Lesen steckt an. - Virulent E

Transcription

Lesen steckt an. - Virulent E
Lesen steckt an.
Virulent ist ein Imprint:
ABW Wissenschaftsverlag GmbH
Kurfürstendamm 57
10707 Berlin
Deutschland
www.abw-verlag.de
© 2011 ABW Wissenschaftsverlag GmbH
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte
bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der
Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der
Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in
Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine
Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der
gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom
9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig.
Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk
berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der
Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann
benutzt werden dürften.
ISBN 978-3-86474-033-6
Produced in Germany
Umschlaggestaltung: brandnewdesign, Hamburg
Titelabbildung: photocase (Andreas F); istockphoto (Viktor Kitaykin; Andreas Kermann)
Weitere Informationen zu dem Titel auf www.facebook.com/virulentes
Kapitel 1
Rififi, den üppigen Körper im bauchfreien Trainingsanzug, saugt an ihrem
Joint und kichert bei der Erinnerung vor sich hin, während der Schweiß auf
ihrer Stirn langsam trocknet.
»… seine Spucke läuft dir übers Gesicht, und du kannst dir nicht mal übers
Gesicht wischen, weil er das als Kritik auffassen würde. Der spuckt mit
Absicht, gezielt, weißt du, das gibt ihm den Kick …«
Bei jeder Demo waren sie in vorderster Reihe dabei gewesen,
unzertrennlich wie Zwillinge, mit diesem wundervollen Gefühl im Körper:
Uns gehört die Welt, die Zukunft und die Revolution in Ewigkeit. Amen.
»Danke, Rif, das reicht.«
Polizei und Presse hingen zuverlässig an ihren Fersen. Schönster Körper
der Studentenbewegung wurde sie genannt. Alles war ja Bewegung damals.
Wer zweimal mit demselben pennt … Kannste auch ’n Hunni dafür nehmen,
hatte sie sich gedacht. Kiffen kostet. Udo, langhaarig, in Jesuslatschen und
Parka, Prediger einer gottlosen Lebensführung ohne Krawatte, fand das voll
in Ordnung. Ihre Mutter, gerade den Kommunisten entkommen, wie sie es
nannte, schlug heimlich hinter seinem Rücken ein Kreuz, wenn er die
Wohnung betrat. Aber wie er reden konnte vor all den Menschen, die er
Genossen nannte. Mein Gott, was hat sie ihn bewundert damals! Sogar ihr
geliebtes Gesangsstudium hat sie abgebrochen, weil er es eine bürgerliche
Scheiße nannte. Rififi sucht Udos Blick, um darin etwas zu finden von den
alten Gefühlen. Aber der betrachtet die Lichtreflexe in seinem Glas, die helle
Muster auf sein eindrucksvolles Profil werfen. Wer ihn heute ansieht, denkt
an ein Landhaus irgendwo in Schottland, Schafe, eine Meute Hunde, die
kläffend im Nebel verschwindet, Fuchsjagden auf feuchtem, hartem Gras.
Irgendein Idiot hat ihm deswegen zum Fünfzigsten einen Dudelsack
geschenkt. Udo hat ihn an die Wand genagelt und zwei antike Ledersessel
aus einem Schiffskontor darunter aufgestellt. Er möchte lieber für einen
Engländer als für einen Zuhälter gehalten werden. Ein schöner Mensch, und
zehn Jahre älter, als er aussieht.
»Der, der immer so korrekt tut, zieht sich ’ne drei Wochen getragene
Unterhose übern Kopf und läßt sich dabei mit ’nem alten Socken einen
runterholen …«
»Du wirst unappetitlich.«
»Ich? Na hör mal … da kann ich dir ganz andere Sachen …«
»Ich will’s nicht hören.«
»Ich erzähl’s dir trotzdem. Du kennst den Kleinen, der aussieht wie ein
Lehrling, der mit diesem Riesenjeep …«
»Geleast wahrscheinlich.«
»… der bringt sein eigenes Werkzeug mit wie ’n Klempner, Reitpeitschen,
Gummischläuche, Viehtreiber, getarnt als Golfschläger in ’nem Gefährt,
wie’s die Oma durch den Aldi zieht, aber aus echtem Leder. Grad mal
zwanzig ist der. Was soll denn aus dem noch werden?«
»Was willst du? Du wirst hervorragend bezahlt. Weißt du, wieviel Arbeitslose
es gibt?«
»Und meine Sehnenscheidenentzündung? Die ist inzwischen chronisch, die
geht nicht mehr weg. Die kommen doch alle nicht mehr normal, ohne daß
man nachhelfen muß. Weißt du was? Ich werde mich zur Ruhe setzen.«
»Unsinn.«
»Im Ernst, Udo. Das wird alles immer perverser. Früher hat das Spaß
gemacht. Erinnerst du dich an unser erstes Love-in mitten im Hörsaal? Der
Prof kriegte fast ’nen Herzstillstand.«
Während sie ihn so betrachtet, hat Rif die Vorstellung, daß er durchsichtig
wird unter ihrem Blick. Sie sieht die Geste voraus, mit der er gleich am
Hosenbein entlangstreicht, um seine Rede einzuleiten. Bevor er das Wort
ergreift, wird er sich am Hals kratzen. Auch was er dann zu sagen hat, wird
sie nicht überraschen. Sie kennen sich gut.
Zu gut, findet Rif, wie zwei Kriegsveteranen, die in ihren Erinnerungen
schwelgen.
»Mandel hat abgesagt.«
»Und?«
»Er ist unser bester Kunde.«
»Meiner.«
»Es ist schon das zweite Mal.«
»Er wird eben alt.«
»Eben.«
Udo seufzt wie ein Bauer, der Land verkaufen soll. »Er braucht was Junges.
Er kommt in die Jahre … nicht nur er.«
Rif wartet, aber er betrachtet wieder sein Glas und schweigt.
»Was willst du? Soll ich umschulen oder in Rente gehen? Und wer zahlt
unsere Rechnungen?
Zweitausendachthundertundzweiundvierzigmarkfünfzig allein für deinen
Whisky.«
Sie nimmt die vor ihr liegenden Hanteln, breitet damit die Arme aus und führt
sie über der Brust wieder zusammen, zwanzigmal, damit die Brust nicht
schlappmacht.
Udo hebt den Blick und sieht ihr zu. Dann beugt er sich vor, und ohne sein
Glas abzusetzen, zeichnet er die feinen Linien nach, die ihre Bauchdecke
wie ein Spinnennetz überziehen.
»Glaubst du, daß es langfristig dagegen hilft?« fragt er buttersanft.
Rif läßt die Hanteln wie Boxhandschuhe gegen ihn vorschnellen. Er weicht
ihren Schlägen aus und richtet sich auf.
»Machen wir uns nichts vor, Rif, wir können so nicht weitermachen, so
kleinklein.« Er betrachtet sie bekümmert.
»Du wirst nicht jünger. Wir müssen vorsorgen. Ich hab da ’ne Idee …«
»Ach nee, schon wieder?«
Sie legt die Hanteln zur Seite, stellt den Trainingscomputer ein und steigt auf
das Band.
»Verschwinde!«
»Rif! Jetzt hör mir doch mal zu!«
Udo ist ebenfalls aufgestanden.
Rif beginnt langsam, mit ausholenden Schritten wie ein Langläufer, dabei
zählt sie gleichmütig auf: »Wir eröffnen einen Nostalgiepuff, so ’ne Art
Disneyland der 70er, WG-Atmosphäre, Matratzen, Apfelsinenkisten, Flokati
etc., verkleiden uns als Späthippies und …«
»Bleib doch mal sachlich, Rif, die 70er sind voll im Trend …«
»…und engagieren ein paar Minderjährige aus Billiglohnländern für
erfolgreich frustrierte Alt-68er.«
»Die Mädels hocken doch in ihren miefigen postkommunistischen Löchern
und lauern nur auf ihre Chance im Kapitalismus. Wir machen ihnen
sozusagen ein Solidaritätsangebot.«
»Die Umwertung der Sinnkrise in bare Münze. Früher hast du so was das
Schweinesystem genannt.«
»Früher, früher … jetzt ist nicht mehr früher. Man muß zeitgemäße Ideen
haben. Die Esoteriker verkaufen dir deine eigene Wiedergeburt und sahnen
mächtig ab.«
»Und weiter?«
»Du hast doch das Haus geerbt …«, er wirft ihr einen lauernden Blick zu, »in
unseren neuen Kolonien …«, er grinst, wird aber sofort ernst, als er den
Ausdruck in ihren Augen sieht. »Wenn wir es verkaufen, könnten wir …«
»Verschwinde!«
»Rif, sei doch vernünftig!«
»Raus!«
Als die Tür endlich hinter ihm zugefallen ist, geht Rififi zum Fenster und reißt
es auf. Unten rauscht der Verkehr vorbei auf der Ausfallstraße zur
Autobahn. Sie starrt auf die Hochhäuser am Sachsenhäuser Ufer. Jeden
Tag steht sie hier und rennt auf sie zu, erst langsam, dann schneller,
Steigung, Spurt, Gehen, Auslaufen, stop. Der täglich mühsamer werdende
Kampf gegen das Fett und das Alter. Dabei stellt sie sich einen Wald vor mit
alten Buchen und eine Lichtung auf der Anhöhe. Sie war lange nicht mehr
im Wald. Ich komm in die Jahre, denkt sie und faßt die Griffe wie Keulen.
Das Haus von Onkel Anton, das könnte ihm so passen. Es gibt Grenzen,
auch wenn von den alten Idealen nicht mehr viel übrig ist. Soweit wird sie es
nicht kommen lassen, das Erbe eines aufrechten Kommunisten zugunsten
einer dekadenten Idee zu verhökern. Ihre Mutter hatte schmale Lippen
bekommen, sobald die Sprache auf ihren Bruder kam. Über die Politik
hatten sich die Geschwister dermaßen zerstritten, daß sie bis zu ihrem Tod
nie wieder ein Wort miteinander wechselten. Ihre Mutter ging in den Westen
und wählte CDU. Onkel Anton blieb drüben und »Kommunist«, ihre Mutter
spuckte das Wort von sich wie einen Gallenstein. Daß ihre einzige Tochter
mit den Roten sympathisierte, konnte sie nie verwinden. Wo ich dich doch
ganz anders erzogen habe, Kind.
Eben, Mama, deswegen, hätte Rosemarie Feodora Luise, die damals noch
Rosemie gerufen wurde, ihr antworten können, es aber nie getan, weil sie
ihre Mutter für unheilbar borniert hielt.
Nur tote Mütter sind gute Mütter, hatte Udo gespottet, den ihre
Missionierungsversuche, die auch den Hinweis auf einen ordentlichen Mann
enthielten, genervt hatten. Aber auf ihrer Beerdigung war er es, dem die
Tränen kamen.
Auf die Traueranzeige, die Rif nach Berlin, Hauptstadt der DDR, geschickt
hatte, kam nie eine Reaktion. Um so überraschter war sie über die
Erbschaft. Bis heute hat sie kein Bedürfnis gespürt, das Haus zu
besichtigen. Soll ich da jetzt sofort rüberfahren wie so ’n Alteigentümer?
hatte sie Udo gefragt. Ich kann mich doch an Onkel Anton gar nicht mehr
erinnern. Udo dagegen hatte laufend Ideen, wie man das Geld aus einem
Verkauf am besten ausgeben könnte.
… sich zur Ruhe setzen … gesund leben … vielleicht wieder
Gesangsstunden nehmen … Das Haus hat einen Garten, sie könnte
eigenes Gemüse anbauen. Rififi träumt von Obsttagen und Saftfasten, mit
jedem Jahr, das sie älter wird, intensiver. An das schwebende Gefühl, mit
dem sie nach einer Woche schweren Fastens das teure Kurheim verließ,
denkt sie wie an eine Liebesnacht. Zu Hause war dann wieder Udo. Von
Obst bekam er Ausschlag, von Gemüse Blähungen.
Sie hätte ihn längst verlassen sollen.
Kapitel 2
First Class Second Hand, steht an der Schaufensterscheibe. Der
Ladenraum in dem teuer renovierten Altbau hat abgezogene Dielen und
weiß gestrichenen Stuck an der Decke. In den Regalen liegen Pullover, an
einem Rundständer hängen Jacketts und Blusen. Die Verkäuferin, ein
junges Mädchen, liest in einem Taschenbuch. Dabei streicht sie eine glatte,
hellbraune Strähne nachdrücklich hinters Ohr. Sie trägt Glockenmini und
Häkeltop zu Wanderstiefeln. Als Rififi hereinkommt, sieht sie hoch und
lächelt abwesend. Die stellt einen großen Koffer ab und zieht den
Reißverschluß der geräumigen Reisetasche auf.
»Wieviel Prozent nehmen Sie?«
Die Kleine legt widerstrebend ihr Buch zur Seite, steht langsam auf, streicht
die Haare zurück und wirft gleichzeitig einen Blick auf ihre Beine im Spiegel.
»Vierzig. Die Sachen bleiben zwei Monate in Kommission, danach geht
zurück, was nicht verkauft ist.«
Rif klappt den Koffer auf und kippt seinen Inhalt auf die Dielen.
»Ich will das Geld sofort. Fünfzig Prozent, dafür können Sie die Sachen
behalten.«
Das Mädchen ist verwirrt.
Buch von ’ner Freundin.«
»Aber … ich mach nur Aushilfe hier, ich kann das nicht entscheiden.
Kommen Sie heute nachmittag, dann ist die Chefin da.«
Rif lacht.
Rif hält ein Kostüm hoch und dreht das Etikett nach außen.
»Jil Sander. Sagt Ihnen das was? Na also, sehen Sie, das Kostüm hat
viertausendachthundert Mark gekostet, Rohseide mit Leinen. Ich hab es
dreimal angehabt. Ich geb es Ihnen für achthundert …«
Sie legt das Kostüm über die Theke neben die Kasse.
»Also ich weiß nicht …«
Rif deutet auf das Buch.
»Was lesen Sie da?«
»Ach, so ’n Krimi.«
»Und ist er gut?«
Sie fährt fort, Kaschmirpullover und Seidenblusen auf die Theke zu legen.
»Ich weiß noch nicht, ich hab erst angefangen, aber …«
»Gab’s schon ’ne Leiche?«
»Nee, nur einer ist verschwunden, der Freund von der Lehrerin.«
Ihre Augen folgen ratlos Rififis Bewegungen, die einen zweiten Kleiderberg
aufhäuft und dabei einzelne wertvolle Stücke gesondert hochhält. Gerade
schwenkt sie ein paillettenbesticktes, schwarzes Abendkleid.
»Die hat ihm ratzfatz in der Badewanne die Gurgel durchgeschnitten, seine
Eier hat sie dem Hund gebraten und den Rest in Säure aufgelöst, und alles
nur, weil er ihre Arbeit mit den Kindern nicht zu würdigen wußte. Ein echter
Valentino nebenbei gesagt.«
Sie wirft das Kleid über die anderen.
»Kennen Sie das Buch?« Das Mädchen starrt sie an. »Dann les ich nicht
weiter. Sonst les ich nie Krimis. Ich bin nämlich gegen Gewalt. Ich hab das
»War doch nur Spaß. Bestimmt taucht er wieder auf, und sie essen
zusammen Bioäpfel, während er ihr erzählt, wie er die ganze Zeit dem
Ökoschwein auf den Fersen war, um die Zukunft ihrer Kinder zu retten, die
sie auf der letzten Seite machen werden. So, fertig. Also wieviel?«
»Aber ich sag Ihnen doch, kommen Sie morgen wieder, dann …«
»Alles hochwertige Ware, kaum getragen, keine Löcher, keine
Schweißflecken, keine Motten. Wieviel wollen Sie mir freiwillig dafür
geben?«
»Aber ich sag Ihnen doch …« Das Mädchen rudert hilflos mit den kleinen
Händen.
»Nun denken Sie doch mal nach. Diese Sachen sind zusammen mehr wert,
als Ihre Chefin in zwei guten Monaten mit dieser Abschreibungsklitsche
einnehmen wird. Die wird Ihnen die Füße küssen, wenn sie das hier sieht.«
»Bestimmt nicht.«
Da ist sich die Aushilfsverkäuferin plötzlich ganz sicher.
»Na, dann wollen wir mal sehen, wieviel Sie heute eingenommen haben.«
Rif geht zur Kasse, zieht sie auf, nimmt große und kleine Scheine raus und
zählt.
»Is ja nicht doll. Das da«, sie zeigt auf den Kleiderhaufen, »wird Ihre Bilanz
ganz erheblich verbessern.«
»Sind Sie verrückt … Sie können doch nicht … geben Sie sofort her …!«
Das Mädchen zerrt ebenso verzweifelt wie vergeblich an ihrer Kundin. Ihre
Stimme wird schrill, gleich wird sie in Tränen ausbrechen. »Ich ruf die
Polizei!«
Sie will zum Telefon greifen, aber Rif schubst sie wie ein unartiges Kind in
ihren Stuhl.
»Seien Sie nicht albern. Sie sind doch gegen Gewalt. Außerdem ist es doch
gar nicht Ihr Geld, das Sie so mutig verteidigen. Also seien Sie ein
vernünftiges Mädchen.« Sie wirft der Kleinen eine Kußhand zu. »Bleiben Sie
hübsch sitzen und warten ab, bis Sie sich beruhigt haben.«
Zwei Straßen weiter parkt Udos bordeauxfarbener Jaguar. Auf dem Rücksitz
liegt der zerlegte Hometrainer, daneben schreit Dutschke, der rote
Perserkater, nach Freiheit aus dem Katzenkorb. Fast bereut Rif, ihn
mitgenommen zu haben. Aber Udo würde ihn einmal mit teurem
Schabefleisch vollstopfen und dann tagelang glatt vergessen. Das hatte der
alte Kämpfer nicht verdient. Sie setzt sich hinters Steuer und nimmt
summend die Auffahrt Richtung Würzburg, erkennt ihren Irrtum, verpaßt am
Frankfurter Kreuz eine Abfahrt und rast entschlossen Richtung Basel. Kurz
vor Darmstadt wird ihr klar, daß sie sich erneut geirrt hat. Endlich auf der A3
Richtung Kassel hat sie sich kurz vor Alsfeld soweit entspannt, um lauthals
mitzugrölen, was aus dem Radio schallt: »… völlig losgelöst von der
Eeheeherdee, schwebt das Rahauhaumschiff …«
Der Himmel ist grau. Zwischen den Bäumen liegen noch schmutzigweiße
Schorfkrusten. Udos Augapfel tappert die nordhessischen Berge hoch, er ist
nicht mehr der Jüngste. Bei Kirchheim folgt sie dem Hinweisschild nach
Berlin und hängt in der nächsten Kurve hinter einem LKW. Den Aufkleber
»Aufgepaßt Damen, meiner ist 18 m lang« vor der Nase, versucht sie zu
überholen. Aber der Jaguar zieht am Berg schlecht. Udos verdammte
Vorliebe für Oldtimer. Kein Mensch mit Verstand fährt so was. Endlich
gelingt es ihr, hinter einem Lieferwagen auszuscheren, und sie hat freie
Fahrt bis zur nächsten Baustelle. »Aufbau Ost« tröstet ein Schild mit
schwarzrotgoldener Banderole die Autofahrer, die sich durchs aufgewühlte
Gelände stauen.
nichtssagende Gegend, findet Rif, gemessen am Odenwald oder Spessart,
wo sich das Rauhe mit dem Lieblichen mittelgebirgsmäßig verbindet. Früher
ist sie mit Udo oft dort gewandert. Sie haben in einsamen Gasthäusern
übernachtet. Schön war das, als er noch für die Revolution und nicht so
hinterm Geld her war. Rif tritt aufs Gas, der Wagen heult auf, bewegt sich
aber keinen Meter schneller vorwärts.
Draußen stinkt es nach Benzin und heißem Teer. Sie schließt das Fenster
und fummelt am Radio. Aber trotz genauer Frequenzangaben auf Schildern
neben der Straße läßt sich kein Sender knatterfrei einstellen. Durch das
Rauschen tönt von irgendwoher Julio Iglesias, dieser Sahnetrüffel für die
späten Jahre, übertönt von den Prinzen: »Du mußt ein Schwein sein in
dieser Welt.«
Plötzlich überfällt sie die ganze Vergeblichkeit ihres überstürzten Aufbruchs.
Gehen oder bleiben, was macht das schon für einen Unterschied? Auch
bürgerliche Träume verschleißen schließlich mit den Jahren. Als das Gefühl
überhand nimmt, fährt sie dem Hinweisschild »Teufelstal« nach und stellt
den Jaguar neben einen dunkelblauen Golf auf den fast leeren Parkplatz. Im
Hintergrund ragen Stahlgerüste aus einer Baugrube, wo die neue SuperRaststätte hinkommen soll. Aber vorläufig steht noch das alte Gasthaus
zwischen den Kiefern. Eine Schiefertafel vor dem Fachwerk zählt auf, was
im Angebot ist: Eis, Linseneintopf, Broiler, Thüringer Bratwurst.
Rif spürt keinen Appetit. Hinter der mit F gekennzeichneten Tür stolpert sie
unversehens über ihre Kindheit. Der beißende Geruch nach Sauberkeit ist
der gleiche wie damals, als sie zum Zunehmen aufs Land geschickt wurde.
Und die grauen Holztüren lassen sich nur mühsam mit den gleichen
verbogenen Haken verschließen, die damals ihre kindlichen Kräfte
überfordert haben. Heulend sinkt sie auf die verrutschende schwarze
Plastebrille.
In einer zur Tankstelle gewendeten Grenzstation füllt sie Benzin nach. Der
Wagen säuft wie ein Liebeskranker. Rif kauft Zigaretten und zwei Flaschen
Mineralwasser.
Hinterher schäumt sie ihre Hände lange mit der stark nach Maiglöckchen
riechenden Seife ein, läßt Wasser laufen und kühlt ihr Gesicht in den hohlen
Händen.
Willkommen in Thüringen! grüßt ein Schild vom Straßenrand. Ziemlich
Vor der Tür atmet sie tief durch, wie es ihre Mutter bei jedem
Waldspaziergang vorgeatmet hat, und kramt nach ihren Zigaretten. Ihr Blick
fällt auf eine neue Telefonzelle. Udo herunterzuputzen, würde ihr neuen
Schwung geben. Wahrscheinlich macht er sich bereits Sorgen um den
Jaguar. Sie geht hinein und wählt.
»Komm schon, nimm ab …«, murmelt sie vor sich hin, während sie
widerwillig ihrer eigenen, erotisch hingestöhnten Ansage lauscht. Nach einer
Zigarettenpause versucht sie es noch einmal. Aber keiner nimmt ab.
Rif bemerkt zu ihrer Verwunderung, daß sie sich ärgert. Wie kommt dieser
orientalische Fliegenhändler dazu, Udos Glanzstück zu beleidigen?
»He! Das ist ’n teures Auto.«
»Teuer egal, nix gut das Scheißeauto! Hättest du gefahren Mercedes oder
BÄEMWÄ, sie hätten genommen deine Auto, nicht meine.« Hier übermannt
ihn erneut der Schmerz, und voll neu erwachter Wut bearbeitet er den Lack.
Jetzt wird Rif böse. Sie packt ihn an der Jacke und zerrt ihn vom Auto weg.
»Nun reicht’s. Wenn der Lack ’nen Kratzer kriegt, tickt mein Freund aus.«
Kapitel 3
Er läßt sich überraschend widerstandslos wegziehen und sieht interessiert
auf sie herunter.
»Wo deine Freund?«
Als sie nach einem weiteren vergeblichen Versuch zum Parkplatz
zurückkehrt, lehnt an Udos ängstlich gehütetem Fahrzeug ein betrunkener
Riese und trommelt mit den Fäusten auf den makellosen Lack, dabei grunzt
und schluchzt er wie ein tödlich getroffener Wasserbüffel. Rif tritt näher.
»Ist ja wohl egal.«
Unvermittelt breitet er die Arme aus, als wolle er sie umarmen. Dabei bricht
er in brüllendes Gelächter aus.
Rif schließt die Fahrertür auf. Der Riese boxt gegen die Scheiben und tritt
mit verzweifelter Inbrunst gegen die Reifen. Rif tippt ihm auf die Schulter.
»Egal, egal … alles egal!« Sein aufgerissener Rachen entblößt rechts im
Oberkiefer zwei Zahnlücken, sein Bieratem läßt sie zurückweichen. Als er
ihren Blick bemerkt, zieht er verlegen seinen Schnurrbart über die Zähne
und holt Zigaretten aus der Tasche. Mit ausgestrecktem Arm gibt er ihr
Feuer, als fürchte er plötzlich, sie oder das Auto zu berühren.
»Nun reicht’s! Schieb ab!«
»Hast du schon die Polizei angerufen?«
Sie zeigt mit dem Daumen über die Schulter, wo’s ihrer Meinung nach lang
geht. Der Riese hebt den Kopf. Seine grünen Augen fixieren sie.
Wolfsaugen, denkt sie gerade, da stürzt er sich ohne Vorwarnung auf sie,
reißt ihre Hand an sich und küßt sie.
»Polizei?« Er sieht sie verächtlich an. »Polizei was machen? Nix bringen
mein Auto.«
»Scheißauto!« brüllt er und verliert sich in unverständlichen Lauten, die
nichts Gutes verheißen.
»Schönes Frau … meine Auto … du verstehen? Meine Auto zapzarap …«,
hier unterbricht eine Flutwelle fremdländischer Schimpfwörter seine
Erklärung. »Meine Auto, gut Auto, prima Golf.« Er ballt die Fäuste. »Nicht
das Scheiße hier!«
Er tritt gegen die Felgen.
»Und jetzt?«
Er zuckt die Schultern. »Warten. Bis Kollegen kommen, immer polnisch
Kollegen kommen hier essen.«
»Schwarzarbeiter?«
»Ich schwarz Neger?« fragt er ironisch zurück. Eben noch ein Berserker des
Schmerzes, scheint sein Kummer mit einem Schlag verflogen. Rif betrachtet
ihn, wie er gelassen an seiner Zigarette zieht und sie seinerseits mustert.
hat. Glaubst du an die Revolution? An den Sieg der Arbeiterklasse?
»Bis Berlin könnte ich dich mitnehmen.«
»Jedenfalls glaub ich an keine verdammte Religion. Euer Papst ist doch ein
frauenfeindliches Arschloch«, sagt sie genüßlich und wartet gespannt auf
seine Reaktion.
»Berlin? Warum nein?«
Er ist nicht beeindruckt. Am liebsten würde sie ihn gleich stehenlassen.
»Steig ein«, sagt sie knapp.
»Papst vielleicht ja«, meint Arkadiusz friedlich und legt den Kopf in den
Nacken, damit das Bier leichter seinen Weg findet. »Aber Gott nein.«
In seiner Nylontasche klappern Dosen, als er sie hochhebt.
Damit döst er zufrieden vor sich hin. Bald darauf ist er eingeschlafen.
»Arkadiusz«, stellt er sich vor und reicht ihr mit einer förmlichen Verbeugung
eine rauhe Hand.
Er erwacht erst von der plötzlichen Stille, als Rif unter dem mattgelben Licht
einer Laterne den Motor abstellt und entsetzt die zerfressene Fassade
anstarrt, nachdem sie sich noch einmal vergewissert hat, daß sie die richtige
Adresse gefunden hat. »Ach du lieber Gott …«
»Rif.«
»Das ist Name?«
Ohne zu antworten läßt Rif den Motor an und fädelt sich in den dichter
werdenden Berufsverkehr ein. Eine Wolke ballt sich am Horizont. Der
Himmel flammt glühend auf, dann frißt die Dämmerung alle Farben.
Schwarz kommt die Nacht. Rif raucht und fährt den Rücklichtern hinterher.
Dutschke hat sich heiser geschrien und schläft. Ihr Beifahrer reißt eine neue
Dose auf.
»Ich katholisch und du?«
Rif hebt einen Moment die Hände vom Steuer und schlägt sie quer durch die
Luft.
»Nichts.«
»Nix was? Protestant, Muselman?«
»Nein. Gar nichts. Keine Religion. Nix. Null.«
Die aufgerissene Bierdose dicht vor den Lippen, sieht er zu ihr hinüber.
»Du glauben an Gott?«
Rif wirft ihm einen schnellen Blick zu, übersieht dabei fast einen
überholenden Motorradfahrer, der sich im Vorbeifahren an den Helm tippt,
und versucht sich zu erinnern, wer ihr zuletzt eine so dämliche Frage gestellt
Arkadiusz wirft einen müden Blick auf das Haus.
»Das viel Arbeit«, meint er schläfrig und fängt unvermittelt an zu
schnarchen.
Kapitel 4
Heftige Kopfschmerzen hämmern sie trotz Gegenwehr wach, und sie
versucht sich zurechtzufinden. Etwas sticht im Kreuz. Rif zieht ihren tauben
Arm unter Dutschke vor, der gestört knurrt, und wälzt sich von dem
verbeulten Sofa. Benommen und ohne Zeitgefühl tappt sie durch das
Halbdunkel. Durch die zugenagelten Fenster fällt kaum Licht. Dabei wird ihr
allmählich klar, was sie geweckt hat. Über ihr, dort, wo angeblich eine alte
Dame ein lebenslanges Wohnrecht hat, tobt das Leben im Supersound von
Techno oder Heavy Metall. Außerdem stinkt es. Dutschke hat sich unter
dem Tisch erleichtert. Vom gleichen, dringender werdenden Bedürfnis
getrieben, braucht Rif lange, bis sie in einer Besenkammer im Treppenhaus,
verborgen unter einem orangeroten Boxhandschuh, die Toilette findet. Noch
länger dauert es, bis sie einen Wassereimer findet, da die Wasserspülung
nicht funktioniert.
Der Lärm hält unvermindert an. Mit dröhnendem Schädel steigt Rif die
Treppe zum zweiten Stock hinauf. Ada Otter steht eingekerbt und rot
ausgemalt auf dem ovalen Holzstück neben der Tür. Nachdem sie ein
paarmal auf die Schelle gedrückt hat, öffnet eine große Frau in einem
bodenlangen, schwarzen Kaftan mit Goldstickerei am Ausschnitt. Sie hat die
strengen Züge und den starken Knochenbau einer märkischen Bäuerin,
kombiniert mit dem karottenfarbenen Raspelschnitt einer minderjährigen
Punkerin.
»Was wollen Sie?« brüllt sie.
»Die Musik …«, schreit Rififi zurück und starrt verblüfft auf die silbernen
Eidechsen, die die Ohrläppchen der Frau so langziehen, daß sie fast die
Goldstickerei berühren. Die Frau muß mindestens siebzig sein. Sie mustert
Rif aus wasserhellen Augen von unten bis oben, als wolle sie Maß nehmen,
dann knallt sie ohne ein weiteres Wort die Türe zu. Hinter der Tür dröhnt es
ungedämpft weiter.
Eine Hand am hölzernen Geländer, um ihrem Schädel jede weitere
Erschütterung zu ersparen, steigt Rif vorsichtig die Treppe hinunter. Das
überdimensionierte Treppenhaus kommt diesem Vorhaben entgegen. Die
flachen Stufen führen in einem weiten Bogen so allmählich nach unten, auf
daß die Herrschaft angemessen wirkungsvoll zu Tal schreiten konnte, wo
sie von einer staunenden Gästeschar oder mürrischen Dienstboten erwartet
wurde. Aus und over. Jetzt ballen sich schwarze Kabel in den Ecken zu
drohenden Knäueln, und die herunterlappenden Tapeten erzählen von den
zahlreichen Versuchen, den Hochmut der einst feudalen Schönen zu
zähmen. Die jüngste Schicht zeigt ein scheußliches Blumenmuster in
braunorange mit silbern schimmernden Rhomben.
Jemand kommt die Treppe herauf. Im ersten Augenblick hält Rif ihn für eine
Erscheinung, die den alten Wänden entstiegen ist. Aber als er auf gleicher
Höhe ist, weht ein wohlriechender Schal an ihrem Ohr vorbei, und mit einem
hochmütigen Ausdruck über einem vanillefarbenen Anzug schwebt der
athletische Jüngling grußlos an ihr vorüber die Treppe hinauf.
Rif starrt dem Beau hinterher, wie er über den heruntergefallenen Putz
höher gleitet. Seide auf sozialistischem Restmüll, fährt es ihr durch den
Kopf. Verblüfft beobachtet sie, wie er nach kurzem Klopfzeichen in dieselbe
Wohnung eingelassen wird, von deren Schwelle sie gerade rüde gewiesen
wurde.
Sie stützt sich auf das Treppengeländer, das in einem geschnitzten
Löwenkopf endet, und scharrt den Mörtel von den Sohlen. Von vielen
Händen poliert, glänzt das Holz wie lebendig. Der Löwe schüttelt im
unruhigen Licht die Mähne, und ein lautloses Brüllen hallt durchs
Treppenhaus. Rif steckt einen Finger zwischen seine Zähne. »Hallo
Kollege.«
Etwas Weiches streicht um ihre Beine. Erfreut, daß er sie gefunden hat,
reibt Dutschke sich an ihren Waden. Rif hebt ihn hoch und krault seinen
Bauch, bis er mit den Hinterbeinen strampelt. Sie öffnet die Haustür.
»Frische Luft ist gesund, alter Knabe. Du wirst in Zukunft draußen … au!«
Dutschke faucht und gräbt seine Krallen in ihren Arm. In dem verwahrlosten
Beet vor der Tür steht ein kleiner, schwarzweißer Hund und preßt mit
konzentrierter Miene etwas aus sich heraus, während ein dickes Mädchen
vor dem Zaun an seinem Rad lehnt und ihn dabei unterhält.
»… die stecken uns in gläserne Zellen. Wenn du drin bist, kannste alles
sehen und hören, sogar herumlaufen kannste, aber keiner hört dich. Da
kannste schreien, wie du willst. Du verhungerst, einfach so, und keiner
merkt was. Furchtbar ist das. Also halt dich in Deckung, mein Schatz, ich
würd sterben, wenn dir was passiert …«
»He«, sagt Rif.
Der Hund scharrt, daß die Brocken fliegen, während das Mädchen
weiterredet.
»… denken, die könn sich einfach so breitmachen, ihre perversen
Experimente machen mit uns. Die lauern hinter den Fenstern und zielen auf
uns mit ihren Laserpistolen. Aber wir sind auf der Hut, was, mein Herz? Ham
se sich so jedacht. Wir warn vorher hier …«
»He«, versucht Rif es noch einmal lauter, »ist das dein Hund?«
Der schlüpft erleichtert durch den Zaun und springt an dem Mädchen hoch.
Die schiebt ihr Rad weiter, ohne Rif zu beachten. »… brauchst nich so zu
kieken, war doch nur Quatsch. Brauchst keene Angst haben …«
Der Hund hüpft neben ihr her, während sie ununterbrochen auf ihn einredet.
Rif starrt ihnen nach. Schließlich reißt sie sich für einen Rundgang durch
den Garten los.
Was hat sie erwartet? Blühende Rosenstöcke zwischen duftendem
Lavendel? Margariten? Malven? Selbst wenn dafür noch nicht die Zeit ist,
wird schnell klar, daß die in diesem Garten nie geblüht haben. Ihr Onkel war
offensichtlich ein zwanghafter Spießer, ein Säufer und ein Umweltschwein.
Nebeneinander in den Boden gedrückte Weinflaschen begrenzen das Beet,
unter der Hecke lagern Autoreifen, ein ausrangierter Herd und Möbelteile
verteilen sich rund ums Haus, das im Tageslicht seine Wunden zur Schau
stellt, anklagend und selbstgerecht wie eine sitzengelassene Braut. Seht
her, so schön war ich, und er wußte es nicht zu schätzen, der Verbrecher.
Ernüchtert betrachtet Rif die bröckelnden Verzierungen. Über eine halbe
Wand hat sich der Putz fast vollständig von der Fassade gelöst. An der
Unterseite des Balkons liegen die Stahlträger frei. Darüber weist das graziös
verrostende Balkongeländer spöttisch zum Himmel.
Am Gartenende überwuchert ein Fliederbusch einen morschen Schuppen.
Eine zottige Kiefer mit staubigen Nadeln steht wie eine Vogelscheuche
mitten im holprigen Rasen.
Besenkammer, hat die Kloschüssel abgeschraubt und stochert im Abfluß.
»Das muß«, sagt er und beginnt den Boden aufzustemmen. »Alles
Scheiße.«
Wie selbstverständlich nimmt er alles sofort in seine fachkundigen Hände.
Das muß, meint er ungerührt, wenn sie ihn fragt, warum er ein Loch in die
Wand hackt und die Dielenbretter aufreißt. Du mußt kaufen … beginnt der
nächste Satz. Wenn er ein Wort nicht weiß, malt er kleine Zeichnungen auf
die Wand: Spachtel, Zollstock, Schrauben, Bohrmaschine, Wasserwaage. In
Rauchpausen malt er Hunde, Hühner, Pferde und Schweine daneben und,
wenn sie nicht hinsieht, vollbusige Frauen mit wallendem Haar, die er in
Windeseile zumalt, sobald Rif sich nähert. Ein, zwei, vielleicht drei Tage, hat
sie gedacht, dann ist das Gröbste repariert, dann wird man weitersehen.
Aber die Baustelle wächst, und noch immer ist kein Ende abzusehen. Sie
hat mit ihrer Bank telefoniert und in der kleinen Buchhandlung ein
polnisches Wörterbuch bestellt.
Statt sich zu besinnen, zu malen, zu meditieren und all das Zeug, von dem
sie gelesen hat, daß es gut sein soll für den Geist und Vorbeugen fürs Alter,
kratzt sie Tapete von den Wänden und karrt Mörtel und Fliesen in Udos
gutem Stück heran, das sich schon nicht mehr ähnlich sieht.
Gedankenverloren steht sie auf einem Haufen Schutt und reißt Stücke der
geblümten Tapete von den Wänden.
»Der gleiche Spießergeschmack wie meine Mutter. Dabei war er doch
Kommunist.«
»Kommunist Scheiße«, meint Arkadiusz.
»Bist du abergläubisch?« fragt sie ihn.
Die kommt weg, beschließt Rif fröstelnd.
»Ich was?«
Aus dem Innern des Hauses dröhnen heftige Schläge. Als sie beunruhigt
hineingeht, kommt ihr im Eingang eine kleine Frau mit schrägen Augen
entgegen, die mit einem Lächeln an ihr vorbei nach draußen huscht.
»Ich bin Löwe, verstehst du?«
Den Lärm macht Arkadiusz, den sie fast vergessen hat. Er kniet in der
Sie packt einen Sessel bei der braunen Plastiklehne und zerrt ihn zur Tür.
»Das fliegt alles raus.«
Mit dem Sessel als Rammbock drückt Rif die Haustür auf und hätte fast eine
zierliche Frau mit einem blonden Pferdeschwanz umgeworfen, die davor
steht und sie anlächelt.
»Blaskiewitz, Ewa Blaskiewitz«, sagt die Blonde mit einer dunklen Stimme,
die nicht zu ihr zu passen scheint, und ergreift Rifs Hand, die den Sessel
loslassen muß, der daraufhin der Blonden auf den Fuß kippt, die aber ihre
Hand nicht losläßt. Rif fühlt, wie sie weich umschlossen und geschüttelt
wird.
»Freut mich. Ich wohne gegenüber.«
»Entschuldigung«, sagt Rif.
»Sie sind doch Antons Verwandtschaft. Ich dacht mir, vielleicht hätten Sie
Lust aufn Kaffee und nich die Möglichkeit, sich ein zu kochen. So wie det
hier aussieht.«
Rif sieht eine Thermoskanne in dem Korb, den die Blonde in der Hand hält,
und stützt den Sessel auf ihrem Fuß ab. Ohne Zigarette fühlt sie sich soviel
argloser Freundlichkeit nicht gewachsen, sie kramt nach der Packung und
hält sie der Besucherin hin. Die wehrt ab.
»Nee, besten Dank, ich war früher mal beim Sport, Schwimmen. Da durft
man ja nich, und so hat man sichs nie angewöhnt, is ja auch nich falsch,
oder? Spart ’ne Menge Geld.«
Vorsicht!«
Sie läßt den Sessel die Stufen hinunter auf den Gerümpelhaufen poltern, wo
schon der restliche Hausrat liegt.
»Wollen Sie det allet wegschmeißen?«
Rif gibt keine Antwort und geht voraus in die Küche, wischt Tapetenreste
vom Tisch und holt drei Sammeltassen aus dem Wandschrank.
»Die hat Anton aus Ungarn mitgebracht«, weiß die Besucherin, holt eine
Schachtel Cremehütchen aus der Tasche und legt sie auf den Tisch. Dann
läßt sie sich in den letzten, vom Rausschmiß verschonten Sessel fallen und
tätschelt die Lehne wie einen vertrauten Hund.
»Anton hatte den immer vorm Fernseher zu stehen.«
Rif setzt sich rittlings auf einen Küchenstuhl und stützt das Kinn auf die
Lehne. Arkadiusz, der kurz hereinkommt, trinkt seinen Kaffee im Stehen und
verschwindet wieder. Man hört ihn irgendwo rumoren. Rif betastet besorgt
ihren Arm, er wird langsam taub. Teile der Tapete sitzen wie angewachsen.
Ewa Blaskiewitz sieht sich um.
»Hat sich nichts verändert seit Antons Tod. Nur dreckiger isset geworden.
Sie werden doch bleiben, oder?«
Rif nimmt einen tiefen Zug.
Rif meint, einen ängstlichen Unterton herauszuhören, und zuckt die
Schultern.
»Eigentlich will ich es mir auch abgewöhnen.«
»Sie kannten Onkel Anton?«
Arkadiusz kommt aus der Tür, nickt kurz zu ihnen hinüber und verschwindet
mit einem Spaten um die Hausecke. Die Blicke der Nachbarin folgen ihm
interessiert.
»Na sicher. Wir waren doch Nachbarn.«
»Haben Sie Kinder? Wissen Sie, seit der Wende isset richtig still geworden
hier. Viele sind rübergezogen in Westen. Kriegen mehr Geld drüben, muß
man ja verstehn. Aber wieder mehr Leben in der Nachbarschaft wär schön.«
Rif zieht an ihrer Zigarette. »Kaffee wär nicht schlecht. Ich hab keine Kinder.
»Und was war er für ein Mensch?«
Ihre Nachbarin sieht sie überrascht und mißtrauisch an.
Ȇber Tote soll man ja nicht schlecht reden, aber Sie wissen ja, wie Anton
war. Der wurd nicht besser mit dem Alter. Aber Flieder durft ich mir immer
holen, so viel wie ich wollte.«
»Ich kann mich an Onkel Anton nicht mehr erinnern. Ich war noch klein, da
ist meine Mutter mit mir weggezogen. Seither haben wir nichts mehr von ihm
gehört.« Weil die Blonde sie weiter so merkwürdig ansieht, fügt sie hinzu:
»Sie hatten Streit, meine Mutter und ihr Bruder. Wegen der Politik.«
»Na, det is ja nun vorbei«, meint die Nachbarin und läßt den Blick durch den
Raum wandern. »Da kann man doll was draus machen hier«, sagt sie eifrig
und beugt sich vor, »so ’n richtijet kleenet Schloß.«
Von oben dröhnt wieder Musik. Rif verzieht den Mund und deutet mit dem
Daumen nach oben.
»Kennen Sie die auch?«
»Ada? Die kennt jeder hier, war bei uns ’ne bekannte Malerin, kriegte ’ne
Menge Preise.«
»Was malt die so?«
»Bäume. Nur Bäume. Komisch, nicht? Zu Ostzeiten hat sie viel ausgestellt,
konnte man überall was finden von der. Sogar bei uns im Schwimmbad hat
sie ausgestellt. Aber seit der Wende nix mehr.«
»Ist wohl ’ne schwierige Person«, meint Rif gedehnt.
Die Blonde hebt die Schultern und sieht sie ausdruckslos an.
»Nach dem, was wir hier so allet hinter uns haben, kein Wunder, finden Sie
nicht?« Sie erhebt sich. »Ich will Sie nicht von der Arbeit abhalten. Ham Se
ja genug von. Wenn Sie Hilfe brauchen … ich wohn schräg gegenüber, die
Nummer zehn.«
Sie schiebt die restlichen Cremehütchen zurück, die Rif ihr hinhält.
»Für Sie. Die laß ich Ihnen da.«
Mit einer Geste auf die Hanteln am Boden fragt sie: »Sind Sie auch
Sportlerin?«
»Nee, nur freizeitmäßig«, sagt Rif, »und hier bin ich bisher nicht mal dazu
gekommen.«
»Ich hätt es fast bis zur Europameisterschaft geschafft«, fängt ihre
Besucherin an und faßt sich mit der Hand ins Kreuz, dann winkt sie ab. »Is
lange her. Jetzt sitz ich an der Kasse vom Schwimmbad im FEZ. Muß man
schon froh sein heute. Schönet Bad übrigens. Kann ich nur empfehlen. Wie
gesagt, wenn Se wat brauchen …«
Rif sieht ihr nach, bis sie durch die Tür ist. Dann steht sie auf und wirft die
Cremehütchen in die Mülltüte. Sie ist begierig, wieder an die Arbeit zu
kommen, und kann es kaum erwarten, die Räume nach ihren Vorstellungen
zu gestalten, ohne auf Udos postrevolutionären Country-Geschmack
Rücksicht nehmen zu müssen. Ihr schweben kräftige, warme Farben vor,
Terrakotta, Ziegelrot, Zimt, die Stuckkante vielleicht abgesetzt in dunklem
Ocker oder hellem Mintgrün. Keine Tapete, keine Vorhänge. Der erste Blick
des Tages soll auf die graziöse Birke vor dem Fenster treffen, grüne
Schleier im Sommer, zarte Tuschezeichnungen im Winter. Arkadiusz streckt
den Kopf zur Tür herein und sieht sich vorsichtig um.
»Frau weg?«
Er kommt ganz herein und drückt die Tür nachdrücklich hinter sich ins
Schloß. »Chef, guck mal!«
Rif starrt auf das Ding, das er ihr auf der ausgestreckten Hand entgegenhält.
Dann sagt sie ärgerlich:
»Laß den Scheiß!«
»Ich nicht machen das Scheiße«, sagt Arkadiusz und betont jedes Wort, als
koste es ihn Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. Sein Gesicht hat
die Farbe von Tapetenkleister.
»Das tot Mann.«
Er wischt Erde weg, damit sie bessere Sicht hat. Rif starrt auf seine Hand in
der sicheren Erwartung, daß das Ding sich unter ihrem nüchternen,
unbestechlichen Blick wenn schon nicht in Luft auflösen, so doch als Plastik
herausstellen wird.
»Wo?« fragt sie mißtrauisch und berührt das Ding vorsichtig mit der
Fingerspitze.
Arkadiusz zeigt nach draußen. »Nicht tief. Vielleicht halbe Meter. Ich suchen
Leitung.«
Da ist ein Trick dabei, denkt sie, ich muß ihn nur herausfinden, dann wird er
dumm dastehen mit seiner lächerlichen Furcht. Arkadiusz legt das Ding auf
den Tisch neben die halbvolle Kaffeetasse. Von dort starrt es aus leeren
Augenhöhlen herüber.
»Sieht aus wie echt«, gibt sie zu und tippt das Teil an, und es wackelt und
rollt über den Tisch, federleicht wie alte Knochen, die lange in der Erde
gelegen haben. Rif schluckt und hält sich an der Tischkante fest. Kein Trick.
Der Schädel ist ein Schädel, ein Schädel, ein …
Jetzt steht sie dumm da und beißt sich auf die Lippen.
Arkadiusz beobachtet sie.
»Polizei?« fragt er zögernd, und man sieht ihm an, daß er nicht begeistert ist
von seinem Vorschlag.
Die Bullen holen? Rififi versucht, sich zu konzentrieren. Ihr fallen die
Wasserwerfer ein. Das Tränengas. Sie fühlt wieder die blauen Flecke an
ihren Oberarmen. Widerstand gegen die Staatsgewalt, hieß das.
Polizeistiefel, die durchs Haus trampeln. Verhöre. Was wollen Sie hier?
Wonach haben Sie gegraben? Sie geben die Beschäftigung eines
Schwarzarbeiters zu? Sie würden in ihrer Vergangenheit wühlen und eine
Hure ausgraben. Was anderes geht in diese Schädel nie rein. Hüben wie
drüben. Männerphantasien sind wahrscheinlich das einzige gesamtdeutsche
Phänomen, das keiner Wiedervereinigung bedurfte. Mit der Ruhe wäre es
vorbei, ihr taufrischer Traum wäre ausgeträumt, bevor er richtig
losgegangen ist.
Sie strafft sich.
»Quatsch. Der ist aus dem Krieg. Den vermißt keiner mehr. Grab ihn wieder
ein. Tiefer!«
Erleichtert befolgt Arkadiusz ihre Anweisung.
Kapitel 5
Trotz Muskelkater ist Rif wunderbar ausgeschlafen aufgewacht. Draußen
zwitschern die Vögel wie wild. Sie öffnet das Fenster und grinst nach ein
paar Atemzügen grundlos ins Freie. Frühling! Die Zeit, wenn sie endlich
wieder Kniestrümpfe tragen durfte statt der verfluchten Leibchen und Pirat
werden wollte oder Cowboy. Aber Frühling ist eine chemische Reaktion, die
auf Paarung aus ist. Und die hat sie Gott sei Dank hinter sich.
Sie hört Arkadiusz mit der Bohrmaschine, und ihr fällt wieder die Malerin ein.
Soll sie sich ruhig beschweren. Heute morgen ist sie sogar bereit, der alten
Natter zu verzeihen.
Wahrscheinlich fürchtet sie, daß Rif nur gekommen ist, um sie rauszuekeln.
Ängstlich hatte sie allerdings nicht gewirkt, ganz im Gegenteil. Warum sie
immer nur Bäume malt? Sogar diese Nachbarin hatte das merkwürdig
gefunden.
Bäume! Rif gähnt und breitet die Arme aus, als wolle sie die ganze
verführerische Luft umarmen, und geht ins Bad.
Dort steht Arkadiusz und klemmt ein Rohr ab.
»Morgen Chef.«
»Einen wunderschönen guten Morgen, Arkadiusz!«
Beinahe hätte sie auch ihn umarmt.
Er wirft ihr einen beunruhigten Blick zu.
»Du mußt kaufen neue Rohr.«
Auf dem Weg zum Baumarkt verfährt sie sich nur noch selten, weil sie
gelernt hat, Hinweisschilder, die noch zur Irreführung des eingedrungenen
Klassenfeindes dienten, zu ignorieren. Manchmal drängt sich ihr allerdings
der Eindruck auf, daß sie eine langzeitarbeitslose ABM-Kraft damit
beschäftigen, die Verkehrsschilder täglich umzustellen.
»Wird vielleicht och besser«, murmelt einer, »braucht allet seine Zeit.«
Die schwarzen Fassaden der Häuser, die vernagelten Fenster,
zugemauerten Eingänge und ausrangierten Couchgarnituren in den
Vorgärten sind ihr inzwischen so vertraut wie der säuerliche Rauchgeruch in
der Luft, der Erinnerungen weckt.
»Nein«, sagt der in dem Popelinblouson streng, »das wird nicht besser. Das
wird schlechter. Bis wieder ein starker Mann drankommt. Hatten wir alles
schon mal.«
Heil Hitler! hatte mit dicker schwarzer Farbe an der halb eingestürzten
Kellerwand eines birkenbewachsenen Trümmergrundstücks gestanden. Als
ein Nachbarjunge beim Mittagessen »Heil Hitler« gesagt hatte statt »Guten
Appetit«, hagelte es Ohrfeigen. Genau sieben Stück, hatte er hinterher stolz
berichtet. Es folgten Heulkrampf der Mutter, Schreianfall des Vaters, danach
war er für den Rest des Tages auf sein Zimmer geschickt worden. Ficken
oder Fotze brachten höchstens zwei Ohrfeigen und nur bei richtig fiesen
Eltern Hausarrest. Heil Hitler war so zum Spitzenreiter auf der geheimen
Hitliste geworden, die wunderbare Freundschaften stiftete. Willst du ein
ganz schweinisches Wort wissen? Aber dafür leihst du mir dein Fahrrad,
einverstanden? Eine glückliche Zeit.
Rif hält stumm ihre Mark für die Zeitung hin und hofft, daß keiner sie
anspricht.
»Sechs Schrippen«, sagt sie zu der melancholisch dreinschauenden
Verkäuferin im Bäckerladen nebenan und fühlt sich schon wie eine
Einheimische, weil ihr das Wort so glatt von den Lippen geht.
Die Gestalt kommt ihr bekannt vor. An dem blonden Pferdeschwanz erkennt
sie die nette Nachbarin mit den gräßlichen Cremehütchen von gestern. Sie
steht am Briefkasten vor dem Plattenbau schräg gegenüber und kehrt ihr
den Rücken zu.
Rif bremst ab und dreht die Scheibe runter.
Im Zeitungsladen ist es voll. Es ist Mittwoch, und Mittwoch ist Mittwochslotto.
Da stehen die künftigen Millionäre Schlange.
»Det ist ja wie früher«, witzelt einer.
»Und ick sach dir, die wählen den Kohl nochma«, meint sein Vordermann.
»Ick vasteh die Leute nich. Wat hat denn der sojenannte Aufschwung
jebracht? Läden, wo se uns wat verkoofen könn’, neuseeländische Appel
und holländische Gurken.«
»Hallo, Frau …«, wie hieß die noch gleich? Sie kann sich nicht erinnern und
winkt statt dessen heftig aus dem Fenster, um sich bemerkbar zu machen.
Die Frau reagiert nicht. Entweder ist sie schwerhörig oder tief in Gedanken.
Rif will gerade weiterfahren, da dreht sie sich so ruckartig zu ihr rum, daß ihr
der Pferdeschwanz ins Gesicht schlägt. Sie starrt Rif an wie einen Angreifer.
Ihre Augen sind weit aufgerissen und scheinen Rif nicht wiederzuerkennen.
In der Hand hält sie einen aufgerissenen Briefumschlag.
»Hallo …«, sagt Rif noch einmal lahm, »ich …«
»Wer verdient denn hier noch?« fragt ein älterer Mann mit Prinz-HeinrichMütze und Popelinblouson in die Runde und gibt sich selbst die Antwort.
»Die Fidschis und die Mafia. Und an der Börse machen se Jewinne.« Als er
dran ist, blättert er drei Hunderter für Lottoscheine auf den Tresen.
Die Frau bewegt den Mund, ohne sich zu rühren, und beginnt zu husten.
»Und inzwischen verfällt allet. Die Häuser, da will doch keener mehr rin.
Glauben Se bloß nich, daß die Bonner in Häuser ziehn, wo mal die Russen
drin jewohnt ham.«
Sie zittert jetzt am ganzen Körper.
»Das Schwein«, krächzt sie nach Atem ringend ins Leere. Plötzlich wird sie
schrill. »Diese Drecksau!«
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Rif öffnet die Wagentür. Aber bevor sie aussteigen kann, dreht sich die
Blonde um und geht ohne ein Wort ins Haus. Die Tür schlägt hinter ihr zu,
und Rif zögert einen Moment, ob sie ihr folgen soll.
Vor ihrem eigenen Gartenzaun lehnt das dicke Kind an seinem Rad und
beobachtet die Szene interessiert. Das Gör dreht nicht mal den Kopf, als Rif
den Wagen neben ihr parkt. Rif steigt aus und wirft einen Blick in ihre
Richtung, der folgenlos abprallt.
»Schöner Tag, wie?« sagt Rif laut, nachdem sie die Sachen aus dem
Wagen geholt hat. »Du redest wohl nur mit Hunden?«
Das Mädchen starrt wortlos durch sie hindurch.
»Wo hast du denn heute deinen Hund?«
Bevor sie ihn sieht, hört sie ihn jiepernde Laute des Jagdeifers ausstoßen.
Er hat sich wohl darauf besonnen, daß seine Vorfahren Fuchsbauten
ausgehoben haben. Rif kommt gerade dazu, wie er sich abmüht, seinen
Fund ins Maul zu nehmen, um ihn seiner Fürstin vor die Füße zu legen. Er
hebt den Kopf, als er Rif kommen hört. Der schwarze Fleck über dem linken
Auge sieht aus wie eine Augenklappe. Knurrend verteidigt er seine Beute,
gibt aber schnell auf, als Rif ihn anbrüllt und drohend mit den Armen fuchtelt.
Mit bedauerndem Winseln flitzt er davon und verschwindet um die
Hausecke.
Rif blickt sich um. Niemand ist in der Nähe zu sehen. Dank der großen
Gärten stehen die nächsten Häuser weiter weg. Getarnt unter der
Brötchentüte trägt sie den inzwischen vertrauten Gegenstand ins Haus.
»Ich hab doch gesagt tiefer, du Idiot«, schreit sie Arkadiusz an, der ihr
entgegenkommt und die Hand nach dem Rohr ausstreckt. Statt dessen hält
sie ihm den Schädel hin.
geworfen hatte, nahm er es gelassen. Laß es raus! hatte er sie noch
ermuntert, hinterher fühlst du dich besser. Zu erschöpft und
harmoniebedürftig, um seinen diversen Vorhaben noch großen Widerstand
entgegenzusetzen, wie er wohl wußte. So blieb alles beim Alten. Plötzlich
fehlt er ihr. Arkadiusz ist anders. Nie hätte sie vermutet, daß der Kerl derart
empfindlich ist. Er plustert sich auf wie ein Truthahn.
»Ich Arschloch? Ja?« fragt er drohend. »Ich Idiot?«
Er reißt sich das Hemd auf, wo auf der breiten Brust ein Kruzifix baumelt wie
ein einsames Marterl im Wald, und klopft auf seinen Zeugen der
Verteidigung.
»Das meine Gott.«
Rif betrachtet ihn fasziniert und vergißt einen Moment ihren Ärger.
Plötzlich steht die blonde Nachbarin in der geöffneten Tür und hält
erschrocken ein Glas Marmelade vor die Brust.
»Ich wollt nicht stören.«
Rif hat gerade noch Zeit, den Schädel unter einer Plastiktüte zu verstecken.
Da hat auch Arkadiusz sie entdeckt und dreht sich zu ihr um. Sie duckt sich,
als er auf sie zugeht, und Rif nutzt die Gelegenheit, den Schädel in die AldiTüte zu stecken und unter die Spüle zu werfen. Dicht vor der Blonden bleibt
Arkadiusz stehen.
»Du auch sagen, ich Arschloch? Ich Idiot?« brüllt er sie an. Die schüttelt
stumm den Kopf. Da nimmt er ihre Hand wie eine Trophäe und küßt sie.
Dann stampft er wütend hinaus.
Rif lehnt sich gegen die Spüle und klopft ihre Taschen nach Zigaretten ab,
während die ungebetene Besucherin auf irgend etwas wartet. Aber Rif bleibt
stumm.
»Tiefer! Verstehst du?«
Schließlich macht die Nachbarin ein paar zaghafte Schritte in den Raum und
stellt das Glas auf den Tisch.
Rif kreischt. Udo gegenüber war es nie nötig gewesen, sich zu beherrschen.
Eine seiner besten Eigenschaften. Sogar wenn sie Sachen nach ihm
»Ich hab Ihnen Marmelade mitgebracht, Heidelbeere mit Holunder. Vorhin,
da … ich wollt mich entschuldigen …«
»Ich eß keine Marmelade«, sagt Rif schroff, setzt aber dann versöhnlicher
hinzu, »ich vertrag nichts Süßes. Diabetes.«
Sie ringt sich ein Lächeln ab und ruckt mit dem Kopf in die Richtung, in die
Arkadiusz verschwunden ist. »Er liebt Marmelade. Selbstgemacht?«
Im Gesicht der Besucherin kämpft die Neugier mit dem Wunsch, sich in Luft
aufzulösen.
»Hatten Sie Krach?«
Rif zuckt die Schultern. »Nix Besonderes.«
Wasserkasten die Stufen hochstemmt. In dem roten Tankwartsoverall voller
Farbspritzer hat Rif sie im ersten Moment für einen Lieferanten gehalten.
Eine günstige Gelegenheit, die alte Dame von den hilfsbereiten
Eigenschaften und friedlichen Absichten der neuen Hausbesitzerin zu
überzeugen. Dem würde irgendwann ein gemütliches Kaffeestündchen
folgen, in dessen Verlauf Rif die sozialistischen Bäume loben und man den
Beginn einer wunderbaren Hausgemeinschaft mit einem kleinen Likör
begießen würde.
»Warten Sie, ich helfe Ihnen«, ruft Rif übertrieben munter. »Das ist doch zu
schwer für Sie!«
Es raschelt unter dem Spülbecken, und Rif fährt herum.
Sie bückt sich, um mit anzufassen, und taumelt, von einem kräftigen
Ellenbogen absichtlich oder unabsichtlich getroffen, zurück.
»Dutschke, du Mistvieh, mach, daß du da rausgehst!«
»Gehen Sie mir aus dem Weg. Das hilft mir am meisten.«
Der rote Kater schießt fauchend hinter dem Abfalleimer vor, der scheppernd
umfällt und seinen Inhalt auf den Küchenboden speit. Rif bückt sich, um den
Abfall wieder einzusammeln. Ewa hebt eine Aluschale auf und reicht sie ihr
hinüber.
Ohne Rif und ihre guten Absichten eines Blickes zu würdigen, steigt Ada
Otter an ihr vorbei zum nächsten Treppenabsatz. Den Wasserkasten hat sie
gegen die Hüfte gepreßt.
»Dutschke? Komischer Name.«
Stalinistische Betonkuh, denkt Rif wütend und reibt sich die Seite.
»Kennen Sie nicht? Dutschke, Rudi?«
Sie steigt die restlichen Stufen zum ersten Stock hoch. Arkadiusz steht auf
einem Stuhl, die Zigarette im Mundwinkel, und klemmt ein Leitungsrohr ab.
»Nee.«
»Arkadiusz, bitte, du mußt mir helfen.«
»Ihr Ossis habt aber auch von nichts ’ne Ahnung.«
Putz rieselt ihr in die Augen. Rif zwinkert, niest und wischt ihr Gesicht am
Ärmel ab.
Rif kippt den Abfall mit so viel Schwung in den Eimer, daß die Hälfte
daneben fällt.
Die Blonde findet, daß sie jetzt gehen muß, und Rif lächelt zustimmend.
Nachdem die Haustür hinter ihr zugefallen ist, holt Rif die Tüte mit dem
Schädel aus dem Abfall und verstaut sie im Kühlschrank. Wenigstens vor
Hund und Katz ist er dort vorläufig sicher. Dann überlegt sie es sich anders.
Das Ding muß aus dem Haus.
Auf der Treppe scheppert es. Aber es ist nur die Malerin, die einen
»Erst fertig.«
Sein ganzer Körper spannt sich, eine Sehne über dem Knöchel tritt stark
hervor. Die Haut, die oberhalb der Socken sichtbar wird, ist sehr weiß. Der
Stuhl knirscht unter seinem Gewicht.
Rif parkt den Wagen hinter einem beigen Wartburg und marschiert auf
einem asphaltierten Fußweg geradewegs in den Wald hinein. Schweigend
kommt Arkadiusz ihr nach. An seinem gekrümmten Zeigefinger schlenkert
die Tüte, die zusätzlich eine kleine Grabschaufel enthält. Das Haar liegt ihm
feucht zurückgekämmt am Kopf, und zur schwarzen Hose trägt er jetzt ein
makelloses gelbes Hemd. Nur sein Gang bleibt schwerfällig, als trage er
ständig einen Zementsack auf der Schulter. Rif verlangsamt ihr Tempo, bis
sie nebeneinander gehen.
Die Zweige ragen kahl in den wolkenlosen Himmel. Den Waldboden bedeckt
noch das trockene Laub vom vergangenen Jahr, in dem eine Amsel nach
Würmern sucht. Es raschelt wie im Herbst, bei hochsommerlichen
Temperaturen. Rif rollt die Ärmel ihres Pullovers hoch und fühlt den feinen
Schweißfilm unter Achseln und Brüsten. So gehen sie stumm
nebeneinander her. Kein Mensch ist zu sehen. Allmählich stellt sich das
Hochgefühl von heute morgen wieder ein. Immer so weiterlaufen durch die
warme Luft, die nach aufgebrochener Erde riecht, wäre schön. Rif hat es
plötzlich nicht mehr eilig.
»Hier?« fragt Arkadiusz und deutet in den menschenleeren Wald. Man sieht
ihm an, daß er von der sinnlosen Lauferei wenig hält. »Noch ein Stück«,
sagt sie und sieht ihn träumerisch an, »findest du es nicht schön hier? Die
Vögel, die Luft, die Ruhe …«
Er zuckt die Schultern.
Rif zeigt auf einen korpulenten Mann im grauen Anorak, der ihnen, von
einem Schäferhund gezogen, aus einem Seitenweg entgegenkommt.
»Besser, wir gehen noch ein Stück.«
Widerstrebend trottet er neben ihr her.
»Addio, addio, Mexico« tönt es plötzlich durch das Vogelgezwitscher, und
mit jedem Schritt wird der Gesang aus rauher Männerkehle lauter, »addio,
addio« hallt es zwischen den nackten Stämmen, wo rotweiße
Sonnenschirme auftauchen. Arkadiusz beschleunigt seinen Schleppschritt.
»Waldkater« steht über dem Eingang. Drei Musiker in schwarzen
Cowboyhüten und roten Westen stehen auf einem überdachten Podest
neben einem Imbißstand. Der Gitarrist hat sein graues Haar zu einem Zopf
geflochten, der ihm dünn über den Rücken fällt. Ein paar einsame Trinker
hocken auf Plastikstühlen vor ihren Gläsern. Ein blasses Paar mit
Cowboyhüten und Sporen an den Kaufhausstiefeln sieht sich über zwei
Pappbecher hinweg in die Augen. Nur ein kahlköpfiger Trinker prostet der
Kapelle ekstatisch zu.
Rifs Auftauchen wird mit beifälligen Lauten quittiert. Die Frau unter dem
schwarzen Cowboyhut mustert sie ernst. Ihr Begleiter beugt sich mit
gespitzten Lippen zu ihr hinüber, bis ihre Hutkrempen sich berühren, und
greift nach ihrer Hand. Sie trinken sich zu. Die Frau lächelt ein blasses
Lächeln.
An dem verrosteten Fahrradständer vorbei steuert Arkadiusz schnurstracks
auf den Ausschank im Hintergrund zu und hebt zwei Finger. »Bier.«
»Wein«, sagt Rif und schiebt die ihr zugedachte Flasche beiseite.
»Ungarischen oder rumänischen?« fragt die Frau, die hinter dem Tresen
steht wie eine Fahrkartenverkäuferin oder wie die Hexe im Märchen.
»Ungarischen«, sagt Rif.
Arkadiusz prostet ihr zu. Mit jeder neuen Flasche wird sein Lächeln breiter.
Die Kapelle spielt einen Foxtrott. Das Paar erhebt sich und schiebt sich
vorsichtig über den rauhen Betonboden. Ihre Sporen klirren gegeneinander.
Als die Musik endet, bleiben sie stehen und klatschen in die Hände. Nach
einem weiteren Bier, das Trio spielt einen labbrigen Rock ’n’ Roll, fordert
Arkadiusz sie auf. Er ist ein tollkühner Tänzer. Fest hält er sie um die Taille
gepackt, schleudert sie von sich und fängt sie gekonnt wieder auf, wie ein
Jongleur seine Bälle. Die Musiker steigern das Tempo. Der behäbige
Gitarrist reißt aufgebracht an den Saiten. Endlich wieder mal zeigen können,
was man so drauf hat. Der kahlköpfige Zecher klatscht rasend. Das
Cowboypaar tritt staunend auf der Stelle. Sie fliegen, stampfen, kreiseln
über die leere Fläche. Rif fühlt keinen Boden mehr unter den Füßen.
Heftig atmend halten sie schließlich an. Alle klatschen. Sogar die Hexe
hinter ihrem Fahrkartenschalter. Arkadiusz verbeugt sich wie ein
Schauspieler und holt neue Getränke. Als sie sich später zu einem
langsamen Blues wiegen, hält er sie steif in den Armen, ihre Hand wie in der
Tanzstunde von sich weggestreckt. Rosen aus Athen, Tulpen aus
Amsterdam streuen die Musiker mächtig sülzend vor ihre Füße, und Rif
summt versunken mit.
»Ich wollte mal Sängerin werden«, sagt sie am Tisch zu Arkadiusz, der nah
an sie herangerückt ist. »Blues und Jazz, nicht dieses Zeug.« Sie schiebt
seine Hand weg, die sich auf ihrer Brust breitmachen will.
»Gib mir ne Zigarette.«
Die Konturen der Sonnenschirme und die Bäume dahinter verschwimmen in
der Dämmerung. Der ungarische Wein schmeckt süß, der rumänische
schimmelig, aber Arkadiusz holt immer noch eine neue Runde, und
irgendwann schmeckt sie keinen Unterschied mehr.