Infotexte - Vienna Guide Service
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2. OBERGESCHOSS – Beginn der Dauerausstellung (Franziska Füchsl) Auftakt – 4-teilige Inszenierung: Vitrine mit Fund- und Schaustücken Monitor mit Literaturlandkarte: „Schreibräume: Orte der österreichischen Literatur“ Hörraum: „Typisch Österreich? Eine Collage“ Medieninstallation (Monitorwand): „Was ist Literatur?“ Hier werden grundlegende Fragen zur Konzeption der Dauerausstellung angesprochen. Was ist Literatur? (Monitorwand) Einspielungen zu und mit verschiedenen AutorInnen thematisieren exemplarisch diverse Fragestellungen zu Literatur. Intermediale Ansätze, wie sie in Brigitta Falkners Animation/Text prinzip i (die Autorin kombiniert Schrift, Klang und Bild), aber auch in Marlene Streeruwitz’ Romanserie Lisa’s Liebe zu erkennen sind, bestimmen das Bild der Literatur zunehmend. Streeruwitz, beispielsweise, arbeitet in Lisa’s Liebe satirisch mit der Tradition der Groschenromane. Das Ergebnis ist eine Fotostory, die Trivialität zum poetischen Prinzip erhebt. Wo beginnt Literatur? Am Spielfeld, in der Welt oder in Gedanken und auf Papier? Peter Handkes Aufstellung des 1. FC Nürnbergs aber auch der Humanic-Werbespot mit H. C. Artmann stellen (direkt und indirekt) die Frage, was und wer Literatur zu Literatur macht. Auch Kafkas Verwandlung in Gebärdensprache zeigt, dass Literatur nicht nur in Buchstaben gedacht werden kann. Mit Elfriede Gerstls und Herbert J. Wimmers Aphorismen-Projekt textansichts-karten wird gefragt, wieviel Raum Literatur braucht, aber auch, ob Literatur überhaupt einen festen Ort benötigt. Das Video zur Entstehung des Gedichts Liebes-Werk von Friederike Mayröcker verweist auf das Ende der Dauerausstellung mit dem Kapitel SCHREIBPROZESSE (1.OG), in dem Einblicke in unterschiedliche formale Arbeitsweisen und in die literarische Werkstatt gestattet werden. Gibt es EINE typisch österreichische Literatur? Ebenso unterschiedlich und vielfältig wie das Land und die Sprache und Herkunft seiner Bewohnerinnen und Bewohner, sind die Autoren und Künstlerinnen, die bis heute das kulturelle und gesellschaftliche Bewusstsein mitprägen. Politische und historische Bruchlinien eröffnen thematische Räume im Museum und bieten, nach zeitgeschichtlichen und thematischen Stationen geordnet, verschiedenste Denkanstöße: Fragen zur Zensur, s. „Objekttexte“ von der Aufklärung bis hin zur technischen Massenproduktion, Marktwirtschaft und Ökonomisierung von Wissen und Bildung. Fragen zur Fremde, deren Repräsentationen die individuelle aber auch kollektive Wahrnehmung formt; das Fremde, das sowohl faszinieren als auch als Bedrohung empfunden werden kann und von AutorInnen als Projektionsfläche genutzt wird. Dabei ist der Schritt zum Thema ‚Reisen‘ ein kleiner: - Reisen in literarische topoi: z. B. in DAS DORF, oder die oft befremdlichen ARBEITSWELTEN - Reisen in andere Medien: z. B. in die Photographie (Gerhard Roth bei DAS DORF) und den Film (Peter Handke: Chronik der Laufenden Ereignisse bei IMAGINATIONEN DER FREMDE) - Reisen zu SCHREIBORTEN (z. B. Marianne Fritz, die ihre Wohnung fast gar nicht mehr verlassen hat und dort ein beeindruckendes Netz an Figuren, Handlungssträngen und Orten erschaffen hat, oder Friederike Mayröcker, die ihren Schreibort, ihre Wohnung, zu einem lebendigen, organisch anmutenden, Archiv werden ließ.) 1 - Reisen in die Welt hinaus, wie z. B. bei Kyselak, Ida Pfeiffer und Alice Schalek, aber auch Peter Handkes exzessive Wanderungen Fragen zum Begriff Avantgarde: Während es vielerorts heißt, dass Avantgarde ein kulturhistorischer Begriff für eine klar fassbare Zeit sei – die Avantgarde des fin de siecle etwa lässt sich – besonders in Hinblick auf Österreich – der Begriff, im wörtlichen Verständnis, auf Vorreiter jeglicher Art übertragen, man denke an experimentelle Filmkünstler wie Ferry Radax (im Museum: Thomas Bernhard – Drei Tage bei TODESARTEN, oder Sonne halt! im Kinoraum), Peter Kubelka, Hubert Sielecki (Kinoraum), aber auch an die Bildende Kunst, den Wiener Aktionismus (Günther Brus, Otto Muehl, Hermann Nitsch etc.), und in der Literatur an die Wiener Gruppe – insbesondere ihre literarischen cabarets und „happenings“, aber auch an Ernst Jandls Auseinandersetzung mit den Klängen und Geräuschen von Sprachen oder Friederike Mayröckers syntaktische Idiosynkrasie. Fragen zur Avantgarde können auch nicht unabhängig von Fragen zur Zensur gesehen werden, bedenkt man, dass avantgardistischer Kunst geradezu mit Unverständnis und Missgunst, ja sogar mit Sanktionen begegnet worden ist. Die österreichische Justiz, beispielsweise, hat auf die sogenannte „Uniferkelei“ im Neuen Institutsgebäude der Uni Wien 1968 (Aktion Kunst und Revolution mit Günter Brus, Otto Muehl, Peter Weibel, Oswald Wiener, Valie Export u.a.) mit Haftstrafen reagiert. AUFKLÄRUNG Warum in der Aufklärung beginnen? Zur Zeit der Aufklärung zeichnete sich eine Tendenz der literarischen Abgrenzung gegenüber dem Deutschen Reich ab. So verfolgten ‚deutsche‘ Aufklärer und Dichter ihre Ziele auf andere Art und Weise als ‚österreichische‘, die sich verstärkt parodistischen Formen zuwandten. Beispiele dafür sind der Typus des Hanswurst, zahlreiche Satiren, etwa der Roman Der 42jährige Affe. Ein ganz vermaledeites Märchen, und eine Flut von Broschüren und Flugschriften als Folge und Reaktion auf die Erweiterung der Pressefreiheit 1781 mit Titeln wie Philosophie der Modeschnallen oder Frage: Wie wird der Antichrist aussehen: blau oder grün?. Während in den Jahren unmittelbar nach 1780 (Toleranzpatent/Religionengleichstellung; relative Pressefreiheit; Anstieg der Druckereien und der Lesefähigkeit; Theatergründungen) unter der Führung Maria Theresias und danach Josephs II moderate Zensurbestimmungen die typisch satirische und parodistische aufklärerische Literaturlandschaft prägten, kam es unter Franz II ab den 1790ern zur radikalen Verfolgung von Aufklärern und in Folge zu den Jakobinerprozesse von 1794–95. Besonderes Objekt: Briefwechsel zwischen Maria Theresia und Van Swieten, ihrem Leibarzt, über Zensur und Kontrolle; bemerkenswert ist die Rücksichtnahme auf wissenschaftliche Interessen (nachzulesen im Begleitbuch, S. 56). BEWEGUNG IM STILLSTAND: DAS BIEDERMEIER Fürst Metternichs Karlsbader Beschlüsse hatten die Institutionalisierung von Überwachung und radikaler Zensur zur Folge. Die bürgerliche Kunst der Zeit war von einer Besinnung auf das Private und der Ästhetisierung des Idylls geprägt. Politische und gesellschaftliche Kritik musste subtil ‚verpackt‘ werden, um die Inspektion durch das Zensuramt zu überleben. In oft magischen Handlungen und metaphorischer Bildsprache erwiesen sich Ferdinand Raimund und insbesondere Johann Nestroy als scharfe Kritiker der zeitgenössischen Situation. Letzterer wurde sogar wegen skandalösen Extemporierens auf der Bühne inhaftiert. Besonderes Objekt: Brief Nestroys an seinen Freund Carl Lucas aus dem Kerker mit einer eindringlichen Passage über die Bewachung (nachzulesen im Begleitbuch, S. 70). 2 FRANZ GRILLPARZER Grillparzer-Haus und ehemaliges k. k. Hofkammerarchiv: Ab 1815 arbeitete Grillparzer im Hofkammerarchiv, 1832 wurde er zum Direktor bestellt und im Revolutionsjahr 1848 fand die Übersiedlung in die Johannesgasse statt. Zur archivarischen Tätigkeit pflegte Grillparzer ein zwiespältiges Verhältnis, so litt er darunter, dass er sich nicht gänzlich seiner Schreibarbeit zuwenden konnte, aber auch unter der Widersprüchlichkeit zwischen Kunst und Politik, als Schriftsteller einerseits und Beamter im Dienst der Monarchie andererseits. Diese Themen spiegeln sich auch in seinen Stücken wider: Machtgier, Einzelschicksale und die gesellschaftlichen Unruhen seiner Zeit. Die beiden Monitore stellen zwei Burgtheaterinszenierungen von Ein Bruderzwist im Hause Habsburg (1963) und König Ottokars Glück und Ende (2005) einander gegenüber. 1848: GESCHEITERTE REVOLUTION Die besonders von den Studierenden vorangetriebene Einforderung bürgerlicher Rechte gegenüber der Aristokratie blieb ohne größeren Erfolg und endete mit Kaiser Franz Josephs Inthronisierung. IMAGINATIONEN DES FREMDEN Im Sinne von ‚Einbildungen‘ (Imaginationen) eröffnet dieses Kapitel ein Themenfeld, das die gesamte Dauerausstellung mitprägt: Welche Bilder machen wir uns von der Fremde? Es sind Bilder der Faszination sowie Schreckensbilder, erotische wie abstoßende Vorstellungen, subjektive, fiktive, jedenfalls auch kollektiv prägende. Diese Prägungen reichen von der Kinder- und Jugendliteratur (vgl. Hatschi Bratschi Luftballon, darin insbes. die ‚Menschenfresserszene‘; nachzulesen im Begleitbuch, S. 154) bis zur ‚Welt‘-Literatur (Pseudoamerikanismus, Entdeckung der ehemaligen Provinzen der Monarchie). Solche Bilder entstehen durch scheinbar objektive Beschreibungen und Dokumentationen, spiegeln sich in Aussagen von AutorInnen (z. B. Peter Altenberg über bei der Wiener Weltausstellung 1873 gastierenden Afrikanerinnen; Ida Pfeiffers und Alice Schaleks Aufzeichnungen zu ihren Weltreisen), entstehen aber auch in Solidarisierungsvorhaben (Franz Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh, nachzulesen im Begleitbuch, S. 158). ADALBERT STIFTER Stifter war Schriftsteller und Maler. In beiden Metiers versuchte er mit akribischem Blick die Dinge möglichst detailgetreu und realistisch wiederzugeben: „Soll es denn gar nicht möglich sein, den Dachstein gerade so zu malen wie ich ihn oft und stets vom vorderen Gosausee aus gesehen habe? […] ich machte doch zehn und etliche Versuche. Sie mißlangen sämtlich.“ Dem unausweichlichen Misslingen kam dabei unweigerlich eine besondere Bedeutung zu. Stifters Akribie spiegelt sich im Rosenhausmodell, dessen Pläne aus den 1930er Jahren allein mit Hilfe von Textpassagen aus dem Nachsommer angefertigt wurden. 2006 wurde das in der Ausstellung gezeigte Modell realisiert (nachzulesen im Begleitbuch, S. 90). DAS DORF Das Dorf wird sowohl als literarischer Topos als auch als Schreibort thematisiert. Ein konfliktreicher Ort, in dem ideologische, aber auch ästhetische Konfrontationen ausgetragen werden. Als ein Ort der Gegensätze bietet das Dorf AutorInnen sowohl Rückzugsmöglichkeiten als auch Möglichkeiten der Auseinandersetzung. Während Franz Michael Felder in Schoppernau (Vorarlberg) als Sozialreformer und Abonnent internationaler Zeitschriften einen Bildungsauftrag erkannte, war das Dorf für Karl Friedrich Waggerl ein Rückzugsort fernab vom Weltgeschehen; als Heimatdichter stellte er sein Schreiben allerdings in den Dienst des Nationalsozialismus. 3 ÜBER DIE ALPEN – KYSELAK Ein „kleiner Beamter“ geht auf Reisen und wird zum Thema vieler Anekdoten, mögen sie stimmen oder nicht. Jedenfalls ging Kyselak als erster Graffitikünstler in die Geschichte ein, hat er auf seinen Wanderungen doch seinen Namen in immer gleichem Schriftzug auf Gemäuern und Bauwerken hinterlassen. Diese können heute noch entdeckt werden. Kein Wunder also, wenn ihm aus moderner Perspektive Größenwahn unterstellt wird. Konrad Bayer und Gerhard Rühm, Mitglieder der Wiener Gruppe, lassen eine Gemeinschaftsarbeit mit dem Titel kyselak ironisch mit folgenden Worten enden: „kyselak, kyselak, warum wirst du mich verlassen?“ (siehe Originale im Rahmen). AUF REISEN Auch in diesem Themenkapitel geht es um das Fremde, das Aufeinandertreffen verschiedener Wertesysteme und um Kolonialisierung. Mit den Dokumentationen ihrer Reisen gingen zwei Frauen in die Geschichte ein. Ida Pfeiffer unternahm in der Mitte des 19. Jahrhunderts zwei große Weltreisen. Ihre Reiseberichte zeigen sowohl die überlegene Perspektive der Weißen, als auch die Gewalt, mit der diese in der Fremde vorgehen. Alice Schalek, Journalistin, Autorin, Photographin und einzige weibliche Kriegsberichterstatterin des k.u.k. Kriegspressequartiers, reiste, neben zahlreichen Exkursionen, die sie u.a. nach Indien und Japan führten, auch zu den Frontgebieten des Ersten Weltkriegs. Über ihre Reisen, die sie auch photographisch dokumentierte, hielt sie Lichtbildvorträge in der Wiener Urania (siehe Foto-Loop). Als Frontreporterin wurde Schalek unter anderem von Karl Kraus in dessen Zeitschrift Die Fackel auf das Heftigste kritisiert. In Die Letzten Tage der Menschheit repräsentiert die Figur DIE SCHALEK die für Propagandazwecke instrumentalisierte Kriegspresse. Wie Franz Schuh in einem Kommentar schreibt, bedeutete dieses „Umbringen durch die Satire“ für Alice Schalek den sozialen Tod. Besonders interessant: Ida Pfeiffers Vortragsentwurf zu ihrer Sumatra-Reise (Vitrine, ab „Wo der Weiße schlecht auf ...“) und der abgebrochene Griff ihres Schirms, mit dem sie sich gegen eine Messerattacke zur Wehr setzte (über Ida Pfeiffer nachzulesen im Begleitbuch, S. 82). NETZWERKE SALON: In der Literaturszene kam insbesondere Frauen der gehobenen Gesellschaft als Organisatorinnen literarischer Salons eine neue, respektable Rolle zu. Salons dienten als Plattformen für Lesungen und künstlerischen Austausch. Josephine von Wertheimstein: wurde von Ferdinand von Saar besonders in seiner Grabrede geehrt Eugenie Schwarzwald: Gründerin der Schwarzwaldschule, in der mit ihr befreundete Künstler unterrichteten (z. B. Adolf Loos), sowie Gastgeberin literarischer Salons Bertha Zuckerkandl: Literaturförderin (im Rahmen: Dankesbrief Alma Mahlers an Zuckerkandl) Hilde Spiel öffnete befreundeten Schriftstellern ihr Haus am Wolfgangsee. DAS KAFFEEHAUS: Wie auch das Dorf, ist das Kaffeehaus literarischer Topos, Schreibort, Rückzugs- sowie Diskussionsort der österreichischen Literatur. ORGANISATIONSFORMEN: Ähnlich wie bei anderen Berufsgruppen schließen sich auch AutorInnen zum Zwecke der Interssensvertretung zusammen. Als Gegenpol zum international vernetzten PEN-Club wurde 1973 die GAV – Grazer Autorinnen Autorenversammlung – gegründet. 4 WIEN: WEGE IN DIE MODERNE Um 1900 fanden fundamentale Veränderungen und Umbrüche statt. Die Gesellschaft erlebte einen ökonomischen Aufschwung sowie den Zusammenbruch der Monarchie und damit des vorherrschenden Weltbildes. Die Offenkundigkeit von Prunk einerseits und extreme Armut andererseits bargen zusätzliches Konfliktpotential und die wertvollen Fortschritte in der Wissenschaft (Medizin und Psychoanalyse) initiierten die Krise der Kunst und damit ihre Revolutionierung in Form der historischen Avantgarden. RINGSTRASSE: Die Ringstraße wurde nach ihrer Eröffnung 1865 zum Schauplatz von prunkvollen Festzügen und Spektakeln, zuerst nur für die bürgerliche Schicht, ab ca. 1890 auch für die Arbeiterbewegung (z. B. 1. Mai-Umzüge). Sie wurde Symbol für die Gründerjahre 1867– 1873 und den wirtschaftlichen Aufschwung, auch bedingt durch Vorbereitungen zur Weltausstellung. 1873: BÖRSENCRASH UND WELTAUSSTELLUNG: Eine Woche nach der Eröffnung der Weltausstellung kam es zum Börsencrash und damit zu weitreichendem finanziellen Ruin; auch die Familien vieler AutorInnen und KünstlerInnen waren betroffen. Die Folgen waren verheerend, vor allem für die Arbeiterschicht. INS DUNKELSTE WIEN: Sozialreportagen (von Max Winter und Emil Kläger um ca. 1908) zeigten die unmenschlichen Bedingungen, unter denen Arbeiter lebten und hausten. Das rasche Bevölkerungswachstum führte zu Wohnungsnot und offenkundiger Armut. SINN UND SINNLICHKEIT: Der Prater als Ort der Sinnlichkeit, Spektakel und Genuss; wo Natur und Kultur sowie Menschen aus allen Schichten aufeinandertreffen. Felix Salten bezeichnete den Prater als Spiegel der Launen der Wiener Bevölkerung. SKANDALE UND DISKURSE: Von 1897 bis 1910 war Karl Lueger Bürgermeister. Seine Amtsperiode verstärkte die antisemitische Stimmung in Wien. Es kam wiederholt zu öffentlichen Konflikten, gegenüber der jüdischen Bevölkerung, aber auch angesichts moderner Kunst. Klimts Fakultätsbilder, beispielsweise, erregten enormes mediales Aufsehen ob ihrer skandalösen Darstellungen. In seiner Verteidigungsschrift Gegen Klimt vereinte Hermann Baar Schmähschriften gegen Klimt und kommentierte diese in Annotationen am Rand. Dadurch stellt sich Baar offenkundig auf die Seite Klimts und der Secessionisten (von Gustav Klimt, Koloman Moser, und vielen anderen Künstlern initiierte Abspaltung vom als konservativ geltenden Wiener Künstlerhaus). Klimts Fakultätsbilder wurden als „das Ärgste an künstlerischer Unverfrorenheit“ etikettiert und deren Rezeption als das Entwirren von „Knäuel nackter Menschenleiber“ beschrieben. Ein weiteres Beispiel für die konservative Rezeptionshaltung der bürgerlichen Wiener bietet Arthur Schnitzler. Wegen seines Leutnant Gustl wird ihm der Offiziersrang aberkannt, er wird vom Oberarzt zum Sanitätssoldaten degradiert. GESCHLECHTERVERHÄLTNISSE: Die Mode der Reformkleider gilt als Ausdruck eines in Veränderung begriffenen Selbstverständnisses vieler Frauen. Rosa Mayreder, beispielsweise, reagiert mit ihrem Buch Zur Kritik der Weiblichkeit kritisch auf Otto Weiningers misogyne Studie Geschlecht und Charakter. 5 Besonders interessant: Josefine Mutzenbacher. Die Geschichte einer Wienerischen Dirne. Von ihr selbst erzählt (1906; anonym, wahrscheinlich von Felix Salten): Das Buch vereint die vermutlich fiktiven Lebenserinnerungen der Prostituierten Josefine Mutzenbacher. Der derb pornographische Inhalt sorgte für enormes Aufsehen. Frühe erotische Saturn-Filme: Obzwar in den gezeigten erotischen Kurzfilmen vom Beginn des 20. Jahrhunderts (wenig verwunderlich) Frauen die ‚Hauptdarstellerinnen‘ sind, erweisen sich einige Beispiele, besonders aus zeitgenössischer Perspektive, von Interesse, da sie unter anderem auch homoerotische und feministische Aspekte zeigen, etwa lustvolle Szenen zwischen Magd und Dame, aber auch den erotischen Umgang mit dem eigenen Körper nach aufregender Lektüre. SPRACHE UND TRAUM: Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief bildet einen wichtigen Einschnitt in der österreichischen Literatur in Bezug auf die philosophische Diskussion über Sprache als Werkzeug, mit dem die Wirklichkeit adäquat abgebildet werden kann (nachzulesen im Begleitbuch, S. 104). Was vermag Sprache wirklich? Die Sprachkrise, die Hofmannsthal hier so deutlich ausspricht, ist eine Krise der Repräsentation, und sie bleibt eines der bedeutendsten Themen der österreichischen Literatur und Kunst. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust, in dem die deutsche Sprache Vehikel für Manipulation und Rechtfertigung war, bedeutete die Sprachkrise auch einen politischen Konflikt. DIE VIELSPRACHIGE METROPOLE Um 1900 ist Wien als Zentrum Ziel vieler Zuwanderer aus den benachbarten Teilen der Monarchie und damit ein Ort der Vielsprachigkeit. Die Diskrepanz zwischen Muttersprache und erwählter Literatursprache ist ein Thema von politischer Dimension. Der Begriff Heimat ist relativ, wie am Beispiel Horváth erkennbar ist: „aber: ‚Heimat‘? Kenn ich nicht. Ich bin eine typisch alt-österreichisch-ungarische Mischung: magyarisch, kroatisch, deutsch, tschechisch.“ Auch heute zieht es internationale AutorInnen nach Wien. PRAG-WIEN Durch die Insularität der Tschechisch-Deutschen in der Altstadt Prags, ist das Prager-Deutsch durch seine Eigenart besonders auffällig, was sich auch in den Werken Franz Kafkas widerspiegelt. Auch in Prag werden antisemitische Stimmen immer kräftiger. Eine Gruppe von Burschenschaftlern schreibt beispielsweise einen gemeinsamen Brief an August Sauer, der gerade zum Rektor der Prager Universität befördert worden ist, in dem sie ihn auffordern, sich gegen den allseits erwarteten symbolischen Beitritt zur liberalen Partei zu entscheiden. DIE LETZTEN TAGE DER MENSCHHEIT: DER ERSTE WELTKRIEG Krieg und Musik gehen seit jeher eine enge Verbindung ein. So wird Musik immer wieder zu Propagandazwecken und zur Stärkung des Zugehörigkeitsgefühls zu einer Nation, eines Reiches instrumentalisiert. Die ausgestellte Phonolarolle, etwa, beinhaltet ein Klavierarrangement von Volksliedern und -hymnen, Soldatenliedern und Märschen für den häuslichen Gebrauch. Die wohl schonungsloseste Auseinandersetzung mit den Gräueln und Absurditäten des Krieges bietet Karl Kraus’ Stück Die Letzten Tage der Menschheit (nachzulesen im Begleitbuch, S. 128). 6 Georg Trakl, der in einer Sanitätskolonne an die Front in Grodek bei Lemberg geschickt wurde, verbringt die Zeit bis zu seinem Tod durch eine selbstverabreichte Überdosis Kokain im Spital, von der Hilflosigkeit angesichts des Massensterbens an der Front traumatisiert. In einem Brief an den Verleger Ludwig Ficker schickt er diesem noch Abschriften seiner Gedichte Klage und Grodek. Ludwig Wittgenstein gedenkt Trakls Dichtung anonym durch Ficker als Mittelsmann zu fördern, von diesem Geld kann Trakl jedoch nicht mehr Gebrauch machen (nachzulesen im Begleitbuch, S. 122). Ein weiterer Dichter, der von Wittgenstein anonym gefördert wurde, war Rainer Maria Rilke, der sich daraufhin mit einer Reinschrift der Elegien bei seinem unbekannten Gönner bedankt (siehe Vitrine; nachzulesen im Begleitbuch, S. 116). EXPRESSIONISMUS UND AVANTGARDE Albert Ehrensteins expressionistisches Buch Tubutsch, das stark polarisierte und für konträre Kritikerstimmen sorgte, entlarvt Wittgensteins Vorliebe für klassische Literatur und dessen konservativen Kunstgeschmack; denn der Philosoph bezeichnet Ehrensteins stilistisch neuartiges Buch in einem Brief an Paul Engelmann als „Hundedreck“; Goethes Gedichte müssen als „Gegengift“ herhalten. Die Erstausgabe von Tubutsch beinhaltet außerdem 12 Zeichnungen von Oskar Kokoschka, eine Doppelbegabung der historischen Avantgarde, denn Kokoschkas expressionistisches Werk reicht über die bildende Kunst hinaus in die Literatur. Sein Werk Mörder, Hoffnung der Frauen wurden von Paul Hindemith vertont (ein Ausschnitt kann an der Hörstation gehört werden). Das Kapitel thematisiert unter anderem mit Expressionismus, Dadaismus und Kinetismus einige der vielen Strömungen der Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, in der sich zumindest ein Teil der Kunst auf zu neuen ästhetischen Ufern machte. Wie im 1. OG zu sehen sein wird, war das große Thema unter den Romanciers der Habsburgermythos und der Schock des plötzlichen Zerfalls einer Weltmacht. 7 1. OBERGESCHOSS 1918: PHANTOMSCHMERZ UND HABSBURGER MYTHOS In der Medizin wird ‚Phantomschmerz‘, der etwa nach einer Amputation auftritt, damit erklärt, dass bestimmte Wahrnehmungsareale im Gehirn die Arbeit des für die amputierte Gliedmaße zuständigen Areals übernehmen. Aber nicht nur das: Da nun die Weiterleitung von Signalen in die fehlende Gliedmaße nicht mehr möglich ist, bauscht das betreffende Wahrnehmungsareal die Signale zu Schmerzsignalen auf. Im historischen Kontext wird der Begriff Phantomschmerz zu einer Metapher für Verlustschmerz, Kompensation und Realitätsverweigerung. In der Nachkriegsliteratur des Ersten, aber auch des Zweiten Weltkrieges werden Realitätsverweigerung und Flucht in der Kultivierung des Habsburgermythos deutlich. Im kollektiven kulturellen Bewusstsein wird die herrschende Not und Desillusionierung durch den plötzlichen Zusammenbruch einer Weltmacht und die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage kompensiert, indem Kunst und Literatur Kontinuität suggerieren mögen. Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften führt dies beispielhaft vor, denn das Jahr 1918 wird hier gänzlich ausgespart, jedoch gerade darum ins Gewissen gerufen. Einen völlig anderen Zugang zum Zerfall der Monarchie hat Fritz von Herzmanovsky-Orlando, der in seinen Texten die Monarchie als Groteske hochleben lässt. Die Metapher des Phantomschmerzes passt aber auch auf die Situation der heimkehrenden Soldaten, die – gerade noch an der Front kämpfend oder anderweitig im Einsatz – in eine Gesellschaft zurückkehren, in der sie keinen Platz mehr haben, und somit dem Gefühl der Sinnlosigkeit nach dem Zusammenbruch der vorherrschenden Ordnung völlig ausgeliefert sind. Joseph Roth (dessen Handschrift bemerkenswert ist, siehe Vitrine) schreibt davon in seinem Werk Radetzkymarsch. ARBEITERBEWEGUNG Im Anbetracht ihrer verheerenden sozialen und ökonomischen Situation, beginnt die Arbeiterklasse verstärkt, sich durch Eigeninitiative zu mobilisieren und zu organisieren. Literatur wird zu einem wichtigen didaktischen Instrument, das zur Verbreitung sozialistischer Ideen dienen soll; in Wien werden viele Arbeiterbüchereien gegründet. Darüber hinaus werden Konzerte und Aufmärsche organisiert, auch Arbeiterchöre entstehen. In den Medien wird versucht, politische Themen für die Arbeiterschicht aufzubereiten. Der abgebildete Comic-Strip ist ein frühes Beispiel dafür. NEUES VOLKSSTÜCK Das neue Volksstück eröffnet einen kritischen Rahmen durch die Thematisierung tragischer Inhalte, teils in ironischem Ton. Ziel ist es nicht mehr, das Volk zu belustigen und so zu unterhalten; stattdessen werden das Volk selbst und die verschiedenen Milieus zum Gegenstand der Stücke. Vor allem geht es um tragische Einzelschicksale in einer oft unmenschlichen gesellschaftlichen Konstellation. Ödön von Horváths Stücke sind beispielhaft für diesen Perspektiven- und Tonwechsel. Das Neue Volksstück wird aber auch selbst fortwährend weitergedacht. Autoren wie Peter Turrini und Felix Mitterer entwickeln diese Tradition individuell weiter. Dabei kommt es zu immer provokanteren Stoffen und Inszenierungen, die die vorherrschenden Konventionen und Tabus brechen. In Werner Schwabs Fäkaliendramen wird die Provokation noch schwerer verdaulich, wie die Genrebezeichnung bereits verrät. 8 GENAUIGKEIT UND SEELE Wie steht es mit der Seele in einer technisierten Welt, die auf Rationalität fußt? In Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften schlägt Ulrich, wohl zynisch, die Einrichtung eines „Erdensekretariats der Genauigkeit und Seele“ zur Lösung des Werte-Problems in einer von metaphysischen Fragestellungen beschnittenen Gesellschaft vor. Der von Philosophen des Wiener Kreises praktizierte logische Empirismus betont die Diskrepanz zwischen Genauigkeit und Seele. Otto Neurath nimmt in diesem Sinne eine Sonderstellung ein, denn er bemühte sich darum, den logischen Empirismus von einer soziologischen Perspektive aus didaktisch einzusetzen. In Folge entwickelte er die Wiener Methode der Bildstatistik, um statistische Informationen in Form von Piktogrammen möglichst einfach zugänglich zu machen. Insbesondere wollte er damit das Proletariat ansprechen. Die drohende Enthumanisierung als Folge der statistischen Repräsentation durch Zahlen findet in der Literatur Ausdruck in Rudolf Brunngrabers Roman Karl und das 20. Jahrhundert. Bezugnehmend auf Otto Neuraths Leistung beschreibt Brunngraber das Leben des Protagonisten Karl Lakner in der Sprache und Perspektive der Statistik. Somit kommt dieser nicht als Karl Lakner, sondern als einer von 40 Millionen schreienden Würmern zur Welt. Ludwig Wittgenstein, dessen philosophisches Werk auf den Wiener Kreis erheblichen Einfluss hatte, der sich selbst jedoch von der Gruppe distanzierte, schrieb zwar selbst nie dezidiert über Literatur, galt aber als bekannter Förderer von bestimmter Literatur. Darüber hinaus wirkt sich seine anfänglich sprachanalytische Philosophie, die später Sprache als Handeln – also als soziale Praxis – ansieht (Philosophische Untersuchungen), auch heute noch auf die Kunst im Allgemeinen aus (nachzulesen im Begleitbuch, S. 184). Dies wird u. a. auch im Kapitel POETISCHE KORRESPONDENZEN deutlich: Hilde Spiel bittet Thomas Bernhard um einen Text über Wittgenstein. Bernhards Absage an Spiel ob seines Unvermögens, Wittgensteins philosophisches Werk zu kommentieren, kann als Erfüllung dieser Bitte gesehen werden. SCHIEBER UND SPEKULANTEN Dieses Kapitel präsentiert die Kriegsgewinnler: Kaufleute und Unternehmer, die sich am Schwarzmarkt noch während des Krieges etablieren konnten. Die ‚Goldenen 20er-Jahre‘ verweisen auf das Gold, nicht aber auf die soziale Ungerechtigkeit. Und es ist nicht verwunderlich, dass die Ausstellung von Reichtum in Krisenzeiten sozialen Sprengstoff bot. Elias Canetti übersetzte Upton Sinclairs Roman Das Geld schreibt, dessen zensuriertes Original-Cover hier ausgestellt ist: Nachdem sich die auf dem Buchdeckel photographisch gezeigte Unternehmerfamilie gegen eine derartige Abbildung verwehrte, ließ der Verlag kurzerhand ihre Köpfe (auch den des Familienhundes) auf sämtlichen Umschlägen ausstanzen und brachte die Bücher so in Umlauf. Es handelt sich hierbei also um ein relativ zeitgenössisches Beispiel von Zensur, die zudem mit viel Ironie untergraben wurde. DIE NEUE FRAU Die Situation nach dem 1. Weltkrieg änderte sich auch für Frauen – bereits während des Krieges begann sich ihre Rolle notgedrungen zu ändern. Frauen blieben als Alleinverantwortliche für Familie und Haus zurück. Viele Frauen arbeiteten auch in der Kriegskrankenpflege. Nach dem Krieg waren es nicht zuletzt Frauen, die sich im Wiederaufbau betätigten. Längst war es für sie selbstverständlich geworden, zu arbeiten. Frauen erhoben auch verstärkt in der Literatur die Stimme, organisierten sich und publizierten, vor allem auch in Illustrierten Zeitschriften, die eine wesentliche Rolle in der Emanzipationsbewegung der Frau spielten, nicht nur in Hinblick auf die Mode (Hosen, Bubikopf). Der Beruf der Sekretärin, zum Beispiel, war bald als Frauenberuf konnotiert. 9 Vicky Baums Roman Menschen im Hotel wurde zu einem unglaublichen Kassenschlager. Das Buch wurde sogar von Warner Bros verfilmt – einen Ausschnitt des Filmes gibt es in der Mediencollage zu den 20er-Jahren an der Wand zu sehen. Gina Kaus betrachtet in ihren Stücken die Situation, selbst die der emanzipierten Frau, mit kritischem Blick. Für eine wirkliche Gleichberechtigung fehlte es an kollektivem Bewusstsein. DAS NEUE MEDIUM FILM – MEDIENCOLLAGE 1920ER JAHRE Neben Bildmaterial und Musik zu Revue und Operette vereint die zweiteilige Mediencollage drei Zeugnisse früher Filmadaptionen literarischer Stoffe. Paul Wegeners Stummfilm Der Golem, wie er in die Welt kam (Deutschland 1920) basiert auf Gustav Meyrinks (1868–1932) Roman Der Golem. Meyrinks Texte widmen sich phantastischen und übernatürlichen Themen im Rückgriff auf Alchemie sowie jüdische und christliche Mystik. Davon zeugt das teilweise surreale Setting in Wegeners Verfilmung, aber auch die Gestalt des Golems selbst (gespielt von Paul Wegener). Im hier ausgewählten Ausschnitt rettet der Golem die Gesellschaft zu Hofe vor der einstürzenden Decke, obgleich die Versammlung Rabbi Löws Visionen des Exodus der Juden aus Ägypten zuvor noch mit Spott begegnet ist (nachzulesen im Begleitbuch, S. 130). Ein weiteres Beispiel ist Robert Wienes Verfilmung des Rosenkavaliers von 1926. Die Musik stammt von Richard Strauss, das Libretto von Hugo von Hofmannsthal. Das Ende der Verfilmung gilt als verschollen, wobei es dem Filmarchiv Austria gelang, im Zuge der Restaurierung des Filmes den fehlenden Teil in Form von Filmstills nachzustellen. In der gezeigten Szene übergibt Octavian als Rosenkavalier Sophie eine Rose zum Zeichen ihrer Vermählung mit Baron Ochs. Erst in diesem Moment erkennt Octavian Sophie als das Mädchen, das er selbst liebt (nachzulesen im Begleitbuch, S. 140). Grand Hotel (USA 1932) ist der Titel der Hollywood-Verfilmung von Vicki Baums Roman Menschen im Hotel (1929). Zum Cast zählen damalige Berühmtheiten wie Greta Garbo, John Barrymore und Joan Crawford. Baums Roman handelt von den entstehenden Beziehungen und zunehmenden Verstrickungen zwischen den Gästen eines Berliner Luxushotels. Dr. Otternschlag anfangs geäußerte Worte entpuppen sich als dramatische Ironie: „Grand Hotel ... always the same. People come, people go. Nothing ever happens.“ 15. JULI 1927 Die ‚Goldenen 20er-Jahre‘ mögen sich vor allem in der Kunst und Kultur, aber auch im repräsentativen Reichtum der vermögenden Minderheit gezeigt haben; politisch betrachtet, merkt man dem Jahrzehnt seine Lage zwischen zwei Weltkriegen an. Soziale Ungerechtigkeit birgt im Alltag erhöhtes Konfliktpotential. Der Brand des Wiener Justizpalasts kann als eine der ersten öffentlichen Entladungen dieser politischen Spannungen gesehen werden. Als Reaktion auf den Freispruch von Mitgliedern der Frontkämpfervereinigung DeutschÖsterreichs fanden sich viele sozialdemokratische Arbeiter zu einer Demonstration vor dem Parlament zusammen. Die Freigesprochenen hatten im burgenländischen Schattendorf zwei Menschen erschossen, die sich am Heimweg von einer Versammlung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei befunden hatten. Während der Demonstration ließ der damalige Polizeipräsident Johann Schober gegen die demonstrierende Menge das Feuer eröffnen, nachdem diese den Justizpalast betreten und Akten in Brand gesetzt hatte. In der Vitrine sind stark verkohlte und beschädigte Akten aus dem Justizpalast zu sehen. Die radikale Vorgangsweise Schobers bewegte Karl Kraus dazu, für dessen Rücktritt zu mobilisieren; das Feuer wird zu einem bedeutungsschweren Symbol für die österreichische Literatur. In seinem Werk Masse und Macht lässt Canetti, beispielsweise, Eigenschaften der Masse mit denen des Feuers verschmelzen. 10 KABARETT Das Kabarett stellt für das österreichische Kulturverständnis eine eigene Tradition dar. Während das Kabarett am Anfang des 20. Jahrhunderts eher gesellschaftskritische Inhalte bearbeitete, initiierte insbesondere Jura Soyfer ab 1926 das politische Kabarett. Soyfer, der auch politische Satiren in der Arbeiter-Zeitung veröffentlichte, sprach sich für die Politisierung des Theaters aus. Ab 1934 engagierte er sich illegal als KPÖ-Mitglied. 1938 schrieb er im KZ Dachau den Text zum Dachaulied; die Musik stammt von Herbert Zipper, mit dem er gemeinsam Zwangsarbeit leisten musste. Das von den Nationalsozialisten missbrauchte, verhöhnende Motto „Arbeit macht frei“ ist das Leitmotiv des Textes. Eine Vertonung des Lieds durch die Gruppe „Schmetterlinge“ kann in der Themenstation LEBENSLÄUFE im nächsten Raum gehört werden. Jura Soyfer starb 1939 im KZ Buchenwald an Typhus. Die Tänzerin und Choreographin Cilli Wang wurde für ihre kabarettistischen Einlagen in selbstgeschneiderten Verkleidungen und Pantomime-Einlagen sehr bekannt und ging sogar auf Tournee. Später fertigte sie auch Karikaturen berühmter Persönlichkeiten als Puppen an, wie zum Beispiel jene, hier ausgestellte, von Karl Kraus samt Fackelausgabe (nachzulesen im Begleitbuch, S. 226). Die Tradition des Kabaretts wurde nach dem Zweiten Weltkrieg besonders von Helmut Qualtinger weitergeführt. In seinem Stück Der Herr Karl entlarvt er unter anderem die opportunistische Haltung der Österreicher während des Krieges und danach. BÜRGERKRIEG UND AUSTROFASCHISMUS Jener von Qualtinger nach 1945 scharf kritisierte Opportunismus hinterließ seine Spuren auch in der Literatur. Christine Busta, beispielsweise, trat im März 1934 der Vaterländischen Front bei, ab 1940 war sie Mitglied der NSDAP (nachzulesen im Begleitbuch, S. 162). Josef Weinheber unterstellte seine Dichtung bereitwillig dem Nationalsozialismus. Bereits von 1931 bis zum Verbot der Partei 1933 war er NSDAP-Mitglied; 1944 erneuerte er seine Mitgliedschaft rückwirkend. Weinheber verabreichte sich 1945, als die rote Armee im Begriff war Wien zu erobern, eine Überdosis Morphium. Obwohl die Übergänge zwischen dem Austrofaschismus der Vaterländischen Front unter Engelbert Dollfuß zum Faschismus der NSDAP unter Adolf Hitler fließend erscheinen, wie man besonders am Beispiel Christine Bustas merkt, grenzte sich Dollfuß dezidiert durch die Betonung christlicher Werte vom deutschen Nachbarn ab. Während Dollfuß’ Regierung kam es immer wieder verstärkt zu Nationalsozialistischen Putschversuchen. Im Februar 1934 wurde der Karl-Marx-Hof im 19. Bezirk zu einem der Hauptschauplätze des dreitägigen Bürgerkriegs in Wien. Der damals jugendliche Autor Fritz Habeck, der mit seiner Familie im Karl-Marx-Hof wohnte, hielt die Ereignisse in seinem Tagebuch fest (nachzulesen im Begleitbuch S. 160). MÄRZ 1938: DER „ANSCHLUSS“ Der Einmarsch Hitlers und dessen Rede am Heldenplatz wurde auf verschiedenste Weise literarisch verarbeitet. Der hier gezeigte Ausschnitt aus Thomas Bernhards Theaterstück Heldenplatz vergegenwärtigt den Jubel und die „Sieg Heil“-Rufe der am Heldenplatz versammelten Menschenmasse im Kopf der Witwe des Professor Schuster während dessen Totenmahl in der an den Heldenplatz grenzenden Wohnung. Bernhards Stück spielt am Tag der Beerdigung des Professor Schuster, der sich aus dem Fenster seiner Wohnung in den Tod gestürzt hat. 1938 aus Österreich nach Oxford geflohen, ist Familie Schuster nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf Bitten des Bürgermeisters wieder nach Wien zurückgekehrt. Aus den Gesprächen der Charaktere geht hervor, wie der Professor und seine Familie durch die noch tiefverwurzelte Verbindung der österreichischen Gesellschaft zum Nationalsozialismus 11 einerseits und den bigotten Katholizismus andererseits an den Rand ihrer Existenz gedrängt sehen. Ernst Jandls Gedicht wien: heldenplatz, erst 1962 entstanden, entstammt den Erinnerungen des damals 12-jährigen Zeitzeugens. Das Gedicht verarbeitet den Sprachduktus Hitlers, der Nationalsozialisten überhaupt, sowie deren Rhetorik über einen lautlich-experimentellen sprachästhetischen Zugang. Die Perspektive ist eine grotesk überzeichnende, sowohl aus der als auch auf die Masse. LEBENSLÄUFE 1938-1945 In diesem Kapitel werden individuelle Lebensläufe von Menschen, die einerseits von den Nationalsozialisten verfolgt und in die Flucht getrieben wurden, andererseits als DichterInnen im Namen des Nationalsozialismus Karriere machten, einander gegenübergestellt. Ebenso ist das Kapitel durchzogen von abgebrochenen Lebensläufen, von Menschen also, die den Verbrechen der Nationalsozialisten nicht mehr entkommen konnten. Das bereits erwähnte Dachaulied von Jura Soyfer und Herbert Zipper soll an jene Schicksale erinnern. Es handelt sich um eine Station von bewusst disparater Zusammenstellung der Themen „Flucht, Vertreibung und Exil“ sowie „NS-Karrieren, Verfolgung und Vernichtung“, was auch durch die auseinanderklaffenden Buchrücken in den obersten Regalen verdeutlicht werden soll (im Begleitbuch gibt es zahlreiche Beiträge zu Objekten dieser Station). 1945: AUFRUF ZUM MISSTRAUEN Ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg, wurde das Leitmotiv der Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg die (Wieder-)Entdeckung. Zum einen begann ein neuerlicher Habsburgerkult einzusetzen, was sich insbesondere in den berühmten Sissi-Verfilmungen der 50er-Jahre zeigt, anderseits öffneten sich mit Ende des Krieges die Schleusen zur Außenwelt, wodurch der internationalen Moderne Einlass geboten wurde. Friederike Mayröcker, Andreas Okopenko und Michael Guttenbrunner veröffentlichten erste Gedichte in Zeitschriften wie den Surrealistischen Publikationen. Die unmittelbare Geschichte wurde literarisch nicht unmittelbar aufgegriffen, in der Tat dauerte es viele Jahre, bis sich Autorinnen und Autoren (oft der nachkommenden Generation) mit den Verbrechen des Dritten Reichs auseinandersetzten (siehe NS-TERROR UND LITERARISCHE AUFARBEITUNG). Ilse Aichinger kritisierte als eine unter wenigen öffentlich die scheinbare Gedächtnislücke die unmittelbare Vergangenheit betreffend. NS-TERROR UND LITERARISCHE AUFARBEITUNG Heimrad Bäcker: nachschrift http://www2.onb.ac.at/sichtungen/berichte/eder-t-2a.html Bäcker versucht nicht, das Grauen zu beschreiben, sondern dokumentiert es, indem er auf die Bürokratensprache des nationalsozialistischen Regimes zurückgreift und sie mit den Mitteln der konkreten Poesie bearbeitet. In den Anmerkungen der nachschrift verweist Bäcker auf die Quellen seiner Textzitate: 1. Wandtafel v. l.: Und die Flamme soll euch nicht versengen – Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen Widerstand, hrsg. v. Piero Malvezzi u. Giovanni Pirelli, mit e. Vorwort v. Thomas Mann, Zürich 1955 2. Wandtafel (rechts): „Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Karteiblatt“ 3. Wandtafel (Mitte): „Abkürzungen für die Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald usw., im internen Schriftverkehr üblich. Der Rotation des Textes entspricht die rotierende Situation, die Rotation der Häftlinge und der Statistik war.“ 12 Auch hier ist die Zusammenstellung exemplarisch; die Station bietet an, sich individuell in die unterschiedlichen Schreibprojekte zu vertiefen. LITERATUR UND ENGAGEMENT Literatur wird vor allem in den 70er- und 80er-Jahren politisches Engagement. Mit der begonnenen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Geschichte kann auf die zeitgenössische politische Situation nicht kommentarlos geblickt werden. Die beispielsweise großteils noch von ehemaligen Funktionären der NSDAP geformte politische Landschaft und die davon ebenso beeinflussten sozialen Strukturen aller gesellschaftlichen Ebenen, sowie der weiterhin mächtige Fremdenhass, bewegten Autorinnen und Autoren dazu, sich politisch dezidiert zu positionieren (vgl. Waldheim-Affäre: Begleitbuch, S. 228). DIE SCHULE IN DER LITERATUR: ZÖGLINGE UND ERZIEHER: Es sind unter anderem politisch motivierte Schritte in die durchaus realen Topoi unserer Gesellschaft, aus denen Literatur entsteht. Robert Menasse, Michael Köhlmeier und Josef Haslinger gehören einer jungen Generation von Absolventen einer streng katholischen Internatsausbildung an, die die ihnen teils widerfahrene Traumatisierung in literarischen Werken aber auch Filmen thematisieren. Barbara Frischmuth rollt die Thematik in ihrem Buch Die Klosterschule hingegen bereits 1968 auf, indem sie sich der auf katholischen Dogmen basierenden Erziehung der Frau widmet. Ein Gegenbeispiel für Schule als kreativen Ort der individuellen Erfahrung bieten Ernst Jandl und Anneliese Umlauf-Lamatsch, in deren Unterricht nicht nur die Kinder, sondern auch noch die Literatur einen besonderen Stellenwert einnahmen. ARBEITSWELTEN Dass die Bewegung in verschiedene Arbeitswelten ebenso wenig unpolitisch sein kann, zeigen die in diesem Kapitel exemplarisch ausgewählten Autorinnen und Autoren. Marlene Streeruwitz setzt sich in ihrem Video-Essay, das gemeinsam mit Frauen der Frauenzeitschrift AUF entstanden ist, für die Rechte von Frauen – besonders am Arbeitsmarkt – ein. Kathrin Rögglas Buch wir schlafen nicht basiert auf unzähligen Interviews und Gesprächen mit ArbeitnehmerInnen in der New Economy und thematisiert das Verschwinden des Menschen in einer webbasierten Dienstleistungswelt, in der berufliche Verwirklichung mit völliger Selbstaufgabe und Aufopferung gleichgesetzt wird. Realer Schauplatz dieser virtuellen Arbeitswelt ist die Messehalle (nachzulesen im Begleitbuch, S. 244). Franz Innerhofer, hingegen, wendet sich in seinem Werk Schöne Tage dem Alltag der Landwirte zu, insbesondere dem der Knechte und Mägde an den Höfen. Harte Arbeit und Misshandlung zählen hier zur Routine. Totale Selbstaufgabe wird auch hier im Sinne einer gesteigerten Produktivität vom Protagonisten Holl erwartet, der um einen Vornamen beschnitten und von Geburt an (er ist ein uneheliches Kind) identitätslos bleibt. Der Titel Schöne Tage bildet den von Zynismus klaffenden Rahmen des Romans, denn so existenziell das schöne Wetter für den Bauern ist, so sehr bedeutet es für den Knecht und Leibeigenen ein Schaffen am Rand der physischen und psychischen Existenz. DAS THEATER UND SEINE WIRKUNG Das Theater selbst wurde wiederholte Male zum Schauplatz politischer Skandale. Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard zählen hier wohl zu den bekanntesten Persönlichkeiten, von den Medien als Nestbeschmutzerin und Nestbeschmutzer verbal degradiert. Im Schatten des Etablissements, das sich aus den auch heute noch großen Theaterhäusern wie etwa dem Burgtheater und dem Theater in der Josefstadt zusammensetzte, aber auch aus Festivals wie den Salzburger Festspielen (seit 1920), gab und gibt es immer wieder Bemühungen, 13 unabhängige Theaterhäuser und Festwochen zu gründen, um jungen aber auch radikaleren Stimmen eine Bühne zu geben (nachzulesen im Begleitbuch, S. 198). KALTER KRIEG UND APOKALYPSE Das internationale politische Geschehen seit den 1950er-Jahren, geprägt vom Kalten Krieg und der Bedrohung durch die Atombombe, wurde auch von österreichischen Autorinnen und Autoren aufgegriffen und literarisch eingearbeitet. Marlen Haushofers 2012 verfilmter Roman Die Wand, beispielsweise, schildert den (all-)täglichen Kampf einer Stadtfrau als der scheinbar einzigen Überlebenden einer rätselhaft bleibenden Katastrophe. In den Alpen von einer unsichtbaren Wand umzingelt, beginnt die Protagonistin akribisch ihre Erfahrungen zu dokumentieren – es scheint, um den Halt und Verstand nicht zu verlieren. Zu ihren einzigen Gefährten zählen in den besten Zeiten ein Hund, Katzen und eine Kuh samt jungem Kalb (nachzulesen im Begleitbuch, S. 200). TODESARTEN: INGEBORG BACHMANN UND THOMAS BERNHARD Todesarten ist der Titel eines unabgeschlossenen Schreibprojekts von Ingeborg Bachmann, in dem sie Verbrechen und Gewaltübergriffe im Alltag gegenüber Frauen thematisiert, die sich hinter dem Deckmantel der gesellschaftlichen Konvention ereignen. Der Herkunftskomplex, von dem Thomas Bernhard in seinem Roman Auslöschung schreibt, tritt auch in Bachmanns Roman Malina zutage, wenn die weibliche Protagonistin vom Vater träumt. Mit der Symbolik von Feuer und Wasser wird die männlich bestimmte Weltordnung als eine Ordnung von und voll Gewalt demaskiert und die Analogie zwischen der Figur des Vaters und dem Nationalsozialismus offen gelegt (nachzulesen im Begleitbuch, S. 212; zu Thomas Bernhard, S. 208). FORMATIONEN DER AVANTGARDE Formen von Avantgarde können als historisch wiederkehrende Phänomene gesehen werden, aber auch als zeitlich abgrenzbare Epoche. Letztere meint den Begriff der historischen Avantgarde der 1920er-Jahre mit ihren Verzweigungen der Kunst in viele verschiedene Richtungen: Futurismus, Expressionismus, Surrealismus, Dadaismus sind einige der Strömungen dieser Zeit. In Österreich kam es auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg zur Formierung einer Avantgarde-Bewegung einer jungen Generation an Künstlerinnen und Künstlern, die sich nicht mehr lediglich als Autorinnen und Autoren festschreiben lassen wollten. Mit H. C. Artmanns 8-Punkte-Proklamation wird Dichtung erst in ihrer Performativität zu einem poetischen Act. Dichtung wird Handlung, happening und damit in ihrer Wirkung nicht-reproduzierbar (Beispiele dazu im Begleitbuch, S. 206 und 196). In diesem Sinne scheint der Versuch, der Avantgarde nach 1945 in einem Museum ein Kapitel zu widmen, zum Scheitern verurteilt. Die Avantgarde nach 1945, die unter anderem durch die Wiener Gruppe (Gerhard Rühm, Friedrich Achleitner, Oswald Wiener und Konrad Bayer) und deren unmittelbaren Umkreis performative Höchstleistungen erbrachte (etwa während der literarischen cabarets), ist jedoch eine höchst ambivalente und – in durchaus bewusstem Sinne – widersprüchliche Erscheinung: Obwohl jegliche Form von Institutionalismus abgelehnt wurde, war man darauf bedacht, Publikationsmöglichkeiten zu suchen oder gar zu schaffen. Darüber hinaus entpuppte sich Gerhard Rühm selbst als akribischer Archivar der Gruppe. Grundsätzlich trat in den 50er-Jahren eine neue literarische Jugend zutage, die sich mit Lesungen wie „Jenseits der Plakate“ oder Vortragsabenden zu „Experimenteller Dichtung“ am Rand des literarischen Betriebs positionierte. Manifeste aus diesen Kreisen erinnern an die in der historischen Avantgarde verwurzelte Tradition dieser Textsorte. 14 Autorinnen und Autoren abseits der Wiener Gruppe, die ebenfalls einer radikal neuen Ästhetik folgten, waren beispielsweise Friederike Mayröcker, Ernst Jandl, Andreas Okopenko und Elfriede Gerstl. Ernst Jandls Gedichte überzeugten als akustische Klangkörper über Sprachgrenzen hinweg, etwa während seines legendären Auftritts in der Royal Albert Hall in London 1965, der im Kinoraum vollständig gezeigt wird. Elfriede Gerstl war eine der wenigen weiblichen Autorinnen, die zumindest als beobachtende Randfigur von der Wiener Gruppe geduldet wurde. Auch in ihrem Selbstverständnis bleibt sie eine unabhängige literarische Randfigur, die gute Kontakte zu vielen unterschiedlichen Schriftstellerinnen und Schriftstellern unterhielt. Wer sich im Gang von der Avantgarde Richtung Schreibprozesse bewegt, wird unweigerlich die Teufelsfalle in Gang setzen, einen Nachbau einer Textinstallation des englischen Dichters John Furnival. Auf einem trichterförmigen Gebilde ordnete Furnival Sprachstücke aus verschiedenen romanischen Sprachen, aber auch Altgriechisch, zu einem rotierenden, den Teufel anziehenden Sprachgebilde an. Ernst Jandl übersetzte Furnivals devil trap auf unkonventionelle Weise. In einer Art Partitur notiert Jandl die verschiedenen Modulationen der Stimme mit Dynamikzeichen aus der Musik (nachzulesen im Begleitbuch, S. 204). Dem Teufel sein Ohr schenken, kann man an der Hörstation, hier gelesen von Ernst Jandl selbst. POETISCHE KORRESPONDENZEN Der Brief hat eine lange Tradition in der Literatur: In ihm manifestieren sich, durch ihn entstehen Freundschaften. Der Brief wird aber auch Schauplatz poetologischen Austauschs, oder in vielen Fällen Aufbewahrungsort von Dichtung, wenn nicht sogar der Brief selbst zum Gedicht wird. Alfred Kubins Briefe an den Verleger Piper, beispielsweise, sind kunstvoll illustrierte, mit Sprachwitz angereicherte Dichtungen (nachzulesen im Begleitbuch, S. 132). Im Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan zeigt sich das Sinnliche wie das Geistige und vor allem die Unmöglichkeit, der eigenen Biographie und Familiengeschichte auszuweichen. In ihnen wird deutlich, wie die unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus eine irreversible Kluft in eine Freundschaft hineintragen (nachzulesen im Begleitbuch, S. 182). Friederike Mayröckers und Ernst Jandls poetische Korrespondenz ereignete sich nicht nur in Briefen, sondern auch in alltäglichen Notizen, die man sich hinterließ, sowie in Gemeinschaftsarbeiten. Im in der Themenstation GENAUIGKEIT UND SEELE bereits erwähnten Antwortschreiben Thomas Bernhards an Hilde Spiels schreibt der Dichter über den Philosophen Ludwig Wittgenstein, dass dieser „die Reinheit Stifters, Klarheit Kants in einem und seit (und mit ihm) Stifter, der Größte“ sei. SCHREIBPROZESSE Das Kapitel Schreibprozesse lädt ebenfalls zum Schmökern und Verweilen ein. Wiederum exemplarisch, werden verschiedene Zugänge zu Literatur als Tätigkeit gezeigt. Dabei scheint Bewegung ein verbindendes Thema zu sein, von Gert Jonkes bewegter Handschrift (Stoffgewitter; siehe Leuchtschrift), über Elfriede Czurdas ausrollbare Anagramgedichte, Walter Kappachers Faszination mit den „Silberpfeilen“, Josef Winklers Reisenotizbücher (siehe Begleitbuch, S. 246), Peter Handkes mit Gravuren versehene Wanderstöcke, mit denen er sich in die Welt hinaus begab, bis hin zu Friederike Mayröckers Zetteluniversum, in dem sich die Autorin die Welt in ihre kleine Wohnung, gleichsam ins Archiv, holt. 15