Infotexte - Vienna Guide Service

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Infotexte - Vienna Guide Service
2. OBERGESCHOSS – Beginn der Dauerausstellung (Franziska Füchsl)
Auftakt – 4-teilige Inszenierung:
 Vitrine mit Fund- und Schaustücken
 Monitor mit Literaturlandkarte: „Schreibräume: Orte der österreichischen Literatur“
 Hörraum: „Typisch Österreich? Eine Collage“
 Medieninstallation (Monitorwand): „Was ist Literatur?“
Hier werden grundlegende Fragen zur Konzeption der Dauerausstellung angesprochen.
Was ist Literatur? (Monitorwand)
Einspielungen zu und mit verschiedenen AutorInnen thematisieren exemplarisch diverse
Fragestellungen zu Literatur. Intermediale Ansätze, wie sie in Brigitta Falkners
Animation/Text prinzip i (die Autorin kombiniert Schrift, Klang und Bild), aber auch in
Marlene Streeruwitz’ Romanserie Lisa’s Liebe zu erkennen sind, bestimmen das Bild der
Literatur zunehmend. Streeruwitz, beispielsweise, arbeitet in Lisa’s Liebe satirisch mit der
Tradition der Groschenromane. Das Ergebnis ist eine Fotostory, die Trivialität zum
poetischen Prinzip erhebt.
Wo beginnt Literatur? Am Spielfeld, in der Welt oder in Gedanken und auf Papier? Peter
Handkes Aufstellung des 1. FC Nürnbergs aber auch der Humanic-Werbespot mit H. C.
Artmann stellen (direkt und indirekt) die Frage, was und wer Literatur zu Literatur macht.
Auch Kafkas Verwandlung in Gebärdensprache zeigt, dass Literatur nicht nur in Buchstaben
gedacht werden kann. Mit Elfriede Gerstls und Herbert J. Wimmers Aphorismen-Projekt textansichts-karten wird gefragt, wieviel Raum Literatur braucht, aber auch, ob Literatur
überhaupt einen festen Ort benötigt.
Das Video zur Entstehung des Gedichts Liebes-Werk von Friederike Mayröcker verweist auf
das Ende der Dauerausstellung mit dem Kapitel SCHREIBPROZESSE (1.OG), in dem Einblicke
in unterschiedliche formale Arbeitsweisen und in die literarische Werkstatt gestattet werden.
Gibt es EINE typisch österreichische Literatur?
Ebenso unterschiedlich und vielfältig wie das Land und die Sprache und Herkunft seiner
Bewohnerinnen und Bewohner, sind die Autoren und Künstlerinnen, die bis heute das
kulturelle und gesellschaftliche Bewusstsein mitprägen.
Politische und historische Bruchlinien eröffnen thematische Räume im Museum und bieten,
nach zeitgeschichtlichen und thematischen Stationen geordnet, verschiedenste Denkanstöße:
Fragen zur Zensur, s. „Objekttexte“ von der Aufklärung bis hin zur technischen
Massenproduktion, Marktwirtschaft und Ökonomisierung von Wissen und Bildung.
Fragen zur Fremde, deren Repräsentationen die individuelle aber auch kollektive
Wahrnehmung formt; das Fremde, das sowohl faszinieren als auch als Bedrohung empfunden
werden kann und von AutorInnen als Projektionsfläche genutzt wird. Dabei ist der Schritt
zum Thema ‚Reisen‘ ein kleiner:
- Reisen in literarische topoi: z. B. in DAS DORF, oder die oft befremdlichen
ARBEITSWELTEN
- Reisen in andere Medien: z. B. in die Photographie (Gerhard Roth bei DAS DORF) und
den Film (Peter Handke: Chronik der Laufenden Ereignisse bei IMAGINATIONEN DER
FREMDE)
- Reisen zu SCHREIBORTEN (z. B. Marianne Fritz, die ihre Wohnung fast gar nicht mehr
verlassen hat und dort ein beeindruckendes Netz an Figuren, Handlungssträngen und
Orten erschaffen hat, oder Friederike Mayröcker, die ihren Schreibort, ihre Wohnung,
zu einem lebendigen, organisch anmutenden, Archiv werden ließ.)
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Reisen in die Welt hinaus, wie z. B. bei Kyselak, Ida Pfeiffer und Alice Schalek, aber
auch Peter Handkes exzessive Wanderungen
Fragen zum Begriff Avantgarde:
Während es vielerorts heißt, dass Avantgarde ein kulturhistorischer Begriff für eine klar
fassbare Zeit sei – die Avantgarde des fin de siecle etwa lässt sich – besonders in Hinblick auf
Österreich – der Begriff, im wörtlichen Verständnis, auf Vorreiter jeglicher Art übertragen,
man denke an experimentelle Filmkünstler wie Ferry Radax (im Museum: Thomas Bernhard
– Drei Tage bei TODESARTEN, oder Sonne halt! im Kinoraum), Peter Kubelka, Hubert
Sielecki (Kinoraum), aber auch an die Bildende Kunst, den Wiener Aktionismus (Günther
Brus, Otto Muehl, Hermann Nitsch etc.), und in der Literatur an die Wiener Gruppe –
insbesondere ihre literarischen cabarets und „happenings“, aber auch an Ernst Jandls
Auseinandersetzung mit den Klängen und Geräuschen von Sprachen oder Friederike
Mayröckers syntaktische Idiosynkrasie.
Fragen zur Avantgarde können auch nicht unabhängig von Fragen zur Zensur gesehen
werden, bedenkt man, dass avantgardistischer Kunst geradezu mit Unverständnis und
Missgunst, ja sogar mit Sanktionen begegnet worden ist. Die österreichische Justiz,
beispielsweise, hat auf die sogenannte „Uniferkelei“ im Neuen Institutsgebäude der Uni Wien
1968 (Aktion Kunst und Revolution mit Günter Brus, Otto Muehl, Peter Weibel, Oswald
Wiener, Valie Export u.a.) mit Haftstrafen reagiert.
AUFKLÄRUNG
Warum in der Aufklärung beginnen?
Zur Zeit der Aufklärung zeichnete sich eine Tendenz der literarischen Abgrenzung gegenüber
dem Deutschen Reich ab. So verfolgten ‚deutsche‘ Aufklärer und Dichter ihre Ziele auf
andere Art und Weise als ‚österreichische‘, die sich verstärkt parodistischen Formen
zuwandten. Beispiele dafür sind der Typus des Hanswurst, zahlreiche Satiren, etwa der
Roman Der 42jährige Affe. Ein ganz vermaledeites Märchen, und eine Flut von Broschüren
und Flugschriften als Folge und Reaktion auf die Erweiterung der Pressefreiheit 1781 mit
Titeln wie Philosophie der Modeschnallen oder Frage: Wie wird der Antichrist aussehen:
blau oder grün?.
Während in den Jahren unmittelbar nach 1780 (Toleranzpatent/Religionengleichstellung;
relative Pressefreiheit; Anstieg der Druckereien und der Lesefähigkeit; Theatergründungen)
unter der Führung Maria Theresias und danach Josephs II moderate Zensurbestimmungen die
typisch satirische und parodistische aufklärerische Literaturlandschaft prägten, kam es unter
Franz II ab den 1790ern zur radikalen Verfolgung von Aufklärern und in Folge zu den
Jakobinerprozesse von 1794–95.
Besonderes Objekt: Briefwechsel zwischen Maria Theresia und Van Swieten, ihrem Leibarzt,
über Zensur und Kontrolle; bemerkenswert ist die Rücksichtnahme auf wissenschaftliche
Interessen (nachzulesen im Begleitbuch, S. 56).
BEWEGUNG IM STILLSTAND: DAS BIEDERMEIER
Fürst Metternichs Karlsbader Beschlüsse hatten die Institutionalisierung von Überwachung
und radikaler Zensur zur Folge. Die bürgerliche Kunst der Zeit war von einer Besinnung auf
das Private und der Ästhetisierung des Idylls geprägt. Politische und gesellschaftliche Kritik
musste subtil ‚verpackt‘ werden, um die Inspektion durch das Zensuramt zu überleben. In oft
magischen Handlungen und metaphorischer Bildsprache erwiesen sich Ferdinand Raimund
und insbesondere Johann Nestroy als scharfe Kritiker der zeitgenössischen Situation.
Letzterer wurde sogar wegen skandalösen Extemporierens auf der Bühne inhaftiert.
Besonderes Objekt: Brief Nestroys an seinen Freund Carl Lucas aus dem Kerker mit einer
eindringlichen Passage über die Bewachung (nachzulesen im Begleitbuch, S. 70).
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FRANZ GRILLPARZER
Grillparzer-Haus und ehemaliges k. k. Hofkammerarchiv: Ab 1815 arbeitete Grillparzer im
Hofkammerarchiv, 1832 wurde er zum Direktor bestellt und im Revolutionsjahr 1848 fand
die Übersiedlung in die Johannesgasse statt. Zur archivarischen Tätigkeit pflegte Grillparzer
ein zwiespältiges Verhältnis, so litt er darunter, dass er sich nicht gänzlich seiner
Schreibarbeit zuwenden konnte, aber auch unter der Widersprüchlichkeit zwischen Kunst und
Politik, als Schriftsteller einerseits und Beamter im Dienst der Monarchie andererseits. Diese
Themen spiegeln sich auch in seinen Stücken wider: Machtgier, Einzelschicksale und die
gesellschaftlichen Unruhen seiner Zeit.
Die beiden Monitore stellen zwei Burgtheaterinszenierungen von Ein Bruderzwist im Hause
Habsburg (1963) und König Ottokars Glück und Ende (2005) einander gegenüber.
1848: GESCHEITERTE REVOLUTION
Die besonders von den Studierenden vorangetriebene Einforderung bürgerlicher Rechte
gegenüber der Aristokratie blieb ohne größeren Erfolg und endete mit Kaiser Franz Josephs
Inthronisierung.
IMAGINATIONEN DES FREMDEN
Im Sinne von ‚Einbildungen‘ (Imaginationen) eröffnet dieses Kapitel ein Themenfeld, das die
gesamte Dauerausstellung mitprägt: Welche Bilder machen wir uns von der Fremde? Es sind
Bilder der Faszination sowie Schreckensbilder, erotische wie abstoßende Vorstellungen,
subjektive, fiktive, jedenfalls auch kollektiv prägende. Diese Prägungen reichen von der
Kinder- und Jugendliteratur (vgl. Hatschi Bratschi Luftballon, darin insbes. die
‚Menschenfresserszene‘; nachzulesen im Begleitbuch, S. 154) bis zur ‚Welt‘-Literatur
(Pseudoamerikanismus, Entdeckung der ehemaligen Provinzen der Monarchie). Solche Bilder
entstehen durch scheinbar objektive Beschreibungen und Dokumentationen, spiegeln sich in
Aussagen von AutorInnen (z. B. Peter Altenberg über bei der Wiener Weltausstellung 1873
gastierenden Afrikanerinnen; Ida Pfeiffers und Alice Schaleks Aufzeichnungen zu ihren
Weltreisen), entstehen aber auch in Solidarisierungsvorhaben (Franz Werfel: Die vierzig Tage
des Musa Dagh, nachzulesen im Begleitbuch, S. 158).
ADALBERT STIFTER
Stifter war Schriftsteller und Maler. In beiden Metiers versuchte er mit akribischem Blick die
Dinge möglichst detailgetreu und realistisch wiederzugeben: „Soll es denn gar nicht möglich
sein, den Dachstein gerade so zu malen wie ich ihn oft und stets vom vorderen Gosausee aus
gesehen habe? […] ich machte doch zehn und etliche Versuche. Sie mißlangen sämtlich.“
Dem unausweichlichen Misslingen kam dabei unweigerlich eine besondere Bedeutung zu.
Stifters Akribie spiegelt sich im Rosenhausmodell, dessen Pläne aus den 1930er Jahren allein
mit Hilfe von Textpassagen aus dem Nachsommer angefertigt wurden. 2006 wurde das in der
Ausstellung gezeigte Modell realisiert (nachzulesen im Begleitbuch, S. 90).
DAS DORF
Das Dorf wird sowohl als literarischer Topos als auch als Schreibort thematisiert. Ein
konfliktreicher Ort, in dem ideologische, aber auch ästhetische Konfrontationen ausgetragen
werden. Als ein Ort der Gegensätze bietet das Dorf AutorInnen sowohl
Rückzugsmöglichkeiten als auch Möglichkeiten der Auseinandersetzung. Während Franz
Michael Felder in Schoppernau (Vorarlberg) als Sozialreformer und Abonnent internationaler
Zeitschriften einen Bildungsauftrag erkannte, war das Dorf für Karl Friedrich Waggerl ein
Rückzugsort fernab vom Weltgeschehen; als Heimatdichter stellte er sein Schreiben
allerdings in den Dienst des Nationalsozialismus.
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ÜBER DIE ALPEN – KYSELAK
Ein „kleiner Beamter“ geht auf Reisen und wird zum Thema vieler Anekdoten, mögen sie
stimmen oder nicht. Jedenfalls ging Kyselak als erster Graffitikünstler in die Geschichte ein,
hat er auf seinen Wanderungen doch seinen Namen in immer gleichem Schriftzug auf
Gemäuern und Bauwerken hinterlassen. Diese können heute noch entdeckt werden. Kein
Wunder also, wenn ihm aus moderner Perspektive Größenwahn unterstellt wird. Konrad
Bayer und Gerhard Rühm, Mitglieder der Wiener Gruppe, lassen eine Gemeinschaftsarbeit
mit dem Titel kyselak ironisch mit folgenden Worten enden: „kyselak, kyselak, warum wirst
du mich verlassen?“ (siehe Originale im Rahmen).
AUF REISEN
Auch in diesem Themenkapitel geht es um das Fremde, das Aufeinandertreffen verschiedener
Wertesysteme und um Kolonialisierung. Mit den Dokumentationen ihrer Reisen gingen zwei
Frauen in die Geschichte ein. Ida Pfeiffer unternahm in der Mitte des 19. Jahrhunderts zwei
große Weltreisen. Ihre Reiseberichte zeigen sowohl die überlegene Perspektive der Weißen,
als auch die Gewalt, mit der diese in der Fremde vorgehen.
Alice Schalek, Journalistin, Autorin, Photographin und einzige weibliche
Kriegsberichterstatterin des k.u.k. Kriegspressequartiers, reiste, neben zahlreichen
Exkursionen, die sie u.a. nach Indien und Japan führten, auch zu den Frontgebieten des Ersten
Weltkriegs. Über ihre Reisen, die sie auch photographisch dokumentierte, hielt sie
Lichtbildvorträge in der Wiener Urania (siehe Foto-Loop). Als Frontreporterin wurde Schalek
unter anderem von Karl Kraus in dessen Zeitschrift Die Fackel auf das Heftigste kritisiert. In
Die Letzten Tage der Menschheit repräsentiert die Figur DIE SCHALEK die für
Propagandazwecke instrumentalisierte Kriegspresse. Wie Franz Schuh in einem Kommentar
schreibt, bedeutete dieses „Umbringen durch die Satire“ für Alice Schalek den sozialen Tod.
Besonders interessant: Ida Pfeiffers Vortragsentwurf zu ihrer Sumatra-Reise (Vitrine, ab „Wo
der Weiße schlecht auf ...“) und der abgebrochene Griff ihres Schirms, mit dem sie sich gegen
eine Messerattacke zur Wehr setzte (über Ida Pfeiffer nachzulesen im Begleitbuch, S. 82).
NETZWERKE
SALON:
In der Literaturszene kam insbesondere Frauen der gehobenen Gesellschaft als
Organisatorinnen literarischer Salons eine neue, respektable Rolle zu. Salons dienten als
Plattformen für Lesungen und künstlerischen Austausch.
 Josephine von Wertheimstein: wurde von Ferdinand von Saar besonders in seiner
Grabrede geehrt
 Eugenie Schwarzwald: Gründerin der Schwarzwaldschule, in der mit ihr befreundete
Künstler unterrichteten (z. B. Adolf Loos), sowie Gastgeberin literarischer Salons
 Bertha Zuckerkandl: Literaturförderin (im Rahmen: Dankesbrief Alma Mahlers an
Zuckerkandl)
 Hilde Spiel öffnete befreundeten Schriftstellern ihr Haus am Wolfgangsee.
DAS KAFFEEHAUS:
Wie auch das Dorf, ist das Kaffeehaus literarischer Topos, Schreibort, Rückzugs- sowie
Diskussionsort der österreichischen Literatur.
ORGANISATIONSFORMEN:
Ähnlich wie bei anderen Berufsgruppen schließen sich auch AutorInnen zum Zwecke der
Interssensvertretung zusammen. Als Gegenpol zum international vernetzten PEN-Club wurde
1973 die GAV – Grazer Autorinnen Autorenversammlung – gegründet.
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WIEN: WEGE IN DIE MODERNE
Um 1900 fanden fundamentale Veränderungen und Umbrüche statt. Die Gesellschaft erlebte
einen ökonomischen Aufschwung sowie den Zusammenbruch der Monarchie und damit des
vorherrschenden Weltbildes. Die Offenkundigkeit von Prunk einerseits und extreme Armut
andererseits bargen zusätzliches Konfliktpotential und die wertvollen Fortschritte in der
Wissenschaft (Medizin und Psychoanalyse) initiierten die Krise der Kunst und damit ihre
Revolutionierung in Form der historischen Avantgarden.
RINGSTRASSE:
Die Ringstraße wurde nach ihrer Eröffnung 1865 zum Schauplatz von prunkvollen Festzügen
und Spektakeln, zuerst nur für die bürgerliche Schicht, ab ca. 1890 auch für die
Arbeiterbewegung (z. B. 1. Mai-Umzüge). Sie wurde Symbol für die Gründerjahre 1867–
1873 und den wirtschaftlichen Aufschwung, auch bedingt durch Vorbereitungen zur
Weltausstellung.
1873: BÖRSENCRASH UND WELTAUSSTELLUNG:
Eine Woche nach der Eröffnung der Weltausstellung kam es zum Börsencrash und damit zu
weitreichendem finanziellen Ruin; auch die Familien vieler AutorInnen und KünstlerInnen
waren betroffen. Die Folgen waren verheerend, vor allem für die Arbeiterschicht.
INS DUNKELSTE WIEN:
Sozialreportagen (von Max Winter und Emil Kläger um ca. 1908) zeigten die unmenschlichen
Bedingungen, unter denen Arbeiter lebten und hausten. Das rasche Bevölkerungswachstum
führte zu Wohnungsnot und offenkundiger Armut.
SINN UND SINNLICHKEIT:
Der Prater als Ort der Sinnlichkeit, Spektakel und Genuss; wo Natur und Kultur sowie
Menschen aus allen Schichten aufeinandertreffen. Felix Salten bezeichnete den Prater als
Spiegel der Launen der Wiener Bevölkerung.
SKANDALE UND DISKURSE:
Von 1897 bis 1910 war Karl Lueger Bürgermeister. Seine Amtsperiode verstärkte die
antisemitische Stimmung in Wien. Es kam wiederholt zu öffentlichen Konflikten, gegenüber
der jüdischen Bevölkerung, aber auch angesichts moderner Kunst. Klimts Fakultätsbilder,
beispielsweise, erregten enormes mediales Aufsehen ob ihrer skandalösen Darstellungen. In
seiner Verteidigungsschrift Gegen Klimt vereinte Hermann Baar Schmähschriften gegen
Klimt und kommentierte diese in Annotationen am Rand. Dadurch stellt sich Baar
offenkundig auf die Seite Klimts und der Secessionisten (von Gustav Klimt, Koloman Moser,
und vielen anderen Künstlern initiierte Abspaltung vom als konservativ geltenden Wiener
Künstlerhaus). Klimts Fakultätsbilder wurden als „das Ärgste an künstlerischer
Unverfrorenheit“ etikettiert und deren Rezeption als das Entwirren von „Knäuel nackter
Menschenleiber“ beschrieben. Ein weiteres Beispiel für die konservative Rezeptionshaltung
der bürgerlichen Wiener bietet Arthur Schnitzler. Wegen seines Leutnant Gustl wird ihm der
Offiziersrang aberkannt, er wird vom Oberarzt zum Sanitätssoldaten degradiert.
GESCHLECHTERVERHÄLTNISSE:
Die Mode der Reformkleider gilt als Ausdruck eines in Veränderung begriffenen
Selbstverständnisses vieler Frauen. Rosa Mayreder, beispielsweise, reagiert mit ihrem Buch
Zur Kritik der Weiblichkeit kritisch auf Otto Weiningers misogyne Studie Geschlecht und
Charakter.
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Besonders interessant:
Josefine Mutzenbacher. Die Geschichte einer Wienerischen Dirne. Von ihr selbst erzählt
(1906; anonym, wahrscheinlich von Felix Salten): Das Buch vereint die vermutlich fiktiven
Lebenserinnerungen der Prostituierten Josefine Mutzenbacher. Der derb pornographische
Inhalt sorgte für enormes Aufsehen.
Frühe erotische Saturn-Filme: Obzwar in den gezeigten erotischen Kurzfilmen vom Beginn
des 20. Jahrhunderts (wenig verwunderlich) Frauen die ‚Hauptdarstellerinnen‘ sind, erweisen
sich einige Beispiele, besonders aus zeitgenössischer Perspektive, von Interesse, da sie unter
anderem auch homoerotische und feministische Aspekte zeigen, etwa lustvolle Szenen
zwischen Magd und Dame, aber auch den erotischen Umgang mit dem eigenen Körper nach
aufregender Lektüre.
SPRACHE UND TRAUM:
Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief bildet einen wichtigen Einschnitt in der
österreichischen Literatur in Bezug auf die philosophische Diskussion über Sprache als
Werkzeug, mit dem die Wirklichkeit adäquat abgebildet werden kann (nachzulesen im
Begleitbuch, S. 104). Was vermag Sprache wirklich? Die Sprachkrise, die Hofmannsthal hier
so deutlich ausspricht, ist eine Krise der Repräsentation, und sie bleibt eines der
bedeutendsten Themen der österreichischen Literatur und Kunst. Spätestens nach dem
Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust, in dem die deutsche Sprache Vehikel für
Manipulation und Rechtfertigung war, bedeutete die Sprachkrise auch einen politischen
Konflikt.
DIE VIELSPRACHIGE METROPOLE
Um 1900 ist Wien als Zentrum Ziel vieler Zuwanderer aus den benachbarten Teilen der
Monarchie und damit ein Ort der Vielsprachigkeit. Die Diskrepanz zwischen Muttersprache
und erwählter Literatursprache ist ein Thema von politischer Dimension. Der Begriff Heimat
ist relativ, wie am Beispiel Horváth erkennbar ist: „aber: ‚Heimat‘? Kenn ich nicht. Ich bin
eine typisch alt-österreichisch-ungarische Mischung: magyarisch, kroatisch, deutsch,
tschechisch.“ Auch heute zieht es internationale AutorInnen nach Wien.
PRAG-WIEN
Durch die Insularität der Tschechisch-Deutschen in der Altstadt Prags, ist das Prager-Deutsch
durch seine Eigenart besonders auffällig, was sich auch in den Werken Franz Kafkas
widerspiegelt. Auch in Prag werden antisemitische Stimmen immer kräftiger. Eine Gruppe
von Burschenschaftlern schreibt beispielsweise einen gemeinsamen Brief an August Sauer,
der gerade zum Rektor der Prager Universität befördert worden ist, in dem sie ihn auffordern,
sich gegen den allseits erwarteten symbolischen Beitritt zur liberalen Partei zu entscheiden.
DIE LETZTEN TAGE DER MENSCHHEIT: DER ERSTE WELTKRIEG
Krieg und Musik gehen seit jeher eine enge Verbindung ein. So wird Musik immer wieder zu
Propagandazwecken und zur Stärkung des Zugehörigkeitsgefühls zu einer Nation, eines
Reiches instrumentalisiert. Die ausgestellte Phonolarolle, etwa, beinhaltet ein
Klavierarrangement von Volksliedern und -hymnen, Soldatenliedern und Märschen für den
häuslichen Gebrauch.
Die wohl schonungsloseste Auseinandersetzung mit den Gräueln und Absurditäten des
Krieges bietet Karl Kraus’ Stück Die Letzten Tage der Menschheit (nachzulesen im
Begleitbuch, S. 128).
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Georg Trakl, der in einer Sanitätskolonne an die Front in Grodek bei Lemberg geschickt
wurde, verbringt die Zeit bis zu seinem Tod durch eine selbstverabreichte Überdosis Kokain
im Spital, von der Hilflosigkeit angesichts des Massensterbens an der Front traumatisiert. In
einem Brief an den Verleger Ludwig Ficker schickt er diesem noch Abschriften seiner
Gedichte Klage und Grodek. Ludwig Wittgenstein gedenkt Trakls Dichtung anonym durch
Ficker als Mittelsmann zu fördern, von diesem Geld kann Trakl jedoch nicht mehr Gebrauch
machen (nachzulesen im Begleitbuch, S. 122).
Ein weiterer Dichter, der von Wittgenstein anonym gefördert wurde, war Rainer Maria Rilke,
der sich daraufhin mit einer Reinschrift der Elegien bei seinem unbekannten Gönner bedankt
(siehe Vitrine; nachzulesen im Begleitbuch, S. 116).
EXPRESSIONISMUS UND AVANTGARDE
Albert Ehrensteins expressionistisches Buch Tubutsch, das stark polarisierte und für konträre
Kritikerstimmen sorgte, entlarvt Wittgensteins Vorliebe für klassische Literatur und dessen
konservativen Kunstgeschmack; denn der Philosoph bezeichnet Ehrensteins stilistisch
neuartiges Buch in einem Brief an Paul Engelmann als „Hundedreck“; Goethes Gedichte
müssen als „Gegengift“ herhalten. Die Erstausgabe von Tubutsch beinhaltet außerdem 12
Zeichnungen von Oskar Kokoschka, eine Doppelbegabung der historischen Avantgarde, denn
Kokoschkas expressionistisches Werk reicht über die bildende Kunst hinaus in die Literatur.
Sein Werk Mörder, Hoffnung der Frauen wurden von Paul Hindemith vertont (ein Ausschnitt
kann an der Hörstation gehört werden).
Das Kapitel thematisiert unter anderem mit Expressionismus, Dadaismus und Kinetismus
einige der vielen Strömungen der Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, in der sich
zumindest ein Teil der Kunst auf zu neuen ästhetischen Ufern machte.
Wie im 1. OG zu sehen sein wird, war das große Thema unter den Romanciers der
Habsburgermythos und der Schock des plötzlichen Zerfalls einer Weltmacht.
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1. OBERGESCHOSS
1918: PHANTOMSCHMERZ UND HABSBURGER MYTHOS
In der Medizin wird ‚Phantomschmerz‘, der etwa nach einer Amputation auftritt, damit
erklärt, dass bestimmte Wahrnehmungsareale im Gehirn die Arbeit des für die amputierte
Gliedmaße zuständigen Areals übernehmen. Aber nicht nur das: Da nun die Weiterleitung
von Signalen in die fehlende Gliedmaße nicht mehr möglich ist, bauscht das betreffende
Wahrnehmungsareal die Signale zu Schmerzsignalen auf. Im historischen Kontext wird der
Begriff Phantomschmerz zu einer Metapher für Verlustschmerz, Kompensation und
Realitätsverweigerung.
In der Nachkriegsliteratur des Ersten, aber auch des Zweiten Weltkrieges werden
Realitätsverweigerung und Flucht in der Kultivierung des Habsburgermythos deutlich. Im
kollektiven kulturellen Bewusstsein wird die herrschende Not und Desillusionierung durch
den plötzlichen Zusammenbruch einer Weltmacht und die sich verschlechternde
wirtschaftliche Lage kompensiert, indem Kunst und Literatur Kontinuität suggerieren mögen.
Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften führt dies beispielhaft vor, denn das
Jahr 1918 wird hier gänzlich ausgespart, jedoch gerade darum ins Gewissen gerufen. Einen
völlig anderen Zugang zum Zerfall der Monarchie hat Fritz von Herzmanovsky-Orlando, der
in seinen Texten die Monarchie als Groteske hochleben lässt.
Die Metapher des Phantomschmerzes passt aber auch auf die Situation der heimkehrenden
Soldaten, die – gerade noch an der Front kämpfend oder anderweitig im Einsatz – in eine
Gesellschaft zurückkehren, in der sie keinen Platz mehr haben, und somit dem Gefühl der
Sinnlosigkeit nach dem Zusammenbruch der vorherrschenden Ordnung völlig ausgeliefert
sind. Joseph Roth (dessen Handschrift bemerkenswert ist, siehe Vitrine) schreibt davon in
seinem Werk Radetzkymarsch.
ARBEITERBEWEGUNG
Im Anbetracht ihrer verheerenden sozialen und ökonomischen Situation, beginnt die
Arbeiterklasse verstärkt, sich durch Eigeninitiative zu mobilisieren und zu organisieren.
Literatur wird zu einem wichtigen didaktischen Instrument, das zur Verbreitung
sozialistischer Ideen dienen soll; in Wien werden viele Arbeiterbüchereien gegründet.
Darüber hinaus werden Konzerte und Aufmärsche organisiert, auch Arbeiterchöre entstehen.
In den Medien wird versucht, politische Themen für die Arbeiterschicht aufzubereiten. Der
abgebildete Comic-Strip ist ein frühes Beispiel dafür.
NEUES VOLKSSTÜCK
Das neue Volksstück eröffnet einen kritischen Rahmen durch die Thematisierung tragischer
Inhalte, teils in ironischem Ton. Ziel ist es nicht mehr, das Volk zu belustigen und so zu
unterhalten; stattdessen werden das Volk selbst und die verschiedenen Milieus zum
Gegenstand der Stücke. Vor allem geht es um tragische Einzelschicksale in einer oft
unmenschlichen gesellschaftlichen Konstellation. Ödön von Horváths Stücke sind beispielhaft
für diesen Perspektiven- und Tonwechsel.
Das Neue Volksstück wird aber auch selbst fortwährend weitergedacht. Autoren wie Peter
Turrini und Felix Mitterer entwickeln diese Tradition individuell weiter. Dabei kommt es zu
immer provokanteren Stoffen und Inszenierungen, die die vorherrschenden Konventionen und
Tabus brechen. In Werner Schwabs Fäkaliendramen wird die Provokation noch schwerer
verdaulich, wie die Genrebezeichnung bereits verrät.
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GENAUIGKEIT UND SEELE
Wie steht es mit der Seele in einer technisierten Welt, die auf Rationalität fußt? In Musils
Roman Der Mann ohne Eigenschaften schlägt Ulrich, wohl zynisch, die Einrichtung eines
„Erdensekretariats der Genauigkeit und Seele“ zur Lösung des Werte-Problems in einer von
metaphysischen Fragestellungen beschnittenen Gesellschaft vor. Der von Philosophen des
Wiener Kreises praktizierte logische Empirismus betont die Diskrepanz zwischen
Genauigkeit und Seele. Otto Neurath nimmt in diesem Sinne eine Sonderstellung ein, denn er
bemühte sich darum, den logischen Empirismus von einer soziologischen Perspektive aus
didaktisch einzusetzen. In Folge entwickelte er die Wiener Methode der Bildstatistik, um
statistische Informationen in Form von Piktogrammen möglichst einfach zugänglich zu
machen. Insbesondere wollte er damit das Proletariat ansprechen.
Die drohende Enthumanisierung als Folge der statistischen Repräsentation durch Zahlen
findet in der Literatur Ausdruck in Rudolf Brunngrabers Roman Karl und das 20.
Jahrhundert. Bezugnehmend auf Otto Neuraths Leistung beschreibt Brunngraber das Leben
des Protagonisten Karl Lakner in der Sprache und Perspektive der Statistik. Somit kommt
dieser nicht als Karl Lakner, sondern als einer von 40 Millionen schreienden Würmern zur
Welt.
Ludwig Wittgenstein, dessen philosophisches Werk auf den Wiener Kreis erheblichen
Einfluss hatte, der sich selbst jedoch von der Gruppe distanzierte, schrieb zwar selbst nie
dezidiert über Literatur, galt aber als bekannter Förderer von bestimmter Literatur. Darüber
hinaus wirkt sich seine anfänglich sprachanalytische Philosophie, die später Sprache als
Handeln – also als soziale Praxis – ansieht (Philosophische Untersuchungen), auch heute
noch auf die Kunst im Allgemeinen aus (nachzulesen im Begleitbuch, S. 184). Dies wird
u. a. auch im Kapitel POETISCHE KORRESPONDENZEN deutlich: Hilde Spiel bittet Thomas
Bernhard um einen Text über Wittgenstein. Bernhards Absage an Spiel ob seines
Unvermögens, Wittgensteins philosophisches Werk zu kommentieren, kann als Erfüllung
dieser Bitte gesehen werden.
SCHIEBER UND SPEKULANTEN
Dieses Kapitel präsentiert die Kriegsgewinnler: Kaufleute und Unternehmer, die sich am
Schwarzmarkt noch während des Krieges etablieren konnten. Die ‚Goldenen 20er-Jahre‘
verweisen auf das Gold, nicht aber auf die soziale Ungerechtigkeit. Und es ist nicht
verwunderlich, dass die Ausstellung von Reichtum in Krisenzeiten sozialen Sprengstoff bot.
Elias Canetti übersetzte Upton Sinclairs Roman Das Geld schreibt, dessen zensuriertes
Original-Cover hier ausgestellt ist: Nachdem sich die auf dem Buchdeckel photographisch
gezeigte Unternehmerfamilie gegen eine derartige Abbildung verwehrte, ließ der Verlag
kurzerhand ihre Köpfe (auch den des Familienhundes) auf sämtlichen Umschlägen ausstanzen
und brachte die Bücher so in Umlauf. Es handelt sich hierbei also um ein relativ
zeitgenössisches Beispiel von Zensur, die zudem mit viel Ironie untergraben wurde.
DIE NEUE FRAU
Die Situation nach dem 1. Weltkrieg änderte sich auch für Frauen – bereits während des
Krieges begann sich ihre Rolle notgedrungen zu ändern. Frauen blieben als
Alleinverantwortliche für Familie und Haus zurück. Viele Frauen arbeiteten auch in der
Kriegskrankenpflege. Nach dem Krieg waren es nicht zuletzt Frauen, die sich im
Wiederaufbau betätigten. Längst war es für sie selbstverständlich geworden, zu arbeiten.
Frauen erhoben auch verstärkt in der Literatur die Stimme, organisierten sich und
publizierten, vor allem auch in Illustrierten Zeitschriften, die eine wesentliche Rolle in der
Emanzipationsbewegung der Frau spielten, nicht nur in Hinblick auf die Mode (Hosen,
Bubikopf). Der Beruf der Sekretärin, zum Beispiel, war bald als Frauenberuf konnotiert.
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Vicky Baums Roman Menschen im Hotel wurde zu einem unglaublichen Kassenschlager. Das
Buch wurde sogar von Warner Bros verfilmt – einen Ausschnitt des Filmes gibt es in der
Mediencollage zu den 20er-Jahren an der Wand zu sehen.
Gina Kaus betrachtet in ihren Stücken die Situation, selbst die der emanzipierten Frau, mit
kritischem Blick. Für eine wirkliche Gleichberechtigung fehlte es an kollektivem
Bewusstsein.
DAS NEUE MEDIUM FILM – MEDIENCOLLAGE 1920ER JAHRE
Neben Bildmaterial und Musik zu Revue und Operette vereint die zweiteilige Mediencollage
drei Zeugnisse früher Filmadaptionen literarischer Stoffe. Paul Wegeners Stummfilm Der
Golem, wie er in die Welt kam (Deutschland 1920) basiert auf Gustav Meyrinks (1868–1932)
Roman Der Golem. Meyrinks Texte widmen sich phantastischen und übernatürlichen Themen
im Rückgriff auf Alchemie sowie jüdische und christliche Mystik. Davon zeugt das teilweise
surreale Setting in Wegeners Verfilmung, aber auch die Gestalt des Golems selbst (gespielt
von Paul Wegener). Im hier ausgewählten Ausschnitt rettet der Golem die Gesellschaft zu
Hofe vor der einstürzenden Decke, obgleich die Versammlung Rabbi Löws Visionen des
Exodus der Juden aus Ägypten zuvor noch mit Spott begegnet ist (nachzulesen im
Begleitbuch, S. 130).
Ein weiteres Beispiel ist Robert Wienes Verfilmung des Rosenkavaliers von 1926. Die Musik
stammt von Richard Strauss, das Libretto von Hugo von Hofmannsthal. Das Ende der
Verfilmung gilt als verschollen, wobei es dem Filmarchiv Austria gelang, im Zuge der
Restaurierung des Filmes den fehlenden Teil in Form von Filmstills nachzustellen. In der
gezeigten Szene übergibt Octavian als Rosenkavalier Sophie eine Rose zum Zeichen ihrer
Vermählung mit Baron Ochs. Erst in diesem Moment erkennt Octavian Sophie als das
Mädchen, das er selbst liebt (nachzulesen im Begleitbuch, S. 140).
Grand Hotel (USA 1932) ist der Titel der Hollywood-Verfilmung von Vicki Baums Roman
Menschen im Hotel (1929). Zum Cast zählen damalige Berühmtheiten wie Greta Garbo, John
Barrymore und Joan Crawford. Baums Roman handelt von den entstehenden Beziehungen
und zunehmenden Verstrickungen zwischen den Gästen eines Berliner Luxushotels. Dr.
Otternschlag anfangs geäußerte Worte entpuppen sich als dramatische Ironie: „Grand Hotel ...
always the same. People come, people go. Nothing ever happens.“
15. JULI 1927
Die ‚Goldenen 20er-Jahre‘ mögen sich vor allem in der Kunst und Kultur, aber auch im
repräsentativen Reichtum der vermögenden Minderheit gezeigt haben; politisch betrachtet,
merkt man dem Jahrzehnt seine Lage zwischen zwei Weltkriegen an. Soziale Ungerechtigkeit
birgt im Alltag erhöhtes Konfliktpotential. Der Brand des Wiener Justizpalasts kann als eine
der ersten öffentlichen Entladungen dieser politischen Spannungen gesehen werden. Als
Reaktion auf den Freispruch von Mitgliedern der Frontkämpfervereinigung DeutschÖsterreichs fanden sich viele sozialdemokratische Arbeiter zu einer Demonstration vor dem
Parlament zusammen. Die Freigesprochenen hatten im burgenländischen Schattendorf zwei
Menschen erschossen, die sich am Heimweg von einer Versammlung der
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei befunden hatten. Während der Demonstration ließ der
damalige Polizeipräsident Johann Schober gegen die demonstrierende Menge das Feuer
eröffnen, nachdem diese den Justizpalast betreten und Akten in Brand gesetzt hatte. In der
Vitrine sind stark verkohlte und beschädigte Akten aus dem Justizpalast zu sehen. Die
radikale Vorgangsweise Schobers bewegte Karl Kraus dazu, für dessen Rücktritt zu
mobilisieren; das Feuer wird zu einem bedeutungsschweren Symbol für die österreichische
Literatur. In seinem Werk Masse und Macht lässt Canetti, beispielsweise, Eigenschaften der
Masse mit denen des Feuers verschmelzen.
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KABARETT
Das Kabarett stellt für das österreichische Kulturverständnis eine eigene Tradition dar.
Während das Kabarett am Anfang des 20. Jahrhunderts eher gesellschaftskritische Inhalte
bearbeitete, initiierte insbesondere Jura Soyfer ab 1926 das politische Kabarett. Soyfer, der
auch politische Satiren in der Arbeiter-Zeitung veröffentlichte, sprach sich für die
Politisierung des Theaters aus. Ab 1934 engagierte er sich illegal als KPÖ-Mitglied. 1938
schrieb er im KZ Dachau den Text zum Dachaulied; die Musik stammt von Herbert Zipper,
mit dem er gemeinsam Zwangsarbeit leisten musste. Das von den Nationalsozialisten
missbrauchte, verhöhnende Motto „Arbeit macht frei“ ist das Leitmotiv des Textes. Eine
Vertonung des Lieds durch die Gruppe „Schmetterlinge“ kann in der Themenstation
LEBENSLÄUFE im nächsten Raum gehört werden. Jura Soyfer starb 1939 im KZ Buchenwald
an Typhus.
Die Tänzerin und Choreographin Cilli Wang wurde für ihre kabarettistischen Einlagen in
selbstgeschneiderten Verkleidungen und Pantomime-Einlagen sehr bekannt und ging sogar
auf Tournee. Später fertigte sie auch Karikaturen berühmter Persönlichkeiten als Puppen an,
wie zum Beispiel jene, hier ausgestellte, von Karl Kraus samt Fackelausgabe (nachzulesen
im Begleitbuch, S. 226).
Die Tradition des Kabaretts wurde nach dem Zweiten Weltkrieg besonders von Helmut
Qualtinger weitergeführt. In seinem Stück Der Herr Karl entlarvt er unter anderem die
opportunistische Haltung der Österreicher während des Krieges und danach.
BÜRGERKRIEG UND AUSTROFASCHISMUS
Jener von Qualtinger nach 1945 scharf kritisierte Opportunismus hinterließ seine Spuren auch
in der Literatur. Christine Busta, beispielsweise, trat im März 1934 der Vaterländischen Front
bei, ab 1940 war sie Mitglied der NSDAP (nachzulesen im Begleitbuch, S. 162). Josef
Weinheber unterstellte seine Dichtung bereitwillig dem Nationalsozialismus. Bereits von
1931 bis zum Verbot der Partei 1933 war er NSDAP-Mitglied; 1944 erneuerte er seine
Mitgliedschaft rückwirkend. Weinheber verabreichte sich 1945, als die rote Armee im Begriff
war Wien zu erobern, eine Überdosis Morphium.
Obwohl die Übergänge zwischen dem Austrofaschismus der Vaterländischen Front unter
Engelbert Dollfuß zum Faschismus der NSDAP unter Adolf Hitler fließend erscheinen, wie
man besonders am Beispiel Christine Bustas merkt, grenzte sich Dollfuß dezidiert durch die
Betonung christlicher Werte vom deutschen Nachbarn ab. Während Dollfuß’ Regierung kam
es immer wieder verstärkt zu Nationalsozialistischen Putschversuchen.
Im Februar 1934 wurde der Karl-Marx-Hof im 19. Bezirk zu einem der Hauptschauplätze des
dreitägigen Bürgerkriegs in Wien. Der damals jugendliche Autor Fritz Habeck, der mit seiner
Familie im Karl-Marx-Hof wohnte, hielt die Ereignisse in seinem Tagebuch fest
(nachzulesen im Begleitbuch S. 160).
MÄRZ 1938: DER „ANSCHLUSS“
Der Einmarsch Hitlers und dessen Rede am Heldenplatz wurde auf verschiedenste Weise
literarisch verarbeitet. Der hier gezeigte Ausschnitt aus Thomas Bernhards Theaterstück
Heldenplatz vergegenwärtigt den Jubel und die „Sieg Heil“-Rufe der am Heldenplatz
versammelten Menschenmasse im Kopf der Witwe des Professor Schuster während dessen
Totenmahl in der an den Heldenplatz grenzenden Wohnung. Bernhards Stück spielt am Tag
der Beerdigung des Professor Schuster, der sich aus dem Fenster seiner Wohnung in den Tod
gestürzt hat. 1938 aus Österreich nach Oxford geflohen, ist Familie Schuster nach Ende des
Zweiten Weltkriegs auf Bitten des Bürgermeisters wieder nach Wien zurückgekehrt. Aus den
Gesprächen der Charaktere geht hervor, wie der Professor und seine Familie durch die noch
tiefverwurzelte Verbindung der österreichischen Gesellschaft zum Nationalsozialismus
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einerseits und den bigotten Katholizismus andererseits an den Rand ihrer Existenz gedrängt
sehen.
Ernst Jandls Gedicht wien: heldenplatz, erst 1962 entstanden, entstammt den Erinnerungen
des damals 12-jährigen Zeitzeugens. Das Gedicht verarbeitet den Sprachduktus Hitlers, der
Nationalsozialisten überhaupt, sowie deren Rhetorik über einen lautlich-experimentellen
sprachästhetischen Zugang. Die Perspektive ist eine grotesk überzeichnende, sowohl aus der
als auch auf die Masse.
LEBENSLÄUFE 1938-1945
In diesem Kapitel werden individuelle Lebensläufe von Menschen, die einerseits von den
Nationalsozialisten verfolgt und in die Flucht getrieben wurden, andererseits als DichterInnen
im Namen des Nationalsozialismus Karriere machten, einander gegenübergestellt. Ebenso ist
das Kapitel durchzogen von abgebrochenen Lebensläufen, von Menschen also, die den
Verbrechen der Nationalsozialisten nicht mehr entkommen konnten. Das bereits erwähnte
Dachaulied von Jura Soyfer und Herbert Zipper soll an jene Schicksale erinnern. Es handelt
sich um eine Station von bewusst disparater Zusammenstellung der Themen „Flucht,
Vertreibung und Exil“ sowie „NS-Karrieren, Verfolgung und Vernichtung“, was auch durch
die auseinanderklaffenden Buchrücken in den obersten Regalen verdeutlicht werden soll (im
Begleitbuch gibt es zahlreiche Beiträge zu Objekten dieser Station).
1945: AUFRUF ZUM MISSTRAUEN
Ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg, wurde das Leitmotiv der Literatur nach dem Zweiten
Weltkrieg die (Wieder-)Entdeckung. Zum einen begann ein neuerlicher Habsburgerkult
einzusetzen, was sich insbesondere in den berühmten Sissi-Verfilmungen der 50er-Jahre
zeigt, anderseits öffneten sich mit Ende des Krieges die Schleusen zur Außenwelt, wodurch
der internationalen Moderne Einlass geboten wurde. Friederike Mayröcker, Andreas
Okopenko und Michael Guttenbrunner veröffentlichten erste Gedichte in Zeitschriften wie
den Surrealistischen Publikationen. Die unmittelbare Geschichte wurde literarisch nicht
unmittelbar aufgegriffen, in der Tat dauerte es viele Jahre, bis sich Autorinnen und Autoren
(oft der nachkommenden Generation) mit den Verbrechen des Dritten Reichs
auseinandersetzten (siehe NS-TERROR UND LITERARISCHE AUFARBEITUNG). Ilse Aichinger
kritisierte als eine unter wenigen öffentlich die scheinbare Gedächtnislücke die unmittelbare
Vergangenheit betreffend.
NS-TERROR UND LITERARISCHE AUFARBEITUNG
Heimrad Bäcker: nachschrift  http://www2.onb.ac.at/sichtungen/berichte/eder-t-2a.html
Bäcker versucht nicht, das Grauen zu beschreiben, sondern dokumentiert es, indem er auf die
Bürokratensprache des nationalsozialistischen Regimes zurückgreift und sie mit den Mitteln
der konkreten Poesie bearbeitet. In den Anmerkungen der nachschrift verweist Bäcker auf die
Quellen seiner Textzitate:
1. Wandtafel v. l.: Und die Flamme soll euch nicht versengen – Letzte Briefe zum Tode
Verurteilter aus dem europäischen Widerstand, hrsg. v. Piero Malvezzi u. Giovanni
Pirelli, mit e. Vorwort v. Thomas Mann, Zürich 1955
2. Wandtafel (rechts): „Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes,
Karteiblatt“
3. Wandtafel (Mitte): „Abkürzungen für die Konzentrationslager Dachau,
Sachsenhausen, Buchenwald usw., im internen Schriftverkehr üblich. Der Rotation
des Textes entspricht die rotierende Situation, die Rotation der Häftlinge und der
Statistik war.“
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Auch hier ist die Zusammenstellung exemplarisch; die Station bietet an, sich individuell in die
unterschiedlichen Schreibprojekte zu vertiefen.
LITERATUR UND ENGAGEMENT
Literatur wird vor allem in den 70er- und 80er-Jahren politisches Engagement. Mit der
begonnenen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Geschichte kann auf die
zeitgenössische politische Situation nicht kommentarlos geblickt werden. Die beispielsweise
großteils noch von ehemaligen Funktionären der NSDAP geformte politische Landschaft und
die davon ebenso beeinflussten sozialen Strukturen aller gesellschaftlichen Ebenen, sowie der
weiterhin mächtige Fremdenhass, bewegten Autorinnen und Autoren dazu, sich politisch
dezidiert zu positionieren (vgl. Waldheim-Affäre: Begleitbuch, S. 228).
DIE SCHULE IN DER LITERATUR: ZÖGLINGE UND ERZIEHER:
Es sind unter anderem politisch motivierte Schritte in die durchaus realen Topoi unserer
Gesellschaft, aus denen Literatur entsteht. Robert Menasse, Michael Köhlmeier und Josef
Haslinger gehören einer jungen Generation von Absolventen einer streng katholischen
Internatsausbildung an, die die ihnen teils widerfahrene Traumatisierung in literarischen
Werken aber auch Filmen thematisieren. Barbara Frischmuth rollt die Thematik in ihrem
Buch Die Klosterschule hingegen bereits 1968 auf, indem sie sich der auf katholischen
Dogmen basierenden Erziehung der Frau widmet.
Ein Gegenbeispiel für Schule als kreativen Ort der individuellen Erfahrung bieten Ernst Jandl
und Anneliese Umlauf-Lamatsch, in deren Unterricht nicht nur die Kinder, sondern auch noch
die Literatur einen besonderen Stellenwert einnahmen.
ARBEITSWELTEN
Dass die Bewegung in verschiedene Arbeitswelten ebenso wenig unpolitisch sein kann,
zeigen die in diesem Kapitel exemplarisch ausgewählten Autorinnen und Autoren. Marlene
Streeruwitz setzt sich in ihrem Video-Essay, das gemeinsam mit Frauen der Frauenzeitschrift
AUF entstanden ist, für die Rechte von Frauen – besonders am Arbeitsmarkt – ein. Kathrin
Rögglas Buch wir schlafen nicht basiert auf unzähligen Interviews und Gesprächen mit
ArbeitnehmerInnen in der New Economy und thematisiert das Verschwinden des Menschen in
einer webbasierten Dienstleistungswelt, in der berufliche Verwirklichung mit völliger
Selbstaufgabe und Aufopferung gleichgesetzt wird. Realer Schauplatz dieser virtuellen
Arbeitswelt ist die Messehalle (nachzulesen im Begleitbuch, S. 244).
Franz Innerhofer, hingegen, wendet sich in seinem Werk Schöne Tage dem Alltag der
Landwirte zu, insbesondere dem der Knechte und Mägde an den Höfen. Harte Arbeit und
Misshandlung zählen hier zur Routine. Totale Selbstaufgabe wird auch hier im Sinne einer
gesteigerten Produktivität vom Protagonisten Holl erwartet, der um einen Vornamen
beschnitten und von Geburt an (er ist ein uneheliches Kind) identitätslos bleibt. Der Titel
Schöne Tage bildet den von Zynismus klaffenden Rahmen des Romans, denn so existenziell
das schöne Wetter für den Bauern ist, so sehr bedeutet es für den Knecht und Leibeigenen ein
Schaffen am Rand der physischen und psychischen Existenz.
DAS THEATER UND SEINE WIRKUNG
Das Theater selbst wurde wiederholte Male zum Schauplatz politischer Skandale. Elfriede
Jelinek und Thomas Bernhard zählen hier wohl zu den bekanntesten Persönlichkeiten, von
den Medien als Nestbeschmutzerin und Nestbeschmutzer verbal degradiert. Im Schatten des
Etablissements, das sich aus den auch heute noch großen Theaterhäusern wie etwa dem
Burgtheater und dem Theater in der Josefstadt zusammensetzte, aber auch aus Festivals wie
den Salzburger Festspielen (seit 1920), gab und gibt es immer wieder Bemühungen,
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unabhängige Theaterhäuser und Festwochen zu gründen, um jungen aber auch radikaleren
Stimmen eine Bühne zu geben (nachzulesen im Begleitbuch, S. 198).
KALTER KRIEG UND APOKALYPSE
Das internationale politische Geschehen seit den 1950er-Jahren, geprägt vom Kalten Krieg
und der Bedrohung durch die Atombombe, wurde auch von österreichischen Autorinnen und
Autoren aufgegriffen und literarisch eingearbeitet. Marlen Haushofers 2012 verfilmter Roman
Die Wand, beispielsweise, schildert den (all-)täglichen Kampf einer Stadtfrau als der
scheinbar einzigen Überlebenden einer rätselhaft bleibenden Katastrophe. In den Alpen von
einer unsichtbaren Wand umzingelt, beginnt die Protagonistin akribisch ihre Erfahrungen zu
dokumentieren – es scheint, um den Halt und Verstand nicht zu verlieren. Zu ihren einzigen
Gefährten zählen in den besten Zeiten ein Hund, Katzen und eine Kuh samt jungem Kalb
(nachzulesen im Begleitbuch, S. 200).
TODESARTEN: INGEBORG BACHMANN UND THOMAS BERNHARD
Todesarten ist der Titel eines unabgeschlossenen Schreibprojekts von Ingeborg Bachmann, in
dem sie Verbrechen und Gewaltübergriffe im Alltag gegenüber Frauen thematisiert, die sich
hinter dem Deckmantel der gesellschaftlichen Konvention ereignen. Der Herkunftskomplex,
von dem Thomas Bernhard in seinem Roman Auslöschung schreibt, tritt auch in Bachmanns
Roman Malina zutage, wenn die weibliche Protagonistin vom Vater träumt. Mit der Symbolik
von Feuer und Wasser wird die männlich bestimmte Weltordnung als eine Ordnung von und
voll Gewalt demaskiert und die Analogie zwischen der Figur des Vaters und dem
Nationalsozialismus offen gelegt (nachzulesen im Begleitbuch, S. 212; zu Thomas
Bernhard, S. 208).
FORMATIONEN DER AVANTGARDE
Formen von Avantgarde können als historisch wiederkehrende Phänomene gesehen werden,
aber auch als zeitlich abgrenzbare Epoche. Letztere meint den Begriff der historischen
Avantgarde der 1920er-Jahre mit ihren Verzweigungen der Kunst in viele verschiedene
Richtungen: Futurismus, Expressionismus, Surrealismus, Dadaismus sind einige der
Strömungen dieser Zeit. In Österreich kam es auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg zur
Formierung einer Avantgarde-Bewegung einer jungen Generation an Künstlerinnen und
Künstlern, die sich nicht mehr lediglich als Autorinnen und Autoren festschreiben lassen
wollten. Mit H. C. Artmanns 8-Punkte-Proklamation wird Dichtung erst in ihrer
Performativität zu einem poetischen Act. Dichtung wird Handlung, happening und damit in
ihrer Wirkung nicht-reproduzierbar (Beispiele dazu im Begleitbuch, S. 206 und 196).
In diesem Sinne scheint der Versuch, der Avantgarde nach 1945 in einem Museum ein
Kapitel zu widmen, zum Scheitern verurteilt. Die Avantgarde nach 1945, die unter anderem
durch die Wiener Gruppe (Gerhard Rühm, Friedrich Achleitner, Oswald Wiener und Konrad
Bayer) und deren unmittelbaren Umkreis performative Höchstleistungen erbrachte (etwa
während der literarischen cabarets), ist jedoch eine höchst ambivalente und – in durchaus
bewusstem Sinne – widersprüchliche Erscheinung: Obwohl jegliche Form von
Institutionalismus abgelehnt wurde, war man darauf bedacht, Publikationsmöglichkeiten zu
suchen oder gar zu schaffen. Darüber hinaus entpuppte sich Gerhard Rühm selbst als
akribischer Archivar der Gruppe.
Grundsätzlich trat in den 50er-Jahren eine neue literarische Jugend zutage, die sich mit
Lesungen wie „Jenseits der Plakate“ oder Vortragsabenden zu „Experimenteller Dichtung“
am Rand des literarischen Betriebs positionierte. Manifeste aus diesen Kreisen erinnern an die
in der historischen Avantgarde verwurzelte Tradition dieser Textsorte.
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Autorinnen und Autoren abseits der Wiener Gruppe, die ebenfalls einer radikal neuen
Ästhetik folgten, waren beispielsweise Friederike Mayröcker, Ernst Jandl, Andreas Okopenko
und Elfriede Gerstl. Ernst Jandls Gedichte überzeugten als akustische Klangkörper über
Sprachgrenzen hinweg, etwa während seines legendären Auftritts in der Royal Albert Hall in
London 1965, der im Kinoraum vollständig gezeigt wird. Elfriede Gerstl war eine der
wenigen weiblichen Autorinnen, die zumindest als beobachtende Randfigur von der Wiener
Gruppe geduldet wurde. Auch in ihrem Selbstverständnis bleibt sie eine unabhängige
literarische Randfigur, die gute Kontakte zu vielen unterschiedlichen Schriftstellerinnen und
Schriftstellern unterhielt.
Wer sich im Gang von der Avantgarde Richtung Schreibprozesse bewegt, wird unweigerlich
die Teufelsfalle in Gang setzen, einen Nachbau einer Textinstallation des englischen Dichters
John Furnival. Auf einem trichterförmigen Gebilde ordnete Furnival Sprachstücke aus
verschiedenen romanischen Sprachen, aber auch Altgriechisch, zu einem rotierenden, den
Teufel anziehenden Sprachgebilde an. Ernst Jandl übersetzte Furnivals devil trap auf
unkonventionelle Weise. In einer Art Partitur notiert Jandl die verschiedenen Modulationen
der Stimme mit Dynamikzeichen aus der Musik (nachzulesen im Begleitbuch, S. 204). Dem
Teufel sein Ohr schenken, kann man an der Hörstation, hier gelesen von Ernst Jandl selbst.
POETISCHE KORRESPONDENZEN
Der Brief hat eine lange Tradition in der Literatur: In ihm manifestieren sich, durch ihn
entstehen Freundschaften. Der Brief wird aber auch Schauplatz poetologischen Austauschs,
oder in vielen Fällen Aufbewahrungsort von Dichtung, wenn nicht sogar der Brief selbst zum
Gedicht wird. Alfred Kubins Briefe an den Verleger Piper, beispielsweise, sind kunstvoll
illustrierte, mit Sprachwitz angereicherte Dichtungen (nachzulesen im Begleitbuch, S. 132).
Im Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan zeigt sich das Sinnliche wie
das Geistige und vor allem die Unmöglichkeit, der eigenen Biographie und
Familiengeschichte auszuweichen. In ihnen wird deutlich, wie die unterschiedlichen
Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus eine irreversible Kluft in eine Freundschaft
hineintragen (nachzulesen im Begleitbuch, S. 182).
Friederike Mayröckers und Ernst Jandls poetische Korrespondenz ereignete sich nicht nur in
Briefen, sondern auch in alltäglichen Notizen, die man sich hinterließ, sowie in
Gemeinschaftsarbeiten.
Im in der Themenstation GENAUIGKEIT UND SEELE bereits erwähnten Antwortschreiben
Thomas Bernhards an Hilde Spiels schreibt der Dichter über den Philosophen Ludwig
Wittgenstein, dass dieser „die Reinheit Stifters, Klarheit Kants in einem und seit (und mit
ihm) Stifter, der Größte“ sei.
SCHREIBPROZESSE
Das Kapitel Schreibprozesse lädt ebenfalls zum Schmökern und Verweilen ein. Wiederum
exemplarisch, werden verschiedene Zugänge zu Literatur als Tätigkeit gezeigt. Dabei scheint
Bewegung ein verbindendes Thema zu sein, von Gert Jonkes bewegter Handschrift
(Stoffgewitter; siehe Leuchtschrift), über Elfriede Czurdas ausrollbare Anagramgedichte,
Walter Kappachers Faszination mit den „Silberpfeilen“, Josef Winklers Reisenotizbücher
(siehe Begleitbuch, S. 246), Peter Handkes mit Gravuren versehene Wanderstöcke, mit denen
er sich in die Welt hinaus begab, bis hin zu Friederike Mayröckers Zetteluniversum, in dem
sich die Autorin die Welt in ihre kleine Wohnung, gleichsam ins Archiv, holt.
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