Predigt zu Mk 10,46-52/“Zeichen der Zeit“

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Predigt zu Mk 10,46-52/“Zeichen der Zeit“
Predigt zu Mk 10,46-52/“Zeichen der Zeit“
Pfarrer Peter Fischer; 2012
Der blinde Bartimäus – er gehört zu den bekanntesten biblischen Figuren; schließlich hat
er im Religionsunterricht der Grundschule seinen festen Ort. Doch es rentiert sich auch
als Erwachsener, diese Erzählung zu lesen und sie tiefer zu betrachten.
Vor ein paar Jahren hörte ich zu unserem Evangelium eine Predigt, die manches richtige sagte, aber mit der ich mich
doch nicht ganz glücklich war. Ihr Inhalt lasst sich in den Punkten, die ich mir gemerkt habe, etwa so zusammen fassen:
•
Erstens) In seinem Leid darf man sich nicht davon abhalten lassen, sein Leid hinaus zu schreien; man darf es nicht
in sich hinein fressen. – Dem ist absolut zu zu stimmen.
•
Zweitens) Wenn man nur laut und energisch genug schreit, dann wird einem auch geholfen werden. – Diese
Aussage ist mehr als problematisch; denn es gibt genug Gegenbeispiele, auch in der Bibel selbst; auch die Bibel
weiß um das Schweigen Gottes als ganz eigenes theologisches Problem.
„Wenn man nur laut und energisch genug schreit, dann wird einem auch geholfen werden“ – um die Fatalität
dieser Aussage zu erkennen, muss man sie nur einmal herumdrehen: „Wenn mir nicht geholfen wird, dann
schreie ich nicht laut und energisch genug.“ Ich selbst bin schuld, dass mir nicht geholfen wird! Und es kommen
wie von selbst die Fragen: Was muss ich noch alles tun; wie viel mehr muss ich beten, damit mir geholfen wird;
was muss ich Gott als Opfer anbieten, damit er sich mir endlich zuwendet. – Zerstörerische Fragen, die das Leid
nur verschlimmern.
Der Evangelist Markus wollte uns was anderes sagen, als er uns die Erzählung vom schreienden blinden Barti mäus aufschrieb! Schauen wir also genauer hin!
Da sitzt ein blinder Bettler an der Straße. Bartimäus wird er genannt. Das ist eigentlich gar kein
Name. „Bartimäus“ heißt wörtlich: Sohn des Timäus. Bartimäus – dieser Mann am Straßenrand
ist so unbedeutend, dass er nicht einmal einen echten Namen hat. Und doch steht er im Mittelpunkt des heutigen Evangeliums, weiß heute fast jedes Kind seine Geschichte zu erzählen.
Diesem unbedeutenden, praktisch namenlosen Bettler versucht man auch noch den Mund
zu verbieten, als er es sich erlaubt, seine Stimme hilferufend zu erheben. Er stört das
schöne Ambiente. Er passt für manche nichts ins Bild, wenn der göttliche Messias mit seinem leuchtenden Heiligenschein strahlend aus der Stadt schreitet. Man bittet Bartimäus
nicht, ruhig zu sein: man befiehlt ihm, zu schweigen.
Bartimäus zeigt die einzig richtige Reaktion: er schreit noch lauter. Denn wer leidet, hat
ein Recht, dies auch offen sagen zu dürfen; wer leidet, hat ein Recht darauf, dass man ihm
je nach den eigenen Möglichkeiten hilft im Sinne der Nächstenliebe.
Bartimäus schreit hier aber vor allem deshalb noch lauter und lässt sich den Mund nicht
verbieten, weil er genau weiß: jetzt ist seine Chance, jetzt und zu keinem anderen Zeit punkt, denn jetzt kommt Jesus, der Messias, an ihm vorbei.
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Das Vorbeikommen Jesu ist für Bartimäus die Chance seines Leben, der Kairos – wie die
Griechen sagen –, die günstige, ja einmalige Gelegenheit, der rechte Zeitpunkt, der eben
jetzt ist und nicht vorhin und nicht später. Es ist für Bartimäus die einzige Chance, dass
seine Existenz am Rand – am Straßenrand – ein Ende findet, eine Existenz, die er sich sicher nicht selbst gewählt hat.
Erschütternd auch seine Bitte an Jesus: „Ich möchte wieder sehen können.“ Bartimäus war
nicht schon immer blind. Es gab damals Eltern, die aus finanzieller Not eines ihrer Kinder
absichtlich geblendet und damit blind gemacht haben, um sie als Bettler an die Straßen zu
setzen und so an Geld zukommen. Vielleicht traf Bartimäus dieses schreckliche Schicksal.
Alles dieses Negatives aber, das Bartimäus erlebt hat, hat mit dem Vorbeikommen Jesu
eine Chance auf Wende zum Guten. Bartimäus ist voll dieser Hoffnung. Er redet Jesus als
Messias und Lehrer an: „Sohn Davids“ sagt er, und „Rabbuni“.
Bartimäus schreit genau im richtigen Moment, darauf kommt es dem Evangelium an. In diesem
Moment ist es wichtig, alle Widerstände zu umgehen, sich nicht klein reden zu lassen, sondern
zu schreien, was das Zeug hält – weil das Heil zum Greifen nahe ist, weil Jesus vorbei kommt.
Bartimäus hat seine Chance ergriffen; die Chance, die es unbedingt zu ergreifen galt, weil
es die einzige war, die er überhaupt hatte.
Und Jesus bleibt stehen; er wendet sich dieser unbedeutenden Existenz zu. „Ruft ihn her“,
sagt er. Und jene, die dem Bartimäus erst das Schreien verbieten wollten, sprechen ihm
Mut zu. Jesu Aufmerksamkeit für diesen blinden, im Staub der Straße sitzenden Mann hat
schon erste Kreise gezogen.
Bartimäus wirft seinen Mantel ab und springt auf. Er schüttelt quasi seine alte Existenz ab
und geht auf Jesus zu. Die Heilung durch Jesus ist nun die logische Folge: „Dein Glaube, dein
Vertrauen, hat Dir geholfen“, sagt Jesus. Und Bartimäus folgt fortan Jesus auf seinem Weg.
Diese kurze Notiz des Markus birgt eine Tiefe, die sich erst erschließt, wenn man den Ort
des Bartimäus, dem die Augen geöffnet werden, innerhalb der Evangelien-Erzählung des
Markus beachtet. Denn im Anschluss erzählt Markus vom Einzug Jesu in Jerusalem.
Dieser zunächst glorreiche Einzug ist aber letztlich der Auftakt zum Leidensweg Jesu. Sehenden Auges – gemeint ist: tiefer verstehend – sollen die Leser des Markus-Evangeliums
– also wir – den Kreuzweg Jesu betrachten und mitgehen. Sehenden Auges – tiefer verstehend – sollen wir verfolgen, wie sich im Leidensweg des Jesus von Nazareth und in seinem Tod am Kreuz Gott offenbart, bis hin zur Spitzenaussage des heidnischen Hauptmannes, der, als er sieht, wie, auf welche Weise, Jesus stirbt, sagt: „Wahrhaftig, dieser Mensch
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war Gottes Sohn!“ Ein vollgültiges, echtes christliches Bekenntnis, weil es nicht aufgrund
eines Wunders Jesu oder angeregt durch seine Worte und Taten gesprochen ist, sondern
weil es angesichts des am Kreuze Gestorbenen gesprochen wird. Dazu aber braucht es
eine tiefe Offenheit für die Geschehnisse, die man erlebt – braucht es wirklich offene Augen, die Gottes Spuren selbst im scheinbaren Chaos noch sehen.
Was kann das alles für uns heute bedeuten?
Es sind zwei sich überlappende Themenkreise, die mir aus dem heutigen Evangelium für
heute besonders wichtig sind: da ist das sehende Auge, und da ist das Ergreifen der günstigen Gelegenheit, der gebotenen Chance.
Das Zweite Vatikanische Konzil hat eine besonders in der Nachkonzilszeit vielgebrauchte
Wendung geprägt; es sprach von den „Zeichen der Zeit“. Dieser Ausdruck wurde und wird
unterschiedlich benutzt. Im Wesentlichen enthält er vor allem Folgendes:
Es gilt, die Spuren Gottes auch in unserer Zeit und Geschichte zu erkennen, im Großen wie im
Kleinen, und gegebene Chancen zu nutzen. Dahinter steckt das feste Bekenntnis, dass Gott
auch zu unserer Zeit wirkt! Es braucht hier aber ein tieferes Sehen, um das wir immer auch
bitten müssen. Anknüpfungspunkte für die Verkündigung, neue Verstehens-Zugänge zu den
alten und weiterhin gültigen Wahrheiten – vielleicht will uns das Gott längst schenken, aber
wir haben nicht den richtigen Fokus dafür und lassen Chancen ungenutzt vorbei gehen!?
Die „Zeichen der Zeit“ zu beachten, bedeutet aber auch, dass man sich von dem, was in einer Zeit existiert und vorzufinden ist, betreffen lässt. Die pastorale Konstitution über die
Kirche in der Welt von heute, die das Zweite Vatikanische Konzil unter dem Leitwort „Gaudium et spes“ veröffentlicht hat, schreibt in ihrem ersten Abschnitt: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten
aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt
nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände. Ist doch
ihre eigene Gemeinschaft aus Menschen gebildet, die, in Christus geeint, vom Heiligen
Geist auf ihrer Pilgerschaft zum Reich des Vaters geleitet werden und eine Heilsbotschaft
empfangen haben, die allen auszurichten ist. Darum erfährt diese Gemeinschaft sich mit
der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden.“
Das sind Sätze, die nicht nur nett klingen, sondern die auch in die Pflicht nehmen: Wir kön nen, wir dürfen als Kirche unsere Augen nicht verschließend vor dem, was in der Kirche
und um uns herum passiert.
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Das war der große Leit-Gedanke von Papst Johannes XXIII.: Sich nicht einigeln, sondern Gottes Geist in die Welt einströmen lassen, und im Dialog mit der Welt auch immer neu von
Gott her entdecken, wer man selbst eigentlich ist und worin die eigene Sendung besteht.
Die „Zeichen der Zeit“, die das Zweite Vatikanische Konzil selbst direkt oder indirekt aufgriff, waren die Ökumenische Bewegung, die Bibelbewegung und die Liturgische Bewegung, waren neue theologische Einsichten in die Zeit der frühen Kirche, aber auch die beginnende Globalisierung, die Industrialisierung und der Kalte Krieg.
„Zeichen unserer Zeit“ sind: die immer lauter werdenden Anfragen an kirchliche Strukturen,
die breite Sehnsucht nach einer Vertiefung der Ökumene, die Frage nach dem rechten,
theologisch weiter durchdachten Verhältnis von Haupt- und Ehrenamt; all dies hat das
Zweite Vatikanische Konzil bereits selbst angerissen; es braucht aber eine weitere und
tiefere Klärung – und auch eine Ernte und Unterscheidung der gewachsenen Früchte.
Es gehören zu den „Zeichen unserer Zeit“ aber auch das Internet, die immer weiter fortschreitende Globalisierung, die Entfremdung des Abendlandes vom Christentum auf breiter Ebene, der arabische Frühling, die Finanz- und Wirtschaftskrise, die zunehmenden Scheidungsraten, die Missbrauchsfälle, die gerade die westlichen Gesellschaften horizontal wie
vertikal durchziehen, die vermehrt auftretenden Fälle von Kindstötungen und vieles mehr.
Alles dies schreit danach, von der Kirche – von uns allen – ernst genommen zu werden als
echte Anfrage. Kirche muss sich dabei hüten – das heißt: wir müssen uns hüten! – blind in
die eine oder in die andere Richtung zu rennen; vor allem aber müssen wir uns alle hüten,
einfach zu verteufeln und anzuklagen.
Natürlich dürfen wir nicht gesund reden, was krank ist. Wir müssen vielmehr in alle dem,
was in unserer Gesellschaft und in der Welt krank ist, den Schrei unserer Gesellschaft
nach Heil und Heilung, den Schrei nach Gott sehen. Wir dürfen uns nicht als abgeschlossene Insel der Seligen betrachten, die auch wir nicht sind. Wir dürfen und sollen uns aber
von Jesus Christus her als Salz der Erde und Licht für die Welt sehen und dementsprechend handeln; wir haben einen Auftrag für unsere Welt, für unsere Gesellschaft, den wir
wieder mehr entdecken und ausleben müssen. Dabei müssen wir als Glaubende die Augen
offen haben dafür, wo und wie Gott in unserer Zeit, mitten im Kranksein von Welt und Gesellschaft, Spuren seiner Gegenwart setzt; die daraus erwachsenden Chancen sind unsere
Herausforderung, sind die gottgegebenen Chancen für uns, die wir ergreifen müssen!
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Papst Johannes XXIII. hat zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils eine denkwürdige Rede gehalten; dabei hat er unter anderem den Wunsch geäußert hat, dass die Kirche, erleuchtet vom Licht des Konzils, zunimmt an geistlichen Gütern und ohne Angst in
die Zukunft blickt, aufgrund einer angemessenen Sicht auf die Welt von heute; es sei da her nötig, die Zeichen der Zeit zu unterscheiden, wobei es die Unterstellungen von jenen
Personen zu überwinden gilt, die zwar vor Eifer brennen, aber nicht genügend Sinn haben
für die nötige Unterscheidung und das rechte Maß, die in der heutigen Zeit nichts anders
sehen als Untreue und Verfall und ständig davon reden, dass unsere Zeit im Vergleich mit
der Vergangenheit dauernd zum Schlechteren abgleitet; der Papst erklärt, man müsse anderer Meinung sein als diese Unheilspropheten, die immer verhängnisvolle Ereignisse voraussagen, als ob das Ende der Welt bevorstünde. Schließlich stellt der Papst heraus, dass
die ganze Menschheit in eine neue historische Epoche aufgebrochen sei, die in sich eine
Heilsbedeutung trage, die unerwartet und unvermutet sei.
Diese Aussagen konnte Johannes XXIII. nur machen, weil er – wir der blinde Bartimäus –
die einmalige Chance erkannte, die eine heilvolle Veränderung ermöglichte, und diese
Chance auch ergriff. Als die Welt im Kalten Krieg erstarrt war, wagte er mutig den Aufbruch der Kirche in ein neues Zeitalter, weil er die wegweisenden Spuren Gottes vernahm
und aus ihnen Hoffnung und Mut ableitete; Johannes wagte den mutigen Schritt, weil er
Gott mehr zutraute als sich selbst und er fest davon überzeugt war, dass Gott der Kirche
und der Menschheit den richtigen Weg weist, wenn man ihn nur lässt.
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