“
„Und da meldest du Schuft dich erst heute?“ Da war wieder ihr Strahlen.
„Ich hatte und habe hier noch einige Dinge zu erledigen.“
„Ist Steiner schon hier?“
„Schon seit einigen Tagen. Ich habe es eingefädelt, dass er hier einige wirklich gute Geschäfte angeboten bekommt, und so war es für ihn unwiderstehlich, hierher zu kommen. Er
glaubt, dass er wieder auf der Erfolgsstraße ist.“
„Und weiß er, dass du hier bist?“
„Natürlich nicht. Er würde doch die Flucht ergreifen wie von Furien gehetzt. Er weiß
höchstwahrscheinlich nicht einmal, dass ich hier Familie habe. Es ist in der Gerichtsverhandlung ja nicht erwähnt worden, da bin ich ziemlich sicher. Wozu auch. Eigentlich wollte
ich mich sowieso erst bei euch melden, wenn meine Angelegenheiten hier erledigt sind.
Aber euer alter Vater, dieser schlaue Fuchs, hat mich aufgespürt.“ Sie schauten sich
schmunzelnd an. Die Konkurrenz zwischen den Beiden war jetzt zwar spürbar, aber sie war
nicht unbedingt angespannt, eher wie die zwischen einem alten König, der seinen Nachfolger bereits ausgewählt hatte und nun etwas Bedauern verspürt, den Thron verlassen zu
müssen. Im Grunde hatte Angelo Scipione seine Wahl getroffen, als er seinen Neffen auf
der Beerdigung seiner Familie gesehen hatte, und nun wartete er mit der Übergabe seiner
Familiengeheimnisse und der Dokumente an ihn nur noch, bis dieser seine Angelegenheiten
geregelt hatte. Er war mit der Entwicklung mehr als zufrieden. Auch er war der Meinung,
dass die Jahre im Kloster aus seinem Neffen einen ausgesprochen beeindruckenden, starken
Menschen gemacht hatte. Antonio selbst wusste noch nichts von den Plänen seines Onkels,
nur so konnte er sich in Ruhe der Erledigung seiner Angelegenheiten widmen.
Die Tante kam mit Tabletts voller Köstlichkeiten herein, sie trug Essen auf, als sei sie die
Mamma italiana persönlich, es wurde gegessen, geredet, gelacht, und Sandmann konnte
noch einmal für eine gewisse Zeit abschalten. Es tat ihm gut, er schöpfte noch einmal Kraft.
Dann nahm er von seiner Familie Abschied, versprach aber, dass er sich melden werde,
wobei er nicht wusste, ob er das Versprechen würde einhalten können. Er wusste, was vor
ihm lag und konnte keine Prognosen abgeben.
Sein Onkel begleitete ihn bis zur Tür. Dort umarmte er ihn, sah ihn ernst an und sagte:
„Sforzati, streng dich an. Ich brauche dich noch. Aber ich weiß, dass du wiederkommst.“
Da weißt du aber mehr als ich, dachte Sandmann noch, aber er ging wortlos fort.
Sandmann begab sich in sein Hotel, führte noch einmal seine Meditation durch, es war inzwischen festes Ritual seiner Tage geworden, und fing dann an, sich auf den Rest dieses
Tages vorzubereiten.
Noch einmal, wie am Vortage, bereitete er sich einen Tee und trank ihn in aller Ruhe. Dann
machte er sich daran, sein Wakizashi, das etwa fünfundvierzig Zentimeter lange Kampfmesser, den kleinen Bruder von seinem Katana, dem Kampfschwert, seiner aufwendigen
Pflege zu unterziehen, die regelmäßig notwendig war.
Beides waren Sushu Kitae – Klingen aus der Schmiede Masamune mit handsigniertem Metallkern im Griff, für die er ein halbes Vermögen ausgegeben hatte. Es war sein liebster, sein
wertvollster Besitz, von faszinierender, gefährlicher Schönheit. Da es sich um handgeschmiedete Exemplare handelte, waren sie nicht rostfrei und bedurfte regelmäßiger, sorgfältigster Pflege, die für ihn jedes Mal eine eigene kleine Meditation darstellte, eine Vorbereitung auf den nächsten Schritt. Natürlich war es keines von den alten Meisterschwertern, das hätte er als Ausländer niemals bekommen. Die Schwerter, die zum Teil
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Namen trugen, blieben im Lande. Trotzdem war seines ein ungewöhnlich schönes
Exemplar, dessen Hamon, die Härtelinie im Übergangsbereich vom Klingenkörper zur
Schneide, ein unregelmäßiges, wie lebendig aussehendes Wellenmuster aufwies.
Dieses Messer war der Grund dafür gewesen, dass er mit dem Zug nach Venedig gekommen war. Er musste es bei sich haben, wäre aber bei der Flugkontrolle damit nicht
durchgekommen, da es sich um eine hochgefährliche Kampfwaffe handelte, die er nicht mit
seinem Gepäck abgegeben hätte. Es wäre unweigerlich zu Fragen gekommen, die er nicht
beantworten wollte. Er hätte es jedenfalls nicht dulden können, dass irgendein Zollbeamter
die Klinge berührt, und sie als Frachtstück zu versenden, war ihm zu umständlich. Er hatte
ganz einfach keine Fragen gewollt, und so hatte er eben die längere Zugfahrt auf sich genommen. Auch schon der Export aus Japan hatte ihn Papiere, Geduld und Aufmerksamkeit
gekostet. Die Japaner waren da empfindlich, und er konnte das verstehen, er war es auch.
Er begann mit dem Schärfen der Klinge. Es war nicht notwendig, gehörte aber doch zu
seinem Ritual. Die Konzentration beim Schärfen verstand er wie die Konzentration zum
Schärfen des Verstandes: er machte sich zum Werkzeug seines Planes, er zog sich aus sich
selbst zurück und führte sich wie ein Kampfschwert, den Notwendigkeiten der Situation
angemessen und in einem Rhythmus zwischen Angriff und Aufmerksamkeit.
Dann kam die Reinigung. Nachdem er den mit Seide über Rochenhaut bezogenen Griff mit
einem Tuch umwickelt hatte, reinigte er die Klinge mit einem besonderen, säurefreien Reispapier von der Spitze zur Parierscheibe von Staub und Öl. Dann stäubte er mit einer rasierpinselgroßen Puderquaste in einem langsamen, ruhigen Rhythmus Steinpuder auf die
Klinge, mit dem er Ölreste und Verunreinigungen entfernte. Als dritten Schritt trug er mit
einem Baumwolllappen das spezielle Chojiabura – Waffenöl auf, das er sich aus Japan mitgebracht hatte, und verteilte es sorgfältig über die gesamte Klinge, wobei er besonders
darauf achtete, dass auch die beiden Blutrillen auf den Klingenseiten vollständig eingeölt
wurden. Dann schob er die Klinge, ohne sie noch mit der Hand zu berühren, in ihre Scheide
aus unbehandeltem Holz zurück und begann, sich anzuziehen.
Er wollte sich insgesamt unauffällig kleiden, was ihm aber nicht ganz gelang, da er die
Übung darin und den Blick dafür verloren hatte. Sandmann dachte an seine Frau. Sie fehlte
ihm, nicht nur jetzt, aber sie hatte ihn in diesen Dingen immer gut beraten. Die Erinnerung
versetzte ihm wieder einmal einen Stich ins Herz.
Verena
Verena, seine Frau. Es gab viele kleine Situationen im Verlaufe eines Tages, in denen er
merkte, wie sehr sie ihm immer noch und immer wieder fehlte, auch noch nach sechs
Jahren. Seitdem er aus Japan zurückgekehrt war, war es wieder schlimmer geworden. Erst
hier spürte er den Verlust in all seiner herzzerreißenden Deutlichkeit, und manchmal fühlte
er sich von der Allgegenwart ihrer Abwesenheit wie gepfählt. Die heillose Wut stieg dann in
ihm auf und machte, dass er töten wollte. Nach seiner Vorstellung am liebsten mit den
Zähnen und wie ein Tier.
Sie hatte mehr Verständnis für seine Eigenarten entwickelt, ohne dass er es gefordert hatte,
als er sich das je von einem Menschen vorgestellt hatte. Er hatte immer seine Freiheit gewahrt wissen wollen. Anfangs hatte sie das mit Lieblosigkeit verwechselt, was leicht geschieht. Sie hatte ihn dann später in ihrer klugen Art, wenn auch erst nach einigen Kämpfen
und Missverständnissen in der ersten Zeit ihrer Beziehung, viel in Ruhe gelassen. Sie hatte
ihrem Impuls widerstanden, ihn zu fragen oder zu gängeln, ihn zur Kommunikation aufzufordern oder ihn mit ihren Ideen über die Kommunikationsfähigkeit zu konfrontieren, und
erstaunt hatte sie schon nach wenigen Wochen festgestellt, dass er es ihr mehr als reichlich
dankte, indem er von sich aus zu ihr kam: unaufgefordert wurde sie die Vertraute seines
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Herzens, und er ließ es sie spüren. Er besprach seine Dinge mit ihr, auf seine Art, er wollte
und brauchte niemanden sonst, sie kam stets an erster Stelle. Verena hätte nie gedacht, dass
sie sich einmal auf diese besondere Weise begehrt fühlen würde und so sehr als die andere
Hälfte einer Partnerschaft wie mit ihrem Antonio. So teilten sie viel, und es war mit den
Jahren neben all dem Schwierigen immer mehr Gutes geworden, was sie teilten. Besonders
viel hatte ihm daran gelegen, dass sie gemeinsam tanzten, argentinischen Tango, der in
seiner Dynamik viel von dem umsetzte, was Antonio und Verena bewegte. Nach der ersten
Zeit der Verliebtheit, der zweiten der Auseinandersetzung war aufrichtige Liebe und
Respekt vor dem Anderen in ihre Partnerschaft eingezogen, ein seltenes Phänomen.
Er fand, was ihn anging, bei ihr in guten Händen. Besonders die Kinder, für die er sich
keine bessere Mutter hätte wünschen können. Sie war eine starke Frau gewesen, aber als er
sich einige Monate nach ihrem Tod einmal überlegt hatte, wie sie wohl damit weitergelebt
hätte, dass auch nur eines der Kinder vor ihr gestorben war, wusste er nicht mehr, was er
denken sollte. Allein dieser Gedanke hatte ihn schwer, ja für Tage aus der Bahn geworfen.
Besonders aber fühlte er den Verlust in jeder einzelnen Nacht, in der die leere Hälfte des
Bettes in ihm brannte wie Säure, die seine Seele zersetzte. Da sie in ihren besten Zeiten von
ihm gerissen wurde, fraß er sich oft in sein Kopfkissen hinein. Er wurde irre an sich selbst.
Er schrie. Es war unwürdig. Manchmal brannte dieser Schmerz bis weit in den Tag hinein,
und so ließ er Antonio auch jetzt fast erstickt und wie betäubt innehalten. Manches Mal
dauerte es eine ganze Weile, bis er sich gefangen hatte und in seinem Alltag mit dem
weitermachen konnte, was er begonnen hatte. Er wusste mit dem Verlust bis heute nicht
umzugehen, stellte er fest, es traf ihn noch heute oft wie ein Schlag ins Gesicht.
Er wählte schließlich seine Kleidung: eine dunkle Stoffhose, leichte Schuhe, ein leichtes
Hemd. Dann zog er seinen leider etwas auffälligeren dunklen Mantel an, unter dem er auf
der linken Seite in Gürtelhöhe mittels zweier Schlaufen, die er hatte einarbeiten lassen, sein
Wakizashi befestigen konnte, ohne dass es Außenstehenden auffiel. So trug er es zwar unter
dem Mantel, aber nicht offen am Gürtel.
Er nahm es an sich und befestigte es auf der Innenseite des Mantels, hatte aber durchaus
nicht vor, es zu irgendeiner Situation kommen zu lassen, in der er es hätte benötigen
können. Seine Waffe war eine spürbare Quelle der Kampf- und Entschlusskraft. Wenn sich
seine Finger um den Griff schlossen, wenn er die unebene Oberfläche des Griffes auf der
Haut seiner Handinnenfläche wahrnahm, konnte er spüren, wie ein Fluss von Energie die
Seite wechselte und seine Sinne wach und weit wurden wie die des Jägers.
Es geht ohne Waffe, oder es geht nicht, so hatte er beschlossen. Kein Aufsehen erregen,
bevor er nicht Steiner in seiner Gewalt hatte, danach, wenn er ihn erst einmal unter dem
Arm hatte, sollte es nicht mehr nötig sein. Keine offensichtlich gewaltsame Entführung auf
offener Straße, keine blindwütigen Aktionen. Dann würde er die Aktion abbrechen, dann
müsste der alternative Plan durchgeführt werden.
Zu guter Letzt steckte er den Briefumschlag, den er von Lucas Boten bekommen hatte, in
seine Manteltasche und machte sich auf den Weg.
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V Countdown
Vier Tage vorher, Venedig
Der Kerker
E
s klopfte. Es klopfte nachdrücklich und zum wiederholten Male an der halb verglasten
Haustür, nur langsam drang das Geräusch in die unergründlich verfilzten Flachwasserlagunen seines Bewusstseins vor. Giancarlo Zarrati, Hausmeister in verschiedenen heruntergekommenen Häusern im Dorsoduro, konnte nicht mehr umhin, sich eingestehen zu
müssen, dass das Klopfen wohl ernst gemeint sei und nicht Bestandteil seines Kopfes. Der
allerdings fühlte sich nicht so an, als würde der Rest des Körpers auch nur im Laufe des
folgenden Tages bereit sein, ihm zu gehorchen. Blödes Gewusel. Schwappendes Torkeln. Er
ruckelte halb hoch, bevor er wusste, was er tat, und stellte verdutzt fest, dass er immer noch
diffus sehen konnte und dass es schon heller war, als ihm die zersoffenen Reste seiner biologischen Uhr es sagten. Sein Kopf fühlte sich wie meistens nach überhaupt nichts mehr an.
Noch mal hinlegen. Er hatte einen Brechreiz erregenden Geschmack von uralten, subtropischen Dingen im Mund, deutlich am Rande der Spontanschöpfung neuer Lebensformen, und überlegte, ob er nicht vielleicht wirklich erbrochen hatte. Er sah aber nichts in
oder neben seinem Bett. Filmriss. Außerdem fühlte er sich völlig ausgetrocknet. Aber er sah
nichts Trinkbares in seiner unmittelbaren Umgebung. Nicht einmal Wasser. Es klopfte
immer noch.
„Ja doch, ich komme ja schon“, rief er ohne rechte Überzeugungskraft in Richtung der Tür.
Seine eigene Stimme war ihm zu laut.
Der Fusel, den er gestern Abend getrunken hatte, war dann wohl doch noch etwas
schlechter gewesen, als selbst er das im ersten Moment geahnt hatte. Es ärgerte ihn, dass er
in den letzten Jahren zunehmend dazu verurteilt war, allein zu trinken, da seine Saufkumpanen nach und nach den Weg aller alten Säufer und Sünder gingen. Zumindest fiel es
ihm bei denen auf, die Anderen registrierte er nicht. Sie kamen bei ihm nicht vor.
Ächzend kämpfte er seine maroden Knochen von seinem billigen Bett hoch, um dem
Störenfried, der es wagte, ihn um diese frühe Stunde zu wecken, gehörig Bescheid zu stoßen.
Es war noch nicht einmal neun Uhr. Bestimmt waren es wieder diese nutzlosen, jungen
Burschen ohne jede Erziehung, die sich den ganzen Tag durch die Straßen trieben und
nichts als Unsinn anstellten. Seit sie ihn ausfindig gemacht hatten und offensichtlich auch
wussten, wo er wohnte, ließen sie ihn nicht mehr in Ruhe und schienen ihren ganzen Tag
damit verbringen zu können, ihn zu ärgern und ihm Beschimpfungen hinterher zu rufen.
Die hatten ihn sogar schon einmal durch die geschlossene Tür hindurch verhöhnt und beschimpft. Nutzloses Gesindel. Die konnten froh sein, dass er ihre Worte nie verstand, sonst
hätte er schon längst ein Protokoll gemacht und sie bei der Polizei angezeigt. Aber die
glaubte ihm ja auch nicht. Anfangs nahm noch ein Polizist das Protokoll auf, aber schon
nach kurzem warf er es mit himmelwärts gedrehten Augen in den Papierkorb. Giancarlo
Zarratis Glaubhaftigkeit war bei der Polizei so demoliert wie im restlichen Leben. Sonst
hätte er wohl kaum die folgende Begegnung gehabt.
Er humpelte lendenlahm zur Tür und blähte sich schon einmal mit letzter Kraft auf. „Ich
werde die Tür aufreißen und sie zusammenschreien“, überlegte er sich, pfiffig wie ein Fuchs.
Schwungvoll öffnete er die Tür, wodurch er beinahe selber hinten übergeschlagen wäre, und
hielt schlagartig die Luft an. Er war auf Halbwüchsige vorbereitet, aber vor ihm stand ein
hoch gewachsener, blasser Nordeuropäer, mit raspelkurzen, grau melierten Haaren, der ihn
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höflich und hart zugleich anlächelte. „Buon giorno.“ Zarratis wütender Schwung war schlagartig ausgebremst und zum Absturz verurteilt.
Der Mann sprach ein etwas ungeschicktes Italienisch, als sei er nicht recht in Übung. Er
nannte seinen Namen, den Zarrati aber nicht richtig verstand. Er habe von ihm gehört und
dass er der Hausverwalter eines oder mehrerer Häuser sei, einige Gassen von hier entfernt.
Zarrati fühlte sich diffus geschmeichelt und kam sich kurz wichtig vor. Durchaus richtig,
Hausverwalter; er wusste nachher nicht, ob er es gesagt oder nur gedacht hatte. Der Fremde
mit dem komischen Namen sei daran interessiert, für eine gewisse Zeit, vielleicht einen oder
zwei Monate, eher zwei, einen von diesen leer stehenden Räumen anzumieten. Dabei hielt er
Zarrati ein nicht unerhebliches Bündel bräunlich-roter Euroscheine vor die Nase, nach
denen Zarrati begehrlich schielte: mindestens zwanzig Scheine. Mindestens. Wenn nicht
noch mehr. Und das für ein Loch im Souterrain. Das würde bedeuten, dass es endlich mal
wieder anständigen Wein und Grappa gab, nicht immer nur den billigen Fusel, der sich
hinterher so anfühlte, als habe man von Mike Tyson eine Reihe von Schlägen an den Kopf
bekommen.
„Wenn Sie mich da weitestgehend in Ruhe lassen, dann gehört dieses Geld Ihnen. Und
niemand muss etwas von unserer kleinen Abmachung erfahren.“ Dabei machte er einen
verschwörerischen Gesichtsausdruck.
Giancarlo Zarrati war durch den Rausch von gestern noch am Rande der Suggestibilität,
man hätte ihm schon fast ein leeres Blatt Papier hinhalten können, und er hätte sich bemüht, vorzulesen: Zahlen, Texte, was immer der verehrte Herr Auftraggeber zu hören
wünschte. So ging er auf das Angebot ein, ohne sich oder dem Anderen eine weitere Frage
zu stellen. Um diese Zeit war sein Restalkoholspiegel insgesamt hoch genug, um ihn gegen
jeglichen Anflug von Verstand immun zu machen. Ob sich das im Verlauf des Tages ändern
würde, war mehr als zweifelhaft. Je eher er in den Besitz des Geldes kam, desto eher würde
die Antwort nein lauten. Und so, wie der Stapel Scheine aussah, könnte der sowieso nur
noch verschlammte Verstand noch für den Rest des Monats Urlaub machen. Gute Zeiten
standen bevor.
In einer der hintersten und billigsten Ecken des Dorsoduro, ganz in der Nähe der Hauptschifffahrtsstraße für die großen Passagier- und die Frachtschiffe, fand Antonio Sandmann
endlich ein etwas heruntergekommenes und vernachlässigtes Haus, glücklicherweise auch
noch in der Obhut eines mehr oder weniger ständig alkoholisierten Hausverwalters. Es kostete Sandmann erhebliche Mühe, angesichts der Alkoholfahne, die den Mann umwehte,
nicht zu erbrechen. Er hatte sich einmal gewundert, dass in einem Roman von Patricia
Highsmith, der in Venedig spielte, nahezu ununterbrochen und immer wieder und in wilder
und wahl- und sinnloser Folge Alkohol konsumiert wurde, ohne dass das irgend jemandem
merkwürdig vorzukommen schien. Ein Whiskey folgte einer Bloody Mary vor oder nach
einem Martini, er konnte ein System nicht entdecken, er fand das völlig unverständlich.
Satire konnte er nicht entdecken, zum Lachen fand er es nicht, und so widerte es ihn an. Im
Kloster war alles sehr reinlich, schlicht und einfach gewesen, Europa kam ihm dagegen zum
Teil schmutzig vor wie das letzte versoffene Drecksloch. Der Vergleich hinkte natürlich,
aber er entsprach Sandmanns Wirklichkeit. Er wusste darüber hinaus, wie empfindlich er
geworden war gegen die ekelhafte, säuerliche Geruchsmischung aus Suff vom Vortag und
schlecht verhaltener Altmännerpisse. Der Hausverwalter wusste davon natürlich nichts.
Zarrati, so der Name des Hausverwalters, war der Typ von Mensch, dem man den ständigen
und wiederholten Misserfolg auf den ersten Blick ansah. Dem ging alles schief. Er allerdings
hatte seinen Ausweg gefunden: er soff sich die Welt schön und sich selbst groß, und es ist
fraglich, ob es Menschen, die ihre Angelegenheiten zum erfolgreichen Abschluss zu bringen
gewohnt sind, zusteht, abschätzig darüber zu urteilen.
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Er hatte sich bereit erklärt, Sandmann das Untergeschoss des ansonsten leer stehenden
Hauses gegen einen Obulus zu überlassen, der dem Verwalter als an der Grenze liegend erscheinen musste zwischen einem verdammt guten Schnäppchen und Großzügigkeit, die an
Wahnsinn grenzt und deshalb misstrauisch macht: etwas mehr, und der Betrunkenste wäre
wahrscheinlich aufmerksam geworden. Obwohl...
Sandmann murmelte etwas von künstlerischer Arbeit und der Biennale, was für ihn unbedingte Ungestörtheit erfordere, es handle sich um eine Klanginstallation von verschiedenen deutschen und österreichischen Künstlern, großes Projekt, verstreut über die
Giardini, Zarrati verstand nur, wie man so sagt, Bahnhof. Aus diesem Grunde und weil er
die Installationen akustisch vorbereiten müsse, plane er elektronische Aufnahmen mit einem
Kollegen, da müsse es schon sehr still sein, daher auch so weit ab von den Touristen. Und
manchmal seien die Künstler ja auch ein wenig verrückt, Wein, Weiber, aber das wisse man
ja. Er erklärte sich so umständlich, sagte so viel und zugleich nichts, dass es nicht zu verstehen war: nein, das habe ich so nie gesagt! Das haben Sie bestimmt missverstanden.
Der Hausverwalter andererseits war von jener Art alkoholisierter Dauerimprägnation, der im
Grunde sowieso alles scheißegal ist, solange sie nur ihren Schnitt macht und am Ende ein
akzeptabler Schluck dabei herauskommt, bar oder pur. Man kennt sie aus der ganzen Welt,
sie sind ständig auf der Kippe zwischen Großspurigkeit und Weinerlichkeit, leichtgläubig
und sofort bereit zur Vergesslichkeit, wenn es dem eigenen Vorteil dient, sowie vollständig
kommunikationsunfähig und verantwortungslos. Man kann sie aufs Übelste beschimpfen
und nichts passiert. So in einen Kokon aus Alkohol eingehüllt, stellte er sich halb schlau,
halb taub, wobei ihm die Tatsache, dass er sein Hirn versoffen hatte, aus den Augen knallte,
versicherte, es werde schon alles seine Richtigkeit haben, und auch wenn Sandmann nicht
verstand, was er damit meinte, es aber auch nicht wissen wollte, wurden sie sich handelseinig. Als Sandmann vorschlug, er wolle doch auch für die Strombenutzung eine gewisse
Summe entrichten, gefiel es dem Verwalter in seinem dummdreisten und wichtigtuerischen
Gehabe, so zu tun als sei er ganz schlau schon selbst darauf gekommen und habe doch nur
mal sehen wollen, ob Sandmann auch ehrlich genug sei, das Thema von sich aus anzusprechen. Danach schrieb Sandmann irgendeine Telefonnummer mit 555 am Anfang,
Hollywoods Code für nichtexistente Nummern, mehr oder weniger unleserlich, sowie
irgendeinen Namen auf einen Zettel und gab ihn Zarrati.
„Sind Sie aus Prag? Klingt irgendwie tschechisch“, fragte er, nachdem er den Zettel gelesen
hatte. „Ach so, aus Österreich? Und die Mutter ist aus Tirol? Da war ich auch schon mal.“
Dann steckte er den Zettel Gott weiß wohin.
„Ja, die Welt ist klein“, antwortete er, und andere Phrasen wurden ausgetauscht. Danach
fühlte sich Sandmann einigermaßen sicher vor weiterem, zukünftigem Zuspruch des Hausmeisters.
Man verstand sich nicht und beließ es dabei.
Eine Stunde danach transportierte Sandmann unter den nach wie vor oder auch schon
wieder verschleierten Augen des Hausverwalters, der mit heraushängendem Unterhemd
abseits stand und sich Gott weiß wo kratzte, verschiedene Dinge in das Untergeschoss, die
den Eindruck erweckten, er wolle dort vorübergehend übernachten: einige Matratzen, ein
Lattenrost aus Metall, ein Tischchen, einen verschlossenen Karton mit diversen Kleinigkeiten, die beim Schütteln metallische Geräusche von sich gaben, Spritzen und Infusionsbestecke, Nährlösung mit Kohlenhydraten, Aminosäuren und isotoner Kochsalzlösung,
Antibiotika zur Infusion, für den Fall einer schweren oder gar resistenten Infektion war
Vancomycin dabei, außerdem Hammer, Nägel, Bänder, ein großes Sicherheits-Türschloss,
sowie einiges an Elektronik: Mehrfachstecker, ein paar Kästchen und Schächtelchen, eine
Lampe, ein elektrischer Heizkörper. Der Heizkörper allein kam dem Hausverwalter, der
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noch ein wenig, wohl aus Langeweile, Neugierde oder um sich irgend einen Anschein zu
geben, gewartet hatte, angesichts der Jahreszeit etwas komisch vor. Den Rest begutachtete
er mit scheinbar kennerischer Miene und irgendwie gemeinten Kommentaren. Es hätte
nicht viel gefehlt, und er wäre vertraulich geworden. Der Mieter interessierte sich offensichtlich nicht weiter dafür, er antwortete nur brummelnd, ausweichend und einsilbig.
Als die Angelegenheit allerdings nicht interessanter zu werden versprach, murmelte Zarrati
etwas davon, er müsse sich jetzt um seine weiteren Angelegenheiten kümmern, und Sandmann war sich ganz sicher, dass er nicht wissen wollte, welche das waren. Er werde am
Monatsende noch einmal vorbeischauen, also in etwa zwei oder drei Wochen, oder noch
besser am Anfang des nächsten Monats, und wenn der verehrte Herr Mieter noch irgendetwas brauche, dann habe er ja die Telefonnummer. Nein, das sei nicht nötig, man komme
schon zurecht, sehr hilfsbereit, sehr nett, vielen Dank, Ciao.
Aufbruchstimmung
April, Norddeutschland
Das Telefon klingelte.
„Gregor Steiner“, meldete er sich und legte seine Zigarette kurz aus der Hand. Vor Verblüffung über das Folgende ließ er sie völlig abbrennen.
„Buon giorno, mein Name ist Luca Tortoni aus Venedig. Sind Sie der Signor Steiner, der
vor ungefähr fünf oder sechs Jahren Geschäfte gemacht hat hier in Venedig?“
„Ja, der bin ich.“
„Buon giorno, Signor Steiner. Wir wollen Ihnen ein Geschäft anbieten.”
„Sie wollen mir ein Geschäft anbieten? Wie kommen Sie denn da auf mich?“
„Ja, sehen Sie, ich habe vor zwei Monaten das Geschäft von Signor Romano Marcoleonetti
übernommen. Sie erinnern sich vielleicht, er hatte das kleine Geschäft in der Nähe von San
Zaccaria. Sie müssten ihn noch kennen, das war der Maskenbauer.“
Gregor Steiner erinnerte sich gut an den immer freundlichen, bescheidenen Mann. Er hatte
bei ihm besonders gern Waren gekauft. Die Masken waren aufwendig gestaltet und in den
Details liebevoll gemacht. Steiner hatte ihn insgeheim Geppetto genannt, den grauhaarigen
Puppenbauer und Vater von Pinocchio.
„Arbeitet Signor Marcoleonetti nicht mehr?“
„Doch, doch, aber er verkauft nicht mehr, das habe ich jetzt übernommen. Ich führe jetzt
den Laden und verkaufe seine Arbeiten. Und da habe ich nun Ihre Adressen und Abrechnungen gefunden. So, wie es aussieht, waren Sie ein guter Kunde von Signor
Marcoleonetti. Es war trotzdem gar nicht so leicht, Sie wieder zu finden. Jetzt will ich, als
Neubesitzer sozusagen, den Kontakt zu unseren früheren Kunden wieder herstellen. Und da
habe ich gesehen, dass Sie schon lange nicht mehr bei uns waren. Nun wollte ich fragen, ob
Sie vielleicht unzufrieden waren mit uns und einen anderen Lieferanten haben, oder ob ich
Ihnen vielleicht mit einem großzügigen Angebot bezüglich Ihrer Einkaufskonditionen entgegenkommen kann, ein Eröffnungsangebot gewissermaßen.“
„Nein, also unzufrieden war ich nicht. Nur meine Lebens-, also, ähm, meine Geschäftsbedingungen haben sich geändert.“
„Ach, das habe ich befürchtet. Das ist ja oft so. Sie sind wahrscheinlich zu erfolgreich für
unser kleines Unternehmen geworden, nicht wahr?“
„Ja. Ähm, nein. Also, es gab da ein paar, also gewisse, ähm, Schwierigkeiten.“
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„Aber Signor Steiner! Die Steuer, der Staat, die EU, Brüssel, ich kenne das. Da kann man
doch nicht einfach aufgeben, das kann man doch regeln. Da müssen wir kleinen Leute uns
doch gegenseitig helfen, oder? Vor allem unsere treuen und alten Kunden, wenn ich das mal
so sagen darf. Bevor der Staat all diese Steuern bei uns kassiert und uns die Luft zum Atmen
abschnürt, da müssen wir investieren. Nur so können wir überleben!“
Steiner ließ ihn in seinem Glauben, er habe finanzielle Probleme gehabt. Der Anrufer, Luca
Tortoni oder so ähnlich, sprach weiter.
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag, passen Sie mal auf, folgendes Angebot. Wenn Sie sich,
also sozusagen zum Einstand, mit einem größeren Auftrag an unserem Geschäft, wie soll
ich sagen, beteiligen könnten, dann beteilige ich mich an Ihrem, indem ich Ihnen die Waren
für, sagen wir drei Monate in Kommission gebe, bis dahin müssen Sie nicht bezahlen. Na,
ist das ein Angebot? Betrachten wir es als Investition in unsere gemeinsame, strahlende Zukunft. Ich habe gesehen, dass Sie bei Signor Marcoleonetti ein langjähriger Kunde waren
und immer gut bezahlt haben. Ich vertraue auf Ihr Wort, wenn Sie sich dafür bereit erklären,
Ihre Waren nur über mich zu beziehen. Ich wäre dann Ihr Hauptlieferant, und Sie vertreiben unsere Waren wieder in Norddeutschland. Vielleicht geht ja auch Süddeutschland?
Was denken Sie, wollen Sie nicht einmal zu uns kommen, damit wir in Ruhe über die Angelegenheit sprechen können? Ich bringe Sie auch mit meinem Cousin auf Murano in
Kontakt, der macht Ihnen bestimmt auch ein sehr gutes Angebot für seine Glasarbeiten.
Ganz außergewöhnliche Sachen, so etwas haben Sie noch nicht gesehen. Nicht das Übliche.
Eines von seinen Stücken steht sogar im Museum für Glaskunst.“
„Ich weiß nicht. Ich bin schon ziemlich lange raus aus dem Geschäft.“
„Also gut, ich gebe Ihnen die Sachen für vier Monate in Kommission, da haben Sie doch
genügend Zeit, Ihre alten Kontakte zu Ihren Kunden in Deutschland aufzufrischen.
Einverstanden? Aber mehr kann ich Ihnen nicht entgegenkommen. Oder wollen Sie
vielleicht gar nicht mehr weitermachen?“
„Doch schon, aber ich weiß nicht...“
„Also gut, nichts ich weiß nicht, dann kommen Sie hierher. Wir wollen uns erweitern und
suchen noch europaweit gute Mitarbeiter. Wenn wir nicht expandieren, dann haben wir
keine Zukunft mehr, Globalisierung heißt die Devise. Habe ich jedenfalls gehört. Wir
werden uns schon einig werden.“
Er verhielt sich einfach so, als sei Steiner ein Außendienstmitarbeiter mit problematischer
Familie und nicht ein Kunde, und er selber sei ein Sozialarbeiter. Dann gab er ihm seine
Telefonnummer und Adresse und sie verabredeten einen Termin in etwa vierzehn Tagen.
„Und bringen Sie ein paar Tage Zeit mit, wenn das geht. Mal sehen, was wir noch zusammen erreichen können. Venedig ist voller ungenutzter Möglichkeiten. Da muss man
doch handeln.“
Nachdem er aufgelegt hatte, war Steiner einen Moment wie benommen. Er konnte sein
Glück kaum fassen. Nach sechs Jahren einer finanziellen, geschäftlichen und sozialen Öde
sollte es nun doch noch einmal bergauf gehen mit ihm. Er wäre zweifellos ein Esel gewesen,
wenn er diese Chance nicht ergriffen hätte. So etwas bot sich einem normalerweise nicht ein
zweites Mal im Leben, wenn überhaupt. Er selber hätte die Kraft gewiss nicht mehr gehabt,
sich ein zweites Mal um die Geschäftsbeziehungen zu bemühen, und nun standen sie einfach vor seiner Tür. Das war fast zu schön um wahr zu sein. Gedankenverloren griff er nach
seiner Zigarette und fand sie erloschen.
Offensichtlich hatte er gerade mit einem Menschen gesprochen, der nicht nur Verständnis
für die Situation eines getretenen Steuerbürgers hatte, sondern der sich auch noch aus dieser
Tretmühle befreien wollte, indem er seine geschäftliche Grundlage vergrößerte. „Und nun
will er mich mitnehmen. Womit habe ich das verdient“, fragte er sich, verwarf diesen Gedanken aber gleich wieder als zu pessimistisch und beschloss stattdessen, sich an seinem
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Glücksfall zu freuen. Wahrscheinlich gab es noch genügend Haken an der Geschichte, die
ihm ausreichend Schwierigkeiten machen würden. Nutze die Gunst der Stunde, sei kein
Dummkopf, schalt er sich.
Gregor Steiner machte sich daran, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen und neu
aufzubauen. Er wagte den Neuanfang. Die Hoffnung machte ihn vertrauensselig, den
Namen und die Daten kannte er noch von früher. Hier war handfeste Hilfe. Raus aus dem
tiefen Tal der Trübsal, zurück ins pralle Leben.
Signor Luca empfing ihn in Venedig am Bahnhof. Sie hatten zwar Kennzeichen verabredet,
aber er schien ihn zu kennen und begrüßte ihn wie einen guten alten Bekannten. Steiner traf
auf einen etwa fünfzigjährigen, zierlichen, konservativ gekleideten Mann von ungewöhnlichem Aussehen. Er wirkte exzentrisch, aber durchaus wie einer von den Menschen, die es
sich leisten können, exzentrisch zu sein und nicht um Erlaubnis fragen müssen. Er schien
seine etwas morbide wirkende Blässe zu pflegen, ja sie durch seine überwiegend schwarzweiße Kleidung geradezu betonen zu wollen. Außerdem trug er immer einen Spazierstock
bei sich, obwohl er das nicht nötig zu haben schien; er benutzte ihn mehr wie einen
Dirigentenstab, deutete bald hierhin, bald dorthin damit und schien die Welt nach seinem
Takt tanzen zu lassen.
Schon bald ließ Steiners anfängliches Misstrauen nach und wich einem rundum wohligen
Gefühl der Geborgenheit.
Luca brachte ihn in einem Hotel in unmittelbarer Nähe des Campo Santa Maria Formosa
unter, auch das hatte er schon ausgesucht. Er traf sich mit ihm, steuerte ihn mit sanftem,
aber bestimmtem Nachdruck durch die Stadt, und in der einen knappen Woche, die er in
Venedig verbringen wollte, hatte Steiner das Gefühl, dass seine alte Energie und sein Geschäftssinn langsam zurückkam. Luca Tortoni hatte sich für die ersten zwei, drei Tage beinahe zum Fremdenführer gemacht, ein Angebot, das Steiner in seiner existenziellen und
anhaltenden seelischen Hilflosigkeit gerne annahm, ohne etwa argwöhnisch zu werden. Der
Mann wollte Geschäfte machen, dachte er, er wollte also etwas, und darum kümmerte er
sich um einen potenziellen Geschäftspartner, um seinen Kunden. Das war nur normal,
Steiner hätte es wohl ebenso gemacht.
Signor Luca, wie er gerne genannt werden wollte, er bestand geradezu darauf, zeigte sich
extrem gastfreundlich: er holte Steiner vom Hotel ab und brachte ihn zurück, er stellte ihn
verschiedenen Händlern und Handwerkern vor, brachte ihn nach Murano, er zeigte ihm ein
gutes Café am Campo Santa Maria Formosa, er führte ihn gleichsam neu in Venedig ein.
Steiner nahm diese Angebote dankbar an. Er saugte sie quasi auf wie ein Schwamm, wie
Wurzeln das Wasser. Er kam zurück in seinen alten Tritt, er fasste Zuversicht, er blühte auf
in seinem Metier. Er erklärte sich mit den hervorragenden Konditionen einverstanden, er
nahm Warenproben mit und schickte sie auf den Weg nach Deutschland, er kaufte verschiedene Dinge ein und verabredete Optionen für die nächste Zeit. Kurz gesagt: er gewann
die alte Lebensfreude und seinen Geschäftssinn zurück.
Er wusste nicht, dass hinter seinem Rücken alle Geschäfte bereits erledigt waren und alle
Wahren bereits bezahlt. Die meisten Handwerker hielten ihn für einen Angestellten mit
untergeordneter Kompetenz, der sich im Auftrag seines Chefs einmal umschauen sollte. Auf
Kommissionsgeschäfte hätten sich die meisten kaum einlassen können. Sie mussten schließlich auch leben. Langsam rutschte Gregor Steiner in die ihm zugedachte Position hinein wie
in einen bereitgehaltenen Handschuh, ohne dass er etwas davon merkte. Er tat genau, was er
tun sollte, und ebenso langsam, wie er an den Start ging, schloß sich die Tür hinter ihm.
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Der Anfang
Mai, Venedig, Abend
Sandmann
Nachdem Sandmann seine Vorbereitungen und Meditationen abgeschlossen hatte, führte
der nächste Weg ihn zum Markusplatz. Er war dort mit einem Bootsverleiher vom Lido
verabredet. Er hatte sich telefonisch angekündigt und erkundigt, ob es möglich sei, ein Boot
für einen oder zwei Tage zu mieten. Nach einigem Hin und Her hatte er sich mit dem Vermieter auf einen immerhin horrenden Preis geeinigt, dann hatte er noch eine Kleinigkeit
draufgelegt unter der Bedingung, dass ihm das Boot an das Fondamenta delle Farine vor
dem Markusplatz gebracht würde.
„Sie brauchen für Boote in Venedig eine besondere Fahrerlaubnis. Haben Sie die?“
„Ja, habe ich schon vor Jahren erworben.“ Es stimmte zwar beides so nicht ganz, aber dem
Mann schien das egal zu sein, er wollte nur seiner Pflicht, zu fragen, nachgekommen sein.
„Das ist selten für einen Ausländer. Sie haben wohl kein eigenes Boot?“
„Ich hatte mal eines. Habe ich zu selten genutzt.“ Sandmann hatte nicht die Absicht, seine
Lebensgeschichte offen zu legen.
Der Bootsverleiher musste ihn für einen reichen Schnösel halten, dem es auf einige Euro
mehr oder weniger nicht ankam und der vor seinen Freunden mit einem privaten Boot in
Venedig angeben wollte. Sandmann ließ ihn in jedem falschen Glauben, erhielt die Bootsschlüssel, eine kurze Einweisung in die Bedienung und den Verkehr, und dann war er
vorübergehend Besitzer eines Motorbootes. Es war ein kleines, unauffälliges Boot, wie es in
Venedig oft gesehen wurde, etwa fünf Meter lang, mit einem überdachten Innenraum, in
dem vier bis sechs Personen hätten sitzen können. Er wickelte sein Messer mitsamt der
Scheide in ein weiches Tuch und verstaute es unter einem Sitz. Er nahm nicht an, dass er es
brauchen würde, sobald er Steiner erst einmal bekommen hatte, aber er fand es aus unerfindlichem Grunde sicherer, es in seiner Nähe zu haben. Wie einen Talisman. Er parkte
das Boot in unmittelbarer Nähe des Campo Santa Maria Formosa, wo Steiner sein Hotel
hatte und wo auch das Café war, in dem Prosperina auf Steiner treffen sollte. Dann machte
sich Sandmann zu Fuß auf den Weg zum Café am Campo San Bartolomeo nahe Rialto, in
dem er mit Prosperina verabredet war.
Es war kurz vor achtzehn Uhr, als er dort ankam. Es war voll. Touristen drängelten sich.
Dieser Platz ganz in der Nähe der Rialto-Brücke war permanent überfüllt. Hier liefen die
Wege derer zusammen, die auf die eine oder andere Weise den Canale Grande zu Fuß überqueren wollten. Eis- und Andenkenverkäufer machten mit ihren Rufen die Lufthoheit
untereinander aus, nachdrücklich vom Gedudel aus Radios und Außenwerbung unterstützt.
Irgendjemand rief nach einem „Commissario Brunetti,“ er schaute sich um, ein
schwitzender Uniformierter lief, mit einer Mappe winkend durch die Menschenmenge und
verschwand aus dem Blickfeld.
Der Platz lag auf der Achse, auf der sich die meisten Fußgänger in Venedig bewegten. Hier
zu wohnen war durch das Gewimmel der Menschen sicherlich eine teure Plage, hier konnte
man nur ein Geschäft haben, und so lagen sie hier Haus an Haus, exklusiv, Modegeschäfte
mit den Namen der bekannten Modehersteller, alles sehr farbig und auf der Kippe zwischen
elegant und schreiend, die Preise hatten mehr als europäisches Niveau. Die Gassen waren
eng und überlaufen, ein internationales Sprachgewirr verriet Menschen aus allen Ländern
der Welt, und die Läden waren darauf eingestellt: bunt, laut, teuer und erstklassige Deckung
für jeden, der nicht auffallen wollte. Zwischen den Gruppen der Schaulustigen ging man
einfach unter und ward nicht mehr gesehen. Und die Häuser leuchteten und strahlten dazu
durchgehend prachtvoll.
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Die Luft war noch drückender geworden im Laufe des Tages, noch schweißtreibender,
machte noch mehr Übellaunigkeit und Gereiztheit als am Vortage, etwas, was ihm sehr unangenehm war, weil er sich einen vollkommen klaren Kopf gewünscht hatte für diesen einen
Tag. Kakishniyapi, dachte er, sie werfen mir Hindernisse in den Weg.
Dann wurde ihm klar, dass es ja nicht nur ihm so ging, sondern Steiner höchstwahrscheinlich auch, es sei denn, er war völlig klimaresistent. Die wenigsten Menschen sind völlig unempfindlich gegen solche klimatischen Einflüsse. Dieses Handikap haben fast alle
Menschen zu bewältigen, oder sie nehmen es ernst und machen es damit zu einem Hindernis.
Er ging in Gedanken noch einmal seinen Plan und die Aufgaben für Prosperina durch.
Dabei wurde ihm bewusst, dass der gestrige Abend mit ihr ihn in eine zwiespältige Situation
gebracht hatte: er würde sie als Instrument in seinem Plan brauchen, ohne ihr Einverständnis dazu bekommen zu haben. Wie hätte er sie fragen sollen? Er hatte sie dafür nach seiner
Einschätzung zwar mehr als reichlich und sogar im Voraus bezahlt, allerdings nicht für das,
was er wirklich von ihr wollte. Für einen Augenblick fiel ihm auf, dass er nicht einmal sicher
sein konnte, ob sie auch kommen würde: das Geld hatte sie ja nun schon. Aber er war sich
sicher, dass sie ihn nicht um das Geld betrügen würde, dazu war es dann doch nicht genug.
Die andere Seite war, dass es ihm nach dem angenehmen Abend beinahe etwas leid tat und
ihm Kopfzerbrechen bereitete, dass er sie für seine Zwecke einspannte, ohne sie in den Plan
einzuweihen. Aber so waren nun einmal die Bedingungen, und so musste es jetzt laufen.
Sandmann wunderte sich ein wenig über sich selber: auf der einen Seite hatte er einen
mörderischen Plan, der Gregor Steiner nicht nur in seine Gewalt, sondern ihn über kurz
oder lang auch zu Tode bringen konnte, zum qualvollsten Tode, dessen er, Sandmann, fähig
war, und damit belastete ihn sein Gewissen nicht im Geringsten. Er war in dieser Hinsicht
völlig klar und emotionslos, im Gegenteil, er sah sich sogar zu einem kleinen Teil im Dienste
einer höheren Gerechtigkeit, die von Staats wegen nicht geübt werden konnte, was er im
übrigen auch richtig so fand. Grundsätzlich war er gegen die Todesstrafe, in diesem
speziellen Falle allerdings handelte es sich nach seinem eigenem Verständnis nicht um die
Todesstrafe, sondern um Abrechnung, um Rache, um Handeln aus so genannten niederen
Beweggründen. Jedem, der ihn gefragt hätte, hätte er seine niederen Beweggründe problemlos offen gelegt, und konfrontiert mit dem inneren Widerspruch, den seine Haltung darstellte, hätte er ohne zu zögern zugestimmt: er wusste es, akzeptierte es bereitwillig. Es blieb
ihm auch nichts anders übrig. Ja, er hatte das Recht, hatte die Rache in seine Hände genommen. Und wenn er dafür bezahlen musste, dann zahlte er eben. Er hätte jede von staatlicher Seite erteilte Strafe akzeptiert. Tatsächlich hätte er unter den Umständen, einen
kompetenten Gesprächspartner, irgendeinen Kommissar als Zuhörer zu haben, sogar hinzugefügt, dass er es in all den Jahren im Kloster nicht geschafft hatte, Verzeihen und Frieden
zu finden, es war ihm einfach nicht gelungen, und dass somit seine Zeit gleichsam vertan
war.
Sein Lehrer, Shokojin Riyoshi, hatte ihm etwas anderes gesagt. Er hatte gesagt, er werde
seinen Frieden ebenso finden wie seinen wahren Gegner, und verschenkte Zeit gebe es
nicht, und ausnahmsweise hatte er hinzugefügt, er werde sich noch wundern; und er hatte
ihn dabei lächelnd angeschaut. Diesmal allerdings so, wie man einen jungen Tiger anschaut.
Nur Furcht sah er nie in den Augen seines Lehrers, der den Tiger deshalb nicht fürchtete,
weil er ihn einfach anlächelte. Sandmann hatte es aber weder geglaubt noch auch nur ansatzweise verstanden. Es hätte ihn im Übrigen auch nicht umgestimmt, und Shokojin
Riyoshi hatte es nicht versucht. Wozu auch, dazu war sein Verlust zu erbarmungslos.
Auf der anderen Seite hatte er nun plötzlich Skrupel, einen unbeteiligten Menschen, in
diesem Falle Prosperina, in seinen Plan mit einzubeziehen, dafür zu sorgen, dass jemand
etwas tat, ohne zu wissen was, ohne sich dafür oder dagegen entscheiden zu können. Das
war es, was ihm am meisten zuwider war: einem freien Menschen die Wahl nicht zu lassen.
Er überprüfte seine Haltung und stellte fest, was sich seit gestern verändert hatte. Der Plan
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war es nicht, der stand ja seit geraumer Zeit fest. Es war die Tatsache, dass sein menschliches Werkzeug ein Gesicht, einen Namen, eine Persönlichkeit bekommen hatte, ein
Schicksal, von dem er etwas wusste. Ein angefangenes Studium in Bologna. Einen bestimmten Geschmack in Bezug auf Kleidung. Eine Gänsehaut im nächtlichen Wind an der
Punta della Dogana. Ein Stückchen Lebensgeschichte. Damit hatte er nicht gerechnet. Es
war vor allem die Gänsehaut des gestrigen Abends, die ihn beinahe dazu bewegt hätte,
seinen vor langem entwickelten Plan noch im letzten Augenblick zu ändern und auf
Prosperinas Teilnahme zu verzichten. Und stattdessen Luca oder seinen Onkel zu fragen.
Dann ging er den Plan noch einmal durch. Was also war Prosperinas Aufgabe: sie sollte
Steiner in einen Flirt verwickeln, ihn ablenken, für wenige Augenblicke nur. Sie sollte mit
ihm gesehen werden, wie er in Schwierigkeiten geriet, sollte mit ihrer immerhin strahlenden
Erscheinung dafür sorgen, dass sich die Menschen und damit etwaige Zeugen an ein Paar
erinnerten, bei dem Steiner offensichtlich unerwartet und plötzlich irgendwelche Schwierigkeiten mit dem Kreislauf oder Ähnlichem bekam. Sie würde sich aller Voraussicht nach um
Hilfe an jemanden, vielleicht sogar das Personal wenden, bis ein Freund dazukam. Das
Personal des Cafés würde sich daran erinnern, dass ein Gast anscheinend etwas benommen,
vielleicht angetrunken war. So würde es aussehen. Sie sollte die Begegnung vom Termin her
kalkulierbar machen, dafür sorgen, dass Steiner zum gewünschten Zeitpunkt abgelenkt am
gewünschten Ort war und dass er es sich nicht aus einem der allzu vielen möglichen Gründe
anders überlegte. Sandmann hatte auch in Erwägung gezogen, Steiner an einem ruhigen Ort
in den Gassen der Stadt aus dem Verkehr zu ziehen, sich dann aber dagegen entschieden, da
die Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten noch größer waren als die, sich eines eher noch
berechenbaren Dritten zu bedienen. Sie sollte ihn in Sicherheit wiegen, in einer Sicherheit,
die er aller Wahrscheinlichkeit nach sowieso nicht bedroht sah.
Sandmann hatte jetzt vor dem Café Platz genommen und sich einen doppelten Espresso
bestellt.
Nach Sandmanns Einschätzung hatte Steiner keine Ahnung davon, dass hier der Rest der
Familie wohnte, die er vor sechs Jahren zu zwei Dritteln im Rausch ausgelöscht hatte, und
die jetzt, ausgelöst durch eine besoffene Autofahrt, in einer seit Jahren fortwährenden Krise
lebte. Es war bei der Gerichtsverhandlung nicht die Rede gewesen davon, und Steiner hatte
wahrscheinlich auch nicht davon erfahren, dass in der Folge seiner Todesfahrt auch noch
ein ungeborenes Kind und die Großmutter dieser drei Kinder ums Leben gekommen und
dass zwei Ehen kaputt gegangen waren.
Je näher der Zeitpunkt kam, an dem seine Planungen in die Tat umgesetzt wurden, um so
klarer wurde ihm, dass er nicht ein Profi war in der Ausführung solcher Unternehmungen,
dem Kidnapping und der Gefangennahme eines Erwachsenen auf offener Straße und unter
den Augen wahrscheinlich dutzender von Zeugen, und er begann, sich zu fragen, ob er tatsächlich alles bedacht hatte. Wie bei allen auch nur ein wenig komplexeren Aktionen gab es
schließlich eine kaum überschaubare Menge an Unvorhersehbarkeiten, Kleinigkeiten, die
irgendwie Einfluss haben konnten auf den Erfolg des Unternehmens.
Sandmann hatte Steiner am Nachmittag noch einmal kurz und von weitem in der Lobby
seines Hotels gesehen, als er hoch aufmerksam und mit ausreichendem Sicherheitsabstand
davor herumgestrichen war. Er wohnte in einem Hotel in unmittelbarer Nähe des Campo
Santa Maria Formosa, wenige Schritte von einem Café entfernt, in dem er, auch das hatte
Sandmann mit Luca zusammen vorausgeplant, regelmäßig jeden Abend eine Zeitlang saß
und ein Getränk zu sich nahm. Man konnte von einem Standpunkt auf dem Platz aus
sowohl die Hotellobby als auch das Café sehen, so dass es möglich war, flexibel zu
reagieren. Er hatte wahrscheinlich angefangen zu packen, dann irgendetwas am Empfang
verhandelt, vermutlich gezahlt, jedenfalls erwartungsgemäß seinen Koffer und den aufwendigen Rest des Gepäcks durch einen Hotelboy zum Bahnhof bringen lassen, aber darauf
geachtet, dass er seine persönlichen Dinge bei sich behielt. Der Plan fing an, aufzugehen.
Jetzt wusste das Hotelpersonal, dass der Gast Gregor Steiner das Hotel früh am nächsten
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Morgen verlassen würde. „Wenn Du jetzt abfährst, wird Dich niemand mehr vermissen“,
dachte Sandmann. Er registrierte erstaunt, wie berechenbar sich bisher alles entwickelt hatte.
Erstmals spürte er eine gewisse Unruhe und Aufregung, wie er sie in der ganzen Zeit der
Planung nicht gespürt hatte, dieses Kitzeln wie Ameisen im Bauch und in den Gelenken,
unmittelbar vor dem Start seines Planes. Ihm wurde bewusst, dass er weder Profikidnapper
noch ausgebildeter Kämpfer oder Samurai war, denen er unwissentlich die notwendige
Portion Abgebrühtheit und Gelassenheit unterstellt hätte; wahrscheinlich aber war das auch
bei denen nur die in langem und darauf angelegtem Training erworbene Fähigkeit, mit der
Anspannung der Momente unmittelbar vor dem Kampf umzugehen. Er war nur ein Arzt,
dem die Familie totgefahren worden war und der ein paar Tage meditiert hatte, so hätte er
sich selbst beschrieben. Er erinnerte sich an die Minuten vor seiner ersten eigenverantwortlichen Operation in der Facharztausbildung. Er hatte aber irgendwann einmal gehört, dass
auch Profis dieses Gefühl kennen, das mit dem Anstieg des Adrenalinspiegels verbunden ist.
Und die meisten sagten, dass ein Nachlassen der Anspannung eigene Risiken berge, beispielsweise das der Unaufmerksamkeit. „Es ist so weit“, sagte er sich, „es geht los.“ Er war
sich nicht sicher, ob er sich damit hatte beruhigen wollen, hätte er es aber gewollt, so hätte
er jetzt feststellen können, dass es nicht funktionierte.
Dann erinnerte er sich daran, was er gelernt hatte: wichtig ist es nicht, welche
Empfindungen du hast, wichtig ist ausschließlich, wie du damit umgehst. Also genieße die
Aufregung, die du im Moment spürst, aber denk daran, dass sie niemanden außer dir selbst
etwas angeht. Und füttere nicht deine Emotionen.
I have entered under this dark roof as fearlessly as an honoured son enters his father’s
house.viii
Prosperina
Prosperina kam mit mehr als gemischten Gefühlen zum Café, in dem sie mit Antonio Sandmann verabredet war. Am liebsten hätte sie den ungeschriebenen Vertrag annulliert und
ihrem Auftraggeber das Geld, das er ihr schon gegeben hatte, zurückgegeben. Im Grunde
war sie innerlich zerrissen. Noch nie hatte sie eine solche Faszination von einem Menschen
ausgehen gefühlt, und zugleich spürte sie, wie eine unbestimmte Gefahr von ihm ausging.
Sie musste sich eingestehen: sie war verliebt. Und sie hoffte, sie würde sich nicht zu Narren
machen, befürchtete allerdings, dass es dazu bereits zu spät war. Sie kam sich so vor, als
habe sie sich den ganzen gestrigen Abend über dumm wie ein albernes, vierzehnjähriges
Mädchen benommen, hatte sie doch schon das Gefühl gehabt, ihre Sprachfähigkeit sei ihr
abhanden gekommen.
Sie erinnerte sich nur noch entfernt daran, wie es ihr immer schwer gefallen war, ernst zu
bleiben, wenn sich ein Kunde in sie verliebt hatte und anfing, sich närrisch zu verhalten. Sie
hatte die Verhaltensweisen, die mit dem Verliebt-Sein unweigerlich einhergingen, immer
frühzeitig erkannt und war sich sicher gewesen, dass ihr so etwas nicht geschehen konnte,
und nun war sie sich auf einmal nur noch des Gegenteils sicher. All ihre jahrelange
Professionalität und professionelle Sicherheit war schlagartig aufgebraucht, ihre Mauern und
die Türme ihrer Verteidigung danieder und die Tore weit offen. Ihre Stadt lag wehrlos, und
das vor einen gänzlich schlichten Mann, von dem sie nichts wusste, der kein großes Aufhebens von sich machte, einfach gekleidet und ohne jeden Schmuck und Pomp, in keiner
Weise affektiert und gänzlich unprätentiös: er spielte nichts vor, bemühte sich um keinerlei
Rollenspiel, hatte keinerlei Imponiergehabe an den Tag gelegt, hatte nicht versucht, irgend
einen Eindruck zu erwecken, um sie zu erobern oder zu verführen. Er wirkte durch sich
selbst, und sogar seine etwas altertümliche Höflichkeit wirkte weder herablassend noch auf-
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gesetzt, sondern nur souverän. Sie war sich sicher, dass er ihr in den Mantel geholfen hätte,
wenn das von der Jahreszeit her möglich gewesen wäre.
Sie vermochte alle Zeichen zu erkennen, die für einen von den wenigen ernsthaften
Menschen sprachen und die sie bei all den großen Jungs ihres Alters nie entdeckt hatte, weder beim Studium noch unter ihren Kunden. Und sie stellte fest, dass diese besondere Art
der Ernsthaftigkeit etwas war, wonach sie sich bei Männern gesehnt hatte. Im Affekt beschloss sie, ihr Leben erneut zu ändern: nach dem Abbruch des Studiums jetzt der Abbruch
ihres Berufes, ihre Gelderwerbs. Sie war beinahe entsetzt von sich selbst. Die völlige Selbstaufgabe auf eine Begegnung hin? Sie kannte sich selbst nicht wieder.
Das Geheimnis, das ihn zu umgeben schien, machte die Faszination, die von ihm ausging,
nur noch größer, aber sie hätte nicht behauptet, dass er sich vorsätzlich mit der Aura des
Geheimnisvollen umgab. Und es machte sie neugierig. Sie war froh, dass sie ihre Neugierde
beherrscht hatte. Je mehr sie darüber nachdachte, umso mehr kam er ihr wie ein Kriegsheimkehrer vor, der in seiner Welt nicht mehr recht heimisch werden konnte. Es gab natürlich keinen Krieg, in dem er in seinem Alter gewesen sein konnte, es sei denn, er wäre
Söldner oder ein hoher Offizier. Militärarzt? Nein, bestimmt nicht. Außerdem hatte er ihre
diesbezüglich Frage ja auch verneint. Es war irgend etwas Ähnliches. Hätte man sie gefragt,
woher sie diese Assoziation des Krieges hatte, so hätte sie es nicht sagen können.
Die meisten Menschen kamen ihr vor wie Spieler, deren Spiel Chiara Prosperina mitspielen
konnte, oder sie konnte es sein lassen. Da sie intelligent war (nur nutzt die Intelligenz einem
verliebten Menschen so gut wie gar nicht), durchschaute sie die jeweiligen Spielregeln ihrer
verschiedenen Mitmenschen meist sehr schnell und war ohne weiteres in der Lage, sie nicht
nur zu übernehmen, sondern sogar so zu übertreffen, dass sie die Regeln für sich nutzen
konnte. Sie nannte das ihre mit strategischer Intelligenz gepaarte Anpassungsfähigkeit, und
es machte ihr Spaß, bei diesen Katz-und-Maus-Spielen mitzumachen: kannst Du einen guten
Witz, kontere ich mit zweien; auf einen Narren anderthalbe. Sie kannte sie alle.
Da waren die Großspurigen, die mit ihrem Geld wedelten und ihrer Jacht in Monaco, oft
dachte sie, dass sie mit mehr nicht wedeln konnten und musste an große Hunde denken; die
Weinerlichen mit einem lieblosen Weib zu Hause, deren Suche nach Mitleid und fürsorglichem Verständnis sie schwer in Versuchung führten, sie ihrem eigenen Schmerz doppelt
auszusetzen, da sie ihn durchschaute; die Angeber, die mit Wissen oder Erfahrung protzten,
ohne zu verstehen, dass sie sich damit selbst bloßstellten, da demonstrativ hingehaltene
Größe nichts beweist als die Notwendigkeit, eben damit zu imponieren; die Bittsteller, die
dachten, es sei die Aufgabe der Angehörigen des einen Geschlechts, die des anderen vor
ihren Geistern und Gespenstern unterschiedlichster Art zu erretten, gerne hätten sie noch
bei ihr geschlafen; die potenziellen Retter, die sich ein Leben wie das Prosperinas nur als
eine einzige Aneinanderreihung leidvoller Erfahrungen und Demütigungen vorstellen
konnten, aus dem es nur den Ausweg über ihre Hilfsbereitschaft gab. Sie alle dachten, sie
sollte einen anständigen Beruf ergreifen, heiraten, Kinder haben, so ein nettes Mädchen...
Alle diese Spieler konnte sie wie die Puppen eines Kaspertheaters vor sich auftreten lassen
und die Rollen benennen, oft konnte sie schon den nächsten Satz und das weitere Verhalten
voraussagen, und eben das machte sie berechenbar, langweilig, unattraktiv und zu Teilen
einer Nummernrevue: unglaubwürdig, gerade weil sie sich für authentisch hielten oder
darauf achteten, es zu sein. All diese Spieler machten sich kein Bild davon, wie es ist, Tag für
Tag ein solches Panoptikum einander ähnlicher Austauschbarkeiten wie aufgereiht an sich
vorbeigehen zu sehen. Wie verschieden sie auch sein mochten, im Grunde glichen sie sich
und verschafften Prosperina ein unerwünscht einfaches Leben. Sie konnte den Vorteil
solcher Begegnungen durchaus nachvollziehen und schätzen, aber er erfüllte ihr Leben
nicht. Es hatte zwar nicht zur Folge, dass sie ihre Kunden herablassend behandelte, im
Gegenteil, sie konnte diesen Hilflosigkeiten durchaus freundlich begegnen. Aber es hatte die
Distanz Schritt für Schritt vergrößert.
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Immer wieder einmal hatte sie sich gefragt, ohne sich übrigens allzu viele Sorgen zu machen,
ob sie unfähig sei, sich zu verlieben, und sie hatte die Antwort nicht gewusst. Nun wusste sie
die Antwort: sie konnte es, hatte bisher nur den Richtigen noch nicht getroffen. Jetzt hatte
sie ihn getroffen, und es überfiel sie mit ungeahnter Macht.
Dieser hier war in einem ganz fundamentalen Sinne anders als alle anderen, noch konnte sie
es nicht beschreiben.
Sie sah ihn bereits von weitem vor einem Tisch sitzen. Er sah finster vor sich hin, als sei er
intensiv mit irgendwelchen Gedanken beschäftigt, und schien von den Menschen um sich
herum nichts zu bemerken; ein Polizist in Uniform kam ihr entgegen, rief den Namen eines
Kommissars, sie verstand etwas wie Brunetti, und schien ihm eine Akte hinterher bringen zu
wollen. Sie nahm sich einen langen Moment Zeit, um ihn ungestört, unbemerkt und aus
dem Abstand von vielleicht einem Dutzend Metern zu beobachten und war verblüfft, feststellen zu müssen, dass er ihr schon jetzt so vertraut vorkam, als habe sie viel Zeit mit ihm
verbracht. Ihr wurde klar, in wie weit das zutraf: sie hatte die halbe Nacht mit Gedanken an
ihn verbracht, eine halbe Nacht, die ihr wie ein halbes Jahr vorkam.
Er saß, leicht vorgebeugt, mit den Fingern seiner linken Hand an der Stirn, schaute gedankenverloren auf den Boden und hatte einen Fuß auf den Stuhl vor sich gestellt. Sie war
etwas überrascht, ihn so sitzen zu sehen mit einem beinahe hochgelegten Bein. Sie hätte
nicht erwartet, dass er sich eine solche jugendliche Freiheit nehmen würde, dachte sie
amüsiert und ein wenig erleichtert darüber, dass es auch die Seite an ihm gab, die sich einfach gehen lassen konnte. Er musste sehr tief in Gedanken versunken sein, um so wenig auf
sich zu achten. Ihr Eindruck von ihm gestern Abend war der eines beinahe militärisch
disziplinierten und aufmerksamen Mannes gewesen. Sein langer dunkler Mantel berührte
den Boden neben ihm. Er selbst schien beinahe von einer dunklen Wolke umgeben zu sein.
Dann fiel ihr ein, wie er gestern Abend ohne weitere Ankündigung den Angetrunkenen, der
sie angerempelt hatte, um ein Haar angegriffen und, da war sie sicher, niedergeschlagen
hätte. Sie war in dem Moment überzeugt gewesen, dass er ihn hätte totschlagen können,
wenn er das gewollt hätte. Sie hatte die unmittelbare, beängstigende Nähe von Blut gewittert
und seine ungebändigte Wildheit. Von einer Sekunde zur anderen war er mit dem Instinkt
eines Tieres aufgesprungen und hatte bestimmt schon die empfindlichste und deckungslose
Stelle seines Gegenübers anvisiert. Hätte er sich nicht selbst rechtzeitig unter Kontrolle bekommen, sie hätte es nicht gekonnt, und es hätte böse geendet. Offensichtlich wurde er bei
einer Grenzüberschreitung innerhalb von Sekunden gnadenlos brutal. Als sie darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass das seine empfindliche Stelle war: die Grenzüberschreitung.
Sie korrigierte sich in Gedanken: militärisch war seine Disziplin nicht, dafür war sie nicht
schroff und irgendwie nicht scharfkantig genug, da war nichts von den Spuren einer
militärischen Hierarchie zu spüren, den Spuren des bedenkenlosen Umgangs mit Befehlen.
Er befahl nicht, und doch ließen seine Worte keinen Widerspruch zu. Er gehorchte nicht,
und doch hörte er offensichtlich aufmerksamer zu, als sie das von anderen Menschen gewohnt war. Seine Art, zuzuhören, war nicht anders als durchdringend zu bezeichnen.
Zugleich aber vermittelte er den Eindruck einer Strenge, die sie bisher nur mit dem Militär
assoziiert hätte. Dieses Maß an Diszipliniertheit, das sich vor allem in ganz kleinen Dingen
zeigte, wie er sich bewegte, wie er aß, wie er sprach, selbst wenn er seinen Gefühlen freien
Lauf ließ, hatte sie in dieser Art bisher noch nicht erlebt bei Menschen, vielleicht einmal in
einem Film gesehen, und dann fiel ihr ein Mensch ein, an den er sie erinnerte: sie hatte in
der kurzen Zeit ihres Studiums in einer Einführungsvorlesung einen katholischen Pater aus
einem norditalienischen Orden gehört, der über die moralische und ethische Bedeutung der
Strafe in europäisch-demokratischen Rechtssystemen referiert hatte. Er hatte ein einfaches,
schmuckloses, graues Gewand getragen und einen asketischen Eindruck gemacht. An diesen
Mann musste sie denken, als sie Antonio Sandmann vor dem Café sitzen sah: ein Asket.
Noch dazu einer, der gutes Essen zu schätzen weiß. So saß er da.
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Krieger und Asket. Und dann wusste sie es und korrigierte sich: nicht ein Mönch, auch kein
Krieger, ein Samurai.
Das geht doch alles gar nicht, dachte sie noch, und da wandte er ihr das Gesicht zu, als habe
sie ihn schon unbewusst angesprochen, einen irritierten Moment lang überlegte sie, ob sie
das vielleicht getan hatte und verneinte innerlich, und schaute ihr vollkommen ruhig und
präsent direkt in die Augen, und er meinte nur sie, obwohl sie noch mindestens zehn Meter
von ihm entfernt war. Er hatte ein ganz feines Lächeln auf seinem Mund, das nur für ihn
selbst bestimmt zu sein schien. Sein Blick ging ihr durch den ganzen Körper und endete in
unbeschreiblichen Tiefen.
Countdown
Mit seinen Gedanken beschäftigt, hatte Sandmann seine Aufmerksamkeit für den Zeitraum
nach innen gelenkt, den es brauchte, dass Prosperina sich ihm unbemerkt nähern konnte.
Dann spürte er, dass er beobachtet wurde. Er schaute kurz nach innen, so, wie man in der
Erinnerung die Schläge einer Kirchenglocke zählt, die schon vor kurzem mit dem Schlagen
der Stunde begonnen hatte, und wusste Bescheid. Sie hatte ihn schon längere Zeit beobachtet, wie er feststellen konnte. Sie stand vor ihm, und da er schon saß, schaute er zu ihr
hoch und sah sie, von der Sonne am leicht gelblichen Himmel geblendet, an. Sie hatte sich
heute in einer sehr viel offensiveren Art gekleidet, allerdings immer noch geschmackvoll;
aufreizend, ohne ordinär zu sein. Sie trug einen engen Rock, der kurz über dem Knie
endete, und eine kurzärmelige Bluse, die ihre Figur betonte. Sehr attraktiv, so dass seine
Zweifel, Steiner könnte unter Umständen nicht auf sie reagieren, schnell und schlagartig
verflogen waren.
Sandmann erhob sich, um Prosperina zu begrüßen. Sie umarmten sich kurz und so oberflächlich, wie die Situation es zuließ, ohne unfreundlich zu sein.
Er merkte, dass auch sie an diesem Tag ihm gegenüber befangen war und erinnerte sich
daran, wie sie gestern Abend mehrmals in Versuchung gewesen war, ihn zu berühren und
ihm näher zu kommen. Besonders bei ihrem letzten Weg zur Punta della Dogana und auf
dem Heimweg spürte er ihre Unruhe sehr deutlich. Sie hatte nicht mitbekommen, dass er
das sehr wohl registriert hatte. Sie glaubte, sie verhalte sich unauffällig, aber seiner
trainierten und zentrierten Aufmerksamkeit war es nicht entgangen. Für ihn war das
rührend, aber nicht nur das, und beinahe wäre er der Versuchung erlegen, auf ihre unausgesprochene Einladung zuzugehen und sie anzunehmen. Dann dachte er an seine Aufgabe
und schaltete alle derartigen Gedanken mit ruckartiger Kälte aus. Hätten sie miteinander
über die Situation gesprochen, so wäre sie erleichtert gewesen, zu erfahren, dass er ihren
Zustand registrierte und ihr Benehmen durchaus nicht albern fand.
„Sie sahen eben sehr in Gedanken versunken aus“, sagte sie, um einen Probeballon steigen
zu lassen.
„Ja, ich habe an die letzten und meine nächsten Tage hier in Venedig gedacht.“
„Das schienen aber keine leichten Gedanken gewesen zu sein. Sie wirkten ziemlich finster.“
„Ach ja, ich habe in der nächsten Zeit eine Menge Dinge zu erledigen, und manches davon
ist nicht gerade einfach.“
„Kann ich Ihnen meine Hilfe anbieten?“
„Sehr freundlich, vielen Dank, aber ich kann die Sachen nur allein tun. Außerdem sind Sie
mir ja schon behilflich, indem Sie meinen Auftrag angenommen haben. Tja“, sagte er und
wirkte dabei ziemlich verlegen, „dann wollen wir uns mal an die Aufgabe machen, einverstanden? Sind Sie bereit?“
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„Ja. Ich verstehe allerdings immer noch nicht, wie Sie Ihrem Freund dieses teure Geschenk
machen können, ohne sich zu erkennen zu geben. Er muss Ihr Leben schon sehr verändert
haben, wenn Sie so selbstlos für ihn sorgen.“ Sie wirkte ein bisschen wie ein Kind, das sagen
wollte, „aber wir müssen gar nicht zum Zahnarzt, es ist schon wieder alles ganz gut“. Sandmann sah für einen kurzen Moment ein leises Zittern ihrer Unterlippe, und diesen einen
Moment lang fürchtete er, sicher nicht ganz zu Unrecht, sie würde gleich ein Schippchen
machen, und dann würde sie das Unternehmen absagen.
„Ach, wissen Sie, wir Menschen wissen ja gar nicht, wie sehr und in welcher Hinsicht wir
das Leben beeinflussen, wenn wir auch nur einen einzigen Schritt in eine beliebige Richtung
machen. Das macht aber nichts, wir können nicht alles wissen, was wir bewirken. Eine
Minute früher oder später am selben Ort, und eine Begegnung findet nicht statt. Eine falsch
abgelesene oder aus Versehen gewählte Zahl in Ihrer Telefonnummer, und wir beide wären
uns nie begegnet.“
Sie war überrascht und griff nach dem Strohhalm. „Meinen Sie, das ist das Schicksal?“
„Nein, das meine ich nicht. Ich weiß es nicht, und da ich es auch gar nicht wissen kann, zerbreche ich mir nicht den Kopf darüber. Ich halte es für sinnlos, dazu etwas zu glauben oder
zu denken. Es ist, wie es ist. Gut, sind Sie dann bereit? Mein Freund, Gregor Steiner, dürfte
etwa um neunzehn Uhr im Café vor seinem Hotel etwas trinken gehen, jedenfalls hat er das
bisher immer getan. Ich werde Sie bis in die Nähe des Restaurants begleiten, dann schauen
wir, ob er da ist, und wenn er da ist, werden wir uns voneinander verabschieden.“
„Sehen wir uns wieder?“
„Ich glaube nicht.“ Sie sah ihn lange an und sagte nichts, hoffte aber inständig, der erwartete
Freund wäre nicht da oder krank oder schon abgereist. Sandmann wusste natürlich, dass sie
sich tatsächlich schon sehr bald wieder sehen würden, dann nämlich, wenn der ganze Tanz
mit Steiner losging, aber genauso gut wusste er, dass es nicht das war, was sie gemeint hatte.
„Ich würde Sie aber gerne wieder sehen, wenn es irgendwie möglich ist.“
Peng. Damit hatte Sandmann, seit zwei Monaten aus dem Kloster zurück in Europa, nicht
gerechnet. Da stand Chiara Prosperina Negroponte mit ihren siebenundzwanzig Jahren, eine
attraktive, erfahrene und selbstbewusste Frau und im Umgang mit sexuell orientierten Beziehungen professionell, vor ihm und sagte ihm so etwas. Das hatte er zwar nicht befürchtet, er wäre im Traum nicht darauf gekommen, aber damit hatte er nun überhaupt
keine Erfahrung mehr.
„Nun, wir werden sehen. Ich bin ja noch nicht weg aus Venedig, ich habe Ihre Telefonnummer, und wenn es meine Zeit zulässt, werde ich mich bei Ihnen melden.“
Tust Du nicht, dachte sie sich, sagte aber nichts und war schon wieder ganz perplex wegen
ihrer unbedachten Worte. Sie waren ihr ganz einfach herausgerutscht. Sie wünschte, sie
hätte sich nicht verplappert, das machte ihre Situation ihr selbst und auch Antonio Sandmann gegenüber nur noch unhaltbarer.
„Sie werden meinen Freund bald in diesem Café antreffen“, sagte er und beschrieb ihr das
Café, das er meinte, wieder eines gegenüber einer Kirche, wie ihr Treffpunkt gestern im
Café am Campo San Polo, „ich begleite Sie bis fast dorthin.“
„Ist gut.“
Es war in vielleicht zehn Minuten zu erreichen. Um diese Zeit waren die Gassen noch mit
den Tages- und Dauertouristen in Venedig gefüllt, und man kam im Allgemeinen nur langsam voran. Sie liefen durch ein paar engere Gassen, es ging aber trotz des Gedrängels
schneller als erwartet. Sandmann legte, ohne es zu merken, einen ungewöhnlich entschlossenen Gang an den Tag, der eine Schneise zu graben schien in den Strom der Spaziergänger wie der Bug eines Ozeanschiffes durch das ruhige Wasser der Rossbreiten.
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In den Cafés und Restaurants links und rechts von ihrem Weg wurden die ersten Lichter
angemacht. Das erleichterte Sandmanns Situation deutlich, denn so konnte er die drinnen
Sitzenden besser sehen, und sie selbst standen schon im Halbdunkel. Bekanntlich sieht man
besser aus dem Dunkel hinein als aus dem Hellen hinaus.
Dann waren sie am nordwestlichen Ende des Campo Santa Maria Formosa, in der Nähe der
Calle del Paradiso. Sandmann und Chiara blieben stehen.
„Dort drüben“, sagte Sandmann, deutete auf das Café und schaute dann genauer hin. Nicht
zu fassen, da saß Steiner. Es lief so reibungslos, dass Sandmann beinahe lachen musste und
sich fragte, ob ihm jemand einen Streich spielte. „Sehen Sie ihn? Er sitzt drinnen, der mit
den blonden Haaren und der hellen Haut, in dem grauen Anzug. Sehen Sie ihn? Gut. Ich
wünsche Ihnen viel Glück, und ich danke Ihnen.“
Als er sich zu Prosperina umwandte, sah er, dass sich ihr Gesicht verändert hatte. Sie schien
die emotionale Schieflage von vorhin abgelegt zu haben und sah jetzt kühl, distanziert und
sehr gelassen aus. Auch sie wandte sich ihrem Auftraggeber zu, um sich von ihm zu verabschieden, und dann geschah ihr etwas, was ihr noch nicht widerfahren war und nach ihrer
eigenen Vorstellung auch nicht geschehen durfte: sie küsste ihn auf den Mund. Im
Sekundenbruchteil fing sie sich, tat so, als sei nichts geschehen, vermutlich hatte Sandmann
den Tabubruch nicht einmal registriert, und antwortete: „Auch Ihnen viel Glück, und bis
vielleicht später einmal.“ Dann machte sie sich mit gequetschtem Herzen und aufrechtem
Gang auf den Weg zum Café. „Den hätte ich wirklich gerne für mich“, dachte sie noch,
dann schaltete sie auf Autopilot und konzentrierte sich auf ihren Auftrag.
Bring ihn zu mir, mein Täubchen, dachte Sandmann hinter ihr her, bring ihn mir her zu mir.
Er schaute Prosperina nach. Seine Blicke bohrten sich wie hypnotisierend in ihre Schulterblätter und ihren Hinterkopf.
Der Dieb I
Francesco Picolomini, vierzehn Jahre alt, zierlich gebaut und daher der Taschendieb in
seiner Gruppe, allerdings in seinem letzten, höchstens vorletzten Jahr, huschte zwischen den
Besuchern seiner besten Saison hindurch und suchte sein nächstes Opfer. Es war sein
letztes oder vorletztes Jahr als Taschendieb, weil er erstens mit sechzehn aus dem Bereich
des Jugendstrafrechts herauskam und zweitens dann anspruchsvollere Aufgaben übernehmen wollte. Er sah in seinen romantischen Tagträumen eine großartige Karriere als
Gangster voller Ruhm, Geld und schöner Frauen vor sich.
Es war etwa neunzehn Uhr dreißig und wurde im Gewühl der engen Gassen langsam
dunkel, auch wenn der Himmel noch einigermaßen hell war. Er hatte heute schon etwa
zwanzig Geldbörsen erbeutet, einige gute dabei, und ein gutes Dutzend Armbänder und
Uhren von Touristinnen. Noch zwei, drei Opfer, und er konnte einen überaus erfolgreichen
Tag beenden. Sein Onkel, Capo, Oberhaupt einer kleineren, süditalienischen Familie, würde
zufrieden sein mit ihm. Venedig war ein hervorragendes Terrain für einen geschickten
Taschendieb wie ihn. Es gab viel Gedrängel, viel Ablenkung und damit das wichtigste, was
ein Dieb wie er brauchte: viel Unaufmerksamkeit. Außerdem konnte er bei der Dichte der
Menschen hier in seiner gewandten Art schnell verschwinden, so dass die Chance, ihn zu
fassen, auch dann gering war, wenn der Bestohlene im Moment des Diebstahls etwas bemerken sollte.
Francesco war vor allem deshalb immer wieder erfolgreich, weil er seine Opfer frühzeitiger
als die anderen Taschendiebe seiner Familie erkannte: erstens nahm er sich nur Touristen
vor, was allerdings in Venedig kaum anders möglich war; wer als Tourist nach Venedig kam,
hatte meistens eine ganze Menge Geld für diese überdurchschnittlich teure Stadt dabei und
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oft genug mindestens zwei Kreditkarten, um die sich dann andere Bandenmitglieder mit den
entsprechenden Kenntnissen kümmerten, und Touristen mochten auch nicht gerne zur
Polizei gehen. Zweitens hielt er sich nur an offensichtlich Wohlhabende, was ihm in den
Familien, die ihn kannten, den Namen „Robin Hood der Taschendiebe“ eingetragen hatte;
Reiche regen sich über den Verlust ihrer Geldbörse meistens nicht so auf, weil sie versichert
sind und oft nicht wissen, ob sie ihr Portemonnaie nicht einfach verloren haben; sie wollen
sich dann keine Blöße geben. Drittens, und das war das wichtigste, bestahl er nur solche,
deren Aufmerksamkeit gerade intensiv gefesselt war. Die Zusammenarbeit mit seinem
zwölfjährigen Cousin, der jonglierte und Kunststückchen vorführte, hatte er allerdings nicht
gewollt: er war dann zu wenig unabhängig, man musste schnell sein, es gab zu viele Beteiligte, nämlich genau einen zu viel, noch dazu jünger als er und damit unerfahrener, und
das heißt, es war zu riskant. Er arbeitete lieber allein.
Jetzt sah er vor sich einen Touristen, der so gut gekleidet war, dass er ziemlich wohlhabend
sein musste, und dessen Aufmerksamkeit offensichtlich völlig gebannt war: er schaute mit
scheinbar gierigen Augen einer Frau hinterher, die ihm den Rücken zuwandte und in einem
so engen, knapp knielangen, eleganten Rock fort ging, dass die Bewegungen ihrer Beinmuskulatur bei jedem Schritt bis in unergründliche Höhen hinauf sichtbar wurde. Es hätte
nicht viel gefehlt, und er hätte sagen können, welche Art von Unterwäsche sie unter dem
Rock trug. Mit einer erwachsenen und attraktiven Frau hätte er zusammengearbeitet, denn
die musste von vornherein immer nur ganz dicht an einem potenziellen Opfer vorbei- und
dann weggehen, das war überhaupt ihre ganze Aufgabe. Damit war sie schon aus der Gefahrenzone, bevor es überhaupt heikel werden konnte. Und dass die Touristen immer den
italienischen Frauen hinterher starren, beweist nur, dass wir die schönsten der Welt haben,
dachte er mit einem gewissen Nationalstolz. Schon vor knapp zwei Jahren hatte Francesco
angefangen, sich insgeheim für das andere Geschlecht zu interessieren, war aber in der
Lebensphase, in der man sich in dieser Hinsicht gemeinhin völlig dusselig und linkisch benahm und das bedauerte, darüber hinaus eigentümlichen Vorstellungen anhängt und an die
Wirkung von Imponiergehabe glaubt, das ja dann auch eine Zeit lang wirkt: auf das Selbstwertgefühl. Sonst natürlich nicht. Seine diesbezüglichen Erfahrungen der letzten Zeit hatten
ihm die Vorstellung geraubt, dass sein Beruf für Mädchen oder Frauen interessant sei. Sie
schienen mehr nach der verqueren Romantik des Erfolges als nach der wilden Romantik des
Lebens eines Taschendiebes zu schauen.
Langsam und geschmeidig wie ein Wiesel näherte er sich der dunklen Gestalt des Mannes.
Dabei ließ er seinen Blick prüfend über seine Erscheinung gleiten, um herauszufinden, wo
er die Wertsachen aufbewahrte, die er mit sich herumtrug. Meistens war es die rechte Gesäßtasche oder Manteltasche, da über neunzig Prozent der Menschen Rechtshänder sind.
Bei diesem hier schien es nicht anders zu sein: an der leicht vorgebeugten Gestalt erkannte
er durch den Mantel aus leichtem Tuch hindurch die typische Vorwölbung im Bereich der
rechten Hüfte. Sein Opfer bewegte sich nicht, stand nur still und schaute gebannt.
Francesco Picolomini schlich heran. Er brauchte nur außen zu überholen, kurz hinter der
Ecke umzudrehen und dann frontal in den Mann hineinzulaufen. In dem folgenden Gewusel konnte er sich verdattert entschuldigen, die Entschuldigung wurde akzeptiert oder
auch nicht, und der Tourist war um eine Börse ärmer. Das hatte bisher so gut wie immer
funktioniert und sollte es auch dieses Mal tun.
Und dann geschah etwas, was er noch nie erlebt hatte und auch nie wieder zu erleben
wünschte. In einer ruhigen, gleitenden Bewegung drehte sich der Mann zu ihm um, schaute
ihm mit den glühenden Augen eines Raubtieres direkt ins Gesicht und sagte ganz leise und
langsam, er musste es beinahe von den Lippen ablesen: „Non toccarmi – Fass mich nicht
an!“
Francesco war wie von einem bösen Zauber gebannt. Porca miseria, er fragte sich, wie
dieser Mann ihn hatte hören können, da er doch ganz leise ging und das Gedrängel und der
Lärm um sie herum groß genug war, um jedes speziellere, kleine Geräusch zu überdecken.
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Er hat mich gar nicht gehört, dachte er erschüttert. Er hat mich gewittert, gespürt. Ein
Raubtier auf der Jagd. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte sich eingebildet, das kehlige,
leise, knochenmarkserschütternde Knurren eines Tigers zu hören, kurz bevor er losbrüllt
und jeder Muskel jedes Opfers gelähmt ist. Francesco hatte das einmal in einem Zoo gehört
und war bis ins Innerste erschüttert gewesen von der Gewalttätigkeit dieser Präsenz.
Der Junge bekam schlagartig und für ihn selbst völlig unbegreiflich eine Heidenangst, kalter
Schweiß brach ihm aus. Er hatte sich für kaltblütig gehalten, vor der Polizei hatte er schon
lange keinen Respekt mehr, nicht einmal vor dem für ihn zuständigen Kommissar, der zwar
rechtschaffen, aber relativ hilflos war. Bis jetzt hatte er sie alle immer hereinlegen oder ihnen
entkommen können. Und jetzt so etwas: ein allem Anschein nach vollkommen harmloser
Tourist kommt ihm nicht nur zuvor, entdeckt ihn, bevor er am Mann ist, sondern jagt ihm
auch noch mit einem Blick, dessen Gewalttätigkeit allerdings offensichtlich ist, mehrere kalte
Schauer über den Rücken.
Für einen schrecklich langen Augenblick fühlte er sich vom Blick dieses Mannes auf der
Stelle festgenagelt, als sei er von einem Fluch belegt. Hätte der jetzt seine Hand ausgestreckt,
er hätte Francesco Picolomini, der völlig erstarrt stand, greifen und ihm, da war er sicher,
wie einem Stück Rotwild das Genick brechen können.
„Verschwinde!“, flüsterte er und machte eine ganz kleine Handbewegung, und als würde der
Bannfluch von ihm genommen, löste sich Francesco von diesen Augen und verschwand,
heilfroh, entkommen zu können, in der Menge.
Er wäre bereit gewesen zu beschwören, er sei einem reißenden Tiger in Menschengestalt
begegnet.
Im Café
Prosperina ging über den Platz auf das Café zu, in dem Gregor Steiner saß, und spürte dabei
Sandmanns Blicke in ihrem Rücken. Sie hatte das Gefühl, sie brannten ihr ein Loch zwischen die Schulterblätter. Beinahe wäre sie stehen geblieben und umgekehrt, hätte die
Aktion abgebrochen und gesagt, „ich kann das nicht“. Für einen Moment wurde ihr Gang
unsicher und zögerlich, als habe Sandmann sich von ihr abgewandt, er spiegelte ihre innere
Zerrissenheit, einer von diesen Momenten, in denen man unelegant über Gehwegplatten zu
stolpern pflegt, zumal in Venedig, wo die Platten sowieso nicht eben liegen.
Der Campo Santa Maria Formosa, einer der schönsten und charakteristischsten Plätze
Venedigs: der Kirche in der südöstlichen Ecke lagen ein Café und verschiedene kleine
Stände gegenüber, an denen Blumen und Obst verkauft wurde und die den Platz zum
Marktplatz machten. Zugleich war er von einer Reihe prachtvoller Paläste gesäumt. Und als
hätte Camillo Sitte hier gelernt, was unregelmäßige Platzstrukturen für das menschliche
Empfinden und Bewegungen bedeuten, wurde der große Platz, er hatte vom Grundriß her
beinahe die Größe des Piazza San Marco ohne die Piazetta, von zwei Brunnen und der
Kirche in überschaubare Bereiche zerlegt.
Weder Sandmann noch Prosperina hatten einen Blick für die architektonischen Besonderheiten dieses Platzes und der Renaissancekirche mit ihren Statuen auf dem Dachfirst: Sandmann, weil seine Aufmerksamkeit Prosperina voraus lief wie ein Hund, und Prosperina, weil
ihre Aufmerksamkeit hinter ihr zurückgeblieben war wie die eines witternden Rehs.
Sie riss sich zusammen und ging wie ferngesteuert zum Café. Sie ging hinein.
Sie schaute sich an der Tür kurz um, als suchte sie einen beliebigen Platz. Sie wählte einen in
der Nähe ihrer Zielperson, ging ganz nahe an ihm vorbei, für einen Augenblick spannte sie
ihren Körper wie eine erwachende Katze an, ihr Gang verlangsamte sich dabei kaum wahrnehmbar, aber die Verzögerung, nicht länger als eine Sekunde, tat ihre Wirkung, und dann
setzte sie sich so hin, dass Steiner sie anschauen und dabei sozusagen anbeißen konnte,
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während ihre Blickrichtung halb von ihm abgewandt war. Sie machte dabei einen sehr
souveränen Eindruck und verbarg die Erschütterung der letzten Minuten gut, es schien
überhaupt keinen Zweifel daran zu geben, dass ihre Unternehmung erfolgreich ausgehen
würde.
Sandmann konnte aus der Distanz sehen, wie sie offensichtlich eine Zigarette suchte, sich
dabei Steiner zuwandte und es innerhalb kürzester Zeit schaffte, mit ihm ins Gespräch zu
kommen. Als sie ihn ansprach, meinte er sogar, ein Leuchten in ihren Augen wahrnehmen
zu können, das Steiner signalisieren sollte, dass sie ihn attraktiv und ansprechend fand.
Absolut professionell, konzentriert und ohne jede Unsicherheit, wie er fand. An der Grenze
zwischen zögernd schüchternem und offensiv selbstbewusstem Verhalten hatte sie offenbar
sehr schnell eine Entscheidung getroffen, wie sie sich diesem Fremden gegenüber verhalten
sollte, um ihn am Ende in ihrem Netz landen zu lassen. Binnen kurzer Zeit war zu sehen,
wie Steiner eine einladende Geste machte, sich halb erhob und Prosperina einen Stuhl
zurechtstellte und sie an seinen marmornen Caféhaustisch wechselte. Geschafft. Der Fisch
war am Haken.
Sandmann schaute dem Geschehen mit brennendem Interesse zu, während es um ihn
herum immer dunkler, aber immer noch nicht frischer wurde. Dann wurde ihm klar, dass er
das stickige Klima sogar für seine Zwecke nutzen konnte. „Wenn ich das so will, dann ist es
mein Vorteil“, dachte er noch. Und: „Mein Einsatz. Es geht los.“ Er machte sich auf den
Weg.
In Erwartung
Gregor Steiner begab sich wie gewohnt zu dieser Stunde in das Café, das sich in unmittelbarer Nähe von seinem Hotel befand. Er mochte dieses Café, weil es ihm ermöglichte,
einerseits ohne vorerst zu Abend zu essen den Tag und seine Ereignisse noch einmal Revue
passieren zu lassen, ein paar Notizen zu machen und Kalkulationen anzustellen, andererseits
dem interessanten Treiben auf dem Platz zuzuschauen und bei einigen Zigaretten ein wenig
zu entspannen.
Venedig lebte sehr stark von seinen Plätzen, hier fand das soziale Leben der Venezianer zu
einem nennenswerten Teil statt. Die großen Plätze wie Campo San Polo, Campo Santa
Maria Formosa, Campo Francesco Morosini und so weiter hatte alle ihre eigene architektonische Charakteristik, ihre besondere Architektur und Symmetrie oder Asymmetrie,
sogar die Positionierung des Brunnens lenkte das Leben auf jedem dieser Plätze in jeweils
etwas andere Bahnen. Gregor Steiner hatte in den wenigen Tagen seiner Anwesenheit in
Venedig dieses kleine Ritual für sich entdeckt. Er beobachtete gern das Treiben der Kinder,
ihre ersten Gehversuche und ihr Wuseln, albern prustende Mädchen, die oft eleganten
Mütter, die in kleinen Gruppen zusammenstanden und sich offensichtlich kaum um die
Kinder sorgten, die meist zügiger gehenden Männer, es klang und schepperte, plapperte und
klingelte, tapste, flatterte und klickte, und hätte er genügend Zeit gehabt, es hätte ihm gefallen, ein Netz der familiären und sozialen Beziehungen über diesen Platz zu zeichnen.
Als er ankam, stellte er enttäuscht fest, dass die Plätze vor dem Café, auf einem vielleicht
zehn Zentimeter hohen, von Blumenkübeln umgebenen Holzpodest mit mehreren Tischen
und Stühlen, besetzt waren. So sah er sich gezwungen, entweder umzukehren oder abzuwarten, oder aber einen Platz drinnen zu nehmen, obwohl über der Stadt eine erheblich
drückende Atmosphäre war, die ihm zu schaffen machte. Er beschloss, sich erst einmal
hineinzusetzen, aber nebenbei darauf zu warten, dass draußen ein Platz frei würde. Er setzte
sich allein an einen kleinen Tisch, mit dem Rücken zur Tür und dem Blick nach Nordwesten, zum Fenster hinaus, und gab seine Bestellung auf: Kaffee. Er hatte in Venedig auf
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Alkohol weitgehend verzichten können, auch wenn es ihm schwer fiel. Allerdings hatte er
sich das auch beweisen wollen.
Die letzten fünf Tage waren über alle Erwartung hinaus erfolgreich verlaufen. Er hatte neue
Geschäftsbeziehungen herstellen und an alte erneut anknüpfen können. Man hatte ihn
freundlich empfangen, einige seiner Lieferanten erinnerten sich noch an ihn. Er hatte verhandelt und als Starthilfe, wie sie sagten, bessere Konditionen erhalten, als er sich je zu erhoffen wagte, als hätte er plötzlich, nach all den Jahren des Unglücks, einen Schutzengel
erhalten. Merkur, der Gott der Händler und, was er nicht wusste, Götterbote und Seelenbegleiter, begleitete seit einem Monat offensichtlich auch ihn wieder. Er hatte das Gefühl,
dass er zum ersten Mal seit dem Unfall allmählich wieder festen Boden unter die Füße bekam.
In der ersten Zeit nach dem Unfall war sein Leben wie paralysiert verlaufen: er hatte das
Gefühl gehabt, sich selbst kaum bewegen zu können und einer einzigen Abfolge von Missempfindungen und Misserfolgen ausgesetzt gewesen zu sein. Seit der grauenhaften Begegnung vor Gericht mit dem Ehemann und Vater seiner Unfallopfer hatte er kaum mehr
eine Nacht ruhig geschlafen, und der anfangs wie eine Absolution empfundene Freispruch
stellte sich im Nachhinein als eine böse Falle heraus. Er wusste, dass er lernen musste, mit
der Schuld zu leben. Das war allerdings schwieriger, als er jemals erwartet hatte. Anfangs
plagten ihn jede Nacht Albträume, denen ein dumpfes, undurchdringliches Dauerelend am
Tage folgte. Er konnte nicht mehr essen, er konnte kaum noch schlafen. Alkohol half ihm
am zuverlässigsten, dem Bewusstsein seiner Lage vorübergehend zu entkommen, und so
wurde er zum regelmäßigen Konsumenten alkoholischer Getränke. Dass der nächste Tag
damit umso vernebelter wurde und damit sein Sumpf immer undurchdringlicher, brachte er
mit seinen anhaltenden Schwierigkeiten nicht zusammen. Erneut gab es dann nur einen
Ausweg, nämlich den Griff zur nächsten Flasche.
Eine allerdings lose Beziehung zu einer Frau, die er zum Zeitpunkt des Unfalles führte und
die hoffnungsvoll begonnen hatte, war an den Belastungen gescheitert. Es hätte von ihm aus
mehr werden können, aber die Frau ertrug es nicht, eine Partnerschaft zu haben mit einem
Mann, der drei Menschen totgefahren hatte. Er verstand sie nur zu gut. Seitdem hatte er
widerwillig, aber ohne es abwenden zu können, ein Single-Leben geführt: nichts klappte
mehr, sein Charme war Verschütt gegangen, er bemühte sich nicht einmal mehr ernsthaft.
Resignation auch hier.
Dann hatte er gelernt, das Geschehene beiseite zu drängen, indem er sich in halb
alkoholisiertem Zustand um sein Geschäft kümmerte, und da ihm das eine gewisse Befreiung von seinem Horror verschaffte, kümmerte er sich mehr und mehr. Der exzessive
Alkoholkonsum wurde auf den Abend beschränkt. Doch der Erfolg blieb aus, es war wie
verhext. Bis vor knapp einem Monat ein gewisser Signor Luca bei ihm angerufen und gefragt hatte, ob denn die Geschäftsbeziehungen eingeschlafen seien. Nein, aber es sei ihm in
den letzten sechs Jahren geschäftlich nicht so gut gegangen, hatte er geantwortet. Na, dann
sei es ja an der Zeit, dass sich das ändere, und er habe hier einen sehr künstlerischen
Maskenbauer, einen Meister seines Faches, der die Verbindung nach Norddeutschland vermisse und überhaupt den großen Stil suche. Da biete sich eine Partnerschaft doch geradezu
an.
Dann hatte Steiner angefangen, erneut mit Banken um einen Kredit zu verhandeln.
Nachdem er mit Hilfe eines Bekannten, der sich bereit erklärt hatte, Sicherheit zu stellen,
einen kleinen Kredit bekommen hatte, machte Steiner sich auf den Weg nach Venedig. Er
hatte das Gefühl, seine Sonne könnte wieder aufgehen, erstmals seit vielen Jahren.
Die Verhandlungen waren besser verlaufen als erwartet. Es waren einige sehr viel versprechende Geschäfte zustande gekommen, er hatte Kaufoptionen vertraglich für die
nächste Saison festgeschrieben und daraufhin noch einmal günstigere Konditionen bekommen. Darüber hinaus hatte er die Zahl und Auswahl seiner Handelspartner erweitert,
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eine Reihe von Stückproben mitgenommen, die er bereits am Nachmittag auf den Weg nach
Deutschland geschickt hatte, der Rest sollte später kommen, und nun war er an dem Punkt,
dass er erstmals seit Jahren glaubte, sich ein wenig belohnen zu dürfen. Es ging tatsächlich
bergauf mit ihm.
Gerade als sein Kaffee kam, wanderte sein Blick zum Fenster hinaus, und ihm fiel eine ausgesprochen attraktive Frau auf, die quer über den Platz auf das Café zusteuerte. Schulterlange, mittelblonde Haare, sehr gepflegt, vielleicht Anfang, Mitte zwanzig, sicherer Gang auf
eleganten Schuhen, tolle Kleidung, gute Figur, super aufregend. Tja, dachte er, jetzt weiß ich
auch, warum ich lieber draußen sitze, und ihm wurde schmerzhaft sein sexuelles Einsiedlerleben bewusst. Wäre ich jetzt vor dem Café an einem Tisch, ich würde sie wesentlich besser
sehen können als durch die Scheibe hindurch, womöglich ergab sich sogar etwas. Schade.
Und dann kam sie auf das Café zu und schien auch noch hereinkommen zu wollen! Für
einen Moment verlor er sie aus den Augen, als sie durch die Tür kam. Er beherrschte seinen
Impuls, sich nach ihr umzudrehen. Als sie an ihm vorbeiging, umwehte ihn ein dezenter
Hauch ihres Parfüms, irgendetwas nahm ihn gefangen, und sein Interesse stieg. Sie gefiel
ihm ausnehmend gut. Fast hätte er sie aus dem Stand heraus angesprochen, aber im letzten
Bruchteil dieser Sekunde versagte ihm sein Mut die Gefolgschaft. So steuerte sie auf einen
Nebentisch zu und zog seine Aufmerksamkeit wie einen langen Faden hinter sich her, und
Steiner fragte sich, ob das sein Glückstag sei. Er sah sie im Profil, das dem Fenster zugewandt war, und sah eine traumhaft tolle Frau: elegant und aufregend, selbstbewusst, ohne
aufdringlich zu wirken.
Sie kramte in ihrer Handtasche, holte eine Schachtel Zigaretten heraus, nahm sich eine,
kramte wieder und schaute sich ratlos um. Dann beugte sie sich zu ihm hinüber und deutete
mit einer Geste auf die Zigarettenspitze die Frage an, ob er vielleicht Feuer habe.
Geistesgegenwärtig und wie benommen zugleich lud er sie an seinen Tisch ein, skeptisch
allerdings ob sie der Einladung folgen würde. Doch zu seiner großen Überraschung nahm
sie die Einladung dankend und, wie es schien, sogar freudig an. Jetzt nur nichts vermasseln,
dachte er, erinnere dich, was man jetzt tut, wenn man die Bekanntschaft einer gut aussehenden Frau machen will. Schnell hatte er festgestellt, dass sie mindestens recht leidlich
seine Sprache sprach. Sie setzte sich rechts von ihm an seinen Tisch, weiterhin dem Fenster
zugewandt, und so bekam er ausreichend Gelegenheit, sie anzustaunen.
„Darf ich Sie zu einem Getränk einladen?“ fragte er, und sie willigte ein. Dabei strahlte sie
ihn an.
Steiner ging das Herz auf. „Ich muss einen guten Tag erwischt haben. Lass den Faden bitte
jetzt nicht abreißen“, dachte er und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Schnell, irgendein
gutes, unverfängliches Thema, das nicht all zu abgedroschen wirkte und ein bisschen weltmännisch wirkte; bestimmt kennt sie schon so gut wie alle Anmachen, so wie die aussieht,
ich muss originell sein! Mir muss was einfallen, irgendeine Idee. Hallo, verdammt noch mal!
Mist. Sein Sprachzentrum verfiel nach den sechs Jahren des Alleinseins in eine Art paralytischer Starre, sein Hirn suchte fieberhaft nach Gesprächsstoff, während er an der Oberfläche einigermaßen gut funktionierte und ihr Feuer gab, ohne sich dabei lächerlich zu
machen. Und dann registrierte er, dass die Frau ihm entgegenkam und ihm das elende
Suchen abnahm.
„Prosperina“, stellte sie sich vor.
„Angenehm“, Mann, bin ich blöd, gleich steh ich auf und mach einen Diener, das ist ja
schlimmer als in der Tanzschule. „Steiner. Gregor Steiner“, ach du liebe Zeit, jetzt fehlt nur
noch, dass ich Bond sage, James Bond. Aber wieder kam Sie ihm entgegen:
„Danke für die Einladung. Ich würde dann einen Caffè latte nehmen.“
„Gern“, und er winkte den Kellner heran.
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Steiner bestellte für sich eine Karaffe Wein und für Prosperina den gewünschten Milchkaffee. Der Kellner wirkte wegen irgendeiner Kleinigkeit etwas ungehalten, Steiner beachtete das nicht weiter. Tatsächlich hatte der Kellner mit seiner Kenntnis der Verhältnisse
geahnt, was sich hier abspielte: wieder ein Tourist, der von einer der einheimischen
Prostituierten abgeschleppt werden sollte. Obwohl es ihm grundsätzlich egal war, sollten die
Touristen doch selber sehen, wie sie fertig wurden, war er doch von seinem Chef gehalten,
solche Anbahnungen zu unterbinden, diskret aber bestimmt. Der Kellner überlegte, entschied sich dann aber, dass er es nicht genau wissen konnte, weil er die Frau nicht kannte
und sie auch recht seriös aussah. „Besser,“ dachte er, „ich beobachte erst einmal nur, ich
kann ja später immer noch eingreifen und die Frau bitten, zu gehen.“
Während der Kellner sich aufmachte, das Bestellte zu holen, kam, von den Beiden ganz unbemerkt, da er nicht an dem Fenster vorbei ging, Sandmann in das Café und begab sich
langsam, abwartend und mit abgewandtem Gesicht, alles eine Frage des richtigen Augenblicks, in Richtung Toilette. Der kritischste Moment seines Plans lief reibungslos ab, die
Passage an Steiner und Prosperina vorbei. Es war so, als hätte er deren Aufmerksamkeit in
die andere Richtung gezwungen. Er verstand es selber nicht.
Als der Kellner mit dem Wein und dem Kaffee auf seinem Tablett kam, startete Sandmann
durch. Er stellte sich dem Kellner scheinbar unbeabsichtigt an der schmalsten Stelle am
Tresen in den Weg, fragte mit Entschuldigung suchendem Lächeln und Schulterzucken
nach der Toilette, erntete einen genervten Blick, der Kellner drehte sich um und deutete
hinter sich und dann links, und in dem Augenblick landete eine kleine Menge eines unscheinbaren weißen, geschmackfreien Pulvers aus Sandmanns Handfläche in dem Wein.
Sandmann sah, wie das Pulver kurz aufschäumte und dann in Sekundenschnelle beinahe
verschwunden war. Nur ein Bodensatz blieb zurück, der wie Salz oder Zucker aussah.
Niemand schien etwas bemerkt zu haben. Sandmann bedankte sich etwas umständlich, aber
höflich beim Kellner, „Grazie molte a lei“, es gab einen kurzen Tanz in dem engen Durchgang, und ging dann an ihm vorbei. Der Kellner ging weiter zum Tisch seiner Gäste. Dort
stellte er die Getränke ab und sah sich nach seinen weiteren Tischen um, um zu sehen, ob
noch irgendjemand einen Wunsch hatte.
Verschwunden
Dann liefen die Dinge plötzlich sehr schnell ab, und Prosperina verstand nicht mehr, was
geschah: die Ereignisse überschlugen sich und nahmen eine für sie unerwartete Wendung.
Auch der argwöhnische und direkt nach den folgenden Ereignissen erleichterte Kellner
wurde von der Entwicklung der Dinge überrascht. Sandmann dagegen beobachtete die
nächsten Sekunden sich selbst und die Beteiligten wie von außen mit ungläubiger Befriedigung. Er konnte kaum fassen, wie reibungslos alles verlief.
Prosperina sah, wie Steiner plötzlich einen heftig benommenen Eindruck machte, seine
Augen weiteten sich und bekamen einen undefinierbaren Ausdruck, er taumelte ein wenig
im Sitzen, wollte etwas sagen, aber es kam nur unartikuliertes Hauchen und Keuchen, er
deutete auf seinen Körper, aber er konnte nicht mehr klar machen, was er wollte oder was
mit ihm geschah. Es wirkte, als hätte er zu heiße Suppe geschluckt oder als sei ihm etwas in
die Luftröhre geraten und würde gleich vornüber auf die Tischplatte schlagen. Sie nahm ihn
bei der Hand und wollte ihn an die frischere, wenn auch fast schon wieder wüstenschwüle
Luft bringen, wodurch sie, ohne es zu ahnen, den Plänen von Antonio Sandmann entgegenkam. Sie stand auf, und Steiner versuchte es zumindest ebenfalls, kam allerdings mit seinem
Bemühen nicht mehr sehr weit.
Dann tauchte, scheinbar aus dem Nichts, Antonio Sandmann auf, sie war überrascht,
wunderte sich, dass er aus dem Café hinter ihr zu kommen schien, er musste ganz in der
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Nähe gewesen sein. Er kam über die Situation wie der dunkle Engel des Herrn, wie ein
Schatten, Prosperina hatte beinahe das Gefühl, ein unhörbares Rauschen gespürt zu haben,
und kurz fröstelte es sie. Er sagte mit noch bestimmterem und souveränerem Tonfall als
dem, den sie schon von ihm kannte, es sei wohl ein kleiner epileptischer Anfall, „ein petit
mal. Ich bringe ihn hier raus“, und nahm den halb Besinnungslosen mit festem und
sicherem Griff gleichsam an sich.
„Va bene, ich bin Arzt, sono dottore, ich kümmere mich“, sagte er zu einem der Kellner,
der verdutzt und mit fragendem Blick herangetreten war, um zu sehen, ob es irgendetwas zu
helfen gab, und als der Kellner immer noch fragend schaute, sagte er mit einer diffusen
Geste zum Himmel: „Das Wetter, hm? Scirocco. Epilepsie.“ – „Si, si.“ Der Kellner, selber
leicht gereizt vom Klima und sowieso schon skeptisch wegen der Situation, die sich da
zwischen der jungen Italienerin und einem Gast entwickelt hatte, war offensichtlich froh,
dass ihm der Umgang mit einem Gast, dem nach seiner eigenen Wahrnehmung wohl nur
schlecht geworden war, von einem Bekannten des Gastes abgenommen wurde. Hauptsache,
er kippt nicht hier drin um und kotzt uns alles voll, und ich habe dann den ganzen Ärger am
Hals, sagte sein wesentlich erleichterter Gesichtsausdruck. Er plädierte für die biologische
Lösung der unklaren Situation. So war es am Unkompliziertesten: das Problem löste sich
von selbst. Macht, treibt, was immer ihr wollt, das sagte er, von mir aus zu Dritt, aber nicht
an meinen Tischen.
Zu Prosperina gewandt sagte Sandmann noch leise, deutlich und bestimmt: „Es ist in
Ordnung. Es tut mir leid, gehen Sie jetzt bitte nach Hause. Ich kümmere mich um ihn. Ich
gebe ihm Medikamente. Sie wissen doch, ich bin Arzt. Ich rufe Sie morgen an. Versprochen“, und dann war er draußen.
„Er ruft mich an“, dachte sie, „er hat’s versprochen. Ich muss nichts mit dem Anderen anfangen.“ Eine Riesenlast fiel ihr vom Herzen. „Morgen gebe ich ihm sein Geld wieder“,
dachte sie auch noch, aber es kam ihr kaum noch zu Bewusstsein.
Dann ging sie ihm hinterher, sah aber nur noch den wehenden Mantel und wie er mit seinem Freund beinahe unter dem Arm um eine Ecke verschwand. Dabei hielt er ihm fürsorglich ein Taschentuch vor den Mund, wahrscheinlich, um zu verhindern, dass er in der
Öffentlichkeit erbrach oder seine Zunge zerbiss, wie das bei epileptischen Anfällen wohl
schon vorgekommen sein soll, sie hatte davon gehört. Sie fragte sich nicht mehr, warum er
so schnell verschwand und wohin er wollte. Und auf den Gedanken, gleich hier einen Arzt
zu rufen, kam sie schon gar nicht mehr, er war ja schließlich Arzt. Was brauchte es da noch
einen anderen. Der hat ja alles was er will.
Dann ging sie nach Hause, wie Sandmann ihr das gesagt hatte, und fragte sich nicht einmal,
warum sie das tat. Sie war wie beduselt vor unentwirrbaren Gefühlen. Normalerweise sagte
ihr niemand, was sie tun oder lassen sollte. Intelligent und emanzipiert, wie sie war, trotz
dieses scheinbaren Widerspruchs zu ihrem Beruf, ließ sie sich von niemandem Vorschriften
machen. Aber sie ging. Er hatte es ja gesagt.
Der Dieb II
Francesco Picolomini, Taschendieb in seinem letzten Jahr, hielt eine knappe Minute später
inne auf seiner übereilten Flucht. Sie kam ihm schon nach wenigen Schritten absurd vor und
brannte wie eine schmachvolle Niederlage auf seiner Seele, aber erst einmal rannte er noch
weiter. Beinahe hätte er die roten Flecken der brennenden Scham im Gesicht bekommen,
die in seinem Alter noch schlimmer und tiefer brennen konnte als in späteren Jahren, wenn
wir dagegen unempfindlicher geworden sind. Was hatte dieser Tourist denn schon groß
getan? In angeschaut und gewarnt. Ach du liebe Zeit! Und er hatte sich einschüchtern lassen
wie ein Kaninchen von der Schlange. Sicher, es lag eine Aura der Gewalttätigkeit und
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zwingenden Kraft in dem kurzen Moment der Begegnung, aber das war mit Sicherheit nur
Einbildung gewesen. Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Dem werde ich zeigen, dass
ich besser bin als er, dachte er in seiner zur Selbstüberschätzung neigenden jugendlichen
Seele, dem werde ich alles abnehmen und es sofort in meinem kleinen Versteck hier in der
Kirchenmauer verschwinden lassen. Es hatte sich schon vor langer Zeit bewährt, über ein
paar Mauerritzen an Regenrohren Bescheid zu wissen in seinen hoheitlichen Revieren, und
so kannte eine Menge solcher kleinster Verstecke. Die Polizei konnte einem im Falle eines
Falles ohne Beute nichts nachweisen, und die Beute konnte man mit etwas Glück einige
Stunden später immer noch abholen. Und wenn sie weg war, dann war das immer noch
besser, als eine Nacht in polizeilichem Gewahrsam zu sein.
Er kehrte um. Am ehesten würde er seinen beeindruckenden Touristen finden, wenn er zum
Ausgangspunkt ihrer Begegnung und Auseinandersetzung und seiner Flucht zurückkehrte.
Womöglich konnte er ihn dort noch finden. Er war immerhin hoch gewachsen und überragte die meisten Menschen um einige Zentimeter. Außerdem war er zugegebenermaßen
eine irgendwie Respekt einflößende Erscheinung gewesen. Umso größer war die Herausforderung für ihn. Und tatsächlich sah er den Touristen gerade eben um die Ecke verschwinden, an der ihre erste Begegnung stattgefunden hatte. Er ging leicht rechts quer über
den Campo Santa Maria Formosa.
Francesco verfolgte ihn im Abstand von etwa zehn Metern. Bei der Menge von Menschen,
die sich um diese Uhrzeit durch die Gassen und über die Plätze bewegten, war das die
sicherste Distanz: er kam ihm nicht zu nahe, verlor ihn aber auch nicht aus den Blick.
Einmal prallte er mit einer merkwürdigen Erscheinung zusammen, einem hageren und hoch
gewachsenen Mann, der aussah wie einer der Statisten, die in barocker Verkleidung durch
die Stadt zu gehen und sich fotografieren lassen, ein Stückchen Ambiente für die Touristen.
Nur dass er schwarz trug, einen Umhang und eine lederne Halbmaske, die normalerweise
nicht zum Inventar der Statisten gehörte. Die trugen meist Neutralmasken oder solche aus
der Commedia del Arte. Er war mit seinen eigentümlichen Bewegungen, die einen leicht
behinderten Eindruck machten, von der Seite in Francescos Weg hineingelaufen, und da der
nur Augen für den Fremden hatte, war er seiner Aufmerksamkeit entgangen. Wortlos ging
der maskierte Mann weiter, er schien den Jungen gar nicht bemerkt zu haben.
Francesco berappelte sich schnell und nahm die Verfolgung wieder auf, nachdem er eine
flüchtige Entschuldigung gemurmelt hatte. Der Fremde ging mit zügigem Schritt, aber wie
schleichend über den Platz, kurioserweise auffällig dicht an den Hauswänden entlang, als
habe er ein bestimmtes Ziel vor Augen, dem er sich nur indirekt nähern wollte. Er ging auf
ein Café zu, vor dem er eine Zeit lang verdeckt stehen blieb und hineinschaute. Es machte
den Eindruck, als wartete er auf etwas Bestimmtes. Jedenfalls verhielt er sich ausgesprochen
merkwürdig, und Francesco wurde das Gefühl nicht los, dass er Zeuge ungewöhnlicher
Vorgänge wurde. Bei dieser zweiten Begegnung hatte der Fremde jedenfalls erkennbar
keinerlei Aufmerksamkeit mehr für seine Umgebung gehabt. Dann, wie auf ein Signal hin,
beschleunigte er seine Bewegungen und ging mit zügigem Schritt los, in das Café hinein.
Drinnen wechselte mit dem Rücken zum Fenster ein paar Worte mit dem Kellner. Als der
Kellner sich aus welchem Grunde auch immer umschaute und hinter sich deutete, schien
der Tourist irgendetwas in eines der Gläser auf dem Tablett des Kellners fallen zu lassen.
Francesco war sich zwar nicht ganz sicher gewesen, aber er erkannte flinke Hände, wenn er
sie sah. Das war ein Taschenspielertrick für Anfänger, sein Metier: das Opfer ablenken und
dann manipulieren. Die linke Hand vorzeigen und mit der rechten Hand die Karte aus dem
Hut zaubern. Der Kellner allerdings hatte, vollkommen ahnungslos, wie er war, davon gar
nichts mitbekommen. Dann verschwand der Fremde in der Tiefe des Cafés. Das wahrscheinlich manipulierte Glas wurde vor einem Gast abgestellt.
Francesco stellte erstaunt fest, dass dieser Gast an einem Tisch mit der venezianischen Frau
saß, hinter der der Dunkle, wie er ihn inzwischen nannte, hergeschaut hatte. Da musste es
eine Verbindung geben, aber es war ja ziemlich offensichtlich, welche: der Dunkle hatte ein
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eindeutiges Interesse an der jungen Frau; vermutlich verknallt. Na gut, dachte er, daher der
Jagdinstinkt, sie sah ja auch verdammt gut aus, so wie er das beurteilte. Irgendetwas mit
Eifersucht wahrscheinlich, dachte er. Er war zwar einerseits schon kurz davor gewesen, den
Schauplatz der Ereignisse zu verlassen, als der Dunkle im Café verschwand, denn verkorkste
Liebesgeschichten interessierten ihn nicht, aber andererseits fesselte etwas von den Vorgängen, die er beobachtet hatte, sein Interesse, und so beschloss er, die Entwicklung abzuwarten. Spätestens, wenn der mit den langen Mantel aus dem Café kommen würde, könnte
er sich ja auch gegebenenfalls wieder an seine Fersen heften.
Dem Gast, der mit der Venezianerin zusammen saß und inzwischen von seinem Glas getrunken hatte, wurde plötzlich anscheinend erheblich unwohl, sein Blick wurde unsicher, als
suchte er Halt, und er wäre sicher bald zu Boden gegangen, wenn nicht erst die Frau an
seinem Tisch ziemlich überrascht versucht hätte, ihm zu helfen und kurz darauf der im
langen Mantel dazugekommen wäre. Er fing ihn beinahe auf. Nur dem aufmerksamen Beobachter der Szene wurde deutlich, dass der mit dem Schwächeanfall plötzlich eine brutale
Panik empfunden haben musste, als er sah, wer ihn da in Empfang nahm. Der hatte sehr
schnell eine viehische Angst vor dem Dunklen.
Der Dunkle sprach ein paar Worte mit den Umstehenden und nahm den offenbar ohnmächtig Werdenden mit sich aus dem Café. Er schnappte ihn sich gleichsam unter den Arm,
hielt ihm beim Hinausgehen noch ein Tuch vor den Mund, und dann verschwand er zügig
mit ihm links um die Ecke.
Francesco war perplex. Das war eine astreine Entführung gewesen, während jede Menge
Touristen herumsaßen und gingen, und niemand hatte etwas davon mitbekommen, niemand
außer ihm. Niemand schöpfte anscheinend irgend einen Verdacht. Das war genial, bei dem
würde ich gerne in die Lehre gehen, gestand er sich sofort und endgültig ein. Und die Frau
war entweder gar nicht eingeweiht, oder sie machte ihre Sache sehr gut. Aber nein, entschied
er, der arbeitet alleine, genau wie ich. Das musste er verfolgen.
Er ging den beiden Männern hinterher. Als er zur nächsten Ecke kam, stellte er fest, dass er
sie schon aus den Augen verloren hatte. Unglaublich, dachte er, der kann doch mit seinem
hilflosen Opfer nicht vom Erdboden verschluckt worden sein. Dann hörte er, wie ein
Motorboot gestartet wurde, für ihn ein gewohntes Geräusch. Als er allerdings aus dem
Augenwinkel die dunkle Gestalt des Fahrers wahrnahm, schaute er genauer hin und sah den
von ihm Verfolgten am Steuer stehen. Vom Bewusstlosen sah er nichts. Hatte er ihn womöglich in den Kanal geworfen? Unwahrscheinlich, das wäre in der Nacht besser gegangen;
sicher lag er am Boden des Bootes. Dann bog das Boot nach links in den nächsten, kleinen
Kanal ein, Richtung Seufzerbrücke. Hier konnte man das Boot nicht zu Fuß verfolgen, und
er verlor diese merkwürdige Prozession aus den Augen. Perfekt, dachte Francesco
Picolomini. Donnerwetter!
Er verstand jetzt, was geschehen war, so dachte er: der Mann war ein erfahrener Verbrecher.
Nur so konnte er sich die instinktive Sicherheit, mit der er ihn, Francesco, enttarnt und gewarnt hatte, erklären: die Instinkte eines Tieres auf der Jagd. Er war mit unaufhaltbarer
Konsequenz vorgegangen und hatte auf irgendeine unverständliche Weise alle Widerstände
aus dem Weg geräumt. Dass niemand etwas mitbekommen hatte, war das Erstaunlichste
und Unbegreiflichste an dem ganzen Geschehen. Es kann doch nicht sein, dass ich der Einzige sein sollte. Und dann wurde ihm klar, dass es genau so war. Absolut professionell, und
ich bin tatsächlich der Einzige, der verstanden hat, was hier soeben vor aller Augen abgelaufen war.
Ihm fiel ein Stein vom Herzen: er war doch nicht die Niete, für die er sich kurzzeitig gehalten hatte. Der hatte einen anderen gekidnappt, vor den Augen dutzender von Menschen,
durch irgendetwas, was er ihm in den Drink gekippt hatte, wahrscheinlich k.o.-Tropfen, und
niemand hatte etwas bemerkt. Die Selbstverständlichkeit und Kaltblütigkeit, mit der er vorgegangen war, ließen den Profi erkennen. Er war jetzt froh, dass er ihn nicht bestohlen
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hatte, hoffte er doch, ihn eines Tages wieder zu treffen und dann ansprechen zu können. Er
beschloss, die Augen offen zu halten in den nächsten Tagen und ihn beim nächsten Wiedersehen nicht wieder aus den Augen zu verlieren. Falls der überhaupt noch in Venedig war
und nicht schon längst über alle Berge.
Er lief zum Café zurück, um zu sehen, was die Frau tat, die der Dunkle verfolgt hatte, aber
er fand sie nicht mehr. Sie und alle anderen waren weg. Spurlos verschwunden. Vom Erdboden verschluckt. Als sei nichts geschehen. Die Situation hatte sich in Luft aufgelöst.
Nichts war geschehen.
Nur der Kellner war ein klein wenig verblüfft von dem, was da soeben geschehen war. Das
war alles, was übrig geblieben war in der realen Welt.
Steiner
Gregor Steiner verstand genauso wenig, was geschah. Erst hatte er einen Schluck von
seinem Wein genommen, nun ja, ein halbes Glas auf einmal, um ein wenig Mut zu schöpfen
und diese wie Kaugummi klebrige Schüchternheit der letzten Jahre zu überwinden, diese
Frau war ja tatsächlich eine Granate, und dann, nicht einmal eine halbe Minute später hatte
irgend etwas in ihm angefangen, was mit der Wirkung des Alkohols nicht zu erklären war.
Der Zusammenhang war ihm nicht klar. Ihm war komisch geworden. Zunächst fühlte er
sich, als habe er viel zu starken Kaffee in zu großer Menge getrunken, Unruhe und ein
merkwürdiges, inneres Kitzeln, das Herz klopfte ihm spürbar, dann hatte er das Gefühl, ihm
würde gleich das Glas aus der Hand rutschen und auf den Boden fallen, so als sei seine
Muskulatur völlig überanstrengt und daher zittrig und schwach. Er konnte es gerade noch
auf der Tischplatte abstellen. „Wirklich sonderbar“, dachte er noch, „das ist wohl die Anspannung der letzten Tage und die Aufregung“, und wunderte sich über seine eigenen, nur
noch gedachten Worte, da spürte er, dass er gleich zu Boden gehen würde. Ihm schwand
alle Kraft, und er fühlte sich wie kurz vor einer Ohnmacht.
Er wollte der jungen Frau, er wusste noch nicht einmal mehr ihren Namen, sagen, dass sein
Kreislauf irgendwelche Schwierigkeiten machte und er auf jeden Fall gleich wieder da sein
werde, musste aber zu seiner Überraschung feststellen, dass es ihm nicht mehr möglich war,
die Worte auszusprechen. Es kamen nur noch unartikulierte Laute aus seinem Mund. „Ich
habe einen Schlaganfall“, dachte er entsetzt als nächstes, „jetzt auch noch dieser Ärger“, und
wunderte sich schon darüber, dass sein Geist so panisch hochaktiv war, während sein
Körper sich von ihm verabschiedete. Äußerlich allerdings konnte er nur noch diffus in seine
eigene Richtung deuten, und dann kam von rechts hinten ein dunkler Schatten auf ihn zu,
fing ihn mit einem geschickten Handgriff auf und verhinderte so im letzten Moment, dass er
zu Boden stürzte und sich im Lokal lächerlich machte oder gar Tische umriss und sich verletzte.
Er konnte sich nicht einmal mehr für die Hilfe bedanken, so geschwächt fühlte er sich
schlagartig, dachte noch, was für ein Glück er schon wieder hatte, dass gerade im richtigen
Augenblick jemand kam, der souverän und fachgerecht helfen konnte. Er war eindeutig verwirrt.
Und dann kippte die innere und äußere Welt von Gregor Steiner einfach und in wahnwitziger, absurder Langsamkeit und Stille ein zweites Mal um: er erwischte aus dem Augenwinkel einen Blick auf den Menschen, der ihm da gerade half, und er dachte, er würde jetzt
auf der Stelle und endgültig tot umfallen, obwohl er schon fiel. Sein letzter, sein ultimativer
Sturz. Jetzt ist es so weit, jetzt kommt das jüngste Gericht. Ich bin tot.
Da stand sein privater Albtraum und hielt ihn mit eisernem Griff, seine lebendige Angst auf
zwei Beinen, seine fleischgewordene Hölle, Antonio Sandmann, unglaublich und unvorstellbar. Aber der lächelte die Umstehenden nur freundlich an, sagte einige erklärende Worte,
103
irgendetwas auf italienisch, was er kaum mehr verstand, er hörte nur noch wie durch Watte.
Dann schnappte er ihn sich und verließ das Lokal mit ihm unter dem Arm, ohne dass
Steiner noch irgendeine Chance hatte, sich zur Wehr zu setzen.
Das konnte gar nicht sein. Diesen Mann gab es gar nicht mehr, der war schon lange von der
Erdoberfläche verschwunden, wohin auch immer. Steiner hatte jahrelang heimlich und in
schlaflos einsamen Nächten nach seinen Spuren gesucht ohne zu wissen, wozu und weshalb,
aber er hatte keine Spuren gefunden. Wieso war der jetzt hier, in Venedig, direkt neben ihm,
als sei er nie fort gewesen, das musste irgend ein ganz unbegreiflicher Irrtum sein. „Das ist
mein Kreislauf, der spinnt mir etwas vor“, dachte er. Aber seine Alarmglocken schrillten
schon derart laut, dass er an eine Halluzination nicht mehr glauben konnte.
Steiner wollte intervenieren, wollte um Hilfe rufen, wollte sagen „nein, halt, das ist ein Irrtum, ich war’s nicht, das geht nicht“, und da war er auch schon draußen und spürte, wie
dieser andere, wie Antonio Sandmann, ehemaliger Ehemann und vermutlich irre gewordener zweifacher Vater, ihn mit unbarmherzigem und zwingendem Griff bei den Armen
packte und hinausgeleitete, ihm ein Tuch vor den Mund hielt, ihm den Mund zuhielt, dass er
dachte, er würde jetzt ersticken, und dann war er weg. Und atmete weiter.
Im Arm dieses Mannes, dessen Gegenwart er immer gespürt und gefürchtet hatte, hilflos
taumelnd wie ein Volltrunkener, bog er um die Ecke, seine Füße gehorchten immer weniger
und nur noch reflexartig wie der Schreitreflex eines Neugeborenen, er wollte irgendwo
anders hin, und dann wurde er, ohne Widerstand leisten zu können, in ein Boot bugsiert.
Sandmann ließ ihn los, er glitt halb und fiel zu Boden. Dort lag er, auf dem Boden, konnte
nicht sehen, wohin er transportiert wurde, nur noch ein Stück des Himmels aus dem Augenwinkel, und für einen langen, fürchterlichen Moment hatte er das erschreckende Gefühl, das
würde das letzte sein, was er in seinem Leben zu sehen bekommen sollte, dieses letzte Stück
vom Himmel. Er prägte es sich mit fotografischer Deutlichkeit ein.
„Hilfe“, dachte er sehr laut, „Hilfe! Dreht die Uhr zurück! Ich möchte das jetzt nicht haben.
Es ist zu früh. Ich muss noch die Sachen erledigen.“ In seiner augenblicklich aufbrausenden
zweiten Welle schreiender Panik dachte er tatsächlich für einen kurzen Augenblick, er
könnte die Szene wiederholen wie eine missglückte Filmaufnahme und seine persönliche,
über ihn hereinbrechende Apokalypse abwenden. Bald aber spürte er die Sinnlosigkeit seiner
Versuche und Gedanken und gab auf. „Dann werde ich jetzt sterben“ dachte er, wobei er
zum letzten Mal in seinem Leben einen kleinen Rest an Gelassenheit aufbrachte,
„wenigstens war es ein guter Moment, in dem ich gestorben bin.“ Er wusste nicht, wie lange
die Gelassenheit vorhalten würde, fürchtete allerdings, es wäre nur kurz. Er sollte Recht behalten.
Als hätte der Andere seine Gedanken gehört, sprach er zu ihm:
„Du weißt, wer ich bin, nicht wahr? Du erinnerst Dich, nicht wahr? Du kannst nicht mehr
sprechen, Du kannst Dich auch nicht mehr bewegen, Du bist gelähmt, ich weiß das, also
versuch es gar nicht erst. Oder versuch es von mir aus und Du wirst feststellen, dass es nicht
funktioniert. Ich habe dafür gesorgt, dass Du Dich nicht mehr bewegen kannst. Du wirst
nicht sterben. Nicht jetzt und nicht hier. Aber Du wirst Dir wünschen, dass Du tot bist. Du
wirst Dir wünschen, dass ich Dich sterben lasse. Du kannst Dich darauf verlassen. Ich
kenne mich aus. Du bist jetzt nicht mehr in dieser Welt, sondern in meiner. Willkommen in
der Hölle.“
104
VI Die Hölle
Mai, Venedig
Gefangen
S
andmann brachte Gregor Steiner zu seinem verlassenen Raum im Souterrain, halb unter
der Wasseroberfläche. Mit dem Boot ging es über den Rio Santa Maria Formosa in den
Rio del Palazzo, unter der Seufzerbrücke hindurch und über das Bacino di San Marco, den
Canale della Giudecca und dann noch einige kleinere Kanäle bis in die Nähe des Hauses mit
dem gemieteten Raum. Steiner lag während der etwa fünfzehn Minuten der Überfahrt völlig
schlaff am Boden und rührte sich nicht. Er stieß ein paar Töne aus, als hätte er schwer zu
atmen, er sagte aber nichts Verständliches. Während der Fahrt schaute Sandmann immer
wieder hinter sich zu ihm hinunter, um ihn einigermaßen unter Kontrolle zu behalten und
eingreifen zu können, falls sich irgend eine unerwartete Entwicklung zeigen sollte. Er hatte
eine Spritze mit Parathion und eine mit Atropin in einer kleinen Medikamententasche dabei.
Es lief aber alles viel reibungsloser, als Sandmann das jemals erwartet hatte. Schließlich kam
er am Haus an. Er nahm sich Steiner wieder gleichsam unter den Arm, wie man einen vollständig Betrunkenen führt, und brachte ihn die paar Stufen in das Tiefgeschoss hinunter
Dort hatte er ihn zunächst achtlos auf den Boden fallen lassen, wobei sein Kopf etwas unsanft auf den Boden aufschlug. Er schloss die Türen hinter sich. Dann machte er sich, durch
Steiners Lage hinter dessen Rücken, an einer Art Bettgestell mit längs und quer verlaufenden
Stangen und Röhren zu schaffen, das im Fünfundvierzig-Grad-Winkel an der Wand stand.
Der Winkel war durch kleine, in einer Schiene einrastende Räder am unteren Ende veränderbar. Steiner hörte mehrere metallische Geräusche, irgendetwas Schnarrendes, er wusste
erst nicht, woher ihm dieses Geräusch bekannt vorkam, dann konnte er aus seiner hilflosen
Position heraus wahrnehmen, was es war: Handschellen. Kurz konnte er aus den Augenwinkeln sehen, dass es eine ganze Anzahl von Handschellen in zwei unterschiedlichen
Größen war, die an unterschiedlichen Stellen an dem Gestell angebracht waren. Sandmann
kam zu Steiner herüber und hob ihn hoch, als hätte er kaum ein Gewicht. „Der ist tadellos
gut in Form“, dachte Steiner und wunderte sich zum wiederholten Male über die Absurdität
seiner Gedanken, seiner Bewunderung für seinen Kidnapper. Dann stellte er fest, dass er
seit seiner Entführung keinen einzigen vernünftigen Gedanken mehr gefasst hatte und das
dieses der erste war. Sandmann, so überlegte er, während er den Eindruck bekam, dass er
die Gewalt über seinen Körper wiedergewann, muss mir irgendetwas gegeben haben, was
mich ziemlich benommen und völlig schwach gemacht hat, er hatte aber keine Ahnung, wie
er das angestellt haben mochte. Die Wirkung des Mittels schien allerdings nachzulassen. Er
merkte es daran, dass das gelähmte Gefühl, die Schwäche aus seinen Beinen zu verschwinden schien. Leider nur dort, der Rest fühlte sich immer noch ganz schlaff und hilflos
an. Er hätte sich um keinen Preis der Welt auf den Beinen halten können.
Sandmann lehnte Steiner gegen das Bettgestell und rückte ihn zurecht, und bevor der sich
noch irgendwie widersetzen konnte, fixierte er ihn mit den Handschellen an Hand- und
Fußgelenken, an den Ellenbogen und Knien, acht Stück also, dachte Steiner, und er fing an,
sich Sorgen zu machen wegen der wiederkehrenden, hilflosen Absurdität seiner Gedanken:
er fragte sich, ob er jetzt für immer verrückt bleiben würde, hilflos gefangen in einem
Labyrinth sinnloser Gedanken und außerstande, sich noch halbwegs menschenwürdig zu
orientieren.
Als nächstes band Sandmann zwei Gürtel um Steiners Körper und verband sie mit dem Gestell, wodurch er auch den nicht mehr bewegen konnte. Dann kam erneut der rechte Arm
dran: er fixierte ihn mit mehreren Bändern bis zur völligen Bewegungslosigkeit. Danach
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öffnete er Steiners Mund, schob ihm einen Schlauch hinein, tief bis in die Speiseröhre, an
der Luftröhre vorbei und fast bis in den Magen, roh und gewaltsam, und gab ihm über einen
Trichter eine kleine Portion von irgendeinem Getränk ein. Das gelähmte Gefühl stellte sich
innerhalb weniger Sekunden erneut vollständig ein und die Hoffnung, seinem Gegner
irgendwie entwischen zu können, sowieso schon auf ein Minimum reduziert, schwand völlig
dahin. Das ist Gift, dachte Steiner, was ist das denn bloß; ich habe doch gar kein Rezept,
jetzt muss ich doch noch mal zu einem Arzt. Komisch. Wann ist denn bloß der Termin.
Das stimmt doch alles gar nicht. Doch nicht hinterher, vorher muss ich hin. Mir entgleiten
die Dinge, dachte er noch, bevor sich seine Gedanken vollends im Unsinnigen verloren.
Sandmann betrachtete das Gesicht seines Gefangenen. Jahrelang hatte er von den Bildern
gelebt, die sich ihm im Gerichtssaal eingeprägt hatten. Nun konnte er sie auffrischen. Was er
sah, enttäuschte ihn. Es fiel in die Kategorie alkoholgetränktes Wurstgesicht, Durchschnitt,
Verbraucher, von Angst geprägt und für nichts verantwortlich, und er begann erneut zu befürchten, das alles würde sich nicht mehr lohnen. Da sei einfach kein Gegner mehr. Weg. Er
sah krank, irgendwie aufgedunsen aus. Aber dann machte er sich klar, dass die Situation für
Steiner zweifellos Furcht einflößend war und im Moment nicht mehr zu erwarten war, zumal er unter dem Einfluss eines die gesamte Motorik lahm legenden Giftes stand. Sicherlich
nicht repräsentativ für seinen Normalzustand, dachte er. Hoffentlich hat er einen.
„So“, sagte er, „Du wirst Dich jetzt nicht mehr rühren. Und damit Du Dir nichts antust,
verpasse ich Dir auch noch diesen ganz speziellen Knebel.“ Und setzte seine Ankündigung
in die Tat um. Er schob Steiner irgendetwas Schlauchartiges zwischen die Zähne, wie das
Mundstück eines Tauchgerätes, nur fester. Es reichte auch tiefer in den Mund hinein, etwa
sieben Zentimeter, hielt ihn vielleicht zwei, drei Zentimeter offen und drückte Steiners
Zunge auf den Mundboden. Sandmann fixierte es mit einem ledernen oder ähnlichen Band
hinter seinem Kopf, sodass sein Gefangener es auch nicht mit der Zunge hinaus stoßen
konnte. Dann schob er ihm wieder den Schlauch, den er vorübergehend entfernt hatte, in
den Rachen. Danach machte er sich an Steiners Kopf zu schaffen. Mit verschiedenen gürtelartigen Lederbändern befestigte er ihn am Gestell, dessen Streben sich deutlich spürbar in
das Fleisch und den Skalp des Hinterkopfes drückten und ihm Unbehagen bereiteten.
Danach kam er mit einem Gegenstand, dem Steiner in einem Anflug wiederkehrenden Verständnisses ängstlich entgegenschaute, auf ihn zu: er sah aus wie eine Bratengabel mit nur
zwei Zinken. Allerdings waren diese Zinken um beinahe einhundertachtzig Grad, also uförmig nach innen gebogen, so dass sie aussahen wie Widerhaken. Am anderen Ende wies
diese Gabel eine Schlaufe auf. Die Zinken hängte er in Steiners Nasenlöcher ein, zog sie roh
nach oben, wodurch dessen Kopf, beinahe in den Nacken überstreckt, endgültig auf die
Unterlage gedrückt und seine Nase weit geöffnet wurde, und fixierte diese Gerätschaft über
seinem Kopf. „Du siehst jetzt aus wie ein Schwein“, murmelte er vor sich hin, dann verband
er ihm die Augen mit einem Ledergürtel. „Und nun schläfst Du erst mal.“
Irgendetwas gluckerte, etwas lief durch seine Speiseröhre, Steiner wurde müde und schwer.
Jeder Widerstand ist zwecklos, er hat mich in seiner Gewalt, er kann mit mir machen, was er
will, dachte er, hörte auch noch, wie Sandmann sich an irgendetwas in dem Raum zu
schaffen machte, irgendetwas klapperte und klackte, surrende und irgendwie plätschernde
oder gluckernde Geräusche, dann schien er ihn zu verlassen, und sein Bewusstsein schwand.
Sandmann hatte seine kleine Kamera, bei höchster Lichtempfindlichkeit, auf einem Stativ
aufgestellt, sie mit seinem Laptop verbunden und auf eine Aufnahme in der Minute eingestellt. Dann ging er über ein Handy online und stellte die Verbindung her zu einem
zweiten Handy, das er zum gegebenen Zeitpunkt mit dem Laptop in seinem Hotelzimmer
verbinden würde. So würde er in der nächsten Zeit nachprüfen können, was mit seinem Gefangenen geschah und vor allem, dass er nicht zu einem ungewünschten, ernsthaften Schaden kam.
106
Als Steiner wieder erwachte, brauchte er in seiner Benommenheit lange, bis er realisierte,
was ihm geschehen war, wie bei dem entsetzlichen Erwachen vor Jahren im Krankenhaus
nach dem Unfall. Angst kam auf. Inzwischen, in den letzten Jahren, gehörte das Aufwachen
regelmäßig zu den schlimmsten Ereignissen seines Lebens.
Er war blind, und sein Kopf schmerzte fürchterlich. Nein, nicht blind, seine Augen waren
verbunden. Irgendetwas verhinderte, dass er sich bewegen konnte. Er spürte ein
metallisches Beißen im Gesicht, nein, nicht im Gesicht, in der Nase. Sein Kopf saß fest, kein
Zentimeter Bewegung war möglich, sein rechter Arm ebenfalls. Wie auch sein ganzer
Körper. Wieder versuchte er, seinen Kopf zu bewegen, dabei verstärkte sich der Schmerz in
seiner Nase, und sein Mund und sein Rachen fühlten sich wund an. Den Rest konnte er
minimal bewegen, stieß aber schon nach wenigen Zentimetern auf Widerstand. Langsam
kam seine Erinnerung wieder, und die Angst steigerte sich. Ich sitze fest, dachte er, während
er Panik aufkommen spürte. Ich sitze verdammt noch mal fest. Wie komme ich hier weg?
Irgendwie war er in dem Café ohnmächtig geworden oder irgend etwas Vergleichbares. Er
hatte doch nicht das Bewusstsein verloren, die Bilder kamen langsam wieder: er war nur
schlagartig völlig schwach und war außer Stande gewesen, einen klaren Gedanken zu fassen.
Antonio Sandmann war wie durch einen bösen Zauber nach sechs Jahren urplötzlich wieder
aufgetaucht und über ihn gekommen, Sandmann, der ihn sowieso schon permanent begleitet hatte, wie ein Schatten, im Grunde seit dem Satz, den er im Gerichtssaal zu ihm gesagt hatte: „Sie werden mich nicht vergessen.“ Seine leise, ruhige Stimme hatte damals geklungen wie die Stimme eines Toten.
Und es hatte gestimmt, er hatte ihn nicht vergessen, nicht dieses Gesicht vergessen, dessen
hasserfüllte Augen er so gut verstehen konnte. Der Hass war ihm vorgekommen wie ein
verzerrtes Spiegelbild seiner eigenen Angst, und nur in wenigen, dann allerdings schon beinahe glücklichen Augenblicken hatte er diese abgrundtiefen Augen und den Satz vergessen,
aber er hatte diese Augenblicke in den letzten Jahren an den Fingern seiner Hände abzählen
können. Wann immer er sich der Augen und des Mannes dann wieder erinnerte, war es wie
ein böses Erwachen, wie ein Erschrecken gewesen. Und nun war dieser Mensch wieder in
seinem Leben aufgetaucht, gerade, als er dachte, er würde es am Ende doch noch einigermaßen zuverlässig in grundsätzlich gerade Bahnen bekommen. Er war wieder da, war also
eigentlich immer da gewesen, und Steiner wunderte sich, wie er so sorglos hatte sein
können, den Anderen zu vergessen. Wie hatte er bloß annehmen können, es sei nur der
schlimme Traum, der es ja doch nie war. Der Mann hatte ihn gewarnt und gefunden, er
hatte ihm aufgelauert wie ein Raubtier, und in einem seiner sorglosen und unachtsamen
Augenblicke hatte er pantherartig, leise und anscheinend vollkommen mühelos zugeschlagen. Mitten in der Stadt, unter Dutzenden von Menschen, ohne nennenswertes Aufsehen zu erregen. Das war an sich schon Angst einflößend. Und nun saß er in der Falle.
Er spürte einen deutlichen Harndrang und das fast unwiderstehliche Verlangen, eine
Zigarette zu rauchen. Wie lange bin ich schon hier, überlegte er, musste aber feststellen, dass
ihm das Zeitgefühl abhanden gekommen war. Was soll ich nur tun, fragte er sich. Dann ließ
er los und pinkelte an seinem Bein hinunter. Es war demütigend und warm, aber überraschend wurde ihm bewusst, dass die Wärme nicht ungewöhnlich deutlich war. Seine Umgebung war ebenfalls warm. Der Urin an seinem Bein kühlte nicht ab. Ach ja, Mai, dachte
er, mindestens fünfundzwanzig Grad, aber dafür ist es trotzdem zu warm hier. Er hatte den
Raum geheizt. Irgendwie war es ihm gelungen, ein perfektes Gefängnis vorzubereiten. Panik
breitete sich in ihm aus, als sei die Angst noch zu steigern. Himmel hilf, wo bin ich bloß?
Wieder ruckelte er an seinen Fesseln, musste aber zu seinem Schrecken feststellen, dass
Sandmann ihn vollständig fixiert hatte. Darüber hinaus wunderte er sich, dass er die Handschellen mit irgendwelchen weichen Stoffen oder Polstern ausgelegt hatte. Dann wurde ihm
klar, warum: damit er sich nicht das Leben nehmen konnte. Er hat für alles vorgesorgt. In
seiner Panik riss er unbändig an seiner Fixierung, es gab nicht einmal eine kleine Verletzung.
Nur sein Kopf und seine Nasenlöcher schmerzten enorm, aber nichts riss durch. Da war
107
einfach nicht genügend Bewegungsspielraum. Er schrie. Der Klang seiner Stimme war
schwach und gedämpft, als sei der Raum, in dem er sich befand, klein und dick abgepolstert,
und seine Stimme war durch den Knebel entstellt. Aber er konnte atmen. Er musste atmen.
Er erinnerte sich: irgendetwas hielt ihm den Mund offen, irgendeine ungewöhnliche Knebelkonstruktion. Und er erinnerte sich, dass er so etwas schon einmal am Lungenautomaten
eines Tauchers gesehen hatte.
Beruhige Dich, befahl er sich, sei vernünftig. Geh systematisch vor. Glied für Glied
probierte er Bewegungen aus, dabei stellte er fest, dass der Andere auch noch die Finger
seiner rechten Hand einzeln oder gemeinsam gefesselt hatte, er konnte es nicht genau feststellen. Alles fühlte sich fremd an. Das Verlangen nach einem tiefen Zug von irgendeiner
verdammten Zigarette wurde immer unerträglicher, er hatte fast schon Halluzinationen.
Seine Füße und Beine konnte er ein wenig bewegen, ein bisschen auf und ab, ein wenig zu
Seite, seinen linken Arm ebenfalls, seinen Kopf so gut wie gar nicht, höchstens zwei, drei
Zentimeter, den Rumpf hielten einige Bänder, oder was immer das sein mochte, in Position.
Und damit war Schluss. Mehr ging nicht. Nichts gab nach. Die Angst kam schon nach
wenigen Sekunden zurück wie eine Flutwelle. Er hatte mit Gefangenschaft keinerlei Erfahrung, er wusste nicht, was in Einzelhaft zu tun war. Manche spielen gegen sich selbst
Schach oder berechnen die Zahl Pi bis zu fünfundzwanzigsten Stelle hinter dem Komma.
Steiner war nur ausgeliefert an den Augenblick, und das ist natürlich die verheerendste
Lösung von allen, diejenige, unter der man am schnellsten vollständig die Kontrolle über
sich verliert. Er hatte nie davon gehört, dass man in einer solchen Situation nicht schreien
sollte, da man, wenn man einmal damit angefangen hat, erst wieder aufhören kann, wenn
sämtliche Kraft verbraucht ist. So verliert man seine Widerstandskraft und gewinnt nichts.
Steiner dagegen ließ alle Zügel schleifen.
Er schrie. Er schrie wieder. Er schrie sich die Lungen wund, aber es geschah nichts. Dann
hörte er auf. Dann wartete er. Nichts geschah. Zeit ging vorbei, aber sie schien stillzustehen.
Dann schrie er wieder. Er schrie und schrie. Es war ganz wie das Schreien der Großmutter
am Grab gewesen war, aus gleich tiefer Verzweiflung, nur war der Tod, den er beschrie, sein
eigener. Und er wartete. Wie lange bin ich schon bei Bewusstsein? Oder war ich überhaupt
bewusstlos? Ihm kam das unsicher vor. Wie kann man denn in so einer Situation schlafen?
Stuhldrang stellte sich ein. Und jetzt? Es gab kein Halten mehr, der Schließmuskel gab nach.
Es war ihm lieber, es so herum zu empfinden als dass er dem Schließmuskel nachgab.
Besser, ich unterstelle dem Scheißmuskel ein Eigenleben, dann ist er schuld und nicht ich.
Was war das gerade? Ich werde verhungern. Nein, vorher verdurste ich. Auch nicht. Aber
kann ich an dem Verlangen nach einer Zigarette, nach einer nur, eingehen?
Sein Mund war wund und ausgetrocknet, aber er stellte überrascht fest, dass er keinen Durst
hatte. Wieder versuchte er, sich zu bewegen. Er registrierte, dass irgendetwas an seinem
rechten Arm besonders merkwürdig war. Er dachte nach in seinem Nebel, mühte sich ab,
sich zu erinnern, es fühlte sich an, als habe er eine Kanüle in der rechten Armvene. Genaue
Aufmerksamkeit. Da ist was drin, dachte er. Ich werde nicht verdursten, jedenfalls nicht,
wenn er wiederkommt. Wann kommt er denn? Seit wann bin ich schon hier? Sucht man
mich schon? Dann fiel ihm mit Schrecken auf, dass er überhaupt nicht wusste, wer ihn
eigentlich suchen sollte, es wussten nur Signor Luca und seine Händler, dass er hier in
Venedig war, aber die hatten schon mit seiner Abreise gerechnet und würden bestimmt
nicht am Bahnhof stehen, um seine Abreise zu kontrollieren oder gar um ihm zu winken.
Der Kellner in dem Café, dachte er, der Kellner muss doch etwas gesehen haben. Hat er
auch, aber er hat nicht reagiert. Er hat nicht verstanden, was da vor seinen Augen geschah.
Sandmann hatte Steiner ja direkt vor einem Sturz abgefangen. Oder nein, die junge Frau, mit
der ich im Café saß. Dann erinnerte er sich, wie er, schon halb bewusstlos und völlig benommen, nein, halb gelähmt registriert hatte, dass Sandmann in freundlichem Ton mit den
Leuten gesprochen hatte, die junge Frau schien er sogar zu kennen. Er hat auch noch Verbündete. Aussichtslos. Niemand wird mich vermissen. Niemand wird mich suchen. Namen-
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loses Entsetzen packte ihn. Das Grauen. Das Grauen! Hilfe. Ich werde wahnsinnig. Und
unter dem Druck solcher Gedanken wurde sein Hirn wieder frei wie die Nase eines Verschnupften, wenn der Stress die Schleimhäute abschwellen lässt.
Der kommt nicht wieder, dachte Steiner. Der soll wiederkommen, ich werde mit ihm reden,
ich werde ihm Geld anbieten. Aber welches denn? Außerdem will der bestimmt gar kein
Geld. Ich bin keine Geisel, dachte er. Der will mich nicht eintauschen gegen irgendetwas,
schon gar nicht gegen Geld. Was kann ich ihm sagen? Was kann ich ihm anbieten? Mich.
Aber er hat mich schon. Mein Gott, wer hilft mir! Was, was kann ich ihm als Tauschgeschäft anbieten?
Er hatte schon sehr früh in seinem Martyrium das anhaltende Gefühl, etwas lebenswichtig
Wesentliches vergessen zu haben. Gleich komme ich drauf, dachte er immer wieder,
während die reale Welt ihm mehr und mehr entglitt. Wenn ich nur erst mit ihm reden kann,
dann werde ich ihn schon überzeugen! Ich werde um Gnade flehen, irgendwie werde ich ihn
überzeugen. Was soll ich bloß sagen? Und ihm wurde bewusst, wie zielstrebig und effektiv
der Andere vorgegangen war, alles war vorbereitet. Der hat kein Interesse an Gnade, der hat
keine Gnade. Warum auch? Ich bin lebendig begraben. Ich werde hier sterben. Nein, auch
nicht, alles deutet in eine ganz andere Richtung: der hält mich am Leben, er will mich nicht
sterben lassen. Der hat irgendetwas mit mir vor. Aber was? Und als er anfing, sich auszumalen, was das wohl sein könnte, wurde sein Zustand noch schlimmer.
Schicht um Schicht häufte sich die Ausweglosigkeit seiner Situation auf seinen Geist.
Zwischendurch schrie er ein wenig, dann taten ihm der Hals, der Rachen und die Lungen
weh, seine Stimmbänder waren vom Kreischen lädiert, außerdem hatte er einen Schlauch im
Hals. Und immer wieder schlug die Sucht zu. Schicht um Schicht legte sich das Grauen um
seinen Verstand, und gerade, als er dachte, schlimmer könnte es nicht kommen, wurde es
noch einmal noch schlimmer, nur dieses Mal wusste er nicht einmal mehr, wodurch. Ebbe
und Flut des Entsetzens kamen und gingen nach eigenen, furchtbaren Monden.
Er wird nicht kommen. Doch, er wird kommen, und dann wird alles noch schlimmer
werden. Der ist Arzt, dachte er in seinem wilden Irrsinn und meinte, sich deutlich daran
erinnern zu können, aber er traute sich selbst nicht mehr recht. Oder bilde ich mir das ein?
Der muss mir doch helfen. Das wird er nicht. Der ist Arzt. Der kennt sich aus. Der kann
doch so etwas nicht machen. Andererseits, der weiß, was er tut. Ich werde nicht verbluten.
Ich werde nicht verbluten! Mein Gott. Was wird er mit mir tun? Ich habe keine Chance, ihm
zu entkommen. Ich bin völlig in seiner Gewalt, und der ist mir nicht wohl gesonnen.
Er registrierte nicht mehr, dass er nun schon ununterbrochen schrie und kreischte, wie ein
Vieh schreit, das vor der Schlachtbank steht und zum ersten und zugleich letzten Mal in
seinem Leben den Tod sieht, und es ist der Tod seiner Mitwesen, und es ist sein eigener
Tod, aber der Tod hört nicht auf, denn alle schreien laut in ihrem Wahnsinn voller Angst,
die sich so potenziert und ausbreitet bis in die hinteren Reihen. Seine Kehle schmerzte
immer mehr. Er nässte und kotete sich wiederholt ein, er hatte den Überblick verloren. Er
hatte natürlich, vollkommen unerfahren und unvorbereitet, nicht daran gedacht, seine Urinabgänge zu zählen, um so wenigstens annähernd ein Verhältnis zur Zeit zu erhalten; aber
wer denkt schon an so etwas in einer Katastrophe von lawinenartiger Gewalt. Dann verlor
Steiner erneut das Bewusstsein für Sekunden oder Stunden. Dann kam er zu Bewusstsein
und schrie weiter. Töte mich, schrie er, lass mich frei, wo bist Du! Du Schwein, lass mich
los! So ging das drei Tage lang. Steiner lebte und lebte, weder Hunger noch Durst stellten
sich ein, aber er wünschte sich den Tod, immer wieder wünschte er sich die Erlösung. Es
sollte vorbei sein. Es gab keine Bewegung mehr. An ihrem schlimmsten Abgrund war seine
Welt zum Stillstand gekommen und bewegte sich nicht mehr.
109
Letzte Kontakte
Er
Sandmann ging zurück in sein Hotel. Ein neuer Portier stand hinter dem Empfangstresen.
Sie kannten sich nicht vom Sehen, und ihm war das recht, so konnte es auch nicht auffallen,
wenn er angespannter aussah als sonst oder sich zumindest so fühlte. Er musste ausnahmsweise seine Zimmernummer nennen, bevor er den Schlüssel ausgehändigt bekam. Er ging
schnell in sein Zimmer.
Er wollte für eine unbestimmte Zeit allein sein und die Spannung von sich abfallen lassen.
Er wusste, dass die seelische Anspannung, unter der er stand, ihn unkonzentriert und damit
gefährlich besinnungslos machte. Er wartete, bis die Adrenalinwellen, die durch seinen
Körper fluteten, langsam abklangen und sich ein gewisser Gleichmut wieder eingestellt
hatte. Dann legte er sein Wakizashi zurück zu seinem wenigen Reisegepäck, das in eine
kleine Reisetasche passte. Er würde es von nun an gar nicht mehr brauchen. Tatsächlich
hätte er es ganz in Deutschland lassen können. Andererseits, wer das nicht kennt, weiß
nicht, welche Kraft und Sicherheit von einer derart gefährlichen Waffe ausgehen kann, wenn
sie sich in der Hand eines erfahrenen Kämpfers befindet: wenn er in seinen Rhythmus gelangt, ist er unbesiegbar, zumal der eigene Tod bedeutungslos wird; stürbe er, er täte es im
Strom der Bewegung. Eine Waffe, die einen Gegner mit einem Schlag töten kann, die ihn,
wenn sie gut geschärft ist, verletzen kann, ohne dass der Gegner selbst es merkt. Wie der
Schnitt einer Rasierklinge. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass seine Waffe ihm Kraft gab:
wenn er die Hände um den Griff seines Katana, seines Kampfschwertes schloss, dann
schloss sich auch ein Kreis in ihm.
Ich habe ihn, dachte er. Nach all den Jahren habe ich ihn. Und es war so einfach gewesen.
Vollkommen problemlos. Er hatte mit mehr Schwierigkeiten, mit viel mehr Widerstand gerechnet und einer ganzen Reihe von Unwägbarkeiten noch dazu. Ich habe ihn tatsächlich
einfach von seinem Tisch abgenommen, dachte er. Ganz wie geplant, wie einen reifen
Apfel, dessen Zeit gekommen war. Das ist doch lächerlich.
Was jetzt, fragte er sich kurz.
Diese Frage bedeutete nun nicht, dass er ratlos war. Er hatte sich unterschiedliche Szenarien
zurechtgelegt. Den Ablauf dieser verschiedenen Möglichkeiten wollte er mit dem Verhalten
seines Opfers abstimmen. Sein Plan war es nicht gewesen, Steiner einzufangen und ihn einer
vorab festgelegten Reihenfolge von Behandlungen zu unterziehen. Es war auch nicht seine
Absicht, ihm eine Möglichkeit zum Entkommen zu geben oder sie endgültig von vornherein
zu verstellen. Er sollte allerdings sein Schicksal soweit bestimmen können, dass sein
jeweiliger Zustand die nächsten Schritte mit bestimmte. Zunächst würde er einfach nur
warten und schauen, was geschah. Es ging ihm nicht ums Töten. Er wollte die Begegnung,
hatte sie erzwingen müssen. Er wollte wissen, was der andere zu sagen hatte. Er wollte
wissen, welche Alternativen es gab, mit einer Katastrophe wie ihrer umzugehen. Gab es
keine, konnte er sterben.
Sandmann schaltete seinen Laptop an, stellte die Netzverbindung zu seiner Videokamera im
Kerker her, registrierte befriedigt, dass es wie gewünscht funktionierte und stellte fest, dass
Steiner fixiert in seiner Fesselung hing und kleine Bewegungsversuche machte. Bei der eingestellten Aufnahmegeschwindigkeit von einem Bild pro Minute machte sich das durch
winzig kleine Haltungsänderungen seines Gefangenen bemerkbar. Danach schaltete er die
Verbindung wieder aus. Er konnte sich nicht an den Bildern ergötzen, das war es auch nicht,
was er gewollt hatte. Er wollte nur die Kontrolle über die Situation behalten und die
Möglichkeit haben, auf Eventualitäten zu reagieren.
Dann dachte er daran, die verbliebenen Angelegenheiten zu regeln. Es kostete ihn Kraft,
sich aufzuraffen. Er fühlte sich erschöpft wie nach einem Marathonlauf. Als erstes wählte er
110
auf seinem Handy die Telefonnummer von Prosperina. Als sie sich meldete, sagte er einfach
nur: „Ich bin es.“
„Ja.“ Erwartungsvolle und trotz der Ankündigung etwas überraschte Pause. Durchatmen.
„Wie geht es Ihrem Freund?“
„Er hatte einen kleinen epileptischen Anfall, eine bei Erwachsenen seltene Form von Epilepsie. In dieser Art kommt sie normalerweise überwiegend bei Kindern vor. Aber ich habe
ihn gut versorgt. Ich habe ihn zum Ospedale Civile gebracht, zum Hospital, man hat ihm
ein paar leichte Medikamente gegeben, und jetzt ist er auf seinem vorzeitigen Weg heim. Er
hat es im Grunde nur versäumt, seine eigenen Medikamente zu nehmen. Hätte er das getan,
dann wäre es gar nicht dazu gekommen.“ Sandmann hatte diese kleine Geschichte vorbereitet.
„Na, dann ist es ja gut. Und was soll nun weiter werden? Ich habe meinen Auftrag nicht
erfüllt. Wann und wie kann ich Ihnen Ihr Geld wiedergeben?“ Sie wollte ihm nicht direkt
auf den Kopf zu sagen, dass sie im Grunde froh war, dass es so gekommen war. Es war
merkwürdig: seit sie ihn kennen gelernt hatte, empfand sie ihren Beruf als Fehlentscheidung.
Sie hatte zum ersten Male das Gefühl, einen Mann zu betrügen, und das als Prostituierte, als
Callgirl, und obwohl es keinerlei Verabredung zwischen ihnen gab. Völlig absurd. Und dann
noch mit seinem Freund? Kein guter Einstand. Sie war erheblich erleichtert darüber, wie
alles gekommen war.
„Nun, ich sehe das anders. Es ist nicht Ihre Schuld, dass es nicht geklappt hat. Soweit ich
das beurteilen kann, haben Sie ihr Möglichstes getan. Gregor hat ja nicht einmal geahnt, dass
Sie in meinem Auftrag kamen. Ich finde, Sie waren sehr gut. Insofern vergessen wir das
Thema.“
„Ich fühle mich nicht wohl dabei. Ich pflege so etwas nicht zu machen. Ich möchte nicht
bezahlt werden für etwas, was ich nicht geleistet habe.“ Außerdem will ich dich unbedingt
wieder sehen, dachte sie ihren letzten Worten hinterher.
Du hast deinen Auftrag doch erfüllt, dachte Sandmann seinen nächsten Worten voraus, aber
natürlich konnte er ihr das nicht sagen. Er begann zu ahnen, woher Prosperina ihren guten
Ruf hatte, von dem er durch seinen Bekannten aus München gehört hatte. Tja, was mache
ich jetzt, fragte er sich. Ich bin wahrhaftig nicht in der Verfassung, mit ihr zu streiten,
ebenso wenig, wie ich sie jetzt um mich herum gebrauchen kann. Andererseits...
Während er noch die verschiedenen Möglichkeiten erwog, hörte er sich beinahe von selbst
weiter sprechen. „Nun gut, dann schenken Sie den angefangenen Tag, für den ich Sie bezahlt habe, mir. Sie zeigen mir Ihr persönliches Venedig. Auf Ihre Kosten“, fügte er mit erschöpft lächelndem Unterton hinzu, und bevor er noch überlegen konnte, ob er es bedauern
sollte, dass er sich so weit eingelassen hatte, sagte sie schon schnell, als ahnte sie seine Vorbehalte:
„Einverstanden. Aber unter einer Bedingung.“
„Ja?“
„Wenn ich Ihnen Venedig zeigen soll, wie ich es kennen gelernt habe, dann geben Sie mir
einen ganzen Tag dafür, und Sie nennen mich bei meinem wahren Namen. Bitte.“
„Gut.“ Kurzes Nachdenken. „Aber dann machen wir das ganz anders: ich bin nun doch
länger hier in der Stadt, vielleicht sogar für sehr lange. Ich muss jetzt meine Angelegenheiten
regeln und weiß nicht, wie lange das noch dauern wird. Wenn das erledigt ist, dann sage ich
Ihnen Bescheid, dann komme ich zu Ihnen und werde ich Sie, Chiara, bestimmt einen Tag
lang begleiten, dann habe ich alle Zeit, die ich haben will.“
Und wenn nicht, dann bin ich tot und es macht nichts mehr aus, dass ich mein Wort nicht
halten kann, dachte er, und er registrierte, wie viel Unausgesprochenes da war.
111
Sie
Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, ging ihr das Herz auf. Sie sang ein bisschen vor
sich hin, ging in ihrer Wohnung hierhin und dorthin, war etwas aufgeregt, fühlte sich konfus
wie ein Teenager, der gleich seinen Lieblingsstar im Hotel trifft und noch irgend etwas zu
erledigen hat, aber vergessen hatte, was es war. Sie fragte sich, wem sie schreiben konnte
und vergaß es wieder, sie beschloss Blumen zu kaufen für ihre Wohnung, sie schaltete dann
den Anrufbeantworter ein, der sie als vorübergehend nicht anwesend meldete und sie werde
sich melden. Sie wusste nicht, ob sie sich melden würde, wie ihr Anrufbeantworter es versprach. Dann ging sie in ihr Wohnzimmer und machte dort den Fernseher an. Aber sie sah
nichts von dem, was dort lief. Statt dessen sah sie zum Fenster hinaus und zwang sich zur
Ruhe. Und begann gleich wieder, ruhelos in ihrer Wohnung herumzuflattern.
Ich werde ihn für mich gewinnen, dachte sie. Ich muss es klug anfangen, dann kann ich das.
Nimm dich zusammen, denk über das nach, was du über ihn weißt und was du gelernt hast,
dann hast du Erfolg. Denk nach! Das ist der Mann, für den es sich lohnt, alles aufzuwenden,
was du weißt und kannst. Für den du im Grunde gelernt hast. Und plötzlich kam ihr ihre
Erfahrung gegenstandslos vor. Welche denn, fragte sie sich, mit so einem habe ich ja gar
keine Erfahrung.
Die Furcht überkam sie, dass dieser eine Mann der eine sei, den sie nicht beeinflussen
konnte; der sie bezaubert hatte und bei dem ihr all ihre weiblichen uns professionellen
Tricks nicht halfen. Dann war es ihr klar: bei diesem Mann nicht. Nicht bei diesem.
Als sie dann diese Gedanken zu Ende gedacht hatte, wurde ihr als nächstes bewusst, dass sie
nur warten konnte. Er ist es. Dieser eine. Und der reagierte nicht auf Tricks, den konnte sie
nicht manipulieren. Offensichtlich war das sogar eine der Voraussetzungen dafür, dass er so
intensiv auf sie wirkte. Er kam zu ihr oder er kam nicht. Alle anderen Männer in ihrem
Leben hatte sie nach ihrem Gutdünken manipulieren können, da sie wusste, auf welchem
Instrument sie spielen musste, um sie jeweils tanzen zu lassen. Auf dieser Grundlage war es
ihr nie gelungen, einen von den Männern, ihren Kunden und auch Freunden ganz ernst zu
nehmen. Antonio Sandmann dagegen schien sich nach ganz eigener Weise durch sein Leben
zu bewegen, nach einem Rhythmus, den sie nicht kannte, der ihr nicht vertraut war, dessen
Grundstruktur sie nicht einmal erahnte. Ihr bisheriges Wissen half ihr da nicht mehr weiter.
Sie spürte, dass die nächsten Tage eine Qual werden würden: es gab nichts was sie tun
konnte, um seine Entscheidung oder sein Handeln zu beschleunigen. Sie war zur Untätigkeit
verdammt, und das in ihrem Zustand! Ihr wurde ungeduldig ums hochfliegende Herz.
Und sie wusste, egal, wie zerschlagen sie ihn vorfand, und wenn sie ihn eines Morgens auf
der Krankentrage in ihre Wohnung bringen würden, den würde sie zu sich nehmen. Und
dann sah er auch noch gut aus... Ach je.
le Chat Noir
Sandmann wählte als nächstes die Nummer seines Onkels.
„Pronto?“
„Ich bin’s.“
„Antonio!“
„Es ist so weit. Ich habe ihn.“
112
„Und, bist du in Ordnung?“
„Ja, natürlich.“
„Ist es reibungslos gelaufen?“
„Ich konnte gar nicht glauben, wie glatt das alles ging. Ich dachte schon, das ist ein Witz,
den sich, ich weiß nicht wer, ausgedacht hat. Hattest du deine Hände im Spiel?“
„Aber nein. Ich wusste doch gar nichts über deine konkreten Pläne. Hat es Aufsehen gegeben?“
„Nein, kein Mensch hat etwas gemerkt.“
„Sicher nicht?“
„So weit ich weiß, nicht, es hat sich jedenfalls niemand anderweitig geäußert oder gar beschwert.“
„Beschwert. Das ist gut. Brauchst du Hilfe?“
„Nein. Ich habe die Dinge im Griff.“
„Wollen wir wissen, was jetzt als nächstes mit ihm geschieht?“
„Nein, das wollt Ihr nicht wissen.“
„Sag es mir trotzdem.“
„Ich werde mit ihm Abrechnung halten. Mehr weiß ich auch noch nicht.“
„Gut. Also ich wüsste es zwar schon gerne, aber es soll gut sein. Danke übrigens, dass du
anrufst. Ich werde allen in der Familie sagen, dass es dir gut geht und dass die Dinge ihren
Gang gehen. Meine Leute haben sich schon zu lange und zu oft Sorgen gemacht um dich.
Wenn du Hilfe brauchst, lässt du es mich wissen, einverstanden? Und komm bitte bei uns
vorbei. Du weißt, dass wir deine Familie sind, nicht wahr?“
„Ich weiß es.“
Sie verabschiedeten sich voneinander.
Endlich allein mit seinem Triumph.
Auf seinem Hotelbett ausgestreckt, den Blick an die Decke gerichtet, hörte Antonio Sandmann seinem Herzschlag zu. Was wir normalerweise nicht wahrnehmen, in Situationen ungewöhnlicher Anspannung wird es vernehmbar: die Stille der Welt, das Schlagen des
Herzens, das Vergehen der Sekunden. So lag er da, starrte an die Decke und fühlte sich sonderbar leer.
Er war ein immer noch ein erheblich unruhig und nicht in der Stimmung, einfach hier liegen
zu bleiben. Er hatte nichts Konkretes mehr zu tun. Er stand auf und verließ sein Hotel. Es
war spät, dunkel und immer noch warm. Er ging ein wenig durch die fast menschenleeren
Gassen der Stadt. Hier und da begegnete er noch einigen fliegenden Händlern, die Imitate
von Markentaschen mit ihren Signets und teuren Tüchern mit den typischen Mustern an die
Touristen verkaufen wollten. Er nahm eine Kleinigkeit zu Essen zu sich, ohne besonders
darauf zu achten, was er aß. Dann wechselte er das Lokal, ging in eine kleine Bar, in der
überwiegend Italiener standen, um einen Kaffee zu trinken.
Er stand am Tresen, mit der Tasse in der Hand schaute er durch das Fenster ins Dunkel
hinaus. Nebenbei drangen wie von Ferne die Stimmen der anderen Gäste an sein Ohr, er
hörte nicht zu. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er sich selbst im Fenster sah. Seit geraumer Zeit schon. Er hatte sich nicht erkannt. Er hatte sich angesehen wie einen Unbekannten. Der, den er sah, war kleiner als er sich in Erinnerung hatte, um eine Last erleichtert, nicht mehr bemüht, sich gegen die Last zu wehren. Nicht bekannt, nicht vertraut.
Es fühlte sich an wie ein Fremder im eigenen Körper.
113
Er wanderte nach dem Kaffee auf dem Weg zu seinem Hotel einige kleine Umwege durch
die stillen, engen Gassen, um die Zeit zu strecken. Er war immer noch von einer inneren
Vibration und Unruhe bewegt. Der Kaffee hatte das Gefühl natürlich nicht besser gemacht.
Brücken kreuzten seinen Weg, das Geräusch und der Hall seiner Schritte kamen ihm vor, als
würde er von einem um Bruchteile verschobenen Schatten begleitet. Die Geräusche der
Nacht sind in Venedig von besonderer Natur. Sie klingen seltsam unkörperlich, wie fallende
Tropfen in einer Höhle, und auf diese Weise reduziert, verwandelt sich das Bewusstsein und
verliert das Wissen von sich selbst. Es rückt in eine Gegenwart, die unwirklicher ist als die
des Tages und ihr zugleich näher. In diesem Augenblick scheint alles möglich, die Welt ist
wie verzaubert. Wir gelangen in einen Zustand, der dem Traume ähnelt, ohne seine Bewegungslosigkeit. Wie der Schatten den Körper begleitet der körperlose Hall jedes Geräusch, das unsere ganz körperlichen Füße auf den Stufen der Brücken verursachen. Er erschafft eine zweite Welt, die neben der wirklichen zu liegen scheint, um einen Sekundenbruchteil versetzt. Sie folgt uns nach, einen halben Augenblick später. Sie ist da und, obwohl
mit der unseren untrennbar verwoben, doch nicht da. Die Zeit fängt an zu schwanken; da
die Festigkeit des Raumes in der Dunkelheit nachlässt, wird auch die Zeit unbestimmbar
und der Körper verliert an Bedeutung. Sekunden und Minuten sind nicht mehr zu unterscheiden. Dieser ganz schwerelose, unwirklich scheinende Augenblick ohne feste Konturen
erschien Sandmann von unsagbarer Süße; hier und so hätte er bleiben mögen. Es fing an zu
nieseln, ganz sanft und leise. Gerade noch vernehmbar auf dem Fußweg. So sanft wie der
Tod.
Es dauerte eine Weile, bis Sandmann begriff, dass das Geräusch, das er hörte, der gemeinsamen, der wirklichen Welt entstammte. Es klang wie das Schreien eines sehr kleinen
Kindes, das irgend jemand ausgesetzt hatte. Das Rufen wiederholte sich, es klang kläglich.
Er dachte, er hätte sich verhört, und erst nach dem sechsten oder siebten Schreien erkannte
er, dass es das Rufen einer Katze war. Er suchte seine Umgebung nach der Quelle dieser
Töne ab. Nichts um ihn herum als die Nacht. Ein Kanal in unmittelbarer Nähe, einige
Gondeln waren hier vertäut, er sah ihre Spiegelung im schwachen, nächtlichen Leuchten des
Wassers. Zwischen zwei Gondeln befand sich ein Abstand von Wasser, vielleicht ein halber
Meter, und auf der äußeren Gondeln sah er die Katze sitzen, ihr Fell glitzerte wie von
Glühwürmchen von Feuchtigkeit des unendlich leise fallenden Nieselregens. Sie saß dort
und rief, es war nicht zu erkennen, ob sie irgend etwas meinte. Er ging näher heran. Dort
saß die Katze und hatte offenbar das Gefühl, gefangen zu sein auf der Insel dort draußen
weit im Wasser.
Als er zu ihr hinschaute, sah er ihre Augen, die den seinen begegneten. Sie reflektierten eine
unsichtbare Lichtquelle. Ja, sie meinte etwas, sie meinte ihn. Nicht im Besonderen, sondern
ganz allgemein. Mit zwei, drei behutsamen Lauten näherte er sich der Katze. Er stieg die
zwei Stufen hinunter zum Einstieg und auf die dem Ufer anliegende Gondel, die Katze erhob sich mit einem kleinen Geräusch und kam auf ihn zu. Als er seine Hand nach ihr ausstreckte, lehnte sie sich dagegen, strich an ihr entlang. Er nahm sie hoch, und wie zwei
Dinge ineinander gleiten, kam sie in seine Hand. Er hob die Katze auf und stellte sie am
Ufer auf den Boden. Mit erhobenem Schwanz schnurrte sie ihm einen sprachlosen Gruß zu
und ging davon. An der nächsten Ecke schaute sie sich kurz nach ihm um, dann war sie verschwunden.
Als hätte sie all seine innere Spannung mit sich genommen, wurde er schlagartig müde.
Sandmann ging in sein Hotelzimmer zurück, legte sich ins Bett und schlief ein.
Die nächsten beiden Tage verliefen ereignislos und monoton. Aufstehen, Essen, einige
Übungen machen, um körperlich in Form zu bleiben, durch die Stadt streifen, er traf
niemanden mehr und rief niemanden mehr an. Sandmann dachte an nichts Konkretes, verfolgte keine bestimmten Pläne mehr. Es war jetzt die Zeit, abzuwarten und Steiner sich
selbst zu überlassen.
114
Er fühlte sich wie ein Wirbelsturm, der scheinbar zur Ruhe gekommen war, allerdings im
Auge des Zyklons, was nur bedeutete, dass es bald mit der gleichen zerstörerischen Kraft in
entgegengesetzter Richtung losging: erst gab es die Schläge an die rechte Seite, und wenn
man, halb totgeschlagen, glaubt, nun sei es aber gut, holte die Sturmwand aus, die linke Seite
zu zerschlagen.
Am dritten Tag setzte er sich in einem stillen Winkel der Stadt in ein unbekanntes Restaurant, um in Ruhe zu essen und zu trinken und seine Erinnerungen an das Daitokuji
durchzugehen, so wie man alte Fotoalben durchblätterte. Als der auf sein Essen wartete,
erinnerte er sich an das Gesicht von Shokojin Riyoshi.
Es war ein auf den ersten Blick einfaches Gesicht gewesen, und nur in seltenen Momenten
intensiver Begegnung wurden seine Augen nach außen hin wach, aufmerksam und durchdringend. Shokojin Riyoshi hatte die Fähigkeit, über lange Zeit unbeteiligt und wie desinteressiert zu wirken. Oft waren seine Lider halb geschlossen, als sei er in permanenter
Meditation versunken, aber das täuschte. Seine Beobachtungsgabe war außergewöhnlich,
und seine Fähigkeit, aus dem Beobachteten die treffenden Schlüsse zu ziehen, nahezu ungeheuerlich. Es dauerte sehr lange, bis Sandmann anfing, zu begreifen, dass diese gelassene
Erscheinung Ausdruck war des Gleichmutes, den Shokojin Riyoshi mit seinen langjährigen
Übungen erreicht hatte.
Er wirkte darüber hinaus wie ein Mensch, der keinerlei Humor hatte, über Witze nicht
lachte und dem jede Lächerlichkeit fremd war, und erst, als er Sandmann bei einem kleinen
Fest zur Kirschblüte im Kloster vom Gegenteil überzeugte, erst, als Sandmann erlebte, wie
sich sein Lehrer mit Gästen, die zur Feier des Tages gekommen waren, über irgend eine
kleine Bemerkung schier ausschütten wollte vor Lachen, war er bereit, auch an diese Seite
seiner überwältigenden Persönlichkeit zu glauben. Anders als erwartet war Shokojin Riyoshi
ein ausgesprochen humorfreudiger Mensch, er ließ es nur selten erkennen und sah wohl
auch selten Anlass zum Lachen.
Er war eher zierlich gebaut, aber er hatte einen zähen, widerstandsfähigen Körper und feste
Haut, von den Jahrzehnten des einfachen Lebens wie gegerbt. Seine Bewegungen waren
sparsam und anscheinend mühelos, von seinen knapp siebzig Lebensjahren war ihm nichts
anzumerken, und Sandmann ging eigentlich stillschweigend davon aus, dass sein Lehrer
mindestens hundert Jahre alt werden würde. Er neigte nicht zum Gestikulieren. Wenn er
sprach, behielt er seine Hände bei sich, nur manchmal machte er eine kleine Bewegung. Und
wenn er sprach, dann sagte er Dinge, die Sandmann nahezu wörtlich in Erinnerung behalten
hatte. Selten hatte er das Gefühl gehabt, dass ein Mensch so speziell zu ihm gesprochen
hatte, vielleicht einige Male seine Mutter, als er noch klein gewesen war, danach aber nicht
mehr.
Vieles von dem, was Shokojin Riyoshi zu Sandmann gesagt hatte, in einfachem Englisch,
verstand er erst sehr viel später, manches hatte er bis heute nicht verstanden. Der Hinweis,
er werde seinen Gegner finden, und er werde anders aussehen, als er sich das gedacht habe,
hatte er natürlich verstanden und dabei auch an sich selbst gedacht, aber er hatte nicht wirklich gewusst, was damit gemeint war.
Jetzt, das spürte er deutlich, war er dem zentralen Geheimnis von Shokojin Riyoshis an ihn
gerichteten Worten auf der Spur. Sein Gegner war in unmittelbarer Nähe. Zum Greifen nah.
Begegnungen
Steiner
Steiner hörte das Klappern einer Tür.
115
Jetzt, dachte er, jetzt ist meine Gelegenheit. Jetzt werde ich ihm all das sagen, was ich, ja was
eigentlich... Jetzt!, schrie er fast innerlich wie in hellster Aufregung, er wusste aber nicht, was
er meinte. Er konnte sich nicht mehr erinnern, ob er sich etwas überlegt oder vorgenommen
hatte. Diffus kam es ihm so vor, als habe er sich etwas vorgenommen, aber er war sich nicht
mehr sicher, die Situation und seine qualvolle Haltung, die alles überlagernde Bewegungslosigkeit und die Angst machte das Nachdenken schwierig und das Erinnern noch viel
schwieriger. Das war ja furchtbar, jetzt wo es darauf ankam. Die Gedanken entglitten ihm
wie Aale, er konnte sie nicht halten, die Worte verschwanden in einer konturlosen Nische
seines konturlosen Gehirns, er fand sie nicht wieder. Und dabei war ihm klar, dass jetzt
irgend etwas Entscheidendes geschehen musste, jetzt musste er seinen Kerkermeister überzeugen, sonst würde er selbst hier draufgehen und verrotten. Wenn er ihn zu Wort kommen
ließ. Wenn er überhaupt mit ihm zu sprechen bereit war. Aber die Antwort auf diese Frage
kam sogleich.
Sandmann entfernte die Augenbinde und nahm den Knebel aus Steiners Mund, dann setzte
er sich ihm gegenüber, verschränkte die Arme und sah ihn mit leicht schräg gehaltenem
Kopf abwartend an. Steiner krächzte ein bisschen herum, um seine Stimme wieder unter
Kontrolle zu bekommen, dann sprach er. Er hatte tatsächlich alles vergessen, er wusste
nicht einmal, ob er sich überhaupt etwas überlegt hatte.
„Lass mich frei.“
„Nein.“
„Was du mit mir tust, ist illegal.“
„Ich weiß.“
„Ich verrate dich nicht, wenn du mich jetzt freilässt.“
„An wen willst du mich denn um Himmels Willen nicht verraten? Sag doch so was nicht. Ist
dir denn nicht klar, wie egal mir das ist?“
„Du verfluchter Schweinehund.“
„Ja.“ Sandmann wartete, dass Steiner mit ihm sprechen würde. Er ließ ihm die Zeit, die er
brauchte, um sich in seiner Situation zu sammeln. „Ich hatte dir vor sechs Jahren angekündigt, dass wir uns wieder sehen. Du warst gewarnt.“
„Was hätte ich denn tun können?“
„Sterben.“
„Gib mir bitte, bitte eine Zigarette.“ Keine Antwort.
Er stand dem Phänomen Gregor Steiner, so wie er es in der kurzen Zeit erlebt hatte, noch
ratlos gegenüber. Jahre hatte Sandmann darauf verwandt, seine Unbändigkeit, den persönlichen Tod seiner Familie und seine Wut zu disziplinieren, mit den Ereignissen umzugehen
und fertig zu werden, Steiner hingegen schien die Jahre mit nichts verbracht zu haben. Er
hatte versucht, irgendwie weiterzumachen mit dem, was er getan hatte. Damit, irgendwie
über die Runden zu kommen. Dabei schien er sich seinen inneren Zuständen völlig ergeben
zu haben, schien dahin zu treiben ohne jegliche Reflexion, ohne jeden Gedanken. Wie
Herbstlaub im Wind. Und wieder fing Steiner an:
„Können wir nicht noch einmal über alles sprechen?“
„Ja. Das tun wir gerade, deshalb bin ich hier. Ich warte. Wir haben Zeit.“
„Hilf mir. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
„Das war doch vorauszusehen. Lass dir nur Zeit, du bist erschöpft und verängstigt. Du
musst dich zusammenreißen. Nimm dich jetzt zusammen.“
116
„Ich weiß doch nichts. Gnade. Mach mich los.“ Steiner war kurz davor, zu weinen. Es erschien ihm vollkommen unglaublich und war im ganz unbegreiflich, dass er nichts an seiner
Situation ändern konnte.
„Das kann ich nicht tun,“antwortete Sandmann. „Außerdem kann es nicht sein, dass du
nichts weißt. Du hattest sechs Jahre Zeit.“
Sandmann wartete. Zehn Minuten, eine halbe Stunde, eine Stunde, er wartete, während
Steiner vor sich hin greinte, bettelte, ihn verfluchte und zwischendurch Unverständliches
murmelte, als habe er Wahnvorstellungen. Sandmann sah seinem Gefangenen in die Augen
und sah wieder weg, er hoffte, dass sich ein Funke zeigte, irgendetwas, das seinen Verlust,
den Anschlag auf sein Leben erklären, rechtfertigen würde, er wartete, als warte er auf das
verkündete Eintreten eines Wunders von Nostradamus zum Jahrtausendwechsel.
Irgendetwas, das Stellung bezog zu dem vielfachen Tod in Sandmanns Leben. Er wusste
zwar nicht konkret, was er von Steiner erwartete, wusste aber, er würde es erkennen, wenn
er es hörte oder sah. Etwas, was in der Richtung einer letzten Begegnung ging. Es blieb aus.
Nichts kam. Es war wie in noch jedem Jahrhundert und Jahrtausend und immer wieder. Der
Augenblick verstrich und nichts hatte sich verändert.
Steiner drohte, fluchte, zerrte an seinen Fesseln, versuchte es mir Engelszungen und bat um
Gnade. Sandmann stellte fest, dass Steiner nichts zu sagen hatte. Dass das Geschehene
fürchterlich war und bedauerlich, war klar gewesen, dass es ihm Leid tat, auch, aber mehr
war da nicht. Steiner versuchte, sich herauszureden, wie immer hatten die Anderen Schuld,
er versicherte sein Bedauern, er verfluchte ihn wieder. Ratlosigkeit.
Sandmann fragte sich, was er in Steiners Situation gesagt hätte, und er wusste, dass er vor
einem existenziellen Problem stand, das mit einigen Worte nicht zu klären war. Steiner bot
nichts, er winselte nur. Sandmann fragte sich, ob sich denn der schlampige Jammer immer
nur gehen lassen konnte. Es war für ihn unverständlich, unglaubhaft. Das musste ein Trick
sein, den Steiner versuchte. Hier stand ein Mensch mit dem Rücken an der Wand, er musste
doch den Tod fürchten, die Situation sah sicherlich nicht wie ein Spiel aus; das musste dem
Anderen doch klar sein, dass dies hier ernst war. Und er brachte nur Gestammel vor wie in
einer dieser unsäglich hirnlosen, täglichen Talkshows, kein einziges ernstes Wort. Das war
doch immerhin ein ganzer Mensch, das konnte doch nicht sein, dass der einfach Nichts war.
„Ist dir klar, dass ich mit dir reden will?“
„Ja“, rief Steiner mit weinerlicher Stimme und offenbar schon völlig verzweifelt, da er
merkte, dass er nichts bewirken konnte, „aber ich weiß nicht, was du hören willst.“
„Ich will nichts bestimmtes hören. Was stellst du dir denn vor? Wenn ich dir etwas sagen
könnte, was ich hören will, dann müsstest du es nicht mehr sagen, dann wäre es ja schon
gesagt.“
„Aber ich weiß es nicht. Ich weiß nichts! Es tut mir leid. Hilfe!“ Steiners Stimme steigerte
sich beinahe zu einem Kreischen. Er fuhr tatsächlich Achterbahn durch die Höhen und
Tiefen seiner Innenwelt.
„Hast du mir gar nichts zu sagen?“
„Nein. Ich weiß nicht. Was denn?“
„Nachdem meine Mutter an gebrochenem Herzen wegen des Todes ihrer Enkelkinder
gestorben ist, war ich fünf Jahre lang im Kloster. Was hast du gemacht?“
„Nichts. Ich war hier.“ Steiner hatte schon wieder das Gefühl, dass die Welt um ihn herum
auf ihn herabstürzte. Er hatte nicht gewusst, dass auch die Großmutter der Kinder, die er
totgefahren hatte, gestorben war. Das war ja alles noch schlimmer, als er vermutet hatte.
Sandmann antwortete ihm kalt.
117
„Hier warst du nicht. Du bist hier in Venedig, beziehungsweise in der Hölle, die ich für dich
vorbereitet habe. Du warst in Deutschland. Selbst das weiß ich offensichtlich besser. Ich will
wissen, was du gemacht hast, als du in Deutschland warst in den letzten Jahren.“
„Nichts. Es hat mir so leid getan.“
„Was hat dir leid getan?“
„Was passiert ist. Alles.“
„Du weißt doch gar nicht, was passiert ist. Du kennst doch gar nicht die ganze Geschichte.“
Nachdenken. „Du hast also gar nichts getan, richtig? Du hast dich bejammert. Du hast dir
leid getan. Das war alles. Sechs lange Jahre lang.“ Sandmann schwieg eine Weile fassungslos
und schaute auf den Boden. Dann sagte er leise und mehr zu sich selbst: „Du fährst Menschen tot, dann tut’s dir leid und du tust einfach nichts. So ist das, ja?“ Noch längeres
Schweigen. „Hast du auf den Tod gewartet?“
„Nein. Ich will nicht sterben. Ich will leben. Lass mich bitte frei!“
„Was du da tust, ist sinnlos. Du redest wirres Zeug. Du kannst es sein lassen. Das zieht bei
mir nicht. Immer schon sind Menschen gestorben, oft genug durch Gewalt. Nie wollten sie
dies, und dann haben sie gebetet. Sie sind dann aber doch gestorben. An Gewalt. Du kannst
also aufhören.“
„Aber ich konnte doch nichts dafür. Ich war auf Geschäftsreise. Ich, ich...“ Und dann fing
er an, zu erklären: Einzelhandel, Wegstrecken, Wetterverhältnisse, Uhrzeiten, Alkoholkoeffizienten, nannte Zahlen, Orte und Schneematsch beim Namen, er rief sie alle, alle
Geister seiner Zeit, als wäre Sandmann ein Dummkopf, der es beim ersten Mal, bei Gericht
nicht richtig verstanden oder seitdem vergessen hätte. Es war furchtbar, abstoßend, und die
Vorstellung, dass sich hier und auf diese Weise ein Mensch um sein Leben redete, verursachte Sandmann einen abgrundtiefen Ekel. Steiner sprach von den Umständen und Gegebenheit, für die er nichts konnte, verwies auf das da draußen. Er hatte offensichtlich
keinerlei Inhalt, ein hohler Mann, ein ausgestopfter Mann, der Schädel gefüllt mit Stroh,
wenn das nicht sogar eine Beleidigung von T.S. Elliot war. Was er sagte, war vollkommen
frei von Gedanken und ohne jede Fantasie, die eine entscheidende Voraussetzung von Verantwortungsgefühl ist.
„Du gibst dir selbst keinerlei Chance“, sagte Sandmann schließlich resignierend und leise
vor sich hin, weil er genug hatte.
„Ich verstehe nicht, was du damit meinst.“
„Ich weiß. Na gut. Dann werde ich dich jetzt wieder abschließen“, sagte Sandmann. Er legte
ihm die Augenbinde an, öffnete gegen den inbrünstigen, kreischenden Protest seinen Mund
mit fachkundigem Griff und schob ihm den Knebel wieder zwischen die Zähne, und dann
legten sich irgendwelche weichen Dinge in Steiners Ohren, und er hörte nicht einmal mehr
den Raum. Er hörte nur noch sich selbst, seinen Atem, das Keuchen, das vergebliche
Schlucken und das wilde Schlagen seines verschreckten Herzens. Aber das hörte er sehr laut,
und es wurde immer lauter.
„Nein“, sagte Steiner durch seinen Knebel hindurch, und so war es unverständlich, „Gnade,
Hilfe, geh nicht weg, du Schweinehund, bitte!“, aber bevor er noch mehr sagen konnte, war
es geschehen. Und Sandmann war wieder draußen. Gedämpftes Türgeklapper, dann war er
weg.
Und wieder: nichts.
Gott, wer darf sagen, schlimmer kann’s nicht kommen. Es ist schlimmer nun denn je und
kann noch schlimmer gehen. Es ist so lange nicht das Schlimmste, solange man noch sagen
kann, es sei das Schlimmste.ix
118
Dieses Mal war es anders. Steiner war jetzt noch tiefer in sich selbst verschlossen, und als er
seine Gespenster kommen sah, da ging es ihm sehr schlecht. Er konnte nicht mehr leben.
Hätte er die Gelegenheit gehabt, er hätte sich die Adern mit den Zähnen herausgerissen. Er
hätte sich die Zunge abgebissen und sie gefressen in der Hoffnung, daran zu verbluten oder
zu ersticken, um zu entkommen. Was er sah, war mit Worten nicht mehr zu beschreiben.
Er hatte jeden Bezug zur Zeit vollständig verloren und befand sich zwischen tobenden
Phasen voller grauenhafter Halluzinationen in einem Zustand zwischen Schlaf, Wachsein
und Bewusstlosigkeit. Die Grenzen zwischen den verschiedenen Bewusstseinszuständen
verschwammen. Er wusste nicht mehr, ob er wach oder bewusstlos oder tot war. Besonders
quälend war es, wenn er den Eindruck hatte, vom Tod zurückzukommen. Er verlor das Gefühl für die Grenzen seines Körpers bis auf wenige Druckstellen, und er hätte sich gewünscht, sich an allen Handschellen blutig scheuern zu können; die wund geriebenen Stellen
an seinem Rücken waren eine zu schlechte, wenig ausreichende Orientierung. Jetzt
registrierte er nebenbei mit Entsetzen, warum die Fesseln gepolstert waren, und als er die
wundervolle Perfektion seines Wärters erkannte, war er am siebten seiner Tage des Niedergangs bereit, auch äußerlich auf die Knie zu gehen und ihn anzubeten für dessen grauenhaft
schöne und alles andere überblendende Vollkommenheit. Alles Harte und Kantige war aus
seinem Umfeld entfernt. Alles wich vor ihm zurück, er traf auf keinerlei Widerstand, er verlor sämtliche Konturen.
Zwischendurch tauchte er einmal kurz auf und empfand Verwunderung darüber, dass er
weder Hunger noch Durst in nennenswertem Maße empfand. Aber auch diese Tatsache
vertiefte nur seinen Schrecken, denn so wurde es ihm unmöglich, die Zeit einzuschätzen, die
er schon hier verbracht hatte. Nur das Verlangen nach einer Zigarette holte ihn ab und zu
noch in die Gegenwart zurück.
Dann kam alles wieder und er sah Geister und Dämonen kommen, von deren Existenz und
Anwesenheit er bisher nichts geahnt hatte, sie hatten, so schien es ihm, furchtbare Gesichter, es war nur nicht klar zu erkennen. Er führte Gespräche über Themen, die er nicht
verstand, hatte das diffuse Gefühl, das Wichtigste immer wieder zu vergessen oder nicht zu
verstehen, obwohl es lebenswichtig gewesen wäre, alles genau zu behalten; er wusste zwar
nicht, warum, aber das Vergessen konnte jederzeit sein Urteil bedeuten, sein Ende, und dazu
war sein Verhältnis in diesen Momenten überaus diffus: zu sterben wäre unter Umständen
durchaus in Ordnung gewesen, aber er fürchtete, er würde es nicht erkennen, wenn er tot
war, und damit war es sinnlos. Womöglich endete dieses hier überhaupt niemals.
Womöglich blieb das so für den Rest der Zeit. Die Geister fragten ihn aus, aber er verstand
nicht, was sie hören wollten, verstand nicht einmal die Fragen. Er wusste nicht, worum es
ging. Er spürte eine Allgegenwart unbestimmter Bedrohungen, nun wieder ohne Gesicht,
die sich um ihn herum aufstellten, je nachdem, wohin er sich gerade wandte, und als er
kurze Zeit später die dazugehörigen Fratzen sah, verstand er das nicht. Als er sich in sich
selbst als in vermeintliche Sicherheit zurückziehen wollte, fand er das innere Gelände, die
Landschaften seiner ranzig verkommenen Seele, vermint mit den Negativen der scheinbar
äußeren Teufel. Er wusste nun nicht mehr, wo sie waren, ob in ihm drin oder um ihn
herum. Jede seiner Zellen war schon kontaminiert. Die Welt stülpte sich in einer unbeschreiblich grauenhaften Bewegung in sich selbst zurück, mit einem Geräusch, das er nie
wieder zu hören wünschte. Es erinnerte ihn an das hundertfach verstärkte Geräusch einer
sich leerenden Badewanne, ein unsinniges Schlurpen. Aber was? Er wollte laufen und laufen,
kam nicht von der Stelle und scheuerte sich den rechten Arm sowie die Fußknöchel endgültig wund. Was also? Er verstand nicht, warum er nicht davon kam, spürte nur ein
dumpfes Reißen im Gesicht, das ihn hinderte, wenn ihm auch nicht mehr ganz klar wurde,
woran. Er spürte zwischendurch immer wieder die Anwesenheit eines furchtbaren, zornigen
Gottes und fürchtete sich, in sein zorniges Gesicht zu schauen.
Dann wechselten die Visionen im Rhythmus seines Herzschlages. Die Ränder der Dinge
veränderten sich, wurden weich vor seinem inneren Auge, erstarrten tückisch bei der Be-
119
rührung mit der Fingerspitze, und sobald er die Finger zurücknahm, wurde alles wieder
weich. So musste und wollte er seiner begrenzten Welt eine Form geben und konnte es
nicht. Er hatte die Herrschaft irgendwo verloren, aber er ahnte nichts davon, ahnte nicht,
wo, dass er sie hätte suchen können. Oder irgendwo als verloren melden. Nur wo? Und
was? Was gleich hatte er verloren? Zwei um zwei wehte der Wind ihm die Asche seiner
Haare davon.
Und wieder blieb er sehr lange allein und registrierte auch nicht mehr, dass zwischendurch
der Beutel mit der Infusionslösung, die ihn mit Elektrolyten, Wasser und Glukose am Leben
hielt, mehrfach ausgetauscht wurde, übrigens mit einem Breitband-Antibiotikum darin. Kein
Penicillin, das Risiko eines tödlich verlaufenden anaphylaktischen Schocks war Sandmann zu
groß. Seine Infusion, seine Nabelschnur zur synthetischen Mutter, Zugang über ein
synthetisches Loch, Nahrung seines widerwärtigen Erhaltes, Bewahrerin seines ekelhaften
und formlosen Grauens.
Sandmann
Sandmann kam zurück in den Raum, in dem sein Gefangener, stinkend und an verschiedenen Körperstellen wund gescheuert und wund gelegen, aufbewahrt war. Er überprüfte in aller Stille die Bilder der letzten Stunden, die sein Laptop aufgezeichnet hatte, er
hatte sie nicht mehr abgerufen. Er sah die vergeblichen Versuche Steiners, sich aus seiner
aussichtslosen Lage zu befreien oder vielleicht auch nur zurecht zu rücken, aber ansonsten
war nichts Ungewöhnliches zu erkennen, nichts, was er nicht erwartet hatte. Befremdet
stellte er fest, dass sein Plan nicht so aufging, wie er sich das gedacht hatte. Der Anfang
hatte völlig ohne jedes Problem geklappt, und die Begegnung lief ihm aus dem Ruder.
Da lag der Körper, auf den einzuwirken so lange seine Sehnsucht gewesen war, an ein Bettgestell, an einen Rahmen gelehnt und sicher fixiert und war völlig hilflos. Er rief eine Weile
heiser vor sich hin, als suche er Unterhaltung und wollte mit irgendwelchen Geistern
kommunizieren, dann wieder schwieg er. So ging das nun schon die ganze Zeit. Sandmann
hörte den heiseren und dumpfen Rufen versonnen zu, und er musste daran denken, wie
seine Mutter am Grab der Schwiegertochter und der Enkelkinder geschrien hatte.
Sandmann ging auf den anderen zu und zog ihm die Stöpsel aus den Ohren. Steiner
schreckte zusammen. Der hat mich tatsächlich nicht gehört, nicht wahrgenommen, der ist
schon ganz weit weg, dachte er. Dann entfernte er die Binde von Steiners Augen und sah
den viehischen Ausdruck und das Entsetzen in seinen Augen. Für den ist der Tod schon
jetzt eine Erlösung, dachte er, und das nach nur einer Woche. Ich werde ihn nicht erlösen.
Ich nicht.
Steiner sah böse heruntergekommen aus: sein Gesicht war von der Schreierei und vom
Knebel verzerrt und eingefallen, es sah wund aus wie das eines Kindes, das sich die Seele
aus dem Hals geweint hat. Die Augen waren gerötet, die Gefäße hervorgetreten, eine Folge
nicht der Austrocknung, dagegen hatte er vorgesorgt, sondern der Anstrengung, die es ihn
offensichtlich kostete, mit dem Wahnsinn der vollständigen Isolation und Bewegungslosigkeit, dem Damoklesschwert der Vernichtung und mit der Ungewissheit seines
Schicksals über seinem Kopf in völliger Abgeschlossenheit zu existieren. Es dauerte offenbar eine ganze Zeit, bis Steiner realisierte, dass Sandmann nicht ein neues Geisterbild war.
Sandmann hatte weitgehend verhindert, dass Steiner irgendeines dummen, zufälligen oder
vorzeitigen Todes starb: verdurstete, verblutete oder die Luft anhielt. Luft anhalten: das
allerdings konnte er machen, so lange er wollte, spätestens, wenn er wegen Luftmangels
ohnmächtig wurde, würde sein Körper wieder anfangen zu atmen. Er würde dann an der
Grenze der Ohnmacht herumtaumeln wie der Schwimmer einer Angelschnur an der
Wasseroberfläche, auf und ab. Nicht einmal seine eigene Zunge konnte er abbeißen, um auf
120
diese Weise zu verbluten. Im Grunde war er hier in seiner Gefangenschaft sicherer als auf
den verkehrsreichen Straßen einer quirligen Großstadt. Er saß fest.
Steiner wollte etwas sagen, trotz des Knebels im Mund, der ihn sowieso nur Laute hätte
machen lassen, aber bevor es soweit kam, herrschte Sandmann ihn an:
„Halt deinen Mund! Halt bloß deinen Mund. Sei ruhig. Sag nichts. Versuchs gar nicht erst.“
Pause. Lange Pause. Sandmann spürte die drückende Last der trostlosen und kalten Jahre
auf seiner Seele und auf seinen Schultern, alles tat ihm heillos weh jetzt, und er wollte nichts
hören, auf gar keinen Fall. Er hatte beschlossen, dass es an der Zeit war, Steiner teilhaben zu
lassen an dem Entsetzlichen, das Sandmann mit sich herumtrug.
„Weißt du, was ich erlebt habe? Meine Frau hätte es nicht überlebt, wenn sie erfahren hätte,
dass auch nur eines unserer Kinder totgefahren worden ist. Sie wäre mir qualvoll an Gram
weggestorben. Das tat dann meine Mutter. So war ich verflucht dazu, anzunehmen, dass es
gut war, dass meine Frau gestorben ist. Kannst du dir das vorstellen? Du machst dir kein
Bild davon, was das bedeutet. Und weißt du, was mit meinem Sohn passiert ist, bevor er
starb? Hat man dir das erzählt? Er wurde von dir quasi zerquetscht. Er lebte noch drei Tage,
bevor er starb. Er hat mich noch gefragt vor seinem Tod, das konnte er noch, weil er völlig
unter dem Einfluss von Schmerzmitteln war. Du verlierst vielleicht deinen Verstand, obwohl ich nicht weiß, was es da zu verlieren gibt. Ich habe meine Familie verloren. Meine
zwei Kinder und die Frau, die ich liebe. Dann starb das ungeborene Kind meines Bruders.
Dann starb meine Mutter.“ Er sprach ruhig und konsequent. Seine Stimme war emotionslos, sein Befinden nicht. Lange Pause. „Weißt du, was mein kleiner Sohn mich gefragt hat?
Weißt du, was er mich gefragt hat?“ Als die Erinnerung zurückkam, hätte Sandmann ihn
beinahe, quasi aus dem Stand heraus, angeschrien. Auch Jahre später noch kostete es ihn
Kraft, sich zu beherrschen. „Er hat mich sehr leise gefragt: Papi, muss ich jetzt sterben?
Und weißt du, was ich ihm gesagt habe? Willst du es wissen?“
Steiner röchelte ein Geräusch, das wohl Zustimmung andeuten sollte, es war ein angedeutetes „Ja“ zu verstehen. Er griff nach jedem Strohhalm, der sich ihm bot, während sich
erneut das Grauen der anderen Seite seiner bemächtigte. Er hatte auch von dem anderen
toten Kind nichts gewusst. Hätte er gekonnt, er hätte sich selbst zum Tode verurteilt, und
hier stand sein Henker und verweigerte ihm den, hielt ihn sogar am Leben. Er verstand
allerdings schon seit einiger Zeit nichts mehr.
Sandmann atmete tief und langsam und endlos tief durch. Er schaute Steiner an, schaute
ihm in die Augen, dann entschloss er sich, nicht mehr zu antworten. Es ging nicht. Er war
von seinen Gefühlen überwältigt, immer noch. Und es wurde ihm klar, dass dieses letzte
Gespräch mit seinem Kind nicht für die Ohren dieses heillosen, versoffenen Mörders seiner
Familie bestimmt war.
Dann sagte er: „Ich werde dich jetzt wieder einschließen. Du stinkst übrigens. Du kannst es
dir denken. Ach, und noch etwas: wenn ich da draußen umkommen sollte, wird man dich
niemals finden. Und du lebst hier noch sehr lange. Dafür habe ich gesorgt. Du stirbst nur,
wenn ich es erlaube. Ohne mich überlebst du hier noch wochenlang. Menschen kommen
sehr lange ohne Nahrung aus. Du darfst für mich beten.“ Den Rest murmelte er nur noch
mehr oder weniger vor sich hin: „Ich habe bei meinen Kindern geschworen, dass ich dich
zur Hölle schicke. Du kannst die Grenzen schon jetzt nicht mehr erkennen, du bist schon
auf dem Weg dorthin, nicht wahr?“ Steiner verstand kaum, was Sandmann sagte, wollte
noch fragen, weil es ihm wichtig vorkam, zu spät. Augenbinde, Ohrstöpsel, Knebel, Sandmann konnte noch sehen, wie das Entsetzen in den Augen erneut hochloderte, und Steiner
war wieder eingeschlossen in seiner zeitlosen Nacht.
121
Luca
Sandmann hatte eine Verabredung mit Luca im Caffè Quadri neben dem Orologio am
Markusplatz. Die letzten Angelegenheiten zwischen ihnen beiden sowie zwischen Luca und
den Händlern, die in Sandmanns Auftrag mit Gregor Steiner in Kontakt getreten waren,
mussten geregelt werden, und so machte er sich auf den Weg. Quer durch den Dorsoduro
ging er, äußerlich ruhig, zügig in Richtung der Brücke bei der Akademie, dann ganz in der
Nähe des Hauses seines Onkels vorbei. Weil er Zeit hatte, dachte er für einen Augenblick
darüber nach, kurz mit ihm zu sprechen, verwarf den Gedanken dann aber: kurz sprechen
war zwischen seinem Onkel und ihm selbst nicht gut möglich. Unterwegs in der Nähe des
Markusplatzes kaufte er sich einen Apfel. Er hatte einen bitteren, widerlichen Geschmack
im Munde.
Als er die Gasse zum nächsten Café hinuntergingen, folgte ihm ein Schatten: ein Mann mit
einer schwarzen, ledernen Maske. Sandmann merkte es nicht.
Als er am Treffpunkt ankam, sah er Lucas bemerkenswerte Erscheinung schon vor dem
Café sitzen. Elegante Kleidung, sparsame Bewegungen, ein eher zierlicher, feingliedriger
Körperbau, schwarzer Schnurrbart und harte, unbarmherzige Gesichtszüge. Seine Haut
glänzte, als sei sie über den Schädelknochen gespannt und am Hinterkopf zusammengenommen worden. Er erinnerte Sandmann ein wenig an Dirk Bogarde als Gustav von
Aschenbach in der Visconti-Verfilmung vom Tod in Venedig: etwas konservativer als üblich, viel weiß und schwarz in seiner gesamten Erscheinung, nicht nur in den Farben seiner
Kleidung. Er war blass und hatte schwarzes Haar – es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte
nach der im Fieberschauer verlaufenden schwarzen Haarfärbung gesucht. Luca legte sehr
viel Wert auf seine gepflegte Kleidung. Als eine kleine modische Marotte trug er meistens
einen Spazierstock mit silbernem Griff bei sich, der sein Aussehen allerdings perfekt
machte. Er wirkte ein bisschen dandyhaft, wie ein lebendiger Anachronismus, und irgendwie
passte er auf angenehme Weise überhaupt nicht ins einundzwanzigste Jahrhundert, aber sehr
gut in diese Stadt. Und die war sowieso aus einer anderen Zeit.
„Ciao, Signor Antonio Sandmann. Es hat also alles so geklappt, wie Du es Dir vorgestellt
hast?“
„Ja.“
„Und, ist es das, was Du brauchtest, um Deinen Frieden zu finden?“
„Ja. Beziehungsweise, ich weiß es nicht.“
„Was soll das heißen?“
Sandmann wunderte sich über das Interesse von Luca und fragte sich, ob er ihm antworten
sollte. Wollte er ihn ausfragen? Aber was gab es denn schon zu verraten? Er ahnte, dass
dieser ihn nicht verstehen würde, da es sich um seine innersten Angelegenheiten handelte.
Und so beschloss er, dass es egal sei, dass nun Luca es sei, an dem er seine Gedanken
schärfen und klären konnte.
„Ich kann es Dir gar nicht so genau sagen. Ich habe festgestellt, dass ich im Grunde nur
noch einen irgendwie motivierten Batzen Fleisch von seinem Stuhl abgenommen habe, und
sein einziges Motiv ist es, wegzukommen. Ich verstehe das schon, aber ich weiß jetzt nicht
recht, was ich damit anfangen soll.“
„Wehrt er sich denn?“
„Nein, überhaupt nicht. Na ja sicher, er flucht und bettelt, aber ansonsten tut er nichts, hat
er all die Jahre offenbar gar nichts gemacht. Das ist ja so bemerkenswert und unglaublich für
mich.“
„Hm?“
122
„Na ja, man fährt doch nicht einfach drei Menschen tot und macht dann weiter, als wäre
nichts geschehen. Ich kann nicht nachvollziehen, wie man beschaffen sein muss, um sich
selbst so auszuschalten. Dabei fällt mir ein: Dein Mittel, dieses neuartige
Succonylcholinderivat, war ein voller Erfolg. Er ist quasi in meinen Händen zusammengesunken. Er muss die ganze Zeit über schon kurz vor dem Kollaps gewesen sein, aber auch
psychisch, sonst geht das nicht so schnell, dass jemand vollständig kapituliert.“
„Und, hat er kapituliert?“
„Völlig. Er hat sich aufgegeben. Ich meine, er wehrt sich schon, nur eher wie ein Tier in der
Falle. Aber das ist alles. Sonst tut er nichts. Er stellt sich nicht.“
„Was tut er nicht?“
„Er stellt sich nicht der Situation, in der er ist.“
Luca konnte damit nichts anfangen. Er war in dieser Hinsicht einfacher gestrickt: so
jemanden macht man körperlich fertig und schlachtet ihn dann, und da brauchte sich auch
niemand zu stellen. Der andere wurde gestellt wie Wild, und Schluss.
„Tja, und jetzt?“
„Ich weiß es nicht. Ich war nicht auf so etwas vorbereitet.“
„Nicht? Was dachtest du? Dachtest du, durch seinen Totschlag an deinen Leuten würde er
zum denkenden Menschen mutieren, zu einem, der seine Möglichkeiten nutzt?“
Luca war ein interessanterer Gesprächspartner als er ursprünglich vermutet hatte.
„Aber das war doch irgendwie wahrscheinlich, oder etwa nicht? Irgendwie so etwas hatte ich
angenommen. Ich habe mich vertan. Ich hätte es mir denken sollen, habe ich aber nicht. Ich
hatte gedacht, er würde sich überhaupt mit irgendetwas auseinandersetzten. Nach einer gewissen Zeit der Isolation, in der ich ja nun jahrelang war, nimmt man wohl notwendigerweise an, dass die Menschen einem selbst ähneln, obwohl man sich in Wirklichkeit immer
weiter von ihnen entfernt. Tun sie das nicht, ähneln sie uns also nicht, so geraten wir aus
dem Tritt. Es ist das, was wir Wahnsinn nennen. Und ich glaube, er ist tatsächlich wahnsinnig geworden.“
„Glaubst du denn, dass seine Isolation mit deiner vergleichbar ist?“
„Im Grunde schon. Und siehst du, frei gewählt habe ich meine Isolation auch nicht.“
„Aber du warst im Kloster, er ist im Kerker.“
„Ja. Ich war im Kloster, er ist allein. Ich war übrigens auch allein.“
„Und ist das mit dem Wahnsinn vielleicht ein Trick von ihm? Vielleicht, um dich milde zu
stimmen? Oder um dir oder der Situation zu entkommen?“
„Das kann ich mir kaum vorstellen. Nein. Der müsste schon die Kunst beherrschen, auf
Befehl wahnsinnig zu werden. Das kann aber keiner. Das ist nicht möglich. Man kann es
spielen, aber das erkenne ich. Du solltest seine Augen sehen, dann wüsstest du, was ich
meine: extrem unruhig und völlig verloren in irgendwelchen unbeschreiblichen Tiefen. Wie
ein in Angst verreckendes Tier. Das ist schon der Wahnsinn. Und einen Nystagmus kann
man nicht vorspielen.“
„Was?“
„Na, dieses Rucken mit den Augen. Solltest du sehen.“
„Nein danke, lieber nicht! Mit so was will ich nichts zu tun haben, das ist mir unheimlich.“
Luca hob erschrocken abwehrend die Hände vor sein Gesicht, bekreuzigte sich kaum sichtbar und murmelte leise „Mamma mia“ vor sich hin.
123
„Außerdem entkommt er mir ja nicht, denn selbst wenn er wahnsinnig ist, heißt das nicht,
dass er bewusstlos ist oder betäubt. Seine Wahrnehmungsfähigkeit ist noch mehr als ganz
erhalten.“
„Mehr als ganz? Was soll das denn nun wieder heißen?“
„Ich habe in nach außen hin völlig verschlossen. Und das heißt, dass er, wenn er nicht
schläft, nur noch sich selbst wahrnimmt, vollkommen überreizt und überempfindlich. Er
wird völlig entgrenzt sein. Und es wirkt nicht so, als sei das ermutigend, was er dort wahrnimmt. Womöglich ist er zum ersten Mal in seinem Leben mit sich selbst konfrontiert. Ich
finde, das ist auch eine ziemliche Chance.“
„Das nennst du eine Chance? Bist du Zyniker?“
„Was soll das denn heißen? Soll ich ihm ein Federbett hinstellen? Der Mann hat fast meine
ganze Familie ausgerottet, und du fragst mich, ob ich Zyniker bin? Immerhin schlage ich
ihm nicht ununterbrochen ins Gesicht, besser gesagt überhaupt nicht.“
„Das kann schon sein“, sagte Luca, „aber wer ist denn schon in der Lage, eine solche Lage
als Chance zu begreifen und dann auch noch zu nutzen?“
„Keine Ahnung. Ich. Ich habe sie genutzt. Ich bin kein Genie, also muss man keines sein,
um solche Konfrontationen mit sich selbst zu nutzen. Vielleicht glaubt er ja, man müsste
alles ausleben und steht jetzt vor einem Dilemma.“
„Und, was willst du jetzt machen?“
„Ich weiß es noch nicht. Vielleicht wird ja noch was draus, aber ich bezweifele das inzwischen.“
„Bereust du, dass du ihn dir aufgehalst hast?“
„Nein, natürlich nicht. Es war dringend notwendig. Ich wäre doch sonst nur noch sterben
gegangen, wenn diese Tages meines Zorns nicht vor mir gesehen hätte. Vermutlich musste
ich das sehen.“
„Du wärst nur noch sterben gegangen? Meine Güte, du fährst hier aber ein ganz schön
schweres Kaliber auf. War es so unerträglich?“
„Ja.“
„Ja. Na gut, ich verstehe das. Na, dann musstest du das wohl machen. Entschuldige, dass ich
gefragt habe. Du weißt: in der Heimat deines Onkel wäre viel nachhaltiger mit ihm verfahren worden.“
„Ich weiß, dass man es versucht hätte, ich kenne diese Vorstellungen von machismo.“ Sandmann machte unwillkürlich einen geringschätzigen Gesichtsausdruck. „Ihm wäre vermutlich
das Zahnfleisch blutig geschlagen worden, man hätte ihm die gestaffelte Extremitätenamputation angeboten bei dem Versprechen, ihn nach der nächsten freizulassen, Finger,
Füße, Augen, was weiß ich. Oder er wäre in die Haut eines frisch gehäuteten Esels eingenäht worden und man hätte gewartet, bis sie eintrocknet, dann hätte man sie ihm ruckartig
abgezogen, mitsamt seiner eigenen Haut. Und an so was stirbt man dann und es ist vorbei.
Tatsächlich sind die alten Hunnen und Chinesen in ihrer Grausamkeit sogar noch viel einfallsreicher und differenzierter gewesen als die Süditaliener. Und doch, ich halte das für
Kinderkram, denn am Ende sterben wir alle, das ist mal sicher, mehr oder weniger unschön,
mehr oder weniger zufällig. Nimm als Vorstellung ein Gelände unter Beschuss. Du kannst
getötet werden, entweder, weil man dich aufs Korn genommen hat, oder wegen der Dichte
des Beschusses.x Es ist unausweichlich. Aber damit ist dann auch Schluss. Das Problem ist,
in Würde zu leben, egal unter welchen Umständen.“ Luca schaute ihn an, als sehe er
Antonio Sandmann eben zum ersten Male. Die Methode mit der Eselshaut kannte er noch
nicht, und das mit den Chinesen mochte er nicht glauben. Es berührte irgendwie seinen
124
patriotischen Enthusiasmus. „Ich weiß aber ehrlich gesagt nicht, ob es noch schlimmer geht
als das, was ich ihm antue. Er wird gerade seiner schwersten Prüfung unterzogen.“
„Hat er Schmerzen?“
„Nein, keine, oder fast keine. Unerheblich. Aber körperlicher Schmerz ist nichts. Ich kenne
ihn, ich habe ihn selbst erlebt. Man kann ihn anfassen, man kann sich an ihm festhalten. Er
tut einfach nur weh. Er vergeht. Amputationen? Die verbindet man. Es tut weh, aber nach
einem Monat ist es dann ist es vorbei. Noch unsere Väter haben ihre Gliedmaßen im Krieg
gelassen. Kennst du die chinesische Wasserfolter? Sie soll schlimm sein, die Leute sollen
ganz irre werden von dem Gefühl, aber es tut nicht wirklich weh. Mach die Hand los, die
Leute fassen die Stelle an, und nach einiger Zeit vergeht das Elend. Das, was ich ihm antue,
kann er weder anfassen noch vorzeigen.“
„Dann könnte er dich also auch nicht anzeigen, wenn er entkommen könnte?“
„Doch, natürlich, aber im Grunde wegen nichts als der Freiheitsberaubung, und die ist
lächerlich. Was soll er denn sagen? Der da hat mich festgebunden? Bitte! Das ist albern. Das
ist sicher nicht lächerlich vor europäischen Gesetzen, ich weiß. Aber der Freiheitsraubzug ist
bedeutungslos im Vergleich zu dem, was ihm jetzt gerade geschieht. Ich glaube, ich wüsste
nur eines, was noch schlimmer ist als das, aber das kann kein Mensch.“ Er brach den Satz
ab und schaute er seinem Gedanken wie einer Herde fliehender Tiere hinterher.
„Was meinst du?“ fragte Luca und sah ihn an, als erwarte er das Erscheinen eines
brüllenden Gottes aus den Tiefen der Wüste, den tosenden Fluten des Yangtse oder vom
Oberlauf des Amazonas.
„Was? Das Schlimmste? Vergiss es, das versteht niemand mehr.“ Sandmann schwieg einen
Moment und sah sinnierend vor sich hin. „Es gibt tatsächlich etwas, was viel schlimmer ist
als die schlimmste Folter, die wir Menschen uns ausdenken können.“ Dann schwieg er
wieder. Wie einer Eingebung folgend fragte er plötzlich: „Luca, weißt du, wo die Hölle
liegt?“
Luca schaute Antonio immer mehr an, als zweifele er an der Existenz seines menschlichen
Verstandes. Überrumpelt von der Frage hatte er für einen Moment den Gedanken, ob
Antonio ihn nicht vielleicht nach einer Art Wegbeschreibung gefragt hatte.
„Sie liegt in den Schächten am Grunde unserer zum Glück sterblichen Seele. Tja. Ich war
dort. Wir haben sie erfunden, es ist unsere Schöpfung. Wir allein sind die Herren der Hölle.“
In diesen Tiefen, so dachte er, existieren Monster, gegen die sich die Wunder aus den Tiefen
des Meeres ausnehmen wie die spielerischen Fantasien eines Fünfjährigen. Hier harren
Geheimnisse, deren noch bevorstehende Offenbarung, die wahre Apokalypse, uns wahrhaft
stigmatisieren wird: Wundmale an den Händen der Ethik und der Moral. Unaussprechliches,
dessen Präsenz uns schon in den vergeblichen Träumen unserer Fiebernächten schreckt,
uns, die wir kaum einen Weg kennen, in diese Tiefen hinabzutauchen; was wir für richtig
befinden und was zugleich unser Leben so begrenzt erscheinen lässt. Und jetzt, erneut, war
er auf dem Weg hinab in diese Tiefe. Als ihm das bewusst wurde, fiel ihm das letzte Koan
ein, mit dem er vor seiner Rückkehr aus dem Kloster gesessen hatte: Zen-Meister Bokaju
wurde eines Tages von einem Mönch gefragt: “Wir müssen uns jeden Tag anziehen und
essen; wie können wir von all dem loskommen?“ Bokaju antwortete: „Wir ziehen uns an;
wir essen.“ Der Mönch sagte: „Das verstehe ich nicht.“ Da sagte Bokaju: „Wenn du es nicht
verstehst, dann zieh dich an und iss.“
Es war ihm in der Unerfülltheit seines Schmerzes nie gelungen, diese gleichermaßen Selbstverständlichkeit und Transzendenz des Alltäglichen in sein Leben aufzunehmen, und so war
er schließlich nach Europa zurückgekehrt. Er hatte hier schließlich noch etwas zu erledigen.
Abgebrochen, gescheitert, so empfand er das Ende seines Aufenthaltes im Daitokuji. Für
einen Moment fragte er sich, warum ihm schon wieder ein Scheitern bevorstand und er sich
doch zugleich fühlte wie auf dem Weg in die tiefste Tiefe. An eine oder gar an die Hölle
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religiöser Metaphysik zu glauben, lag ihm fern. Möglicherweise war er auf der falschen Spur.
Womöglich suchte er nach seiner Erlösung an einer Stelle, wo es hell und offensichtlich war,
aber nicht dort, wo sie lag. Wir sind die Herren der Hölle. Nicht der Große Schejtan.
Sein großer Zorn lag ihm im Weg wie einem, der barfuß laufen will, spitzige Steine. So, das
wurde ihm bewusst, kam er nicht zum Ziel.
„Ach, noch etwas, Luca: du hättest mir ruhig sagen können, dass du meinen Onkel über
meine Unternehmungen und Schritte informierst. Warum hast du es heimlich getan?“
„Dein Onkel hat mich darum gebeten. Und, nimmst du es mir übel?“
Antonio hatte den Eindruck, dass Luca in dieser letzten, unmittelbaren Begegnung Angst
vor ihm bekommen hatte, dass er ihm unheimlich geworden war. Aus einem vielleicht etwas
merkwürdigen Deutschen, verwaisten Familienvater, war in seinen Augen eine verkrüppelte
Seele geworden, ein Monster, das mit den unsterblichen Seelen anderer umging wie es sonst
vielleicht nur der Teufel tun konnte. Den Körper, das Leben des Feindes nehmen, seine
Augen verspeisen, das war das archaische, das ungeschriebene und atavistische Gesetz der
Vendetta, aber danach gab man die Seele des getöteten Feindes respektvoll und großzügig
zurück. Das hier, diese besondere Art der Erbarmungslosigkeit dieses nicht einmal finsteren
Mannes, der mit kurzen Haaren aus einem japanischen Kloster wiedergekommen war, war
auf eine subtile, unverständliche Weise zu viel für ihn. Dieser fremdartige, unverständliche
Mann schien keine Seele zu kennen oder zu haben. Bei diesem Gedanken lief es Luca eiskalt
über den Rücken, und erschrocken stellte er fest, dass er Steiner besser verstand als Sandmann. Es verursachte ihm eine unheimliche Art von Angst, was ihm dabei bewusst wurde,
vergleichbar der, die er als kleiner Junge empfunden hatte, wenn er den dunklen Patres seines Heimatortes begegnet war.
Er hatte schon von mancherlei Mythen aus japanischen Klöstern gehört: Kung-Fu und
geheime Mörder, Harakiri, Gelbe Kaiser, Rote Khmer, der ganze europäische, letztlich uninformierte Mischmasch, der auch noch problemlos alle Länder und Geschichten durcheinander warf und mit dem Großen Zinnober nichts anzufangen wusste. Aber diese Begegnung hier mit diesem so Fremden schien Luca alles Erwartete hinter sich zu lassen.
Sandmann hatte allein mit seinen wenigen Worten und der Schlüssigkeit seines bisherigen
Handelns die Ordnungen einer auf dem Recht des Stärkeren basierenden Weltanschauung
verletzt, die es gebot, sich dem Opfer gegenüber am Ende großherzig zu zeigen. Es wurde
Luca allerdings nicht bewusst, dass dies die Quelle seines Unbehagens war und ihn frieren
ließ. Ihm wurde nicht klar, dass Sandmann von diesen Gesetzen nicht nur gar nichts wusste
oder wissen wollte, sondern dass sie ihm sogar zuwider gewesen wären.
„Nein, es ist gut. Es macht nichts“, sagte Sandmann, und ein Teil von Luca, sozusagen der
untere Teil, der nicht reflektiert, sondern nur läuft, hätte sich am liebsten vor diesem unheimlichen Mann davongemacht.
Er verzichtete dann aber doch noch auf seine Freiheit, zu gehen. So saßen sie noch eine
Weile schweigend nebeneinander auf dem Markusplatz, schauten den Mengen an Touristen
zu, Alte und Junge, Familien mit Kindern, Spieler, Singles, frisch Verliebte, Paare und
Witwer, das ganze Leben Mitteleuropas spielte sich hier in komprimierter Form auf einem
der schönsten Plätze der Welt ab. Und es war einige Momente lang die einzige Verbindung
zu einer Welt, die Antonio Sandmann fremd geworden war.
„Dein Gefangener ist doch jetzt in seinem finsteren Verlies, oder?“
„In diesem Augenblick, ja.“
„Ich verstehe nicht, wie du dann hier so ruhig sitzen kannst.“
„Warum denn nicht? Es ist lediglich eine Frage der Übung. Ich habe fünf Jahre ruhig gesessen. Du weißt doch, dass ich im Kloster war? Irgendwann muss man sich bei diesem
vielen Stillesitzen bei widrigem Klima und schmerzenden Gliedmaßen fragen, wer eigentlich
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Chef im eigenen Hause ist: das eingeschlafene Sitzfleisch oder man selbst. Ich habe meine
Entscheidung getroffen. Mein Arsch regiert nicht in meinem Hause!“ Und in Gedanken
fügte er hinzu: „Ich zwar auch nicht, aber das ist ein ganz anderes Kapitel.“
Luca musste lachen über diesen Vergleich, und die Spannung, die ihn vorübergehend ergriffen hatte, löste sich ein wenig.
Was immer Luca durch seine Fragen hatte erfahren wollen, war ihm zwar nicht ganz klar
gewesen, aber etwas daran war misslungen. Ein alter Instinkt hatte ihn bewegt, über einen
Geschäftspartner so viel wie möglich zu erfahren, aber nach diesem langen Gespräch stellte
er fest, dass er nichts erfahren hatte, was er wie auch immer verwenden oder zur Sicherheit
parat halten konnte. Er kam sich dumm vor, wo er sich für schlau gehalten hatte, und als er
dachte, Sandmann ließe sich ja ausfragen wie ein Schuljunge, stellte fest, dass er für ihn, für
sein Verständnis und Interesse hermetisch versiegelt war wie ein Buch in einer fremden
Sprache in einer fremden Schrift. Es beschlich ihn sogar der Verdacht, dass Sandmann von
seinem Informationsbedürfnis ahnte und mit ihm spielte auf eine für ihn selbst, für Luca
ganz unverständliche Weise. Hätte ihn jemand gefragt, was er über Sandmann wusste, so
hätte er realistischerweise sagen müssen: irgendwie nichts. Er hat mich gebeten, einige Geschäfte für ihn zu erledigen und ihm ein Betäubungsmittel zu besorgen, mit dem er den
Mörder seiner Familie außer Gefecht setzen wollte. Lucas Geschäft, sonst nichts. Darüber
hinaus wusste Luca nichts, was ihm nützlich war.
Lucas Verhältnis zu diesem Mann war zutiefst ambivalent. Er war ihm unheimlich und
faszinierte ihn zugleich. Er konnte sich nicht ausmalen, wie es war, seine Familie zu verlieren; diesem war es so ergangen. Er fand es unvorstellbar, Jahre in einem Kloster zu verbringen; dieser hier hatte es getan. Er fand einen im Grunde unverständlichen Menschen
vor, der ihm großzügig Aufträge erteilte und ihm weitgehend freie Hand ließ dabei, sie auszuführen; er selbst hätte, bar jeden Vertrauens, jede Bewegung des von ihm beauftragten
Anderen kontrolliert. Er hätte sich eine zutiefst körperliche Rache vorgestellt, auf dem
schnellstmöglichen Wege und unter Einsatz seiner Truppen; dieser hier schien seinen
Gegner Jahre später ganz allein zu disziplinieren, noch dazu an einem Ort, den er, Luca,
nicht kannte. Ganz und gar unverständlich. Und dahinter schimmerte immer wieder ein Zug
auf, ein Satz oder der Bericht eines Gedanken, den er interessant fand, der ihm sagte, dass
hier ein Mensch saß, den näher kennen zu lernen ihm sicher gut gefallen hätte. Wenn er nur
insgesamt ein bisschen nachvollziehbarer wäre, etwas zugänglicher, etwas weniger erschreckend. So aber trennte ihn eine Erfahrung von den allermeisten anderen Menschen der
westlichen Welt, in der kein Krieg war, und als Luca das bewusst wurde, verstand er plötzlich, wie einsam dieser Mann sein musste. Der hatte nichts mehr gemein mit der Vielzahl der
anderen: er teilte diese eine Erfahrung mit im Grunde niemandem mehr, ob er nun wollte
oder nicht. Sie war nicht einmal kommunizierbar, darüber gab es nichts zu erzählen. Da sie
sich aber wie Mehltau über alles andere legte, war er selbst mit seinem alltäglichen Brot
gänzlich alleine. Was immer er sagte, er war der Fremde.
Das, so verstand er es nun, war dieser kühle Hauch, der ihn zu umgeben schien und alles
beeinflusste, was er sagte, tat und berührte, was machte, dass er selbst in Gesellschaft wie
fern ab aller Gegenwart wirkte und völlig unnahbar. So tat er ihm im tiefsten Herzen leid,
und gleichzeitig spürte er, wie unangemessen sogar diese Haltung war. Der wollte offensichtlich gar kein Mitleid. Luca hätte sein Leid hinausgetragen und das Mitgefühl eingeholt;
dieser hier versank in einem Dunkel von undurchdringlichem Schweigen, selbst wenn er
sprach. Der war im Grunde sprachlos und unerreichbar.
Diese Art von Einsamkeit betraf einen Bereich der Zwischenmenschlichkeit, in dem Luca
sich nicht auskannte. Er war Händler in einem verborgenen System, er handelte mit Waren,
aber vor allem mit Dienstleistungen, die man nicht in einem öffentlichen oder staatlichen
Büro an der nächsten Ecke in Auftrag geben konnte, für die aber dennoch Nachfrage bestand. Einsamkeit war nicht sein Metier.
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Antonio Sandmann dagegen hatte inzwischen erfahren, dass er so offen sein konnte, wie er
wollte, scheinbar gesprächig bis zur Albernheit, es änderte nichts an seiner hermetischen
Verriegelung. Wovon er sprach, betraf die Oberfläche, und die war für ihn nahezu bedeutungslos geworden. Er zog sich an, er aß; er hätte es sein lassen können, wenn er es beschlossen hätte. Was ihm nicht bewusst war: einige Menschen spürten diese Einsamkeit, die
ihn umgab wie kühle Luft, wie ein fein versprühter Nebel aus kühlem Wasser auf verschwitzter Haut. Sie spürten sie gewissermaßen im eigenen Nacken, über den man bekanntermaßen nichts aussagen kann.
Luca hatte einmal, vor vielen Jahren, erlebt, wie sich in seinem Heimatort ein Mann veränderte, dessen erwachsener Sohn bei einer bewaffneten Auseinandersetzung gestorben war.
Der Vater richtete ein Gemetzel sondergleichen an und fing dann an, zu sterben. Das zog
sich über ein knappes Jahr hin, binnen dessen er immer mehr verfiel, er wurde quasi über
Nacht fünfzig Jahre älter, seine Haare verloren die Farbe, seine Augen den Glanz, seine
Stimme die Kraft und sein Gang die Spannung. Er ging zugrunde. Aber es war sichtbar und
nachvollziehbar, was geschah, man verstand es und seine Leute standen bei ihm; bei diesem
hier verstand er nichts. Er musste sich zusammennehmen, um sich nicht vor Gruseln zu
schütteln.
So waren sie in vielen Dingen ganz gegensätzlich, und doch, das wurde im plötzlich
bewusst, mochte Luca ihn in seiner besonderen Art gern. Es wäre allerdings ein vergebliches
Bemühen um Freundschaft gewesen, das wusste er, der war auf so etwas nicht aus, und so
ließ er alles auf sich beruhen.
„Ach so, übrigens“, unterbrach Sandmann Lucas Gedanken, „hier ist das Geld, das du noch
von mir bekommst. Das andere hast du erhalten?“
„Ja, ist alles in Ordnung. Wir sind jetzt quitt, nicht wahr? Bist du zufrieden mit meinen
Dienstleistungen?“
„Ja, sehr zufrieden. Ich würde mich jederzeit wieder an Dich wenden.“ Etwas spöttischer
Unterton, den Luca wahrnahm und großzügig überhörte. Und Sandmann war nicht sicher,
ob sich Luca darüber freute. „Sind die Geschäftsleute bezahlt, ist da alles klar?“
„Ja, du hast uns ja genügend Geld zur Verfügung gestellt. Die anderen Händler sind dir sehr
dankbar, ohne dass sie wissen, wer du bist. Du weißt also noch nicht, was du jetzt tun
willst?“
„Nein, ich werde sehen. In den nächsten Tagen oder Nächten fälle ich eine Entscheidung.
So, Luca, ich werde mich jetzt wieder um meine Angelegenheiten kümmern. Ich danke dir
noch einmal für Deine Hilfe.“
Sie blieben noch eine Weile schweigend sitzen, jeder für sich und in seinen Gedanken,
tranken ihren Kaffee aus und verabschiedeten sich dann.
Sandmann hatte vor, in sein Hotel zurückzukehren, als ein Junge hinter ihm her kam.
Francesco, der Dieb
„Nach Ihnen habe ich gesucht.“
Francesco Picolomini war sich ziemlich sicher, dass er einen relativ anmaßenden Tonfall
anschlagen konnte, ging er doch davon aus, einem Kidnapper auf die Spur gekommen zu
sein, der sich hüten musste, irgendwie mit der Polizei zu tun zu bekommen. Frechheit siegt,
dachte er sich. Trotzdem hatte er wegen ihrer ersten Begegnung am Campo Santa Maria
Formosa erheblichen Respekt vor dem Mann und war innerlich bereit, jederzeit die Flucht
anzutreten. Er konnte sich noch immer nicht von der Vorstellung befreien, dass er einem
Raubtier oder bösen Dämon ins Angesicht geschaut hatte, oder vielmehr hatte der Dämon
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ihn angeschaut und beinahe verschlungen. So kam es ihm in unbewachten Momenten
immer noch vor. Es gelang ihm nicht, sich diese Version ganz aus dem Kopf zu schlagen,
obwohl sie erheblich an seinem jugendlichen Selbstwertgefühl kratzte.
Antonio Sandmann schaute sich erstaunt um. Vor ihm stand ein etwa vierzehn- bis fünfzehnjähriger Jugendlicher und starrte ihn direkt und mit Verschwörermiene an, wobei er
versuchte, großspurig zu gucken. Der Versuch misslang. Er war sich zwar nicht sicher, wo
er das Gesicht schon einmal gesehen hatte, aber sehr sicher, dass er persönlich gemeint, dass
er gezielt angesprochen worden war.
Der Junge war schlank, fast zierlich, hatte dunkle, halblange und ungekämmte Haare und die
olivfarbene Haut, die man manchmal bei Orientalen, Iranern sieht, klare, dunkle Augen und
ein intelligentes Gesicht. Allerdings schien er, wie überhaupt so viele in seinem Alter, älter
wirken zu wollen, als er war, und so legte er einen entschlossenen Gesichtsausdruck an den
Tag, der Sandmann allerdings nicht beeindruckte.
„Meinst du mich?“ fragte er.
„Ja, genau Sie.“
„Aha. Und warum hast du mich gesucht? Wer schickt dich?“
„Niemand. Ich habe Sie neulich beobachtet.“ Jetzt fiel Sandmann wieder ein, woher er den
Jungen kannte. Er hatte kurz vor der Entführung von Gregor Steiner einmal kurz das Gefühl gehabt, dass ihn irgendjemand bedrohte, allerdings, ohne sich groß Rechenschaft
darüber abzulegen. Als er dann sah, wer da in unmittelbarer Nähe vor ihm stand und ihn
anstarrte, hatte er angenommen, dass er sich vertan hatte. Er hatte es seiner aufs Äußerste
gespannten Aufmerksamkeit zugeschrieben. Zu diesem Zeitpunkt war er schon dermaßen
auf die Ereignisse zwischen Steiner, Prosperina und ihm selbst konzentriert gewesen, dass
ihm die kurze Begegnung mit dem Jungen sofort wieder entfallen war.
„Du hast mich beobachtet, ja?“
„Ja.“
Irgendwie geriet die Konversation an dieser Stelle ins Stocken. Der Junge schien nicht recht
weiter zu wissen und druckste herum.
„Und?“ fragte Sandmann, um ihm auf die Sprünge zu helfen.
„Ich habe gesehen, wie Sie jemanden mit irgendetwas vergiftet und dann entführt haben“,
sagte Francesco schließlich auf Teufel komm raus. Er stellte erst jetzt fest, dass er auf diese
Begegnung gar nicht gut vorbereitet war. Er hatte nach dem Fremden gesucht, sich aber
nicht überlegt, was er sagen wollte oder was er überhaupt von ihm wollte. Er hatte ihn nur
einfach wieder entdeckt, wie er am Markusplatz vor dem Caffè Quadri mit einem Italiener
saß, an den er, Francesco, sich nicht herangetraut hätte, um ihn zu bestehlen. Der wirkte
irgendwie so, als sei er von der Mafia oder ähnlich, finstere Type. Die kannte er, die konnten
verdammt ungemütlich werden und hätten nicht gezögert, ihm eine böse Lektion zu erteilen, wenn sie ihn erwischt hätten. Der Fremde dagegen schien eher ein Einzelgänger zu
sein, er machte nicht den Eindruck eines Befehlsempfängers, der für die Mafia arbeitete. Er
wirkte eher wie ein Tiger unter den Aasfressern, den Hyänen der organisierten Banden, mit
denen er bisher zu tun hatte, ein ganz anderes Kaliber. Er hatte sich in der Nähe herumgetrieben und die beiden unauffällig beobachtet. Dann sah er noch, wie Geld den Besitzer
wechselte, aber es sah so aus, als würde der Italiener bezahlt, und zwar nicht gerade mit
Schutzgeld. Der hatte sich jedenfalls erkennbar höflich und keineswegs herablassend bedankt. Fast wie ein Dienstbote.
Sandmann wurde es ein wenig unbehaglich. Er hatte angenommen, dass niemand etwas von
der Entführung in der Öffentlichkeit auch nur geahnt hatte, es hatte jedenfalls in den Tagen
danach keinerlei Resonanz in den Medien gegeben, und hier stand ein Junge vor ihm und
129
sagte es ihm geradewegs ins Gesicht. Allerdings sagten ihm seine Instinkte nichts von einer
Bedrohung.
„Ich soll jemanden entführt haben?“ sagte er zur Probe und um Zeit zu gewinnen.
„Ja, und Sie haben das toll gemacht.“ Aha? Francesco wurde enthusiastisch. „Niemand hat
etwas gemerkt, nicht einmal die Frau, hinter der Sie her waren.“
„Frau?“
„Na, die Hübsche, die mit dem scharfen Rock, Sie wissen schon. Aber ich, ich habe alles
gesehen. Sie waren ziemlich geschickt, das muss man schon sagen. Wie Sie den Kellner abgelenkt haben und dem anderen dann was ins Glas geschmuggelt haben, das war schon ganz
gut. Und wie Sie den anderen dann rausgeschleppt haben. Ich hätte es allerdings besser
machen können.“ Fast kindlicher Stolz. „Nur zum Rausschleppen wäre der mir zu schwer
gewesen.“
Jetzt war Sandmann ziemlich verwirrt. Da stand ein Junge vor ihm und sagte ihm im
Grunde, dass er ihn bewunderte für seine Tat oder das, was er davon beobachtet hatte, anstatt die Polizei zu informieren. Sandmann fragte sich, ob er erpresst werden sollte.
„Und nun?“ Das schien die Frage zu sein, auf die der Junge gewartet hatte.
„Ja, und da habe ich mich gefragt, ob Sie mir nicht was beibringen können.“
„Wie bitte?“
„Ja, Ich bin nämlich Taschendieb, aber das möchte ich nicht bleiben, ich will was Besseres
werden.“
„Aha. Was Besseres!“
„Genau. Und als ich Sie so beobachtet habe, und auch schon vorher, da habe ich gemerkt,
dass irgendetwas Besonderes mit Ihnen los ist. Wissen Sie eigentlich, dass Sie mich vorher
ziemlich erschreckt haben? An der Ecke vom Santa Maria Formosa, meine ich. Ich habe
glatt gedacht, dass Sie mir den Hals brechen.“
Das war nun allerdings das Letzte, womit Sandmann jemals gerechnet hatte: da hatte er
plötzlich einen hoffnungsvollen Schüler aus Missverständnis vor sich. Nichts konnte er
weniger gebrauchen. Der Gesichtsausdruck des Jungen war intelligent und aufgeweckt, seine
Auffassungsgabe schien überdurchschnittlich zu sein. Seine Vorstellungen waren allerdings
aus einem anderen Jahrhundert, und Sandmann hatte überhaupt keine Aufmerksamkeit für
solche Dinge über.
„Junge, hör mal zu. Wenn du etwas lernen willst, dann geh in die Schule. Was glaubst du
denn, von mir lernen zu können? Also hör auf mit dem Unfug und lass mich in Ruhe, ich
habe zu tun.“
„Ich lasse Sie nicht in Ruhe, ich habe mir schon gedacht, dass Sie so etwas sagen würden.
Ich habe mir das alles genau überlegt.“ Das stimmte zwar nicht, aber er musste jetzt schnell
improvisieren, weil er spürte, dass er sonst den Kontakt zu dem Fremden verlieren könnte.
Er wusste nicht, ob er ihn dann noch einmal treffen, ob er überhaupt noch in der Stadt sein
würde. „Ich will bei Ihnen lernen, das habe ich beschlossen, als ich Sie bei der Arbeit beobachtet habe. Ich kann Ihnen auch helfen. Was haben Sie überhaupt mit der Leiche gemacht? Das war schon ein ziemlich starkes Stück, ihn vor den Augen all der Leute zu vergiften.“
Sandmann fühlte sich, als sei er in eine andere Zeit gerutscht, irgendeine Räuberpistole aus
Tausendundeiner Nacht. Der lässt sich nicht abschütteln, dachte Sandmann etwas verblüfft.
Was soll ich denn jetzt tun?
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„Ich habe den Mann nicht vergiftet, und da ist keine Leiche. Also, pass mal auf, ich bin
Arzt. Wenn du das auch werden willst, dann musst du studieren. Ich kann dir das nicht beibringen.“
„Ich will nicht Arzt werden, ich will das lernen, was Sie auch gemacht haben. Irgendetwas
mit Ihrer Erscheinung. Kann ich nicht genau sagen, aber ich weiß doch, was ich gesehen
habe.“
Na, offensichtlich scheint das ja irgendwie zu stimmen, dachte Sandmann. Dabei schaute er
sich hilflos um, als erwarte er, dass im nächsten Augenblick die Mutter des Kindes kommen
und ihn wegholen würde wie einen unartigen, kleinen Hund. Zugleich war ihm klar, dass das
nicht geschehen würde.
„Hast du denn keine Familie hier?“
„Nur einen Onkel und jede Menge Cousins, Cousinen und Geschwister.“
„Und warten die nicht, dass du“, Sandmann stocherte hilflos herum, „zum Essen nach
Hause kommst?“ Sandmann merkte, dass man so nicht mit Vierzehnjährigen sprach.
„Nein, ganz bestimmt nicht. Die sind froh, wenn ich nicht aufkreuze, oder es ist ihnen egal.“
„Ist ihnen egal, ja?“
„Völlig egal.“
Sandmann spürte zwar, dass das so nicht stimmte, aber da gab es nun nichts zu diskutieren.
„Hm. Also gut, lass uns zum Wasser gehen“, sagte er schließlich und schlenderte Richtung
Molo. Dabei ordnete er seine Gedanken.
„Was hast du denn gesehen?“ fragte er Francesco schließlich.
„Ist doch ganz klar. Erst waren Sie hinter dieser Frau her, in die Sie verknallt sind, dann
haben Sie den Mann betäubt oder vergiftet, das weiß ich nicht so genau, jedenfalls hat keiner
außer mit was davon gemerkt, und dann haben Sie ihn weggeschafft. Habe ich alles gesehen.
Aber das meine ich gar nicht. War ganz gut, aber nicht wirklich erste Sahne. Sie haben
irgend etwas anderes gemacht, so dass niemand wirklich verstanden hat, was da ablief. Ich
kann es nicht richtig sagen, das war so, als ob Sie einen Nebel um sich herum verbreitet
hätten, in dem all die anderen die Orientierung verloren haben. Als wenn Sie von einem
Schatten umgeben wären. Wenn ich’s nicht mit eigenen Augen gesehen hätte irgendwie,
hätte ich es nicht geglaubt. Ich war jedenfalls selber ganz unsicher, und das kommt mir nicht
so oft vor. Normalerweise kenne ich meine Kunden.“ Wieder dieser fast kindliche Stolz.
„Du kannst ziemlich gut beobachten, was? Wie heißt du denn?“ Sandmann fing an, Gefallen
an dem Jungen zu finden.
„Ich heiße Francesco Picolomini, und Sie?“
„Antonio.“
„Antonio, hm? Einfach nur Antonio? Na, ist ja auch egal, Sie werden schon ihren Grund
haben. Ist italienisch, oder? Dabei sehen Sie gar nicht aus, wie ein Italiener, sondern wie ein
Tourist. Hätte ich gewusst, dass Sie Italiener sind, hätte ich vielleicht gar nicht versucht,
Ihnen Ihr Portemonnaie abzunehmen. Aber richtig italienisch sprechen Sie auch nicht. Sie
sind ein Halbblut, was? Na, macht ja nichts. Können Sie ja nichts für. Was haben Sie denn
nun da gemacht, dass Sie so gut wie unsichtbar wurden?“
„Ich bin nicht unsichtbar geworden, Francesco. Ich bin aus Fleisch und Blut, und das wird
nicht unsichtbar.“
„Aber irgendetwas haben Sie da gemacht, das weiß ich genau. So als würden Sie die Leute
ablenken, wie im Varieté: Sie halten Ihre linke Hand hoch, und mit der rechten Hand vertauschen Sie die Karten. Ich kenn mich da aus. Aber Sie waren ja alleine da. Ich habe das
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schon gemerkt, als Sie mich kurz vor dem Platz angeschaut haben. Sie sind doch nicht nur
Arzt. Ich glaube das nicht. Was sind Sie wirklich? Und woher kommen Sie? Sie sind nicht
aus Italien, sie sprechen italienisch wie ein Deutscher, aber Sie verhalten sich nicht wie einer.
Da ist noch irgendwas anderes. Das will ich von Ihnen lernen.“
Sandmann begann zu ahnen, was der Junge meinte. Der hatte etwas wahrgenommen, was
andere bisher noch nicht registriert hatten: dass seine wichtigste Waffe die geistige Disziplin
war, mittels derer es möglich war, in der Gegenwart durchschnittlich aufmerksamer
Menschen über sie zu sprechen, ohne dass sie es merkten. Etwas, was er nie hatte erklären
können, hatte es doch nichts mit den Taschenspielertricks gegenüber dem Kellner zu tun.
Der Junge hatte ihn offenbar besser beobachtet als Sandmann sich selbst. Ihm war nicht
bewusst gewesen, wie weit er inzwischen über diese Technik verfügte. Bei seinem Kampfkunstlehrer hatte er sich monatelang darum bemüht, sie zu beherrschen, ja sie überhaupt
erst einmal zu verstehen. Die Grundzüge, die Worte kannte er, aber sie gaben nicht wieder,
was zu tun war, und so hatte er schließlich resigniert. Es war eine war von den Schattendisziplinen, wie sein Lehrer im Daitokuji gesagt hätte. „Du tust es und du tust es nicht“,
hatte sein Lehrer das genannt. „Dein Gegner bekommt nichts davon mit, es sei denn, du
willst es so. Dann sieht er, wovon du willst, dass er es sieht. Und wenn es eine Illusion ist,
dann deshalb, weil du das so entschieden hast.“
„Du bist ganz schön neugierig, nicht wahr?“ fragte er, aber es störte ihn bei diesem Jungen
plötzlich nicht mehr besonders. So war seine Stimme freundlich, und Francesco merkte das
sofort.
„Ja, sonst lernt man doch nichts“, sagte er daher schnell, und es machte den Eindruck, als
würde er vertraulich näher rücken. Schlagartig wirkte der Junge um ein oder zwei Jahre
jünger. „Also, was ist es, was Sie da gemacht haben? Woher haben Sie das?“
„Ich habe in einem Kloster gelernt.“
„Echt? Shaolin-Mönche und so? Cool.“ Der Junge war begeistert und von guter Auffassungsgabe, hatte er doch gleich auf die richtige Art von Kloster getippt.
„Nein, Francesco, ich war in einem Zen-Kloster.“
„In einem Zen-Kloster? Wo liegt das denn?
„In Japan.“
„Kenn ich. Da gibt’s die Samurai. Über die habe ich mal was gelesen. Und, waren Sie lange
da?“
„Ziemlich lange.“
„Cool. Und so etwas hat man da gelernt, ja? So richtig kämpfen und so?“
„Unter anderem“, antwortete Sandmann ausweichend und etwas amüsiert. „Das war aber
nicht die Hauptsache.“
„Sondern was?“ Er konnte auf jeden Fall gute Fragen stellen.
„Die Hauptsache war das Meditieren.“
„Das habe ich auch schon mal gesehen, in dem Film Karate-Kid.“
„Kenne ich nicht.“
„Da musste der Junge auch immer meditieren, und hinterher hat er alle besiegt. Und das hat
es so gebracht? Erklär mir, wie das geht. Was muss ich da machen? Ich möchte das auch
lernen. Dann kann ich besser arbeiten.“ In seiner Begeisterung war er, ohne es zu merken,
in das Duzen verfallen. Sandmann ließ es ihm durchgehen.
„So einfach ist das nicht. So, du bist also Taschendieb und willst was besseres werden, ja?
Was soll es denn sein?“
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„Weiß noch nicht genau, aber irgend so ein großes Tier in meinem Clan, ich will nicht
immer nur Handlangerdienste ausführen müssen.“
„Sondern was willst du?“
„Selber befehlen. So stark sein, dass alle mir gehorchen müssen. Geheime Kampftechniken
lernen.“
„Vergiss es. Ich werde dir nichts beibringen.“ Er wandte sich ruhig zum Gehen.
„Hey, Signor Antonio, so geht das aber nicht. Warum denn nicht? Sie haben das doch auch
gelernt und können das heute. Sie sind doch auch ein großer Boss.“
„Hör zu!“ Sandmann fuhr absichtlich heftig herum, um dem Jungen die Chance zu geben,
seinen Platz zu finden. Er hatte auf gar keinen Fall vor, mit einem venezianischen Taschendieb und Teenager trotzige Machtkämpfe auszufechten. Trotzdem war ihm klar, dass er sich
schon viel zu weit auf ihn eingelassen hatte, um noch einfach so aus der Sache heraus zu
kommen. „Was mit mir ist, davon hast du keine Ahnung, und ob ich ein großer Boss bin,
geht dich auch nichts an. Also red nicht drüber, und versuch so einen Unfug nicht noch
einmal mit mir, sonst bin ich sofort weg. Klar?“
„Ja, Entschuldigung, ich hab’s ja nicht so gemeint. Ich wollte doch nur, ich weiß nicht, ich
wollte Sie nur nicht gleich wieder verlieren. Ich habe tagelang nach Ihnen gesucht.“ Kleinlaut.
„Was ich gelernt habe, ist nicht dazu gedacht, einen besseren Dieb aus dir zu machen. Ich
werde dir eine Sache beibringen. Aber dazu musst du eine Bedingung erfüllen. Und du
musst mir“ Sandmann dachte kurz nach, „beim Haupt deiner Mutter schwören, dass du sie
erfüllst.“
„Ist gut, was ist es?“
„Du musst vorher schwören, dass du die Bedingung erfüllst.“
„Aber ich kann doch gar nicht wissen, was es ist. Nachher finde ich es total bescheuert.“
„Wahrscheinlich sogar. Aber es ist in Ordnung. Du musst es ja nicht machen. Mach’s gut.“
Und wieder wandte er sich ab.
„Ist ja o.k. Ich schwöre, dass ich mich an die Bedingung halte.“
„Beim Haupte deiner Mutter?“
„Beim Haupte meiner Mutter.“
„Gut. Vergiss nicht, du willst was von mir, nicht umgekehrt. Die Bedingung besteht aus
zwei Teilen. Erstens: du triffst mich von heute an in sieben Tagen, morgens um fünf Uhr,
an der Kreuzung Viale ventiquattro Maggio und Viale Piave. Ganz im Osten von Venedig.
Merk dir das gut. Kommst du eine halbe Minute zu spät, bin ich weg und du siehst mich nie
wieder. Du weißt jetzt, dass ich die Instinkte eines Tigers habe, nicht wahr?“ Er übertrieb
vorsätzlich.
„O.k., ich bin da. Und was soll ich da?“
„Das wirst du dann erfahren.“
„Na gut. Und das Zweite?“
„Bis dahin kein einziger Taschendiebstahl mehr. Du wirst einfach nur ständig unterwegs
sein und die Menschen beobachten, aber keine einzige geklaute Börse oder Ähnliches mehr.
Und wenn wir uns wieder sehen, berichtest du mir, was du beobachtet hast.“
„Kein Diebstahl mehr? Das ist unfair. Und was soll ich meinem Onkel sagen?“
Sandmann war sich nicht ganz sicher, warum er so hart mit dem Jungen umging. Er war
nicht im geringsten darauf vorbereitet, eines Tages einen Schüler zu haben, geschweige denn
133
einen Bewunderer. Er erinnerte sich nur daran, wie oft er im Kloster „ja, aber“ hatte sagen
wollen, und wie gut es ihm nach einiger Zeit getan hatte, zu wissen, dass seine Lehrer sich
nie um seine Einwände gekümmert hätten. Man erfüllte seine Aufgabe, oder man erfüllte sie
nicht, dazwischen war nichts. Strafen gab es natürlich nicht, auch keine Schuldzuweisungen
und Schuldgefühle, jeder Einzelne war bestrebt, seinen Platz zu finden und auszufüllen. Da
gab es keine Ausreden, man sah, was zu tun war und tat es. Es war im eigenen Interesse,
und jeder Einwand, jedes „ja, aber“ kehrte über kurz oder lang zu sich selbst zurück. Wenn
etwas schwierig war, dann war es eben schwierig. Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Und so
antwortete er bewusst schroff:
„Aber das ist mir doch egal. Dir wird schon was einfallen, und ich bin sicher, dass du ihn
belügen kannst, wenn du das willst. Ich habe nicht behauptet, dass es fair ist. Und versuch
nur ja nicht, mich zu belügen. Es gibt ungefähr“ Sandmann überlegte kurz, „siebzehn
Zeichen dafür, dass ein Mensch lügt, und ich erkenne sie alle. Ich kann noch viel mehr, aber
wenn du mich nur einmal belügst, ist es vorbei. Sofort.“
„Ja. Ist gut.“
Sandmann und Steiner
Tage später: Sandmann hatte beschlossen, ein letztes Mal mit Gregor Steiner zu sprechen.
Es war später Vormittag, als er zu dem von ihm angemieteten und dann umfunktionierten
Raum kam, nach sieben Tagen, deren Wucht er kannte, denn er hatte im Kloster gesessen.
Länger und einsamer als Steiner, denn Sandmann saß in seinem Verlust: und da wir verloren
haben, was wir zu besitzen glaubten, fehlt uns, was wir verloren, wie einem Amputierten
sein Bein. Die Gespräche, die Träume, die unerfüllten Berührungen hörten nicht einfach
auf, weil der Andere nun weg war, und es war unklar, was schmerzhafter und schrecklicher
war: das Ausbleiben der Berührung oder das Erschrecken über die Erkenntnis, dass der
Traum von der Berührung, die wir wahrgenommen hatten, nur eine Art Phantomschmerz
war. Die Unbegreiflichkeit des Geschehenen war in allem und machte ihm die Welt fremd:
wie durch einen Schleier des gnadenlosen Fremdseins war sie unberührbar geworden.
Sandmann ahnte, was Steiner litt, und was er nicht ahnte, sah er in dessen Gesicht; so ungefähr musste er in den Tagen seiner persönlichen Katharsis im Daitokuji ausgesehen
haben. Er war in einem furchtbaren Zustand. Er sah fiebrig aus und als hätte er tatsächlich
seinen Verstand verloren. Sandmann war allerdings klar, dass es sich dabei nur um eine
Phrase handelte: wir verlieren den Verstand nicht so einfach, werden nicht so einfach wahnsinnig, selbst wenn manche Menschen das permanent wiederholen und sie das wie eine
gnädige Bewusstlosigkeit hätte schützen sollen. Wie die Tiere sind wir gebunden an unser
Hier und Jetzt, und ob uns das gefällt, wird nicht gefragt. Das Erbarmen der geistigen Umnachtung ist uns nicht gegen die kleine Münze der Absicht gegeben von der Evolution, und
Halluzinationen sind etwas anderes. Sie fragen allerdings auch nicht, ob sie willkommen sind
und eintreten dürfen. Wir sind verdammt, alles zu erleben. Und wenn wir die Augen verschließen, dann verfolgt es uns eben bis hinter unsere geschlossenen Lider, bis in die
Träume. Es gibt nur einen Weg hinaus.
Wieder entfernte er die Verschlüsse der Person des Anderen: Ohren, Augen, jetzt entfernte
er auch den Knebel und sah dabei, dass die Mundhöhle erheblich wund gescheuert und über
den offenen Stellen von einem Pilz befallen war. Er nahm einen Wasserschlauch, um den
Boden um Steiner herum zu reinigen. Kot und Urin flossen in einen Abfluss im Boden.
Sandmann wirkte dabei wie ein abwesender, dunkler Gärtner, der gedankenlos die Saat des
Bösen goss. Es hörte allerdings nicht auf, zu stinken, denn die Hose war inzwischen natürlich von den verkrusteten und eingetrockneten Exkrementen getränkt und steif geworden.
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Er sprach langsam und vollkommen ruhig jetzt, scheinbar emotionslos. „Du bist aus der
Mitte vertrieben, denn ich bin die Mitte. Dir ist die Krone aberkannt, über dein Leben
herrsche ich. Dir ist die Herrschaft im eigenen Hause versagt, und nun ist dir auch noch der
Boden unter den Füßen weggezogen. Du hängst tatsächlich völlig in der Luft und Dein Verstand flattert hin und her. Ich bin der Sandmann. Solange du an mich glaubst, bin ich auch
und wirke, nur Dein Glaube ist meine Macht. Aber Du hast keine Alternative, denn ich bin
Dein Leben, ich bin Dein Tod, Du musst an mich glauben, ohne mich gibt es Dich nicht.xi
Verstehst Du, was ich Dir sage? Antworte mit den Augen. Versuch nicht, zu sprechen.“
„Töte mich“, krächzte Steiner aus seinem wunden Rachen, als hätte er nicht verstanden, was
Sandmann ihm gesagt hatte, „erlöse mich.“
„Wage es bloß nicht, mir zu befehlen, du Schwachkopf. Noch so einen Versuch, und ich
schließe dich sofort wieder ein. Verstehst du mich? Niemand, wirklich niemand befiehlt
mir.“ Sandmann gab ihm eine leichte Ohrfeige. Nichts, was Schmerzen verursachen konnte,
aber sofort fing Steiner an zu winseln.
„Gnade.“
„Hör auf. Ich will das nicht hören. Es ist zwecklos. Glaubst du im Ernst, ich mache dich
jetzt los und schicke dich mit einem Entschuldigungsschreiben nach Hause? Hör auf, mich
zu beleidigen. Du bist mein persönliches Projekt Caesarea. An dir statuiere ich das Exempel
des Sterbens, und dass es nie ein Mensch zu sehen bekommen wird, ist ein Teil meines
Plans. Du wirst möglicherweise hier im Keller des Mittelalters irgendwann verrecken,“ und
als Steiner vom Mittelalter hörte, verlor er die Orientierung noch einmal, „es wird dich
niemand je sehen oder finden, bis man dieses Haus abreißt. Aber da wir in Venedig sind,
wird nicht einmal dies geschehen. Man reißt hier keine Häuser ab, die versinken nur irgendwann in der Lagune. Mach dir eines klar: es macht keinen Unterschied, ob du lebst oder
stirbst. Du zappelst doch nur in der Welt herum, in der du für teuer Geld einkaufen musst,
um dummen Leuten beim Herumzappeln zusehen zu können oder zu dürfen. Du kannst
doch auch nur Dinge machen, nicht öfter als drei Mal am Tag satt essen oder ficken, du
kannst dich doch da draußen auch nicht öfter als ein Mal am Tag besaufen.“
„Draußen“, krächzte es aus trockenem Mund aus unendlich sehnsüchtiger Tiefe.
„Lass dich doch nur mal eine kurze Zeit lang schlechte Verdauung haben, dann wirst Du
erleben, wie du zum Weltvollscheißer reduziert wirst. Und ich bin sicher, hinterher stellt sich
vor dem Schiedsgericht heraus, dass du keine einzige Minute deines diesigen Lebens wirklich genossen hast. Du stirbst spurlos. Aber jetzt komme ich, und ich bin deine Erlösung aus
dem Grauen des alltäglichen Elends. Offensichtlich verstehst du das nicht. Deine weltlichen
Richter haben dich freigesprochen, und sie haben mich losgelassen gegen dich. Das wussten
und wollten sie nicht, aber es macht keinen Unterschied. Sie wussten überhaupt so vieles
nicht.“
Steiner weinte jetzt haltlos vor sich hin. „Aber ich wollte nicht...“, fing er an, aber Sandmann
hörte schon nicht mehr zu.
Er gab ihm einige Schlucke lauwarmes Wasser zu trinken. Steiner schaute ihn aus blutig
unterlaufenen Augen an, lange, angstvoll und voller Aufmerksamkeit, wie ein Hund, der die
strafende Hand seines Herrn kennt, fürchtet und wissen will, ob sie kommen wird und wie
er sie vermeiden kann.
„Willst du mir dieses Mal etwas sagen?“ Steiner empfand die Frage als Erlaubnis zu
sprechen.
„Aber ich kann doch nichts dafür“, sagte er mit rauer Stimme, und Sandmann wusste,
wovon der Andere sprach.
„Hör auf mit dem Schwachsinn, das hast du schon gesagt. Willst du uns beide verblöden?
Du verantwortungsloser, dummer Mensch. Natürlich kannst du nichts dafür, dass meine
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Familie tot ist. Du kannst für überhaupt nichts etwas.“ Ganz kurz musste Sandmann sich
beherrschen, Steiner nicht mit einem kurzen und heftigen Schlag zu töten. Er hatte Daumen
und Zeigefinger gespreizt, als wollte er ihm mit der Kehlung einer Mistforke an den Hals, an
den Kehlkopf schlagen, ein Schlag, der bei ausreichender Wucht und Präzision tödlich sein
konnte; Steiner merkte etwas, zuckte wimmernd zusammen, wieder ganz die Kreatur, die im
Grunde nicht sterben will, aber Sandmann hatte sich schon wieder unter Kontrolle.
Er wunderte sich über sich selbst. Seit den Tagen der Tränen im Daitokuji war seine
emotionale Lage stabil geworden, sie ruhte sozusagen. Seit er allerdings in Venedig war, in
der Gegenwart Steiners, war alles wieder in Bewegung geraten, auch sechs Jahre nach all den
Toten. Er hätte gedacht, dass die Sturmglocken seiner Gefühle zum Schweigen gekommen
waren in der dröhnenden Stille des Klosters. Und jetzt, gewissermaßen am Abend, fingen sie
wieder zu läuten an.
„Du wirst dich noch kennen lernen. Ich will dir etwas sagen: wir beide sind allein. Nur du
und ich. Keiner wird hierher kommen, niemand fragt hier nach dir, und in Deutschland
auch nicht. Das hier ist deine Welt. Du bist allein. Du hast keine Verbündeten.“
„Aber die Frau in dem Café...“
„Habe ich bezahlt.“ Dieses Haus brach ein.
Ängstlich: „Luca Tor.., Tor..?“
„Tortoni. Habe ich auch bezahlt.“
„Aber die Lieferanten.“ Er schnappte schon nach den Strohhalmen.
„Alle von mir bezahlt. Sogar die Ware.“
Steiner sagte nichts mehr. Stück für Stück löste sich seine ehemalige Welt auf und wurde zu
nichts, wie eine Fata Morgana bei näherem hinsehen verschwindet. Wie schmelzendes Eis.
„Und noch etwas. Ich weiß noch nicht, was ich mit dir machen soll. Das Ende ist offen.“
„Lass mich frei. Ich flehe dich an, bitte, lass mich frei. Ich werde hier irrsinnig. Ich halte das
nicht mehr aus. Ich habe verstanden, was ich dir angetan habe. Es tut mir leid. Ich würde es
wieder gut machen, wenn es ginge. Ich habe genug gebüßt.“
„Glaubst du im Ernst, du entscheidest das? Glaubst du, du bist hier, weil ich dich büßen
lassen will? Bist du wirklich nur noch dämlich? Du bist immer noch nicht darauf gekommen, weshalb du hier bist, was? Meine Güte, das war nicht abzusehen, als wir uns im
Gerichtssaal zuletzt begegnet sind. Ich habe dich erheblich wehrhafter in Erinnerung.
Waren die Rechtsanwälte nicht von dir ausgesucht und bezahlt? Was ist nur mit dir geschehen? Haben dir die letzten Tage schon so zugesetzt, dass Dein Hirn vermoost ist? Dann
wäre es im Grunde egal um dich. Enttäusch mich nicht, zeig Größe, Mann. Was hättest du
denn getan, wenn ich dich vor sechs Jahren eingeladen hätte, um mit mir über unseren
ganzen Schlamassel zu reden? Hättest du mir deine Rechtsanwälte geschickt? Bist du nicht
mal hierzu in der Lage? Ich glaube, ich lasse dich abholen.“
Es entstand eine lange Pause.
„Sandmann?“ Völlig heiser.
„Ja?“
„Es geht mir nicht gut.“
Erstmals sprach Antonio Sandmann in einem milderen Ton zu seinem Gefangenen. „Ich
weiß. Ich weiß, wie es dir geht. Ich kenne das.“
Es war kein Trost für Steiner.
Augenbinde, Ohrstöpsel, Knebel. Steiner kannte das furchtbare Ritual. Er war wieder allein.
Er schrie, dämmerte vor sich hin, verfluchte seinen Gefängniswärter, rief eine Weile, dann
136
gab er ganz auf und hing nur noch in seinen schmerzenden Fesseln, konzentrierte sich auf
nichts und litt an den offenen, inzwischen eitrigen Stellen an seinem Rücken. Dann
wimmerte er nur noch. Er wusste nichts mehr, war nur noch zeitloses Leid, nur noch nahezu unmenschliches Fleisch.
Die Maske
Sandmann war sehr unangenehm berührt. Er hatte damit gerechnet, dass angesichts von
Gregor Steiner der Triumph größer, der Abscheu tiefer, der Hass glühender sein würde. Er
hatte mit Größe gerechnet. Was er hier hatte, dieses läppische Opfer, lohnte all die
Planungen, Vorbereitungen, Mühen und Entbehrungen sowie das Geld und die Zeit nicht.
Er würde ja schließlich auch keine Zeit damit verbringen, eine Wanze zu zertreten. Er würde
sie fortwischen von seinem Tisch.
Er befand sich in einem Dilemma. Jahrelang hatte er in der Hoffnung, der Andere werde
nicht vor der Begegnung sterben, nur für diese Tage gelebt. Der Schnee hatte sich während
seiner Meditationen und Übungen an seinem Rücken angehäuft. Sandmann hatte sich mit
geistiger und körperlicher Disziplin darauf vorbereitet, in diesen Tagen seiner Parze Atropos
gegenüber zu treten, seiner Schicksalsgöttin, die seinen Lebensfaden abschneiden sollte,
seiner einzigen Verbündeten. Er hatte das Schlimmste überlebt, was in seinem Leben denkbar war, den Verlust seiner Kinder. Der Tiefpunkt lag hinter ihm. Dieses Wissen verlieh ihm
eine Ruhe und Gelassenheit, wie sie Selbstmörder empfinden, wenn ihr Entschluss, sich das
Leben zu nehmen, feststeht. Es machte ihn gefährlich. Menschen, die das Schlimmste überleben, sind gefährlich, weil sie einsam sind. Sie haben nichts mehr zu verlieren. Das heißt
nicht, dass sie unvorsichtig sind, sondern, dass sie nur noch eine einzige Rücksicht zu
nehmen haben: die auf sich selbst. Wer die tödliche Diagnose bekommt, ist von Stund an
nur noch sich selbst Rechenschaft schuldig, und dann weist es sich, ob Verantwortlichkeit
für Andere zu seinen Schuldigkeiten gehört.
Sandmann hatte nichts mehr zu verlieren, und er hatte gelernt, was ein Leben wert ist.
Zugleich aber er sah keinen Weg aufwärts führen. Und so hatte er sich nach seiner Abrechnung mit Steiner nichts mehr erwartet; und so war er diesen Tagen seines eigenen
Todes entgegengegangen wie seiner Hochzeit, und er war bereit gewesen, seinen Tod
freudig zu begrüßen. Er hatte ihn kommen sehen wie einen herrlichen Morgen, an dem der
Frühling das Land mit Farben überzieht und die Vögel singen. Und nun fand er sich einem
jämmerlichen Haufen Elend gegenüber, diesem Haufen aus Kot und Urin, und sah den Sinn
nicht mehr, dieses verrottende Fleisch auf eigene Kosten auch noch seines Lebens zu berauben. Das war nicht das Ende, es war ein Verröcheln. Er hätte ihn den Hunden zum Fraß
vorwerfen sollen. Plötzlich wurde es sehr schwarz in ihm, und er wusste, dass er die eine
Macht nicht hatte, die er sich wünschte, um diesen dummen Jungen zu bestrafen: er besaß
nicht die Macht, ihn zu ewigem Leben zu verurteilen; zweihundertfünfzig Millionen
Milliarden Jahre Leben. Es war das, was er Luca bei dem Gespräch auf dem Markusplatz
nicht mehr gesagt hatte. Dann überlegte er noch einmal: hätte er sie, hätte er diese Macht, er
hätte diese Strafe wohl doch nicht ausgesprochen oder sie am Ende seines eigenen Lebens
rückgängig gemacht. Das wäre dann doch zu grauenvoll gewesen.
Er hatte seinen Gegner, den Vernichter seiner bisherigen Existenz, wer auch immer das war,
völlig überschätzt. Er stellte fest, dass er an einen Menschen schon gar nicht mehr gedacht
hatte, eher als eine Mensch gewordene Institution zur Vollstreckung eines widrigen Urteils.
Aber ihm gegenüber standen Fleisch und Blut, stand ein Gesicht mit Geschichte. Wieder
war es nur ein dummes Gesicht, dem dumme Worte entquollen. Ein Luftverbraucher, ein
Kotabsetzer, ein Verschmutzer, der den ganzen Aufwand nicht mehr lohnte. Mit allen möglichen Vorsichtsmaßnahmen hatte er verhindert, dass Steiner ihm während des Kerkerauf-
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enthaltes durch einen dummen Zufall wegstarb, und nun stellte sich heraus, dass es Steiner
gleichsam nicht gab: noch bevor er ihn hatte fassen können, war ihm Steiner in die Nichtigkeit entkommen. Sandmann schlug mit dem Hammer an die Welt, er peitschte das Meer,
aber die Welt antwortete nicht, das Meer blieb stumm. Es kümmerte nicht.
Luftverbraucher, Kotabsetzer, Verschmutzer: Er fragte sich, ob diese zynische und
utilitaristische Sichtweise gegen einen seiner Mitmenschen legitim war, auch wenn der seine
Existenz mit einem Schlag vernichtet und ihn selbst bedroht hatte. Bedrohst Du mich,
werde ich Dich töten. „Aber den Schutz des Individuums gewährleistet der Staat“, sagte der
innere Anwalt. Nur: das, wusste er, stimmt nicht. Der Staat hatte sich nicht, hatte sich noch
nie zwischen Angreifer und Opfer geworfen. Der Theorie folgte keine Praxis, sondern
Interessenpolitik. Und ein Mensch, der seine Kinder, seine Familie verloren hat, ist an
Politik nicht mehr interessiert. Was also sollte ihn abhalten? Kants kategorischer Imperativ?
Das Antlitz des Mitmenschen? Beide hatten ihn mit dem dumpfen Gesicht des gemästeten
Verbrauchers angegrunzt: ich wollte das nicht, ich kann nichts dafür. Shit happens. Also war
seine Entscheidung gefallen: ich kann was dafür. Ihr hattet eure Chance. Nutzen müsst ihr
sie selber. Jetzt übernehme ich.
Er hatte gehofft, dass wenigstens Gregor Steiner ein ernst zu nehmendes Gegenüber sei,
gestählt durch die Notwendigkeit, mit seinem Totschlag fertig zu werden, und nun diese
Enttäuschung. Ein letztes Mal war er betrogen worden. Nicht einmal die Vergeltung war
ihm vergönnt. Es war unfassbar. Am Ende begegne ich immer nur mir selbst und tausendmal mir selbst, dachte er, und er musste an Shokojin Riyoshi, seinen Lehrer aus dem
Daitokuji denken, der ihm vorausgesagt hatte, er werde seinen Gegner finden, aber er werde
anders aussehen als er sich das habe träumen lassen. Es blieb nur eine einzige und letzte
Auseinandersetzung. Er stand vor seinem eigenen Spiegelbild. Die Kreise schlossen sich.
Did you confuse the Messiah in a mirror and rest because he had finally come?xii
In solche und ähnliche Gedanken versunken war er, zum ersten Mal seit langem dankbar für
die freie Zeit, über die er verfügte, vor sich hin gegangen und hatte nicht mehr auf seinen
Weg geachtet. Nun lief er in den anderen hinein. Es war ein Zusammenprall an der unmöglichsten Ecke am helllichten Tag. Als sei keine Zeit vergangen stand er vor ihm mit seiner
hohen, hageren Gestalt, die Bewegungen leicht vorgebeugt und wie von einem Zahnrad gezogen, dunkler Umhang und eine schwarze, lederne Halbmaske, an einer ganz menschenleeren Ecke. Immer noch.
Antonio Sandmann hatte die merkwürdigen drei ersten Begegnungen vor einigen Tagen
beinahe schon wieder vergessen, aber jetzt standen sie voreinander, ineinander geprallt,
Sandmann spürte noch das leise Nachwanken in seinem Körper, der andere schien überhaupt nicht erschüttert zu sein, geradezu unberührt. Sie waren mit einem ziemlichen
Schwung zusammengelaufen, und Sandmann atmete beim Zusammenprall etwas aus. Der
Maskierte ebenfalls, und er glaubte, etwas wie „Jetzt“ aus dem Mund des Mannes gehört zu
haben. Er verstand es nicht.
„Wie bitte?“ fragte er, aber der Mann antwortete nicht.
Sie standen still voreinander, fünf Sekunden, zehn, niemand sprach. Es war eine völlig absurde Szene, unwirklich wie nicht von dieser Welt. Hätte der Andere ihm die Uhrzeit gesagt,
Sandmann wäre nicht so verdattert gewesen. Er schaute in das maskierte Gesicht des
Fremden, versuchte, seine Augen zu erkennen, aber wie bei der zweiten Begegnung an der
Riva degli Schiavoni ahnte er nur einen Schimmer in der Tiefe des Dunkels hinter der
Maske. Er war versucht, sie dem anderen abzureißen, aber er ließ es. Dafür sprach er ihn
schließlich an.
„Was willst du von mir?“
138
„Was willst du von mir?“ fragte der Maskierte zurück, mit der Betonung auf dem Du. Seine
Stimme klang seltsam körperlos, wie das Rascheln trockener Blätter in einem großen Raum
mit der Akustik einer leeren Kirche.
„Wer bist du?“
„Wer bist du?“
„Hör auf mich nachzuäffen. Ich habe dich schon drei Mal gesehen.“
„Nein, du hast mich nicht schon drei Mal gesehen. Du hast mich schon viel öfter gesehen,
aber du hast nicht auf mich geachtet.“
„Hast du mir etwas zu sagen?“
„Sag du es mir.“
„Ich frage aber dich!“ Sandmann wurde ungehalten.
„Und ich frage dich.“ Die Stimme des Maskierten blieb ruhig.
Es war wie verhext. Sandmann kam es vor wie ein Spiel unter Oberschülern
„Sag mir, was du von mir willst.“
„Gar nichts. Du willst etwas von mir. Sag es mir.“
„Ich will etwas von dir? Was will ich denn von dir?“ Sandmanns Stimme wurde scharf und
gereizt. Er mochte es nicht, wenn man ihm sagte, was er wollte, dachte oder fühlte. Er
empfand es als Zumutung, sich mit den Interpretationen und Mutmaßungen anderer über
ihn auseinander setzen zu müssen. Man hätte ihn fragen können, das jederzeit, aber es ihm
zu sagen, ihm zu sagen „Du willst doch nur, du findest doch...“ war ihm stets zuwider.
Allerdings die scharfe Entschlossenheit in seiner Stimmer war nicht überzeugend und
schwand noch mehr, als er sich bewusst machte, in welcher Situation er sich befand und mit
wem er hier sprach.
„Das weißt du nicht?“ antwortete die Maske.
„Nein, ich weiß es nicht.“
„Und warum warst du dann sechs Jahre lang weg?“
„Woher weißt du, dass ich sechs Jahre lang weg war?“
„Ich weiß sogar, wo du gewesen bist.“
„Was soll das“, fragte Sandmann. Er fühlte sich auf der Kippe zwischen Beklommenheit
und Verärgerung. Irgend etwas stimmte an dieser Begegnung ganz und gar nicht, er konnte
aber nicht sagen, was es war. „Ich habe keine Zeit, mit Dir Rätselraten zu spielen. Sag mir,
was du willst oder lass mich in Ruhe.“
„Du hast keine Zeit.“ Wie Rascheln von totem Laub.
„Nein, habe ich nicht.“
In diesem Augenblick veränderte sich das Gesicht, nein, sogar die ganze Erscheinung des
mysteriösen Unbekannten. Zweimal innerhalb weniger Sekunden schien er sein Aussehen
zu wechseln, als würde seine Erscheinung durch sein Negativ ersetzt und gleich wieder
durch sein Positiv. Es war, als sei er in der Dunkelheit von einem sehr grellen Scheinwerfer
oder von einem Blitz beleuchtet worden. Im Negativ sah er plötzlich die Augen, weiß unter
der Maske hervorstechen, das Weiße im Auge wurde schwarz und die Pupille weiß, und so
schien er Sandmann mit einem hämischen Gesichtsausdruck aus scheelen Augenwinkeln zu
mustern. Dann kippte das Bild und die Augen waren wieder in undurchdringlichem Dunkel
verschwunden.
„Was machst du da?“ Sandmann fing ernstlich an, an seinem Verstand und seiner Wahrnehmungsfähigkeit zu zweifeln. Was er da eben gesehen hatte, konnte nicht sein. Da war
139
kein Gewitter und kein Scheinwerfer hinter ihm. Er fragte sich, ob nicht vielleicht die Belastungen der letzten Tage etwas viel gewesen sein könnten. Aber der Maskierte antwortete
ihm nicht, sondern fragte seinerseits:
„Du hast keine Zeit?“
„Ich weiß es nicht.“
„Du entscheidest das. Du hast Zeit, oder du hast keine Zeit.“
„Wer bist du?“
„Fragtest du schon. Erinnerst du dich an Shokojin Riyoshi?“
„Natürlich. Was ist mit ihm? Stimmt irgendetwas nicht?“
„Hast du Zeit?“
Widerstrebend: „Na gut. Ja.“
„Das ist gut.“ Schweigen. Es hätte nicht viel gefehlt, und Sandmann hätte den Eindruck
bekommen, dass der Maskierte auf etwas wartete, dass er ungeduldig mit den Füßen auf den
Boden klopfte, wie andere mit den Fingern auf der Tischplatte trommeln, und dabei auf die
Uhr sah. Aber als das Gespräch zum Stillstand kam, war es völlig ruhig um sie herum und
der andere rührte sich nicht.
„Und jetzt?“, fragte Sandmann.
„Warte.“
„Worauf denn?“
„Warte einfach. Du bist ungeduldig.“
„Ja. Natürlich.“
„Ich weiß.“ Der Maskierte wirkte fast väterlich.
„Was ist mit Shokojin Riyoshi?“
„Nichts. Ich wollte nur, dass du dich an ihn erinnerst.“
„Was soll denn jetzt werden?“
„Eben.“ Mehr sagte er nicht.
Und so wartete Sandmann, ohne zu wissen, worauf er warten sollte, mitten in einem der
tiefsten Stürme seines Lebens. Er wartete. Nichts geschah. Er erinnerte sich nur. Dann,
nach unbestimmter Zeit, überhaupt schien die Zeit in dieser Gegenwart des Maskierten
eigenen Gesetzmäßigkeiten zu gehorchen, hob der in einer vorsichtig gleitenden, langsamen
Bewegung die Hand, öffnete sie und berührte Sandmann mit dem Daumen an der Stirn.
Sandmann reagierte überhaupt nicht. Es wirkte, als hätte der Maskierte ihm irgend etwas
dorthin geklebt, irgend ein Zeichen, eine Marke, die ihn kenntlich machen sollte unter den
Menschen. Unwillkürlich fasste Sandmann sich an die Stirn, rieb seine Haut, aber es war
dort nichts.
„Was“, fing Sandmann an und wollte fragen, was das solle, aber bevor er weiter sprechen
konnte, sprach der Andere.
„Gib jetzt Ruhe“, sagte der Maskierte, dann setzte er seinen Weg mit den wie aufgezogen
wirkenden Bewegungen fort, wieder ahnte Sandmann das Geräusch des Flügelschlags eines
großen Vogels in großer Höhe, und ehe er reagieren konnte, war der andere um die nächste
Ecke herum verschwunden. Sandmann blieb benommen zurück und machte keinerlei Versuch, den anderen aufzuhalten. Er wusste nicht, ob er geträumt oder ob er das eben wirklich
erlebt hatte.
140
Wegwurf
Sandmann ging, durch diese sonderbare Begegnung tief irritiert, durch die Gassen des
Dorsoduro, immer noch ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen, und er ging lange. Von Zeit
zu Zeit fasste er sich an die Stirn, es sah aus, als taste er nach einem Sonnenbrand. Die Stelle
fühlte sich merkwürdig an, sie strahlte Wärme ab, als habe er dort eine Entzündung oder
eine Schürfwunde, aber es war nichts zu tasten. Auch als er sich im Schaufenster eines Geschäftes anschaute, war dort nichts zu sehen. Es war eine Begegnung gewesen, wie er sie
noch nicht erlebt hatte. Die gesamte Erscheinung des maskierten Mannes kam ihm völlig
irreal vor, als sei er einem Gespenst begegnet, das nur in seiner Einbildung existierte. Einem
Boten verbesserte er sich. Aber was war die Botschaft? Woher wusste er von seinem sechs
Jahren und von Shokojin Riyoshi? Konnte es sein, dass er hier einen geheimen Botschafter
seines Lehrers getroffen hatte? Er traute ihm ja allerhand zu, aber solche merkwürdigen Erscheinungen gehörten nicht zu seinem Repertoire. Wenn er ihm etwas mitzuteilen hatte,
dann teilte er es ihm mit und machte keine Sperenzchen. Nun war er allerdings in Japan und
konnte demzufolge nicht hier sein. Und außerdem stand ja immer noch seine unerfüllte
Voraussage im Raum, er werde seinen Gegner finden und er werde anders aussehen, als er
sich das dachte. Das war ihm nun auch klar geworden. Was aber sollte ihm der Maskierte
sagen? Eine merkwürdige Erscheinung, Haltung, Bewegung, und dann diese Maske, in einer
Stadt, die für ihre Masken berühmt war, nicht unbedingt auffällig, aber doch bemerkenswert
unspektakulär: die Maskierten, die ansonsten durch die Stadt liefen, waren bunt und wirkten
wie die Statisten eines Lustspiels von Shakespeare. Dieser hier wirkte gar nicht dekorativ.
„Gib jetzt Ruhe“, hatte er gesagt. Was sollte das heißen? Was sollte er jetzt machen mit
Steiner? Ruhe geben? Es kam zu nichts von dem, worauf er jahrelang gewartet hatte. Hatte
er vielleicht an Indianer gedacht? War er einem Gespenst hinterhergelaufen? Gab es Steiner
überhaupt? Irgendwie nicht. Sandmann hatte in den fünf Jahren im Kloster völlig vergessen,
dass viele der Menschen hier die Verantwortung für sich selbst und ihre Handlungen nicht
zu übernehmen bereit waren und daher lauthals winselten, wenn man ihnen hart zusetzte.
Er hatte bei seinen Übungen und bei der hingebungsvollen Erfüllung seiner kleinen und
größeren Aufgaben und Übungen, seiner einzigen Möglichkeit, menschenwürdig zu überleben, den Kontakt zur Welt verloren. Er hatte vergessen, wie sie gemeinhin ist. Er hätte
Verständnis gehabt, wenn Steiner strategisch gejammert hätte; wenn er versucht hätte, ihm
mit Drohungen und Versprechungen zu kommen, wenn er versucht hätte, ihn mit was auch
immer zu bestechen; wenn er versucht hätte, ihn durch beißenden Spott oder ätzende
Aggressivität zu unüberlegten Handlungen zu provozieren; wenn er ihm überhaupt irgendwie entgegengetreten wäre. Was auch immer. Aber diese bedingungslose Kapitulation war
ihm als Möglichkeit nicht in Betracht gekommen. Er hatte all die Jahre hindurch angenommen, Steiner würde sich irgendwie wehren, aber der entwickelte ja überhaupt keinen
Widerstand, er wollte nur einfach nicht sterben. Das war in seinen Planungen nicht vorgekommen, obwohl es so nahe gelegen hatte.
Er hätte es voraussehen können, hatte er aber nicht. Jetzt hatte er ihn am Hals und stellte
fest, dass es nicht einmal lohnte, hierfür auch nur einen Teil, einen einzigen weiteren Tag
seines Lebens wegzuwerfen. Das ist nicht mehr der, den ich hier zurückgelassen habe,
dachte er. Der ist schon nicht mehr, ja was eigentlich, satisfaktionsfähig ging ja irgendwie
nicht; es war die reine, bewusstlose Verantwortungslosigkeit, das Fleisch gewordene Jugendstrafrecht. Er war ratlos.
Hier war der, der sein Leben zerstört hatte in einem Augenblick betrunkenen, geistigen
Wegwurfs, und nun stellte er fest, dass er nichts mehr mit ihm anfangen konnte. Es gab
nichts mehr zu sagen, nichts zu tun. Eine Fliege: wenn ihn eine Fliege bei der Arbeit gestört
141
hätte, dann hätte er sie verscheucht. Wenn sie frech geworden wäre, wäre er aufgestanden
und hätte sie totgeschlagen, ohne sich Gedanken darüber zu machen, warum sie ihm ständig
über das Gesicht oder das Papier kriecht, weil es nicht zu den menschlichen Gewohnheiten
gehört, sich in die Motive von Fliegen hineinzuversetzen. Und nun dies.
Es war für Sandmann unvorstellbar gewesen, sich damit abfinden zu müssen, dass nichts als
ein betrunkener Zufall sein Leben in eine ganz neue Bahn gelenkt haben sollte, und nun war
es offensichtlich doch so. Nichts sonst. Er konnte eigentlich nur schweigend und beschämt
fortgehen, so sehr hatte er sich getäuscht. Dass ein Schicksal dahinter stand, eine Fügung
mit welchem Ziel auch immer, hätte er nie geglaubt. Wozu hätte es gut sein sollen, ihn so
vernichtend zu schlagen? In den sechseinhalb Milliarden Jahren des Universums vor seiner
Geburt war es ohne ihn ausgekommen und hatte sich offensichtlich nicht um seine Belange
geschert, die restlichen siebeneinhalb Milliarden Jahre würden ebenso vergehen, und er mit
seinem albernen halben Dutzend Toter war da der Rede wert nur für ihn selbst. Das ging
offenbar nur noch ihn selbst etwas an. Er hatte immer gedacht, dass Steiner irgendwie beteiligt sei. Und nun war da nichts. Die Banalität des Geschehenen, tja, er konnte noch nicht
einmal sagen, dass sie ihn kränkte oder vernichtete. Er hatte nur einfach nicht damit gerechnet. Nun lag es offen vor ihm. Er war ratlos.
Es war ein Fehler gewesen, aus dem Kloster zurück zu kommen. Er hätte im Daitokuji, er
hätte auf seinem Weg bleiben sollen, fernab der Welt. Das hier ging ihn nichts mehr an.
Steiner war außerhalb jeder Verständnismöglichkeit. Sandmann musste nur noch die Überreste wegräumen, vielleicht nicht einmal mehr das. Aber wenn ich ihn da lasse, dachte er,
fängt die Leiche früher oder später an, das Haus zu verderben. Das kann ich nicht machen.
Schließlich entschied sich Sandmann, die Begegnungen mit dem Maskierten auf sich beruhen zu lassen. Er verstand nicht genau, was da geschehen war, und weiteres Grübeln
brachte ihn einem Verständnis nicht näher.
Ohne sich besonders zu orientieren, hatte Sandmann verschiedene Brücken überquert und
war an Häusern und Menschen vorbei gegangen, die er kaum wahrnahm. Es war seine besondere Art, sich Gedanken zu machen: in Bewegung. Meditatives Gehen.
Und dann war sein Entschluss gefasst. Er beschloss, seinen Onkel anzurufen: Angelo
Scipione sollte einen unkomplizierten Weg wissen, Gregor Steiner aus der Stadt zu schaffen.
Er suchte das nächste Café auf, in dem er ungestört telefonieren konnte, dann wählte er die
Nummer.
„Onkel Angelo, ich bin es. Ich brauche jetzt Deine Hilfe. Ein erstes und ein letztes Mal.“
„Was soll ich tun?“
„Ich will den Mann loswerden.“
„Auf die Müllkippe?“
„Nein. Er lebt noch. Kannst Du ihn mir vom Hals schaffen?“
„Wirst Du denn nicht mit ihm fertig?“
„Natürlich werde ich mit ihm fertig. Da ist bloß nichts, womit ich fertig werden könnte. Der
existiert irgendwie gar nicht. Ich kämpfe nicht einmal mit einem Luftgeist. Es ist ein
Vakuum. Es saugt alles auf. Das hatte ich nicht erwartet. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Er ist nicht einmal böse. Um wahrhaft böse zu sein, müsste er stark sein. Das aber
ist er nicht. Er ist nur ein armes Würstchen. Unglaublich. Was ich für böse gehalten habe,
war die Folge von Gedankenlosigkeit und Gleichgültigkeit, die für irgendwen unangenehme
Folgen haben, und diesmal traf es dummerweise mich.“
Langes Schweigen am anderen Ende der Leitung. Sein Onkel war offenbar ratlos. Er fragte
sich, ob er seinem Neffen raten sollte, entschied sich aber dann dagegen, und das war wohl
klug so.
142
„Ja. Luca hatte mir schon so etwas angedeutet, obwohl ich nicht recht verstanden habe, was
da zwischen Euch vor sich geht. Aber wie dem auch sei, wie stellst Du Dir das vor? Woran
hast Du gedacht?“
„Schaff ihn hier aus Venedig weg. Irgendetwas außerhalb von Europa, weit weg vom
Schuss. Kannst Du das?“
„Aber sicher.“
„Ich will ihn hier nicht mehr haben. Eine Bedingung, nein, Entschuldigung, eine kleine
Bitte: er soll lange brauchen, um hierher zurück zu kommen, wenn er das tun will. Wenn er
mich in Patagonien anzeigen will, dann lachen sie ihn aus, und wenn er wieder hier ist, kann
er gar nichts mehr beweisen. Ich habe ihn aus gemacht wie eine Lampe. Der Luftballon ist
geplatzt, es war noch nicht einmal laut.“
„Patagonien? Ach so. Und wenn er zurückkommt? Dann hast Du eine Anzeige am Hals. Er
ist Zeuge, und Zeugen räumt man aus dem Weg.“
„Er ist unverletzt, er ist nur völlig verwirrt und geistig heruntergekommen. Er weiß weder,
wo er war, noch kann er auf Verstümmelungen deuten. Ich habe ihn ja kaum angefasst.
Zwei oder drei Infektionsstellen vielleicht, aber das verheilt, ich habe ihn versorgt. Er war
halt zwischendurch verschwunden. Wenn er je zurückkommen sollte, gibt es seinen Kerker
nicht mehr. Wo sollte er suchen, welche Namen sollte er nennen? Sein Geisteszustand ist
verheerend, aber das war er wohl auch vorher schon, da ist kein großer Unterschied. Er
läuft ja vielleicht sogar Gefahr, dass man ihn in die Psychiatrie einweist, wenn er mich anzeigen wollen sollte: Freiheitsberaubung? Lächerlich, er ist geistig umnachtet. Selbst wenn
ich ihm meine Adresse sage, wird er mir nie wieder unter die Augen treten können. Körperverletzung? Nicht mehr nachweisbar, wenn man ihm denn glauben würde.“
„Bist Du sicher?“
„Nein, wie sollte ich das sein. Aber er wird schreien vor Angst, wenn er mich sieht. Ich bin
seine Hölle und sein Erlöser zugleich. Er ist konditioniert. Er wird wahrscheinlich heilfroh
sein, dass er mit dem Leben davonkommt. Am Ende wird er mir vielleicht sogar noch dankbar sein, wer weiß das schon, aber es spielt jetzt keine Rolle mehr. Der kommt entweder nie
wieder, oder wenn er es doch tut, dann traut er sich nicht, ein lautes Geräusch zu machen,
schon gar nicht in meiner Nähe. Oder es kommt ein völlig Veränderter wieder. Das kann
ich nicht voraussehen. Die Chance ist gering, aber real. Die Angst verändert ja vieles in
einem Menschen, vielleicht haben ja die letzten Tage etwas in ihm in Bewegung gesetzt.
Keine Ahnung, es ist mir auch egal.“
„Nun gut. Wie soll es ablaufen?“
„Ich liefere ihn in einer unzerbrechlichen Verpackung bei Dir ab, Du gibst ihn irgendwem,
und der bringt ihn lebendig nach, hm, warte mal, bring ihn irgendwohin südlich der Sahara.
Nur weit weg damit.“
„Und wenn er dort stirbt?“
„Ach, das glaube ich nicht, aber es ist mir auch egal, es interessiert mich nicht mehr. Er
stirbt doch früher oder später sowieso. Tun wir doch alle, hier oder dort. Jetzt ist er
wenigstens vorbereitet. Tut ihm nichts, lasst es sein, es lohnt sich nicht. Von mir aus könnt
ihr ihm auch noch zeigen, wo die deutsche Botschaft ist.“
„In Ordnung, wir bringen ihn weg. Und die Botschaft zeigen wir ihm nicht. Wann und wo?“
„Treffen wir uns heute Nacht um drei Uhr vor den Stufen von Il Redentore? Rechts neben
dem Eingang?“
„Auf der Giudecca? Warum da?“
„Es muss sein.“
143
„Na gut. Weißt Du, ich verstehe Dich manchmal nicht, Du bist mir ein bisschen unheimlich“, und Sandmann begann zu ahnen, dass er damit noch untertrieben hatte. Wenn sein
Onkel ihm das schon sagte, der alte Patriarch, dann musste es arg sein. Der Unterschied
zwischen den Daheimgebliebenen und ihm wurde ihm selbst langsam immer deutlicher, und
ihm wurde selbst brennend bewusst, wie einsam er war.
„Mensch, Junge“, sein Onkel hatte einen regelrechten kleinen Ausbruch von Enthusiasmus,
„Du hättest ihn uns überlassen sollen, wir hätte ihm auf eine sehr süditalienische Weise klargemacht, dass das nicht geht, was er getan hat. Es war auch meine Familie. Aber gut, es war
Deine Entscheidung.“ Er kriegte sich gleich wieder ein. „Du bist mein Neffe, Du wirst wissen, was Du tust.“
„Onkel Angelo, Du glaubst zu sehr an die Macht der körperlichen Schmerzen. Ich kenne die
Schmerzen, ich habe sie erlebt. Sie bedeuten nichts. Man kann sich über sie hinwegsetzen.“
„Er nicht.“
„Vielleicht nicht. Was ich mit ihm gemacht habe, wird ihn nachhaltiger beeinflussen, als
alles, was Deine starken Männer mit ihm hätten veranstalten können.“
„Glaubst Du, so ist das?“
„Auf jeden Fall. Ich habe ihn mit etwas konfrontiert, was auf Dauer schlimmer ist als die
langwierigste Tracht Prügel und tausendmal schlimmer als der Tod. Mit etwas, dem er nicht
entkommen kann, wie weit er auch laufen mag. Aber er wird versuchen müssen, zu entkommen, und darum hat er schon verloren. Diese Hölle trägt er mit sich herum, ob er will
oder nicht. Auch wenn er es gar nicht weiß. Er ist auf der Flucht zum Rand der Welt und
trifft immer nur sich selbst.“
„Luca sagte mir auch schon so etwas, Du hättest von der Hölle gesprochen. Weißt Du
eigentlich, dass Du ihm mit Deinen Vorstellungen einen ziemlichen Schrecken eingejagt
hast? Ich musste ihn richtiggehend beruhigen.“
„Ja? Das wollte ich nicht,“
„Ich weiß. Ach ja, vielleicht bin ich auch zu alt für diese neumodischen Dinge.“
„Angelo Scipione, alter Raubvogel, das ist nichts Neumodisches, das ist uralt. Ich habe das
im Kloster erfahren müssen: die Begegnung mit uns selbst ist die Schwerste von allem.
Sowohl schwer, sie herbeizuführen, obwohl das eine Illusion ist, denn sie hat schon längst
stattgefunden, als auch schwer, sie wahrzunehmen, obwohl sie doch unvermeidlich ist, als
auch schwer, sie auszuhalten, obwohl wir es doch immer schon tun.“
Antonio Sandmann war von seinen eigenen Worten überrascht. Er hörte die Worte seines
Lehrers wieder.
„O.k., ich verstehe da nichts von. Ich bin ein einfacher Mensch, wie Du weißt, mir ist das zu
hoch. Du hast studiert, ich habe mein Lebtag nur Wein angebaut.“
„Ach, Angelo, ich verstehe die Menschen doch auch nicht mehr als Du. Das hat mit studieren gar nichts zu tun. Sie sind so sonderbar, so weichlich und konturlos. Sie treffen auf
Tod, Vergewaltigung, Folter, auf Dinge, die anderen Menschen widerfahren, sie sind ganz
entsetzt, erschrocken wie die kleinen Kinder, wenn sie hören, dass wieder einmal vier
Menschen geschlachtet wurden, dass wieder einmal ein Kind entführt und getötet wurde.
Ich verstehe das Entsetzen nicht. Da erleiden sie Nervenzusammenbrüche, wenn sie davon
hören, und zugleich wissen wir doch Tag für Tag von zehntausenden von Toten, fast immer
durch Gewalt oder Krankheit. Es passiert ununterbrochen, jede Minute, jede Sekunde, seit
Jahrtausenden schon, überall, und nur der Abstand macht den Unterschied, da können wir
doch nicht so tun, als wüssten wir davon nichts. Mir ist die Gewalt wirklich widerfahren. Ich
habe meine wahren Kinder verloren. Alle beide. Ich verstehe das nicht.“
„Was meinst Du?“
144
„Warum nur tun sie so, als hätten sie Nervenzusammenbrüche und gehen danach ins Kino,
um sich einen Film über einen Alkoholiker anzusehen oder darüber, wie Menschen in
großer Zahl sterben und andere Menschen Nervenzusammenbrüche kriegen? Spüren sie gar
nichts mehr, so dass sie immerzu sagen müssen, wie viel sie fühlen? Sind sie so ausgehöhlt,
dass sie sich ununterbrochen mit Sensationen füllen müssen, nur um kurze Zeit später die
nächste Sensation zu sich zu nehmen? Ist das in den letzten Jahren schlimmer geworden
oder war das schon immer so? Ich kann es dir nicht genauer sagen, sie sind mir so fremd.
Ich verstehe sie einfach nicht mehr.“
„Das ist die Einsamkeit, Antonio.“ Das Unverständnis seines Neffen unterschied sich zwar
deutlich von seinem, aber er hatte wohl intuitiv die richtigen Worte gefunden. Er merkte es
an der Reaktion seines Neffen. Der ließ sich nicht gerne in seine Angelegenheiten hineinreden, aber dieses eine Mal akzeptierte er einfach.
„Ja“, sagte er dann, „vielleicht. Vielleicht hast du recht.“ Schweigen. „Die Einsamkeit macht
uns vielleicht wahnsinnig. Wir verlieren offenbar sehr schnell den Zusammenhang mit den
anderen Menschen.“
„Das ist nicht gut für dich. Du brauchst eine neue Frau. Bleib nicht so viel allein.“
„Wir werden sehen. Ach Angelo?“
„Ja?“
„Weißt Du, wenn ich das, was Steiner gerade geschieht, mit einem meiner Klosterbrüder
gemacht hätte, der hätte einfach abgeschaltet und gewartet. Es ist interessant, die Sache
einmal so zu betrachten.“
„Hm.“ Angelo war wirklich eher ein Pragmatiker.
„Ja.“
„Nun gut. Also, was das Abholen von Steiner angeht, ganz so schnell geht das bei mir auch
nicht, ich muss das erst noch ein wenig vorbereiten und einige Telefongespräche führen.
Geht es auch morgen Nacht? Kannst du ihn noch einen Tag behalten? Dann wird das
klappen.“
„Ist gut. Ciao.“
„Ciao.“
Erwachen
In Gedanken nach diesem Telefongespräch bei nichts konkretem mehr, ließ Sandmann sich
von einem unsichtbaren Strom des Zufalls durch die Gassen der Stadt weitertreiben, ohne
auf seinen Weg zu achten. Vielleicht ging er auch im Kreis, denn die Sonne des späten
Nachmittags schien ihm abwechselnd ins Gesicht und auf den Rücken. Er achtete nicht
mehr auf seinen Weg, da er wusste, dass man sich in dieser allseits von Wasser umgebenen
Stadt nicht wirklich verlaufen konnte. Jetzt befand er sich ganz im Schatten, irgendwo in der
Gegend des kleinen Restaurants, in dem er vor wenigen Tagen mit Prosperina, nein, mit
Chiara, verbesserte er sich, zu Abend gegessen hatte. Die Gassen wurden kleiner und immer
enger, dann wurden sie so eng, dass keine zwei Menschen hier gerade hätten nebeneinander
gehen können. Ein letztes Mal um eine Ecke, und er war allein. Ruhe. Ruhe.
Ein Sottoportego auf der anderen Seite eines winzig kleinen Platzes, der nicht viel größer
war als ein Arbeitszimmer. Dieses Sottoportego war eine Art offener Durchgang unter
einem Haus hindurch, eine Unterführung, nicht weiter als für einen Menschen zur Zeit. Der
Weg schien auf eine Art Balkon zu führen und dort zu enden, aber nein, die Balustrade
führte nach links an einem kleinen Kanal entlang. Von schräg rechts sandte die Sonne ihr
145
warmes Licht in die Gasse, sie stand beinahe über den Dächern. Es war windstill, kein Lüftchen regte sich. Er hielt den Atem an. Hier war urplötzlich eine Ruhe, eine Stille, wie sie
vollkommener nicht sein konnte; zum ersten Mal seit scheinbar endlos vielen Jahren konnte
er diese besondere Art der Stille wieder hören. Flügelschlag und Fensterknarren, dann wieder still.
Sandmann setzte sich auf den Stein in die Sonne. Er schloss die Augen. Kein Mensch war
zu hören. Er befand sich jetzt an einem Ort außerhalb von Raum und Zeit, und in einem
Augenblick hatte er das Gefühl, dass das gesamte Universum auf ihn zu glitt: die endlose
Schwärze des Weltalls eine unendlich weite Gummidecke, und er wie eine schwere Stahlkugel in der Mitte. Alles bewegt sich in einer sanft gleitenden Dünung auf ihn zu, wie das
Meer am Abend, wenn der Sturm zur Ruhe gekommen ist, ans Ufer zurückkehrt, er hörte
und sah den lautlosen Wellenschlag aller Zeit. Alle Dinge wichen zurück.
Und es war eine Stille im Himmel, etwa eine halbe Stunde langxiii.
Vollkommener Augenblick.
Ich mache die Dinge hier geschehen, meine Gedanken, meine Handlungen. Alle Richtungen
vereinen sich in mir, denn ich bin die Mittexiv.
Ewigkeit ist ein von Menschen erfundener Begriff. Hier aber wird er Wirklichkeit. Langsam,
leise, tief einatmen.
Er atmete die Ruhe dieses Ortes ein. Ihm wurde bewusst, wie viel Last er über die Jahre
hatte tragen müssen, wie vieles er vergessen hatte, verloren, viele Namen, Dinge und Zeiten
waren ihm abhanden gekommen und manches Gesicht war im Nebel der Erinnerung versunken. Selbst die Gesichter seiner Kinder sah er nur so, wie er sie zuletzt gesehen hatte,
von den vergangenen Jahren unverändert, und wieder zogen sie an ihm vorbei. Die Toten
haben keine Zeit mehr, darum sind sie immer da. Sie haben keinen Ort, daher sind sie überall.xv Sie begegnen uns überall, zu jeder Zeit. Aber dieses hier, das spürte er, würde in ihm
fortleben, würde ihn beständig begleiten. Es würde Bestand haben, ein Ort aus Stein, dieses
Schweigen des Universums. Diese Stille, diese zeitlose Zeit, dies ist der Augenblick, der zur
Ewigkeit wird, einmal und unendlich. Sie ist das Ekrasit unserer Erinnerungen, löscht sie in
einer lautlosen, langsamen Detonation aus und erlöst uns mit gnädigem Vergessen. Und in
diesem Augenblick spürte er, dass er hinter seinen geschlossenen Augen zum ersten Male
erwacht war in seinem Leben. Es war gut.
146
VII Der Erlöser
Ende Mai, halb drei Uhr morgens, Venedig
Der Weg hinaus
S
andmann befand sich, wieder einmal mit einem gemieteten Boot, mit seinem Gefangenen an Bord auf dem Weg zur Giudecca. Der Weg vom Dorsoduro, wo er das
Gefängnis für Steiner eingerichtet hatte, zur gegenüberliegenden Insel war kurz, es waren
nur knapp fünfhundert Meter. Sein Ziel war die Anlegestelle Il Redentore. Tagsüber hielt
hier der Vaporetto. Er befand sich direkt unter den Stufen der Kirche, die im sechzehnten
Jahrhundert nach der Pest errichtet worden war. Hinter ihm, im überdeckten Teil des
Bootes, lag der völlig entkräftete und erschöpfte, ausgelaugte Körper von Gregor Steiner. Er
hatte ihm einfache, frische Wäsche gegeben, allerdings hatte das den intensiven Geruch von
Kot, Urin und Angst nicht ganz von seinem Körper nehmen können. Sandmann war sich
im Klaren darüber, dass das noch sehr lange dauern würde. Er hätte es andererseits nicht
über sich gebracht, das Bündel stinkend und voller Kot vor den Stufen der Erlöserkirche
von Palladio abzulegen.
Er hatte Steiner im Kerker von seinen Fesseln und Handschellen befreit, nachdem er ihn
mit lauwarmem Wasser gereinigt und die Wunden oberflächlich mit antibiotischem Puder
versorgt hatte. Dann hatte er ihm die einfache Wäsche angezogen, die er ihm mitgebracht
hatte. Steiner konnte sich anfangs gar nicht koordiniert bewegen. Nachdem er ihn umgezogen hatte, fesselte Sandmann ihn nur noch leicht. Steiner leistete keinerlei Widerstand
mehr, er schien völlig gebrochen zu sein. Die zwei Wochen in unbewegter Einzelhaft und
fortwährender Angst hatten ein seelisches Wrack aus dem Mann gemacht, und auch körperlich würde es sehr lange dauern, bis er sich auch nur ungelenk bewegen konnte. So lange in
unveränderter Haltung zu verweilen, setzt einem Menschen extrem schwer zu. Es war
Steiners Beweglichkeit deutlich anzumerken.
Es war Sandmann allerdings bewusst, dass er sich in einigen Wochen körperlich erholt
haben würde. Ob er sich von der seelischen Strapaze je erholen würde, stand noch dahin.
Aber jetzt war es ihm egal. Er musste diese Last, die er sich im Grunde selbst aufgebürdet
hatte, nur noch los werden.
„Was machst Du mit mir?“ Sandmann sah Steiners angstvollen und verstörten Blick, der ihn
jetzt aber nur noch anwiderte. Seine Stimme klang zerbrochen.
„Habe ich nicht bisher für Dich gesorgt? Halt den Mund. Du dauerst mich. Du machst
mich fertig.“ Steiner verstand gar nichts mehr.
Nach wenigen Minuten ging er zu Steiner hin, der ihm mit ängstlichem Blick entgegensah,
nahm seinen Kopf an den Haaren hoch, fast vorsichtig allerdings, und sagte: „Schau es Dir
an. Diese Kirche heißt Il Redentore, das heißt der Erlöser. Bist Du still oder soll ich Dir den
Mund verbinden?“
Steiner schüttelte matt den Kopf. „Ich bin leise.“
„Wenn ich auch nur einen Hauch von Dir höre, bekommst Du das volle Programm von
mir. Du weißt, wozu ich fähig bin. Ich beobachte Dich. Ich bin direkt hinter Dir.“
Er legte an der Haltestelle an, schaute sich um, nirgends war eine Menschenseele zu sehen.
Wie eigentlich immer um diese Zeit schlief die Stadt tief und fest. Für eine weltberühmte
Stadt hatte diese hier überhaupt kein Nachtleben, offensichtlich nie ein nennenswertes entwickelt, und so war es ruhig um diese Zeit. Sandmann hatte mit seinem Onkel verabredet,
dass gegen drei Uhr morgens „das Paket“ von der Kirche abgeholt würde. Er wollte nicht
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wissen, wer es abholen sollte, wollte nicht gesehen werden und auch nicht mit den Leuten
sprechen, die den Auftrag ausführten, also bat er seinen Onkel, die Leute gut vorzubereiten.
Der versprach es und hielt sein Versprechen.
Er band das Boot fest, wuchtete Steiner auf den Anleger und schleppte ihn dann über den
Vorplatz der Kirche, den Campo del Redentore.
„Weißt Du, wo Du hier bist? Halt den Mund und hör zu. Du fährst Menschen tot, zerstörst,
was sich Dir in den Weg stellt, und dann lebst Du mit Staates Hilfe weiter. Und nun liegst
Du hier zu Füßen Palladios, wimmerst unverständliches Zeug und windest Dich auf
barockem Marmor. Ich könnte kotzen auf dich, aber das hat eine Ende. Du wirst sterben,
ganz wie Du es Dir gewünscht hast. Nur immer noch nicht jetzt“, sagte er wie nebenbei und
machte eine Pause. „Das liegt nicht in Deiner Macht.“
Vor der Kirche legte er ihn rechts neben dem Eingang an die äußere Säule gelehnt ab, dann
zog er sich in den fahlen Mondschatten der Kirche zurück und wartete.
Nicht allzu lange, und er konnte ein anderes Boot kommen hören. Dann sah er zwei dunkel
gekleidete Männer an Land steigen, die offensichtlich gut instruiert waren. Sie schauten sich
nur kurz um, gingen zielstrebig und geradewegs auf die Kirche zu, sahen, was sie suchten,
wechselten einige Worte miteinander, dann beugte sich der eine zu Steiner hinunter, schaute
ihn etwas genauer an, verklebte seinen Mund mit Klebeband, schnappte ihn sich, warf ihn,
anscheinend mit Leichtigkeit, über seine Schulter und verschwand im Dunkel.
Francesco
Es war inzwischen beinahe vier Uhr morgens, und Sandmann war ernsthaft erschöpft und
todmüde. Er hatte sich jetzt nur noch um eine letzte Angelegenheit zu kümmern: das
Treffen mit Francesco. Er hatte in den letzten Tagen mehrmals darüber nachgedacht, sich
nicht weiter darum zu kümmern, da er anderes zu tun hatte. Dann stellte er fest, dass das
jetzt nicht mehr stimmte. Und so hatte er sich entschieden, sein Wort zu halten zu der Verabredung zu gehen. Er jedenfalls würde da sein. Nach seiner Vorstellung hatte er eine Seele
aus der Welt genommen, so war es nur gerecht, ihr eine andere zu geben. Seelenschleifer.
Ihm war nicht ganz klar, wie er auf dieses Wort kam.
Sandmann machte sich auf den Weg zum Treffpunkt mit Francesco. Er hatte nicht damit
gerechnet, dass es nach dieser Nacht der Befreiung sein würde, er hatte einen leeren Tag vor
dem Treffen vermutet.
Er war gespannt, ob der Junge wie verabredet um fünf Uhr an einer der östlichsten Stellen
der Stadt erscheinen würde. Er fuhr mit dem gemieteten Boot zurück über den Canale della
Giudecca, hielt sich dann aber, statt zum Molo zu fahren, rechts, fuhr am Arsenal vorbei,
und legte das Boot in der Nähe des Rio dei Giardini, quasi im Gelände der Biennale, an
einer Anlegestelle fest. Am Viale Vittório Véneto ging er an Land. Ein paar Gassen noch,
und er sah den Treffpunkt vor sich. Es war etwa zehn Minuten vor fünf. Francesco war
schon da. Er meinte es offensichtlich ernst, auch wenn ihm noch nicht klar sein mochte,
womit.
Er hatte sich hingehockt, lehnte links an einer Mauer, die Unterarme über den Knien, mit
einem Grashalm oder etwas Ähnlichem im Mund, und sah über seine linke Schulter auf das
Wasser der Lagune hinaus. Er trug ein etwas zu weites, kariertes Hemd und eine Hose von
undefinierbarer Farbe, die aussah, als hätte er sie sich von seinem älteren Bruder geliehen,
der in ihr Autos repariert und Gärten gepflegt hatte. Sie war mit einem Hosenträger mehr
oder weniger an den Schultern aufgehängt. Er sah jünger aus heute morgen, eher wie ein
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Zwölfjähriger, äußerlich heruntergekommen, zierlich und etwas verloren wie ein junger,
streunender Hund. Sandmann musste unwillkürlich an Tom Sawyer denken: so hatte er ihn
sich immer vorgestellt. Sein Sohn wäre jetzt etwa so alt geworden wie Francesco. Es war
nicht sein Sohn, aber der wäre jetzt etwas so alt. Ach, verdammt.
Er ging nicht extra leise, Francesco hatte ihn kommen gehört. Er wandte ihm den Kopf zu,
schaute ihm kurz entgegen, richtete den Blick dann aber gleich wieder auf das Wasser, als
wollte er nichts verpassen. Irgendetwas da draußen bannte seine Aufmerksamkeit. Sandmann folgte seinem Blick und war froh, als er sah, dass da kein Schiff oder ähnliches war.
Der Junge sah einfach nur hinaus. Das ist gut, dachte er. Tatsächlich schaute er nirgendwohin, wahrscheinlich seinen Gedanken hinterher. Seine Umgebung hatte er ausgeblendet.
Es war vielleicht eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang, die stillste Zeit des Tages, die Zeit,
in der die Welt den Atem anhält. Es wurde schon hell.
Sandmann trat neben den Jungen, dann ließ auch er sich auf den Boden nieder und schaute
hinaus aufs Wasser der Lagune. Es gefiel ihm, dass er sein Schweigen wahrte und nicht
gleich losplapperte. Eine ganze Weile hockten sie da und schauten nur gemeinsam. Dann
räusperte sich Francesco, wandte ihm den Kopf zu und sagte:
„Ich habe mich an die Regeln gehalten.“
„Ich weiß.“
Schweigen.
„Wollen Sie mich denn gar nicht fragen, was ich gesehen habe bei den Menschen, die ich
beobachtet habe?“
„Du hast es gesehen.“ Pause. „Du wirst es mir sagen.“
„Ja. Mir ist nie bewusst geworden, wie verschieden sie sind. Ich habe sie immer nur daraufhin angeschaut, wo ihr Geld steckt. Sie sind aber so“, er stockte und suchte nach Worten,
„so ganz anders, ich kann das gar nicht sagen. Ich dachte immer, ich sehe die Leute, und
plötzlich kommt es mir so vor, als hätte ich sie noch nie gesehen.“ Er schaute wie nach
Worten suchend vor sich auf den Boden und breitete dann etwas sprachlos die Arme aus.
Seine Hände hüpften wie Vögel hin und her, auf der Suche nach den seltenen Brocken des
richtigen Wortes.
„Ich sagte Dir ja, Du hast es gesehen.“
„Verstehe ich nicht. Was habe ich gesehen?“
„Du wirst es verstehen.“
„Warum fragen Sie mich denn jetzt nicht? Ich hatte fest damit gerechnet.“
Antonio Sandmann ging nicht auf die Frage ein.
„Ich werde in Venedig bleiben. Du kannst bei mir lernen, wenn Du das willst. Wir werden
üben. Sag jetzt nichts. Überleg es Dir.“
Francesco schaute ihn strahlend an. Sicher stand seine Antwort schon längst fest, aber er
hielt sich an die Anweisung und blieb still.
Dann stand Sandmann auf und ging die wenigen Schritte über die hellen Steine des Fußweges zum Wasser. Seine Beine und Füße waren ein wenig lahm, und der Rücken tat ihm
weh. Er schaute hinaus und schwieg. Francesco hatte sich kurz nach ihm ebenfalls erhoben,
jetzt wieder geschmeidig und gewandt wie eine kleine Katze. Sandmann war überrascht über
die Wandlungsfähigkeit des Jungen. Er kam hinter Sandmann her und blieb halb hinter ihm
stehen. Er hat mich ausgesucht, dachte Sandmann. Er ist mir zugelaufen. Was soll ich
machen.
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So standen sie, jeder in seine Gedanken versunken. Ein leichter Wind kam auf und kräuselte
die Wasseroberfläche. Ein paar Möwen schwammen auf dem Wasser und schaukelten mit
den Wellen auf und ab.
„Siehst Du, wie der Wind das Wasser bewegt? Siehst Du die Vögel? Sie werden mit den
Wellen auf und ab bewegt. Wie können sie die Dinge im Auge behalten?“
„Ich weiß es nicht.“
„Sie heben und senken den Kopf mit dem schwankenden Wasser. Auf und ab. Sie sind
Vögel und machen das ganz instinktiv. Aber da wir Menschen sind, ermüden wir von Fall zu
Fall.“
Sandmann spürte den Schmerz der Erschöpfung in und hinter seinen Augen. Es kostete ihn
Anstrengung, hinauszuschauen. Als sei ihm Sand unter die Augenlider gestreut worden,
schien jede Bewegung die Hornhaut wund zu schaben, und bleierne Gewichte zogen die
Lider nach unten. Wenn er jetzt die Augen schließen würde, müsste er sich schon sehr bemühen, nicht auf der Stelle einzuschlafen. Und jede Minute machte sie ein bisschen
schwerer.
„Befinden Sie sich auf schwankendem Wasser, Signor Antonio?“
Er wunderte sich über die Frage des Jungen, die schon jetzt verriet, wie dieser Baum einmal
wachsen würde. Er hörte zu, er beobachtete und zog still seine Schlüsse. Und dann erst
redete er. „Zur Zeit schon“, antwortete er ihm, und für sich dachte er noch: Ich bin müde
und der Wind bläst stark.xvi Das sprach er allerdings nicht mehr aus, sondern sagte statt
dessen: „Aber es ist bedeutungslos.“ Schließlich nahm er seine restliche Kraft zusammen. Er
hatte noch seine zweite Aufgabe einzulösen, deretwegen er Francesco für diese frühe Stunde
hierher bestellt hatte.
„Komm mit, Francesco, ich möchte Dir etwas zeigen“, sagte Sandmann, und der Junge
ahnte, dass jetzt der Teil ihrer Begegnung kam, für den er zu dieser frühen Stunde hierher
bestellt worden war. Sandmann ging noch ein paar Dutzend Schritte weiter, bis sie nur noch
Wasser vor sich sahen, und dann geschah, worauf er gewartet hatte: es war halb sechs und
die Sonne ging auf.
Das Ende
Gregor Steiner wurde auf dem Landweg nach Neapel gebracht. Die Leute, die ihn verfrachteten, hatten erkennbar Erfahrung mit dem Transport widerspenstiger lebender,
menschlicher Fracht. In heruntergekommeneren Teil des Hafens von Neapel übergab man
den sich heftig Wehrenden dem Kapitän eines Seelenverkäufers, eines Schiffes, das unter
allen korrupten Flaggen dieser Welt fuhr und das nach Abidjan auslief. Der Kapitän war
immer bereit, für wenig Geld nebenbei Aufträge auszuführen, die für ihn so gut wie risikolos waren. Steiner wusste nicht, wohin es ging und wie viel Geld er seinen Norditalienischen
Entführern wert gewesen war, sah sich weiterhin einem ungewissen Schicksal entgegenfahren und bäumte sich dagegen auf. Als ihm allerdings bewusst wurde, dass sich genau genommen seine Lage gegenüber den letzten Jahren nicht sehr geändert hatte, ließ sein Widerstand etwas nach.
Unterwegs auf See ließ man Steiner frei auf dem Schiff herumlaufen. Der Kapitän schien
sein Schiff abseits von allen gängigen Fahrtrouten zu navigieren, und so sah Steiner nur
wenige Male andere Schiffe in der Ferne vorbeifahren, denen er um Hilfe überhaupt hätte
zuwinken können. Einmal wurde sein Winken von einer kleineren Passagierfähre in der
Nähe der Meerenge von Gibraltar erwidert. Man winkte zurück, und die übrigens kleine
Mannschaft gemischter Herkunft auf seinem Schiff, die sonst während der Fahrt wenig zu
150
tun hatte, winkte mit ihm, machte sich einen Spaß und lachte ihn aus. Die Menschen auf
dem Passagierschiff lachten ebenfalls, aber wahrscheinlich aus anderen Gründen. So lachte
schließlich jeder, und nur Steiner war rasend vor hilfloser Wut, was seine seelische
Konstitution nicht gerade verbesserte. Ein arabisches Mannschaftsmitglied versuchte aufrichtig, ihn zu trösten und ihm zu vermitteln, dass sein Leben in Gottes Hand läge, aber
Steiner lehnte den Trost als den Versuch reiner Häme ab, der Araber ließ es leicht brüskiert
sein. Danach winkte Steiner nicht mehr. Und hatte einen Freundschaftsaspiranten verloren.
Das ununterbrochene Stampfen der Maschinen und das Rollen des Meeres im Atlantik
westlich von Afrika setzten ihm neben der zunehmenden Wärme erheblich zu. Er stellte erst
jetzt fest, dass er, durch den permanenten Gestank der völlig verdreckten Dieselmotoren
verstärkt, zur Seekrankheit neigte, und das machte ihn zusätzlich gereizt, ängstlich und unberechenbar wie eine verängstigte Katze. Und so geriet er mit einem Mitglied der bunt zusammen gewürfelten Mannschaft, zu der die Sprachbarriere unüberwindlich hoch war, in
einen wortlosen, aber um so verbisseneren Streit um das scheußliche Essen des verlausten
Kochs, in dessen Verlauf ihm das Nasenbein gebrochen und er böse an einem Auge verletzt
wurde. Die Crew johlte zu der Schlägerei, hielt sich aber ansonsten raus; es war nicht einmal
klar, ob sie einen Favoriten hatten, ihren Mann oder Steiner, niemand versuchte, zu helfen
oder den Streit zu schlichten, auch der Kapitän nicht, es war eine Unterhaltungsshow für sie.
Nichts wurde ernst genommen. Außerdem war wohl in Neapel nur für seine Überfahrt,
nicht aber für sein Essen bezahlt worden, mit der Konsequenz, dass er jetzt froh sein konnte, wenn er überhaupt etwas zu essen bekam.
Darüber hinaus zeigte die Mannschaft keinerlei Interesse an ihm und seinem Schicksal, war
mehr oder weniger permanent mit sich selbst und irgendwelchen Dingen beschäftigt. In der
Folge der Auseinandersetzung war Steiner vorübergehend halbseitig nahezu blind und hatte
Angst, das Auge zu verlieren. Es war niemand an Bord, der ihn hätte verarzten können, nur
der dreckige Koch war mal in einem früheren Leben Krankenpflegerhelfer gewesen und
wusste, wie man Spritzen gibt, vor denen Steiner sich hütete. Der Kapitän sagte ihm, er solle
sich von den Leuten besser fernhalten, beim nächsten Mal könnte er erschlagen werden,
und er werde ganz bestimmt nicht eingreifen; in einem medizinischen Notfall wurde das
jeweilige Mannschaftsmitglied üblicherweise im nächstgelegenen Hafen an Land gebracht
und man fuhr weiter, ohne den Erkrankten auszuzahlen; für seine Leute sei Steiner eine
willkommene Abwechslung und ein Ventil für Spannungen. Er heulte vor ohnmächtiger
Wut. Dem stark und mittlerweile ständig nach Alkohol riechenden Kapitän war es gleichgültig, er murmelte etwas vom Haie füttern, und er würde sich sein Essen schließlich nicht
ohne Grund alleine in seiner Kajüte zubereiten, bei so einem Koch. Es war ihm dabei nicht
einmal aufgefallen, dass Steiner schlicht Hunger hatte und nicht wählerisch sein konnte. Es
hätte ihn aber auch nicht interessiert, sollte der doch zusehen, wo er sein Essen her bekam.
Es herrschte das Recht des Stärkeren an Bord. So gesehen war er einer anderen, vielleicht
noch härteren Schule ausgesetzt als in seinem Kerker. Allerdings nur in dieser Hinsicht, ansonsten genoss er seine Bewegungsfreiheit. Aber er konnte sie nicht ausreichend zu seiner
Regeneration nutzen. Schließlich erreichte das Schiff Abidjan, die Hafenstadt und frühere
Hauptstadt der Elfenbeinküste.
In schlechter körperlicher und noch schlechterer geistiger Verfassung wurde er bei Nacht an
Land gebracht. Man hatte ihm lächerlicherweise an Bord eine Papiertüte zur Tarnung aufgesetzt. Er setzte sich kaum noch zur Wehr. Es interessierte sich tatsächlich an Land
niemand für die dubiosen Aktivitäten irgendwelcher aus allen Ländern der Welt zusammen
gesammelter Seeleute. Man nahm ihm die Tüte erst vor den nördlich der Stadt gelegenen
Slums vom Kopf und stieß ihn gleichgültig aus irgend einem rostigen Auto. Fiebrig und an
der Grenze zwischen Orientierungslosigkeit und Derealisation hatte Steiner immer noch
keine Ahnung, wo er war, er litt nur. Ohne Papiere, Geld und Uhr, schwach, hungrig und
krank, brauchte er Wochen, um wieder einigermaßen auf die Beine zu kommen. In diesen
Wochen lebte er zerrüttet von dem, was er vorfand, was die Ärmsten der Armen nicht mehr
wollten oder was er sich zusammenstehlen und erbetteln konnte: es war nahezu nichts, und
151
gefährlich war es noch dazu. Hungrige sind gesetzlos und haben bisweilen den Instinkt von
Menschenfressern ohne ihren abergläubischen Hintergrund, es ist ihnen schon alles egal. Da
stiehlt man besser nicht.
Die Landessprache war Französisch, noch dazu eines mit einem eigenartigen Akzent, und
sein Schulfranzösisch war biografisch veraltet. Es half ihm nicht weiter.
Er hatte inzwischen wenigstens eine Ahnung, wo er war, konnte aber mit dem Namen der
Stadt nur wenig anfangen. Er brauchte dann noch einmal drei Tage, bis er durch unglaublichen Dreck und furchtbares Elend hindurch ein diffuses Zentrum der 4-MillionenEinwohner-Stadt von Abidjan erreichte, oder wenigstens das, was er dafür hielt. Es war
schwierig, weil Abidjan auf mehreren Inseln aufgebaut war. Doch auch hier half ihm
niemand weiter. Mit diesem offenkundig verrückten Weißen, mit einem, der solche Augen
hatte, wollte keiner der Menschen, denen er begegnete, zu tun haben. Viele hier waren abergläubisch und hatten den Eindruck, der hier habe die Hölle besucht. Sie wussten nicht, dass
es so war. Sie wollten nichts davon wissen.
Kurzzeitig arbeitete er gegen Kost für eine Hure als Leibwächter, als sie aber feststellte, dass
der Weiße mit den irren Augen nicht hart genug war und sein Irrsinn auf Dauer auf allzu
zudringliche Freier nur mäßig abschreckend wirkte, und dass er so schwach war, dass sie
keinen Vorteil aus seiner Anwesenheit ziehen konnte, ließ sie ihn einfach fallen. Er war
allerdings ein kleines bisschen zu Kräften gekommen, indem er wenige Tage regelmäßig,
wenn auch wenig zu essen bekommen und in einem allerdings dreckigen Raum unter einem
Dach geschlafen hatte. Steiner verschwand, per Anhalter und gegen Geld auf der unsicheren
und mit grauen Männern völlig überfüllten Ladefläche eines schrottreifen Lastwagens, aus
der Stadt. Er wusste nur nicht genau, wohin. Er konnte sich gar nicht entscheiden, ob er den
kurzen, aber mörderisch gefährlichen Weg nach Norden, durch die Wüste nehmen sollte
oder den längeren, an der Küste entlang, der allerdings riskante Grenzüberschreitungen bedeuten würde: er konnte sich nicht entscheiden, weil er nur eine undeutliche Landkarte aus
dem Gedächtnis rekonstruieren konnte und weil er nicht wusste, wen er fragen sollte. Aber
es war gleichgültig, wofür er sich entschied, er hatte nichts mehr zu entscheiden. Gregor
Steiner, dieser Händler in Kitsch und Pofel, wurde nur noch getrieben, er steuerte sein Boot
gar nicht mehr, er erreichte nur die jeweils nächste Station seine Weges ohne irgend einen
Überblick, und schon bald hatte er die Orientierung völlig verloren. So schloss er sich der
nächsten bezahlten und überladenen Fahrgelegenheit an, und die ging nach Norden.
Nördlich der Elfenbeinküste, irgendwo auf dem endlos langen Weg zurück nach Europa,
vielleicht in der Gegend von Tamanrasset in Algeriens Wüste, verliert sich langsam seine
Spur. Er hatte keine weiteren Möglichkeiten entdeckt, an Geld zu kommen, seine
Geschichten und Märchen verstand niemand und wollte niemand hören. Andere
Geschichten waren ähnlich schlimm oder schlimmer. Sein europäisches Wissen und seine
merkantilen Fähigkeiten halfen ihm nicht weiter, in dieser Welt waren die Menschen hier
ihm deutlich überlegen. Seine angebotenen Dienste brauchte niemand und nahm niemand
in Anspruch. Er war mittellos. Ihm wurde endgültig klar, dass er nichts mehr besaß.
Ob er zwischen den unklaren Fronten landesüblicher Stammesauseinandersetzungen, den
Folgen von Durchfall und Malaria oder angeschlagen und geschwächt durch zwei Wochen
Einzelhaft an den Umständen des Landes zu Grunde ging, wissen wir nicht mehr. Vielleicht
war er auch einfach an den Toren Europas gescheitert und im Sand von Marokko verkommen. Als ihm jedenfalls bewusst wurde, dass er ja noch sein Leben besaß, da war es zu
spät, noch einmal auf die Beine zu kommen. Wir wissen nicht, was tatsächlich mit ihm geschah, aber wahrscheinlich starb er, namenlos und mit Schmutz unter den Fingernägeln, zu
Füßen irgendeiner grauen Mauer.
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Ruhe
Ende Mai, Venedig
Es fing an zu regnen, ein feiner Nieselregen, der sich verdichtete, aber Nieselregen blieb.
Die Luft war an diesem Morgen ganz frisch, und es versprach, nach langer, schwüler und
schwerer Zeit ein angenehmer Tag zu werden. Das Tageslicht kam heran, es war kurz vor
halb sieben. Es roch nach dem kommenden Sommer. Zum ersten Mal in seinem Leben,
nach allem Kummer, Kampf und Schmerz, hatte er die Morgenröte des Lichtes gesehen, für
einen kurzen Augenblick nur, in den Gassen in der Nähe des kleinen Restaurants. Er war
losgegangen, Atropos zu begegnen, seiner Schicksalsgöttin, die den Lebensfaden abschneidet, aber er war auf Eos getroffen, die Göttin der Morgenröte. Er war ihr begegnet,
wo er sie am wenigsten vermutet hatte: in der Mitte seiner eigenen Nacht.
Er würde jetzt zu Chiara gehen. Er würde bei ihr klingeln und sich zu ihr legen, gar kein
Zweifel, in der Hoffnung, sie würde nichts fragen, sondern ihn einfach gewähren lassen.
Später würde er ihr von Francesco erzählen.
Morgen oder übermorgen würde er seine Familie aufsuchen und seinem Onkel sagen, dass
er nicht vorhatte, in seine Fußstapfen zu treten, nicht seinen Thron besteigen würde, egal,
was er sich wünschte und wie auch immer er sich das vorgestellt hatte. Er hatte nicht mehr
vor, an den Rand irgendwelcher Illegalitäten zu geraten. Aber bald würde er dem Vorschlag
seines Onkels folgen und seine Familie hierher übersetzen lassen. Und vielleicht würde er ja
noch einmal als Arzt praktizieren. Oder noch etwas ganz anderes. Aber das hatte Zeit.
Seinem Cousin und seiner Cousine würde er dafür danken, dass er in ihren Herzen all die
Jahre so gut aufgehoben war, und ihnen mitteilen, dass er vorhatte, früher oder später ganz
in Venedig zu leben und dass er ihren Kindern die deutsche Sprache beibringen würde,
wenn sie das wollten. Die Kontakte würden in Zukunft enger werden.
Dann würde er noch das Gefängnis leer räumen und den Schlüssel an den versoffenen
Hausmeister zurückgeben. Danach würde er tagelang ausschlafen. Er fühlte sich wie Wallenstein: Ich denke, einen langen Schlaf zu tun, denn dieser letzten Tage Qual war großxvii. Er
war völlig übermüdet und ausgelaugt.
... und während er in den frühen Morgenstunden durch die immer noch stillen Gassen
Venedigs in der Richtung zum Fondamenta dei Mori ging, zu ihrer Wohnung, während der
warme Nieselregen ihn durchnässte bis auf die Haut, weinte er aufrecht gehend und lautlos
vor sich hin, und seine Tränen vermischten sich mit dem Regen. Er ging immer langsamer,
und beinahe wäre er stehen geblieben. In diesem Augenblick und an der Grenze der
Nachtxviii begannen Glocken zu läuten.
Als sei das ein Zeichen für neue Geschäftigkeit, erhob sich das Geräusch von Motorbooten,
die ihre Fracht zu den Geschäften und Hotels brachten. Einige Lebensmittelstände und
Läden öffneten knarrend ihre Fenster und Türen, der Geruch von panini und Kaffee ging
durch die Gassen und begleitete ihn. Die ersten Passanten kamen mit Tageszeitungen unter
dem Arm aus den Häusern.
Als Chiara ihm, verschlafen wie ein Kätzchen, öffnete, war sie ziemlich überrascht. Sie hatte
nicht um diese Zeit mit ihm gerechnet. „Endlich“, dachte sie, aber nahm ihn wortlos in ihre
Wohnung, legte ihn in ihr Bett und schloss erneut die Vorhänge. Dann legte sie sich zu ihm,
und er schlief ein.
„Und das hast du alles geplant? Meine Bezahlung, die Entführung, den Kerker?“ fragte Chiara.
„Ja.“
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„Alles?“
„Ja. Alles.“
Nachdem er in den frühen Morgenstunden an ihrer Tür geklingelt hatte, war er in einen
Schlaf gefallen, einer Bewusstlosigkeit nicht unähnlich, aus dem er beinahe einundzwanzig
Stunden nicht mehr erwacht war. Sie war am gegen Mittag aufgestanden, hatte eingekauft
und Kleinigkeiten erledigt. Er musste sehr müde gewesen sein, denn er schien von ihren
Aktivitäten nichts mitbekommen zu haben. Er schlief, als sie ging, er schlief, als wie kam,
und gegen Abend hatte sie sich wieder neben ihn gelegt und noch einmal geschlafen. Dann
war er gegen vier Uhr in der Frühe wach geworden, eine seiner kleinen Bewegungen hatte
sie ebenfalls geweckt, und er hatte begonnen, ihr seine Geschichte zu erzählen. Es klang wie
eine Beichte, und sie schwieg dazu. Über mehrere Stunden hatte sie ihm nur zugehört, die
ganze Geschichte bis zur letzten Begegnung mit dem Maskierten. Hier war er zur Ruhe gekommen. Hier schien er plötzlich zu wissen, was zu tun war.
Sie hatte mit allerhand gerechnet, damit nicht. Nicht mit einer solchen Geschichte. Dass er
ein furchtbares Geheimnis hatte, hatte sie schon gefürchtet, mindestens geahnt. Dass es
solche Dimensionen hatte, erschütterte sie. Sie hatte natürlich schon von mancher gescheiterten Lebensgeschichte gehört, diese hier allerdings sprengte den Rahmen ihrer wildesten Fantasien. Anstatt aber empört zu sein über seine Handlungen und Geheimnisse, verspürte sie nur Angst um ihn.
„Du konntest mich nicht einweihen, nicht wahr?“ Sie fragte es mehr für sich selbst. Die
Antwort war ihr ja eigentlich klar.
„Nein, das konnte ich nicht.“
„Ja. Gut. Und was machst du nun mit Gregor Steiner?“
„Nichts mehr. Ich habe ihn freigelassen. Er ist fort.“
„Aber das kannst du nicht machen!“ Ihr wurde gar nicht bewusst, dass sie sich damit quasi
selbst jenseits der Grenzen der Legalität begab.
„Doch. Es geht um die Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit. Ich werde versuchen, es
zu erklären, obwohl es mir noch schwer fällt. Wie begegne ich den anderen Menschen? Wir
begegnen im Anderen uns selbst und brauchen üblicherweise erst einmal Ruhe, sonst
kriegen wir einen Nervenzusammenbruch. Nun aber dieser! Dieser Mann, dieses, dieses...
Stück! Der hat meine Familie vernichtet in einem Handstreich, als wären es Fliegen. Er
plädiert auf Alkohol, und wenn ich ihn persönlich treffe, dann ist da nichts. Nichts! Was ich
ihn frage, was ich auch sage, nichts ist die Antwort. Das ist die entgrenzte, völlig ungeschützte Konfrontation mit dem Universum: Nichts. Und doch, es ist die Konfrontation
mit dem Universum. Das immerhin, und das kann ich nicht einfach übersehen, denn es
greift tief ein in mein Seelengefüge. Das überschreitet meine bisherigen Grenzen und, wie
ich glaube, die Grenzen aller Menschen, auch derer, die es nicht wissen: Nichts als Antwort,
als Reaktion zu erhalten. Mein Schicksal ist nicht beispielhaft, natürlich nicht, ich bin ja nicht
größenwahnsinnig, und doch, es ist“, er stockte, „es ist lehrreich. Es ist zwar an der Grenze
zum Zynismus, aber ich frage mich, was lernen wir daraus? Du“, und er wandte sich ihr zu
und schaute ihr direkt ins Gesicht, doch sie hörte ihm mit geschlossenen Augen zu, „du
findest es vielleicht seltsam, aber ich lerne daraus etwas. Und zwar: es kommt nicht darauf
an. Das ist es, was ich daraus lerne. Nach meinen alten Systemen war das anders. Der
Schmerz des Mitmenschen war bedeutsam. Aber als ich meinen Schmerz dem Weltgefüge
vorhielt, als ich ihn hinstellte vor die Menschen, die mich umgaben, und die Welt um mich
her und die Medien, die damals den Prozess beobachteten, antwortete mir nichts. Ich kann
es mit unseren Worten nur schwer fassen, es war weniger als nichts, es war eher sensationsgieriger, seelensaugender Vampirismus, oder es war die jeweils eigene Betroffenheit, die
mich ja nichts angeht. Unerträglich. Menschen werden enttäuscht, sie werden wundgeschlagen, sie werden zermalmt, und alles rennt hin. Aber es gibt nicht mehr die Ausrede
154
des Schicksals. Ich kann nicht einfach so und mit verweinten Augen hinnehmen, dass es
neben mir zwei unschuldige Kinder vernichtet, sämtlicher Chancen beraubt hat. Was also
bleibt, ist die Anerkennung der Tatsache, dass ich damit weiterlebe. Und das ist mehr als die
meisten Menschen verkraften. Die Schlussfolgerung?“ Jetzt wurde es für ihn wirklich
schwierig. „Auch ich werde sterben, wie schon so viele vor und wir alle nach mir, und nichts
wird bleiben. Es wird immer wieder geschehen, so, wie Menschen namenlos im Bergbau
verschütt gegangen und nur in den Herzen ihrer Hinterbliebenen begraben sind. Und die
leben nun auch nicht mehr. Am Ende war’s einerlei. So ist das. Es ist zum Schreien
komisch: wohin wir auch gehen, wir begegnen unseren Geistern. Wir nehmen uns mit,
treffen auf uns selbst und wundern uns. Weißt du, ich habe geträumt letzte Nacht, und es
waren alle, alle da. Dann wache ich auf und treffe auf dich. Bist du genauso real oder von
einer anderen Art von Realität? Welche von beiden? Welche ist die wahre Zeit, die echte
Welt? Hier weiß ich nur, ich bin wach und es gibt den Traum, und dort weiß ich etwas anderes. Was wahr ist? Natürlich bin ich wach und weiß es. Glaub nur nicht, dass ich nicht mehr
unterscheiden könnte. Aber all das geschieht in mir. Tat twam asi, ich bin das. Und gilt das
nicht auch für die Welt? Wenn ich das Schwert nicht führe, dann wird es nicht geführt, und
wenn ich es führe, dann ist es schon geführt, immer schon. Siehst du, dem Tod wird kein
Reich mehr bleiben, sagt Dylan Thomas. Ich bin die Welt, immerdar. Mit mir wird sie untergehen. Und wenn es dir so scheinen sollte, als ob das nicht stimmt, weil du ja noch lebst, so
wirst du feststellen, dass es doch stimmt, denn mit dir wird sie wieder untergehen. Wenn ich
erwache, ist die Welt schon da. Ich erwache, und mein Albtraum ist wahr. Da ich aber mit
ihm lebe, ist das möglich. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Wir leben am Rande des Todes,
und nun kommen die Träume zurück und treffen auf mich. Aber was ist mit mir?“ Er
sprach wie in einem merkwürdigen Fieber, das sehr schnell eintritt, oder wie im Halbschlaf.
Es war ein Missverständnis, aber sie fragte ihn.
„Ja, was ist mit dir?“ fragte ihn Chiara.
„Ich lebe.“ Er hatte weiter sprechen, ihr erklären wollen, was das für ihn bedeutete, aber
ihm fehlten die Worte. Die Menge des Neuen, das auf ihn eingestürmt war in den letzten
Tagen, war überwältigend.
Dann, als sei es eine abschließende Erklärung, sagte er nachdenklich: „Ich bin verurteilt,
weiter zu leben, wie der Töter es nicht ist.“
Und wieder Schweigen. Schließlich, nach langer Zeit, fasste sie sich ein Herz und wagte
leise, vorsichtig ihre entscheidende Frage:
„Und ich?“
„Und du?“ Er schwieg. Dann atmete er tief durch. „Du bist mein Leben. Ich weiß nicht,
warum, aber es ist so. Ich glaube, die Sonne geht wieder auf. Nach so vielen Jahren.“
„Ja“, sagte sie nur, aber sie dachte noch: dann will ich das sein; dann ist das jetzt so; dann
brauchen wir jetzt ganz viel Zeit. Und ich werde alle meine Klugheit und Kraft brauchen.
Und ihr Herz schlug sehr laut und sehr spürbar, wie es noch nicht geschlagen hatte in ihrem
Leben.
„Ja.“ Pause. Und wieder: „Ja. Lass uns rausgehen. Gehen wir essen. Ich habe Hunger.
Tatsächlich habe ich einen Bärenhunger. Dann muss ich mir hier eine Wohnung suchen.
Und außerdem habe ich bald eine Verabredung mit einem Jungen.“
155
Nachwort
An dieser Stelle endet der Bericht von Antonio Sandmann. Die Ereignisse zogen eine ganze
Reihe von Konsequenzen für das Leben der beteiligten Personen nach sich, aber die zu beschreiben sprengt den Rahmen dieses Buches. Wir werden mit der Niederschrift zu einem
späteren Zeitpunkt fortfahren.
156
157
Zitate
i
nach E.T.A. Hoffmann, Der Sandmann
ii
so ähnlich berichtet im Spiegel 16/2006, 52ff.
iii
Theodor W. Adorno, Minima Moralia
iv
Alexandre Dumas, Der Graf von Monte Christo
v
nach: Johannes Bobrowski, Das Käuzchen
vi
Dylan Thomas, nach der Übersetzung von Erich Fried
vii
nach: Eiji Yoshikawa, Musashi
viii
Leonard Cohen, To A Teacher
ix
nach: William Shakespeare, König Lear
x
nach: Stanislaw Lem, Der Schnupfen
xi
nach E.T.A. Hoffmann, Der Sandmann
xii
Leonard Cohen, To A Teacher
xiii
Die Offenbarung des Johannes, Das siebente Siegel
xiv
Ruth Beebe Hill, Hanta Yo!
xv
nach: Cees Nooteboom, Allerseelen
xvi
nach: Haruki Murakami, Kafka am Strand
xvii
Friedrich Schiller, Wallensteins Tod
xviii
Albert Camus, Der Fremde
158