Lesen steckt an. - Virulent E
Transcription
Lesen steckt an. - Virulent E
Lesen steckt an. Virulent ist ein Imprint: ABW Wissenschaftsverlag GmbH Kurfürstendamm 57 10707 Berlin Deutschland www.abw-verlag.de © 2011 ABW Wissenschaftsverlag GmbH Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. ISBN 978-3-86474-033-6 Produced in Germany Umschlaggestaltung: brandnewdesign, Hamburg Titelabbildung: photocase (Andreas F); istockphoto (Viktor Kitaykin; Andreas Kermann) Weitere Informationen zu dem Titel auf www.facebook.com/virulentes Kapitel 1 Rififi, den üppigen Körper im bauchfreien Trainingsanzug, saugt an ihrem Joint und kichert bei der Erinnerung vor sich hin, während der Schweiß auf ihrer Stirn langsam trocknet. »… seine Spucke läuft dir übers Gesicht, und du kannst dir nicht mal übers Gesicht wischen, weil er das als Kritik auffassen würde. Der spuckt mit Absicht, gezielt, weißt du, das gibt ihm den Kick …« Bei jeder Demo waren sie in vorderster Reihe dabei gewesen, unzertrennlich wie Zwillinge, mit diesem wundervollen Gefühl im Körper: Uns gehört die Welt, die Zukunft und die Revolution in Ewigkeit. Amen. »Danke, Rif, das reicht.« Polizei und Presse hingen zuverlässig an ihren Fersen. Schönster Körper der Studentenbewegung wurde sie genannt. Alles war ja Bewegung damals. Wer zweimal mit demselben pennt … Kannste auch ’n Hunni dafür nehmen, hatte sie sich gedacht. Kiffen kostet. Udo, langhaarig, in Jesuslatschen und Parka, Prediger einer gottlosen Lebensführung ohne Krawatte, fand das voll in Ordnung. Ihre Mutter, gerade den Kommunisten entkommen, wie sie es nannte, schlug heimlich hinter seinem Rücken ein Kreuz, wenn er die Wohnung betrat. Aber wie er reden konnte vor all den Menschen, die er Genossen nannte. Mein Gott, was hat sie ihn bewundert damals! Sogar ihr geliebtes Gesangsstudium hat sie abgebrochen, weil er es eine bürgerliche Scheiße nannte. Rififi sucht Udos Blick, um darin etwas zu finden von den alten Gefühlen. Aber der betrachtet die Lichtreflexe in seinem Glas, die helle Muster auf sein eindrucksvolles Profil werfen. Wer ihn heute ansieht, denkt an ein Landhaus irgendwo in Schottland, Schafe, eine Meute Hunde, die kläffend im Nebel verschwindet, Fuchsjagden auf feuchtem, hartem Gras. Irgendein Idiot hat ihm deswegen zum Fünfzigsten einen Dudelsack geschenkt. Udo hat ihn an die Wand genagelt und zwei antike Ledersessel aus einem Schiffskontor darunter aufgestellt. Er möchte lieber für einen Engländer als für einen Zuhälter gehalten werden. Ein schöner Mensch, und zehn Jahre älter, als er aussieht. »Der, der immer so korrekt tut, zieht sich ’ne drei Wochen getragene Unterhose übern Kopf und läßt sich dabei mit ’nem alten Socken einen runterholen …« »Du wirst unappetitlich.« »Ich? Na hör mal … da kann ich dir ganz andere Sachen …« »Ich will’s nicht hören.« »Ich erzähl’s dir trotzdem. Du kennst den Kleinen, der aussieht wie ein Lehrling, der mit diesem Riesenjeep …« »Geleast wahrscheinlich.« »… der bringt sein eigenes Werkzeug mit wie ’n Klempner, Reitpeitschen, Gummischläuche, Viehtreiber, getarnt als Golfschläger in ’nem Gefährt, wie’s die Oma durch den Aldi zieht, aber aus echtem Leder. Grad mal zwanzig ist der. Was soll denn aus dem noch werden?« »Was willst du? Du wirst hervorragend bezahlt. Weißt du, wieviel Arbeitslose es gibt?« »Und meine Sehnenscheidenentzündung? Die ist inzwischen chronisch, die geht nicht mehr weg. Die kommen doch alle nicht mehr normal, ohne daß man nachhelfen muß. Weißt du was? Ich werde mich zur Ruhe setzen.« »Unsinn.« »Im Ernst, Udo. Das wird alles immer perverser. Früher hat das Spaß gemacht. Erinnerst du dich an unser erstes Love-in mitten im Hörsaal? Der Prof kriegte fast ’nen Herzstillstand.« Während sie ihn so betrachtet, hat Rif die Vorstellung, daß er durchsichtig wird unter ihrem Blick. Sie sieht die Geste voraus, mit der er gleich am Hosenbein entlangstreicht, um seine Rede einzuleiten. Bevor er das Wort ergreift, wird er sich am Hals kratzen. Auch was er dann zu sagen hat, wird sie nicht überraschen. Sie kennen sich gut. Zu gut, findet Rif, wie zwei Kriegsveteranen, die in ihren Erinnerungen schwelgen. »Mandel hat abgesagt.« »Und?« »Er ist unser bester Kunde.« »Meiner.« »Es ist schon das zweite Mal.« »Er wird eben alt.« »Eben.« Udo seufzt wie ein Bauer, der Land verkaufen soll. »Er braucht was Junges. Er kommt in die Jahre … nicht nur er.« Rif wartet, aber er betrachtet wieder sein Glas und schweigt. »Was willst du? Soll ich umschulen oder in Rente gehen? Und wer zahlt unsere Rechnungen? Zweitausendachthundertundzweiundvierzigmarkfünfzig allein für deinen Whisky.« Sie nimmt die vor ihr liegenden Hanteln, breitet damit die Arme aus und führt sie über der Brust wieder zusammen, zwanzigmal, damit die Brust nicht schlappmacht. Udo hebt den Blick und sieht ihr zu. Dann beugt er sich vor, und ohne sein Glas abzusetzen, zeichnet er die feinen Linien nach, die ihre Bauchdecke wie ein Spinnennetz überziehen. »Glaubst du, daß es langfristig dagegen hilft?« fragt er buttersanft. Rif läßt die Hanteln wie Boxhandschuhe gegen ihn vorschnellen. Er weicht ihren Schlägen aus und richtet sich auf. »Machen wir uns nichts vor, Rif, wir können so nicht weitermachen, so kleinklein.« Er betrachtet sie bekümmert. »Du wirst nicht jünger. Wir müssen vorsorgen. Ich hab da ’ne Idee …« »Ach nee, schon wieder?« Sie legt die Hanteln zur Seite, stellt den Trainingscomputer ein und steigt auf das Band. »Verschwinde!« »Rif! Jetzt hör mir doch mal zu!« Udo ist ebenfalls aufgestanden. Rif beginnt langsam, mit ausholenden Schritten wie ein Langläufer, dabei zählt sie gleichmütig auf: »Wir eröffnen einen Nostalgiepuff, so ’ne Art Disneyland der 70er, WG-Atmosphäre, Matratzen, Apfelsinenkisten, Flokati etc., verkleiden uns als Späthippies und …« »Bleib doch mal sachlich, Rif, die 70er sind voll im Trend …« »…und engagieren ein paar Minderjährige aus Billiglohnländern für erfolgreich frustrierte Alt-68er.« »Die Mädels hocken doch in ihren miefigen postkommunistischen Löchern und lauern nur auf ihre Chance im Kapitalismus. Wir machen ihnen sozusagen ein Solidaritätsangebot.« »Die Umwertung der Sinnkrise in bare Münze. Früher hast du so was das Schweinesystem genannt.« »Früher, früher … jetzt ist nicht mehr früher. Man muß zeitgemäße Ideen haben. Die Esoteriker verkaufen dir deine eigene Wiedergeburt und sahnen mächtig ab.« »Und weiter?« »Du hast doch das Haus geerbt …«, er wirft ihr einen lauernden Blick zu, »in unseren neuen Kolonien …«, er grinst, wird aber sofort ernst, als er den Ausdruck in ihren Augen sieht. »Wenn wir es verkaufen, könnten wir …« »Verschwinde!« »Rif, sei doch vernünftig!« »Raus!« Als die Tür endlich hinter ihm zugefallen ist, geht Rififi zum Fenster und reißt es auf. Unten rauscht der Verkehr vorbei auf der Ausfallstraße zur Autobahn. Sie starrt auf die Hochhäuser am Sachsenhäuser Ufer. Jeden Tag steht sie hier und rennt auf sie zu, erst langsam, dann schneller, Steigung, Spurt, Gehen, Auslaufen, stop. Der täglich mühsamer werdende Kampf gegen das Fett und das Alter. Dabei stellt sie sich einen Wald vor mit alten Buchen und eine Lichtung auf der Anhöhe. Sie war lange nicht mehr im Wald. Ich komm in die Jahre, denkt sie und faßt die Griffe wie Keulen. Das Haus von Onkel Anton, das könnte ihm so passen. Es gibt Grenzen, auch wenn von den alten Idealen nicht mehr viel übrig ist. Soweit wird sie es nicht kommen lassen, das Erbe eines aufrechten Kommunisten zugunsten einer dekadenten Idee zu verhökern. Ihre Mutter hatte schmale Lippen bekommen, sobald die Sprache auf ihren Bruder kam. Über die Politik hatten sich die Geschwister dermaßen zerstritten, daß sie bis zu ihrem Tod nie wieder ein Wort miteinander wechselten. Ihre Mutter ging in den Westen und wählte CDU. Onkel Anton blieb drüben und »Kommunist«, ihre Mutter spuckte das Wort von sich wie einen Gallenstein. Daß ihre einzige Tochter mit den Roten sympathisierte, konnte sie nie verwinden. Wo ich dich doch ganz anders erzogen habe, Kind. Eben, Mama, deswegen, hätte Rosemarie Feodora Luise, die damals noch Rosemie gerufen wurde, ihr antworten können, es aber nie getan, weil sie ihre Mutter für unheilbar borniert hielt. Nur tote Mütter sind gute Mütter, hatte Udo gespottet, den ihre Missionierungsversuche, die auch den Hinweis auf einen ordentlichen Mann enthielten, genervt hatten. Aber auf ihrer Beerdigung war er es, dem die Tränen kamen. Auf die Traueranzeige, die Rif nach Berlin, Hauptstadt der DDR, geschickt hatte, kam nie eine Reaktion. Um so überraschter war sie über die Erbschaft. Bis heute hat sie kein Bedürfnis gespürt, das Haus zu besichtigen. Soll ich da jetzt sofort rüberfahren wie so ’n Alteigentümer? hatte sie Udo gefragt. Ich kann mich doch an Onkel Anton gar nicht mehr erinnern. Udo dagegen hatte laufend Ideen, wie man das Geld aus einem Verkauf am besten ausgeben könnte. … sich zur Ruhe setzen … gesund leben … vielleicht wieder Gesangsstunden nehmen … Das Haus hat einen Garten, sie könnte eigenes Gemüse anbauen. Rififi träumt von Obsttagen und Saftfasten, mit jedem Jahr, das sie älter wird, intensiver. An das schwebende Gefühl, mit dem sie nach einer Woche schweren Fastens das teure Kurheim verließ, denkt sie wie an eine Liebesnacht. Zu Hause war dann wieder Udo. Von Obst bekam er Ausschlag, von Gemüse Blähungen. Sie hätte ihn längst verlassen sollen. Kapitel 2 First Class Second Hand, steht an der Schaufensterscheibe. Der Ladenraum in dem teuer renovierten Altbau hat abgezogene Dielen und weiß gestrichenen Stuck an der Decke. In den Regalen liegen Pullover, an einem Rundständer hängen Jacketts und Blusen. Die Verkäuferin, ein junges Mädchen, liest in einem Taschenbuch. Dabei streicht sie eine glatte, hellbraune Strähne nachdrücklich hinters Ohr. Sie trägt Glockenmini und Häkeltop zu Wanderstiefeln. Als Rififi hereinkommt, sieht sie hoch und lächelt abwesend. Die stellt einen großen Koffer ab und zieht den Reißverschluß der geräumigen Reisetasche auf. »Wieviel Prozent nehmen Sie?« Die Kleine legt widerstrebend ihr Buch zur Seite, steht langsam auf, streicht die Haare zurück und wirft gleichzeitig einen Blick auf ihre Beine im Spiegel. »Vierzig. Die Sachen bleiben zwei Monate in Kommission, danach geht zurück, was nicht verkauft ist.« Rif klappt den Koffer auf und kippt seinen Inhalt auf die Dielen. »Ich will das Geld sofort. Fünfzig Prozent, dafür können Sie die Sachen behalten.« Das Mädchen ist verwirrt. Buch von ’ner Freundin.« »Aber … ich mach nur Aushilfe hier, ich kann das nicht entscheiden. Kommen Sie heute nachmittag, dann ist die Chefin da.« Rif lacht. Rif hält ein Kostüm hoch und dreht das Etikett nach außen. »Jil Sander. Sagt Ihnen das was? Na also, sehen Sie, das Kostüm hat viertausendachthundert Mark gekostet, Rohseide mit Leinen. Ich hab es dreimal angehabt. Ich geb es Ihnen für achthundert …« Sie legt das Kostüm über die Theke neben die Kasse. »Also ich weiß nicht …« Rif deutet auf das Buch. »Was lesen Sie da?« »Ach, so ’n Krimi.« »Und ist er gut?« Sie fährt fort, Kaschmirpullover und Seidenblusen auf die Theke zu legen. »Ich weiß noch nicht, ich hab erst angefangen, aber …« »Gab’s schon ’ne Leiche?« »Nee, nur einer ist verschwunden, der Freund von der Lehrerin.« Ihre Augen folgen ratlos Rififis Bewegungen, die einen zweiten Kleiderberg aufhäuft und dabei einzelne wertvolle Stücke gesondert hochhält. Gerade schwenkt sie ein paillettenbesticktes, schwarzes Abendkleid. »Die hat ihm ratzfatz in der Badewanne die Gurgel durchgeschnitten, seine Eier hat sie dem Hund gebraten und den Rest in Säure aufgelöst, und alles nur, weil er ihre Arbeit mit den Kindern nicht zu würdigen wußte. Ein echter Valentino nebenbei gesagt.« Sie wirft das Kleid über die anderen. »Kennen Sie das Buch?« Das Mädchen starrt sie an. »Dann les ich nicht weiter. Sonst les ich nie Krimis. Ich bin nämlich gegen Gewalt. Ich hab das »War doch nur Spaß. Bestimmt taucht er wieder auf, und sie essen zusammen Bioäpfel, während er ihr erzählt, wie er die ganze Zeit dem Ökoschwein auf den Fersen war, um die Zukunft ihrer Kinder zu retten, die sie auf der letzten Seite machen werden. So, fertig. Also wieviel?« »Aber ich sag Ihnen doch, kommen Sie morgen wieder, dann …« »Alles hochwertige Ware, kaum getragen, keine Löcher, keine Schweißflecken, keine Motten. Wieviel wollen Sie mir freiwillig dafür geben?« »Aber ich sag Ihnen doch …« Das Mädchen rudert hilflos mit den kleinen Händen. »Nun denken Sie doch mal nach. Diese Sachen sind zusammen mehr wert, als Ihre Chefin in zwei guten Monaten mit dieser Abschreibungsklitsche einnehmen wird. Die wird Ihnen die Füße küssen, wenn sie das hier sieht.« »Bestimmt nicht.« Da ist sich die Aushilfsverkäuferin plötzlich ganz sicher. »Na, dann wollen wir mal sehen, wieviel Sie heute eingenommen haben.« Rif geht zur Kasse, zieht sie auf, nimmt große und kleine Scheine raus und zählt. »Is ja nicht doll. Das da«, sie zeigt auf den Kleiderhaufen, »wird Ihre Bilanz ganz erheblich verbessern.« »Sind Sie verrückt … Sie können doch nicht … geben Sie sofort her …!« Das Mädchen zerrt ebenso verzweifelt wie vergeblich an ihrer Kundin. Ihre Stimme wird schrill, gleich wird sie in Tränen ausbrechen. »Ich ruf die Polizei!« Sie will zum Telefon greifen, aber Rif schubst sie wie ein unartiges Kind in ihren Stuhl. »Seien Sie nicht albern. Sie sind doch gegen Gewalt. Außerdem ist es doch gar nicht Ihr Geld, das Sie so mutig verteidigen. Also seien Sie ein vernünftiges Mädchen.« Sie wirft der Kleinen eine Kußhand zu. »Bleiben Sie hübsch sitzen und warten ab, bis Sie sich beruhigt haben.« Zwei Straßen weiter parkt Udos bordeauxfarbener Jaguar. Auf dem Rücksitz liegt der zerlegte Hometrainer, daneben schreit Dutschke, der rote Perserkater, nach Freiheit aus dem Katzenkorb. Fast bereut Rif, ihn mitgenommen zu haben. Aber Udo würde ihn einmal mit teurem Schabefleisch vollstopfen und dann tagelang glatt vergessen. Das hatte der alte Kämpfer nicht verdient. Sie setzt sich hinters Steuer und nimmt summend die Auffahrt Richtung Würzburg, erkennt ihren Irrtum, verpaßt am Frankfurter Kreuz eine Abfahrt und rast entschlossen Richtung Basel. Kurz vor Darmstadt wird ihr klar, daß sie sich erneut geirrt hat. Endlich auf der A3 Richtung Kassel hat sie sich kurz vor Alsfeld soweit entspannt, um lauthals mitzugrölen, was aus dem Radio schallt: »… völlig losgelöst von der Eeheeherdee, schwebt das Rahauhaumschiff …« Der Himmel ist grau. Zwischen den Bäumen liegen noch schmutzigweiße Schorfkrusten. Udos Augapfel tappert die nordhessischen Berge hoch, er ist nicht mehr der Jüngste. Bei Kirchheim folgt sie dem Hinweisschild nach Berlin und hängt in der nächsten Kurve hinter einem LKW. Den Aufkleber »Aufgepaßt Damen, meiner ist 18 m lang« vor der Nase, versucht sie zu überholen. Aber der Jaguar zieht am Berg schlecht. Udos verdammte Vorliebe für Oldtimer. Kein Mensch mit Verstand fährt so was. Endlich gelingt es ihr, hinter einem Lieferwagen auszuscheren, und sie hat freie Fahrt bis zur nächsten Baustelle. »Aufbau Ost« tröstet ein Schild mit schwarzrotgoldener Banderole die Autofahrer, die sich durchs aufgewühlte Gelände stauen. nichtssagende Gegend, findet Rif, gemessen am Odenwald oder Spessart, wo sich das Rauhe mit dem Lieblichen mittelgebirgsmäßig verbindet. Früher ist sie mit Udo oft dort gewandert. Sie haben in einsamen Gasthäusern übernachtet. Schön war das, als er noch für die Revolution und nicht so hinterm Geld her war. Rif tritt aufs Gas, der Wagen heult auf, bewegt sich aber keinen Meter schneller vorwärts. Draußen stinkt es nach Benzin und heißem Teer. Sie schließt das Fenster und fummelt am Radio. Aber trotz genauer Frequenzangaben auf Schildern neben der Straße läßt sich kein Sender knatterfrei einstellen. Durch das Rauschen tönt von irgendwoher Julio Iglesias, dieser Sahnetrüffel für die späten Jahre, übertönt von den Prinzen: »Du mußt ein Schwein sein in dieser Welt.« Plötzlich überfällt sie die ganze Vergeblichkeit ihres überstürzten Aufbruchs. Gehen oder bleiben, was macht das schon für einen Unterschied? Auch bürgerliche Träume verschleißen schließlich mit den Jahren. Als das Gefühl überhand nimmt, fährt sie dem Hinweisschild »Teufelstal« nach und stellt den Jaguar neben einen dunkelblauen Golf auf den fast leeren Parkplatz. Im Hintergrund ragen Stahlgerüste aus einer Baugrube, wo die neue SuperRaststätte hinkommen soll. Aber vorläufig steht noch das alte Gasthaus zwischen den Kiefern. Eine Schiefertafel vor dem Fachwerk zählt auf, was im Angebot ist: Eis, Linseneintopf, Broiler, Thüringer Bratwurst. Rif spürt keinen Appetit. Hinter der mit F gekennzeichneten Tür stolpert sie unversehens über ihre Kindheit. Der beißende Geruch nach Sauberkeit ist der gleiche wie damals, als sie zum Zunehmen aufs Land geschickt wurde. Und die grauen Holztüren lassen sich nur mühsam mit den gleichen verbogenen Haken verschließen, die damals ihre kindlichen Kräfte überfordert haben. Heulend sinkt sie auf die verrutschende schwarze Plastebrille. In einer zur Tankstelle gewendeten Grenzstation füllt sie Benzin nach. Der Wagen säuft wie ein Liebeskranker. Rif kauft Zigaretten und zwei Flaschen Mineralwasser. Hinterher schäumt sie ihre Hände lange mit der stark nach Maiglöckchen riechenden Seife ein, läßt Wasser laufen und kühlt ihr Gesicht in den hohlen Händen. Willkommen in Thüringen! grüßt ein Schild vom Straßenrand. Ziemlich Vor der Tür atmet sie tief durch, wie es ihre Mutter bei jedem Waldspaziergang vorgeatmet hat, und kramt nach ihren Zigaretten. Ihr Blick fällt auf eine neue Telefonzelle. Udo herunterzuputzen, würde ihr neuen Schwung geben. Wahrscheinlich macht er sich bereits Sorgen um den Jaguar. Sie geht hinein und wählt. »Komm schon, nimm ab …«, murmelt sie vor sich hin, während sie widerwillig ihrer eigenen, erotisch hingestöhnten Ansage lauscht. Nach einer Zigarettenpause versucht sie es noch einmal. Aber keiner nimmt ab. Rif bemerkt zu ihrer Verwunderung, daß sie sich ärgert. Wie kommt dieser orientalische Fliegenhändler dazu, Udos Glanzstück zu beleidigen? »He! Das ist ’n teures Auto.« »Teuer egal, nix gut das Scheißeauto! Hättest du gefahren Mercedes oder BÄEMWÄ, sie hätten genommen deine Auto, nicht meine.« Hier übermannt ihn erneut der Schmerz, und voll neu erwachter Wut bearbeitet er den Lack. Jetzt wird Rif böse. Sie packt ihn an der Jacke und zerrt ihn vom Auto weg. »Nun reicht’s. Wenn der Lack ’nen Kratzer kriegt, tickt mein Freund aus.« Kapitel 3 Er läßt sich überraschend widerstandslos wegziehen und sieht interessiert auf sie herunter. »Wo deine Freund?« Als sie nach einem weiteren vergeblichen Versuch zum Parkplatz zurückkehrt, lehnt an Udos ängstlich gehütetem Fahrzeug ein betrunkener Riese und trommelt mit den Fäusten auf den makellosen Lack, dabei grunzt und schluchzt er wie ein tödlich getroffener Wasserbüffel. Rif tritt näher. »Ist ja wohl egal.« Unvermittelt breitet er die Arme aus, als wolle er sie umarmen. Dabei bricht er in brüllendes Gelächter aus. Rif schließt die Fahrertür auf. Der Riese boxt gegen die Scheiben und tritt mit verzweifelter Inbrunst gegen die Reifen. Rif tippt ihm auf die Schulter. »Egal, egal … alles egal!« Sein aufgerissener Rachen entblößt rechts im Oberkiefer zwei Zahnlücken, sein Bieratem läßt sie zurückweichen. Als er ihren Blick bemerkt, zieht er verlegen seinen Schnurrbart über die Zähne und holt Zigaretten aus der Tasche. Mit ausgestrecktem Arm gibt er ihr Feuer, als fürchte er plötzlich, sie oder das Auto zu berühren. »Nun reicht’s! Schieb ab!« »Hast du schon die Polizei angerufen?« Sie zeigt mit dem Daumen über die Schulter, wo’s ihrer Meinung nach lang geht. Der Riese hebt den Kopf. Seine grünen Augen fixieren sie. Wolfsaugen, denkt sie gerade, da stürzt er sich ohne Vorwarnung auf sie, reißt ihre Hand an sich und küßt sie. »Polizei?« Er sieht sie verächtlich an. »Polizei was machen? Nix bringen mein Auto.« »Scheißauto!« brüllt er und verliert sich in unverständlichen Lauten, die nichts Gutes verheißen. »Schönes Frau … meine Auto … du verstehen? Meine Auto zapzarap …«, hier unterbricht eine Flutwelle fremdländischer Schimpfwörter seine Erklärung. »Meine Auto, gut Auto, prima Golf.« Er ballt die Fäuste. »Nicht das Scheiße hier!« Er tritt gegen die Felgen. »Und jetzt?« Er zuckt die Schultern. »Warten. Bis Kollegen kommen, immer polnisch Kollegen kommen hier essen.« »Schwarzarbeiter?« »Ich schwarz Neger?« fragt er ironisch zurück. Eben noch ein Berserker des Schmerzes, scheint sein Kummer mit einem Schlag verflogen. Rif betrachtet ihn, wie er gelassen an seiner Zigarette zieht und sie seinerseits mustert. hat. Glaubst du an die Revolution? An den Sieg der Arbeiterklasse? »Bis Berlin könnte ich dich mitnehmen.« »Jedenfalls glaub ich an keine verdammte Religion. Euer Papst ist doch ein frauenfeindliches Arschloch«, sagt sie genüßlich und wartet gespannt auf seine Reaktion. »Berlin? Warum nein?« Er ist nicht beeindruckt. Am liebsten würde sie ihn gleich stehenlassen. »Steig ein«, sagt sie knapp. »Papst vielleicht ja«, meint Arkadiusz friedlich und legt den Kopf in den Nacken, damit das Bier leichter seinen Weg findet. »Aber Gott nein.« In seiner Nylontasche klappern Dosen, als er sie hochhebt. Damit döst er zufrieden vor sich hin. Bald darauf ist er eingeschlafen. »Arkadiusz«, stellt er sich vor und reicht ihr mit einer förmlichen Verbeugung eine rauhe Hand. Er erwacht erst von der plötzlichen Stille, als Rif unter dem mattgelben Licht einer Laterne den Motor abstellt und entsetzt die zerfressene Fassade anstarrt, nachdem sie sich noch einmal vergewissert hat, daß sie die richtige Adresse gefunden hat. »Ach du lieber Gott …« »Rif.« »Das ist Name?« Ohne zu antworten läßt Rif den Motor an und fädelt sich in den dichter werdenden Berufsverkehr ein. Eine Wolke ballt sich am Horizont. Der Himmel flammt glühend auf, dann frißt die Dämmerung alle Farben. Schwarz kommt die Nacht. Rif raucht und fährt den Rücklichtern hinterher. Dutschke hat sich heiser geschrien und schläft. Ihr Beifahrer reißt eine neue Dose auf. »Ich katholisch und du?« Rif hebt einen Moment die Hände vom Steuer und schlägt sie quer durch die Luft. »Nichts.« »Nix was? Protestant, Muselman?« »Nein. Gar nichts. Keine Religion. Nix. Null.« Die aufgerissene Bierdose dicht vor den Lippen, sieht er zu ihr hinüber. »Du glauben an Gott?« Rif wirft ihm einen schnellen Blick zu, übersieht dabei fast einen überholenden Motorradfahrer, der sich im Vorbeifahren an den Helm tippt, und versucht sich zu erinnern, wer ihr zuletzt eine so dämliche Frage gestellt Arkadiusz wirft einen müden Blick auf das Haus. »Das viel Arbeit«, meint er schläfrig und fängt unvermittelt an zu schnarchen. Kapitel 4 Heftige Kopfschmerzen hämmern sie trotz Gegenwehr wach, und sie versucht sich zurechtzufinden. Etwas sticht im Kreuz. Rif zieht ihren tauben Arm unter Dutschke vor, der gestört knurrt, und wälzt sich von dem verbeulten Sofa. Benommen und ohne Zeitgefühl tappt sie durch das Halbdunkel. Durch die zugenagelten Fenster fällt kaum Licht. Dabei wird ihr allmählich klar, was sie geweckt hat. Über ihr, dort, wo angeblich eine alte Dame ein lebenslanges Wohnrecht hat, tobt das Leben im Supersound von Techno oder Heavy Metall. Außerdem stinkt es. Dutschke hat sich unter dem Tisch erleichtert. Vom gleichen, dringender werdenden Bedürfnis getrieben, braucht Rif lange, bis sie in einer Besenkammer im Treppenhaus, verborgen unter einem orangeroten Boxhandschuh, die Toilette findet. Noch länger dauert es, bis sie einen Wassereimer findet, da die Wasserspülung nicht funktioniert. Der Lärm hält unvermindert an. Mit dröhnendem Schädel steigt Rif die Treppe zum zweiten Stock hinauf. Ada Otter steht eingekerbt und rot ausgemalt auf dem ovalen Holzstück neben der Tür. Nachdem sie ein paarmal auf die Schelle gedrückt hat, öffnet eine große Frau in einem bodenlangen, schwarzen Kaftan mit Goldstickerei am Ausschnitt. Sie hat die strengen Züge und den starken Knochenbau einer märkischen Bäuerin, kombiniert mit dem karottenfarbenen Raspelschnitt einer minderjährigen Punkerin. »Was wollen Sie?« brüllt sie. »Die Musik …«, schreit Rififi zurück und starrt verblüfft auf die silbernen Eidechsen, die die Ohrläppchen der Frau so langziehen, daß sie fast die Goldstickerei berühren. Die Frau muß mindestens siebzig sein. Sie mustert Rif aus wasserhellen Augen von unten bis oben, als wolle sie Maß nehmen, dann knallt sie ohne ein weiteres Wort die Türe zu. Hinter der Tür dröhnt es ungedämpft weiter. Eine Hand am hölzernen Geländer, um ihrem Schädel jede weitere Erschütterung zu ersparen, steigt Rif vorsichtig die Treppe hinunter. Das überdimensionierte Treppenhaus kommt diesem Vorhaben entgegen. Die flachen Stufen führen in einem weiten Bogen so allmählich nach unten, auf daß die Herrschaft angemessen wirkungsvoll zu Tal schreiten konnte, wo sie von einer staunenden Gästeschar oder mürrischen Dienstboten erwartet wurde. Aus und over. Jetzt ballen sich schwarze Kabel in den Ecken zu drohenden Knäueln, und die herunterlappenden Tapeten erzählen von den zahlreichen Versuchen, den Hochmut der einst feudalen Schönen zu zähmen. Die jüngste Schicht zeigt ein scheußliches Blumenmuster in braunorange mit silbern schimmernden Rhomben. Jemand kommt die Treppe herauf. Im ersten Augenblick hält Rif ihn für eine Erscheinung, die den alten Wänden entstiegen ist. Aber als er auf gleicher Höhe ist, weht ein wohlriechender Schal an ihrem Ohr vorbei, und mit einem hochmütigen Ausdruck über einem vanillefarbenen Anzug schwebt der athletische Jüngling grußlos an ihr vorüber die Treppe hinauf. Rif starrt dem Beau hinterher, wie er über den heruntergefallenen Putz höher gleitet. Seide auf sozialistischem Restmüll, fährt es ihr durch den Kopf. Verblüfft beobachtet sie, wie er nach kurzem Klopfzeichen in dieselbe Wohnung eingelassen wird, von deren Schwelle sie gerade rüde gewiesen wurde. Sie stützt sich auf das Treppengeländer, das in einem geschnitzten Löwenkopf endet, und scharrt den Mörtel von den Sohlen. Von vielen Händen poliert, glänzt das Holz wie lebendig. Der Löwe schüttelt im unruhigen Licht die Mähne, und ein lautloses Brüllen hallt durchs Treppenhaus. Rif steckt einen Finger zwischen seine Zähne. »Hallo Kollege.« Etwas Weiches streicht um ihre Beine. Erfreut, daß er sie gefunden hat, reibt Dutschke sich an ihren Waden. Rif hebt ihn hoch und krault seinen Bauch, bis er mit den Hinterbeinen strampelt. Sie öffnet die Haustür. »Frische Luft ist gesund, alter Knabe. Du wirst in Zukunft draußen … au!« Dutschke faucht und gräbt seine Krallen in ihren Arm. In dem verwahrlosten Beet vor der Tür steht ein kleiner, schwarzweißer Hund und preßt mit konzentrierter Miene etwas aus sich heraus, während ein dickes Mädchen vor dem Zaun an seinem Rad lehnt und ihn dabei unterhält. »… die stecken uns in gläserne Zellen. Wenn du drin bist, kannste alles sehen und hören, sogar herumlaufen kannste, aber keiner hört dich. Da kannste schreien, wie du willst. Du verhungerst, einfach so, und keiner merkt was. Furchtbar ist das. Also halt dich in Deckung, mein Schatz, ich würd sterben, wenn dir was passiert …« »He«, sagt Rif. Der Hund scharrt, daß die Brocken fliegen, während das Mädchen weiterredet. »… denken, die könn sich einfach so breitmachen, ihre perversen Experimente machen mit uns. Die lauern hinter den Fenstern und zielen auf uns mit ihren Laserpistolen. Aber wir sind auf der Hut, was, mein Herz? Ham se sich so jedacht. Wir warn vorher hier …« »He«, versucht Rif es noch einmal lauter, »ist das dein Hund?« Der schlüpft erleichtert durch den Zaun und springt an dem Mädchen hoch. Die schiebt ihr Rad weiter, ohne Rif zu beachten. »… brauchst nich so zu kieken, war doch nur Quatsch. Brauchst keene Angst haben …« Der Hund hüpft neben ihr her, während sie ununterbrochen auf ihn einredet. Rif starrt ihnen nach. Schließlich reißt sie sich für einen Rundgang durch den Garten los. Was hat sie erwartet? Blühende Rosenstöcke zwischen duftendem Lavendel? Margariten? Malven? Selbst wenn dafür noch nicht die Zeit ist, wird schnell klar, daß die in diesem Garten nie geblüht haben. Ihr Onkel war offensichtlich ein zwanghafter Spießer, ein Säufer und ein Umweltschwein. Nebeneinander in den Boden gedrückte Weinflaschen begrenzen das Beet, unter der Hecke lagern Autoreifen, ein ausrangierter Herd und Möbelteile verteilen sich rund ums Haus, das im Tageslicht seine Wunden zur Schau stellt, anklagend und selbstgerecht wie eine sitzengelassene Braut. Seht her, so schön war ich, und er wußte es nicht zu schätzen, der Verbrecher. Ernüchtert betrachtet Rif die bröckelnden Verzierungen. Über eine halbe Wand hat sich der Putz fast vollständig von der Fassade gelöst. An der Unterseite des Balkons liegen die Stahlträger frei. Darüber weist das graziös verrostende Balkongeländer spöttisch zum Himmel. Am Gartenende überwuchert ein Fliederbusch einen morschen Schuppen. Eine zottige Kiefer mit staubigen Nadeln steht wie eine Vogelscheuche mitten im holprigen Rasen. Besenkammer, hat die Kloschüssel abgeschraubt und stochert im Abfluß. »Das muß«, sagt er und beginnt den Boden aufzustemmen. »Alles Scheiße.« Wie selbstverständlich nimmt er alles sofort in seine fachkundigen Hände. Das muß, meint er ungerührt, wenn sie ihn fragt, warum er ein Loch in die Wand hackt und die Dielenbretter aufreißt. Du mußt kaufen … beginnt der nächste Satz. Wenn er ein Wort nicht weiß, malt er kleine Zeichnungen auf die Wand: Spachtel, Zollstock, Schrauben, Bohrmaschine, Wasserwaage. In Rauchpausen malt er Hunde, Hühner, Pferde und Schweine daneben und, wenn sie nicht hinsieht, vollbusige Frauen mit wallendem Haar, die er in Windeseile zumalt, sobald Rif sich nähert. Ein, zwei, vielleicht drei Tage, hat sie gedacht, dann ist das Gröbste repariert, dann wird man weitersehen. Aber die Baustelle wächst, und noch immer ist kein Ende abzusehen. Sie hat mit ihrer Bank telefoniert und in der kleinen Buchhandlung ein polnisches Wörterbuch bestellt. Statt sich zu besinnen, zu malen, zu meditieren und all das Zeug, von dem sie gelesen hat, daß es gut sein soll für den Geist und Vorbeugen fürs Alter, kratzt sie Tapete von den Wänden und karrt Mörtel und Fliesen in Udos gutem Stück heran, das sich schon nicht mehr ähnlich sieht. Gedankenverloren steht sie auf einem Haufen Schutt und reißt Stücke der geblümten Tapete von den Wänden. »Der gleiche Spießergeschmack wie meine Mutter. Dabei war er doch Kommunist.« »Kommunist Scheiße«, meint Arkadiusz. »Bist du abergläubisch?« fragt sie ihn. Die kommt weg, beschließt Rif fröstelnd. »Ich was?« Aus dem Innern des Hauses dröhnen heftige Schläge. Als sie beunruhigt hineingeht, kommt ihr im Eingang eine kleine Frau mit schrägen Augen entgegen, die mit einem Lächeln an ihr vorbei nach draußen huscht. »Ich bin Löwe, verstehst du?« Den Lärm macht Arkadiusz, den sie fast vergessen hat. Er kniet in der Sie packt einen Sessel bei der braunen Plastiklehne und zerrt ihn zur Tür. »Das fliegt alles raus.« Mit dem Sessel als Rammbock drückt Rif die Haustür auf und hätte fast eine zierliche Frau mit einem blonden Pferdeschwanz umgeworfen, die davor steht und sie anlächelt. »Blaskiewitz, Ewa Blaskiewitz«, sagt die Blonde mit einer dunklen Stimme, die nicht zu ihr zu passen scheint, und ergreift Rifs Hand, die den Sessel loslassen muß, der daraufhin der Blonden auf den Fuß kippt, die aber ihre Hand nicht losläßt. Rif fühlt, wie sie weich umschlossen und geschüttelt wird. »Freut mich. Ich wohne gegenüber.« »Entschuldigung«, sagt Rif. »Sie sind doch Antons Verwandtschaft. Ich dacht mir, vielleicht hätten Sie Lust aufn Kaffee und nich die Möglichkeit, sich ein zu kochen. So wie det hier aussieht.« Rif sieht eine Thermoskanne in dem Korb, den die Blonde in der Hand hält, und stützt den Sessel auf ihrem Fuß ab. Ohne Zigarette fühlt sie sich soviel argloser Freundlichkeit nicht gewachsen, sie kramt nach der Packung und hält sie der Besucherin hin. Die wehrt ab. »Nee, besten Dank, ich war früher mal beim Sport, Schwimmen. Da durft man ja nich, und so hat man sichs nie angewöhnt, is ja auch nich falsch, oder? Spart ’ne Menge Geld.« Vorsicht!« Sie läßt den Sessel die Stufen hinunter auf den Gerümpelhaufen poltern, wo schon der restliche Hausrat liegt. »Wollen Sie det allet wegschmeißen?« Rif gibt keine Antwort und geht voraus in die Küche, wischt Tapetenreste vom Tisch und holt drei Sammeltassen aus dem Wandschrank. »Die hat Anton aus Ungarn mitgebracht«, weiß die Besucherin, holt eine Schachtel Cremehütchen aus der Tasche und legt sie auf den Tisch. Dann läßt sie sich in den letzten, vom Rausschmiß verschonten Sessel fallen und tätschelt die Lehne wie einen vertrauten Hund. »Anton hatte den immer vorm Fernseher zu stehen.« Rif setzt sich rittlings auf einen Küchenstuhl und stützt das Kinn auf die Lehne. Arkadiusz, der kurz hereinkommt, trinkt seinen Kaffee im Stehen und verschwindet wieder. Man hört ihn irgendwo rumoren. Rif betastet besorgt ihren Arm, er wird langsam taub. Teile der Tapete sitzen wie angewachsen. Ewa Blaskiewitz sieht sich um. »Hat sich nichts verändert seit Antons Tod. Nur dreckiger isset geworden. Sie werden doch bleiben, oder?« Rif nimmt einen tiefen Zug. Rif meint, einen ängstlichen Unterton herauszuhören, und zuckt die Schultern. »Eigentlich will ich es mir auch abgewöhnen.« »Sie kannten Onkel Anton?« Arkadiusz kommt aus der Tür, nickt kurz zu ihnen hinüber und verschwindet mit einem Spaten um die Hausecke. Die Blicke der Nachbarin folgen ihm interessiert. »Na sicher. Wir waren doch Nachbarn.« »Haben Sie Kinder? Wissen Sie, seit der Wende isset richtig still geworden hier. Viele sind rübergezogen in Westen. Kriegen mehr Geld drüben, muß man ja verstehn. Aber wieder mehr Leben in der Nachbarschaft wär schön.« Rif zieht an ihrer Zigarette. »Kaffee wär nicht schlecht. Ich hab keine Kinder. »Und was war er für ein Mensch?« Ihre Nachbarin sieht sie überrascht und mißtrauisch an. »Über Tote soll man ja nicht schlecht reden, aber Sie wissen ja, wie Anton war. Der wurd nicht besser mit dem Alter. Aber Flieder durft ich mir immer holen, so viel wie ich wollte.« »Ich kann mich an Onkel Anton nicht mehr erinnern. Ich war noch klein, da ist meine Mutter mit mir weggezogen. Seither haben wir nichts mehr von ihm gehört.« Weil die Blonde sie weiter so merkwürdig ansieht, fügt sie hinzu: »Sie hatten Streit, meine Mutter und ihr Bruder. Wegen der Politik.« »Na, det is ja nun vorbei«, meint die Nachbarin und läßt den Blick durch den Raum wandern. »Da kann man doll was draus machen hier«, sagt sie eifrig und beugt sich vor, »so ’n richtijet kleenet Schloß.« Von oben dröhnt wieder Musik. Rif verzieht den Mund und deutet mit dem Daumen nach oben. »Kennen Sie die auch?« »Ada? Die kennt jeder hier, war bei uns ’ne bekannte Malerin, kriegte ’ne Menge Preise.« »Was malt die so?« »Bäume. Nur Bäume. Komisch, nicht? Zu Ostzeiten hat sie viel ausgestellt, konnte man überall was finden von der. Sogar bei uns im Schwimmbad hat sie ausgestellt. Aber seit der Wende nix mehr.« »Ist wohl ’ne schwierige Person«, meint Rif gedehnt. Die Blonde hebt die Schultern und sieht sie ausdruckslos an. »Nach dem, was wir hier so allet hinter uns haben, kein Wunder, finden Sie nicht?« Sie erhebt sich. »Ich will Sie nicht von der Arbeit abhalten. Ham Se ja genug von. Wenn Sie Hilfe brauchen … ich wohn schräg gegenüber, die Nummer zehn.« Sie schiebt die restlichen Cremehütchen zurück, die Rif ihr hinhält. »Für Sie. Die laß ich Ihnen da.« Mit einer Geste auf die Hanteln am Boden fragt sie: »Sind Sie auch Sportlerin?« »Nee, nur freizeitmäßig«, sagt Rif, »und hier bin ich bisher nicht mal dazu gekommen.« »Ich hätt es fast bis zur Europameisterschaft geschafft«, fängt ihre Besucherin an und faßt sich mit der Hand ins Kreuz, dann winkt sie ab. »Is lange her. Jetzt sitz ich an der Kasse vom Schwimmbad im FEZ. Muß man schon froh sein heute. Schönet Bad übrigens. Kann ich nur empfehlen. Wie gesagt, wenn Se wat brauchen …« Rif sieht ihr nach, bis sie durch die Tür ist. Dann steht sie auf und wirft die Cremehütchen in die Mülltüte. Sie ist begierig, wieder an die Arbeit zu kommen, und kann es kaum erwarten, die Räume nach ihren Vorstellungen zu gestalten, ohne auf Udos postrevolutionären Country-Geschmack Rücksicht nehmen zu müssen. Ihr schweben kräftige, warme Farben vor, Terrakotta, Ziegelrot, Zimt, die Stuckkante vielleicht abgesetzt in dunklem Ocker oder hellem Mintgrün. Keine Tapete, keine Vorhänge. Der erste Blick des Tages soll auf die graziöse Birke vor dem Fenster treffen, grüne Schleier im Sommer, zarte Tuschezeichnungen im Winter. Arkadiusz streckt den Kopf zur Tür herein und sieht sich vorsichtig um. »Frau weg?« Er kommt ganz herein und drückt die Tür nachdrücklich hinter sich ins Schloß. »Chef, guck mal!« Rif starrt auf das Ding, das er ihr auf der ausgestreckten Hand entgegenhält. Dann sagt sie ärgerlich: »Laß den Scheiß!« »Ich nicht machen das Scheiße«, sagt Arkadiusz und betont jedes Wort, als koste es ihn Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. Sein Gesicht hat die Farbe von Tapetenkleister. »Das tot Mann.« Er wischt Erde weg, damit sie bessere Sicht hat. Rif starrt auf seine Hand in der sicheren Erwartung, daß das Ding sich unter ihrem nüchternen, unbestechlichen Blick wenn schon nicht in Luft auflösen, so doch als Plastik herausstellen wird. »Wo?« fragt sie mißtrauisch und berührt das Ding vorsichtig mit der Fingerspitze. Arkadiusz zeigt nach draußen. »Nicht tief. Vielleicht halbe Meter. Ich suchen Leitung.« Da ist ein Trick dabei, denkt sie, ich muß ihn nur herausfinden, dann wird er dumm dastehen mit seiner lächerlichen Furcht. Arkadiusz legt das Ding auf den Tisch neben die halbvolle Kaffeetasse. Von dort starrt es aus leeren Augenhöhlen herüber. »Sieht aus wie echt«, gibt sie zu und tippt das Teil an, und es wackelt und rollt über den Tisch, federleicht wie alte Knochen, die lange in der Erde gelegen haben. Rif schluckt und hält sich an der Tischkante fest. Kein Trick. Der Schädel ist ein Schädel, ein Schädel, ein … Jetzt steht sie dumm da und beißt sich auf die Lippen. Arkadiusz beobachtet sie. »Polizei?« fragt er zögernd, und man sieht ihm an, daß er nicht begeistert ist von seinem Vorschlag. Die Bullen holen? Rififi versucht, sich zu konzentrieren. Ihr fallen die Wasserwerfer ein. Das Tränengas. Sie fühlt wieder die blauen Flecke an ihren Oberarmen. Widerstand gegen die Staatsgewalt, hieß das. Polizeistiefel, die durchs Haus trampeln. Verhöre. Was wollen Sie hier? Wonach haben Sie gegraben? Sie geben die Beschäftigung eines Schwarzarbeiters zu? Sie würden in ihrer Vergangenheit wühlen und eine Hure ausgraben. Was anderes geht in diese Schädel nie rein. Hüben wie drüben. Männerphantasien sind wahrscheinlich das einzige gesamtdeutsche Phänomen, das keiner Wiedervereinigung bedurfte. Mit der Ruhe wäre es vorbei, ihr taufrischer Traum wäre ausgeträumt, bevor er richtig losgegangen ist. Sie strafft sich. »Quatsch. Der ist aus dem Krieg. Den vermißt keiner mehr. Grab ihn wieder ein. Tiefer!« Erleichtert befolgt Arkadiusz ihre Anweisung. Kapitel 5 Trotz Muskelkater ist Rif wunderbar ausgeschlafen aufgewacht. Draußen zwitschern die Vögel wie wild. Sie öffnet das Fenster und grinst nach ein paar Atemzügen grundlos ins Freie. Frühling! Die Zeit, wenn sie endlich wieder Kniestrümpfe tragen durfte statt der verfluchten Leibchen und Pirat werden wollte oder Cowboy. Aber Frühling ist eine chemische Reaktion, die auf Paarung aus ist. Und die hat sie Gott sei Dank hinter sich. Sie hört Arkadiusz mit der Bohrmaschine, und ihr fällt wieder die Malerin ein. Soll sie sich ruhig beschweren. Heute morgen ist sie sogar bereit, der alten Natter zu verzeihen. Wahrscheinlich fürchtet sie, daß Rif nur gekommen ist, um sie rauszuekeln. Ängstlich hatte sie allerdings nicht gewirkt, ganz im Gegenteil. Warum sie immer nur Bäume malt? Sogar diese Nachbarin hatte das merkwürdig gefunden. Bäume! Rif gähnt und breitet die Arme aus, als wolle sie die ganze verführerische Luft umarmen, und geht ins Bad. Dort steht Arkadiusz und klemmt ein Rohr ab. »Morgen Chef.« »Einen wunderschönen guten Morgen, Arkadiusz!« Beinahe hätte sie auch ihn umarmt. Er wirft ihr einen beunruhigten Blick zu. »Du mußt kaufen neue Rohr.« Auf dem Weg zum Baumarkt verfährt sie sich nur noch selten, weil sie gelernt hat, Hinweisschilder, die noch zur Irreführung des eingedrungenen Klassenfeindes dienten, zu ignorieren. Manchmal drängt sich ihr allerdings der Eindruck auf, daß sie eine langzeitarbeitslose ABM-Kraft damit beschäftigen, die Verkehrsschilder täglich umzustellen. »Wird vielleicht och besser«, murmelt einer, »braucht allet seine Zeit.« Die schwarzen Fassaden der Häuser, die vernagelten Fenster, zugemauerten Eingänge und ausrangierten Couchgarnituren in den Vorgärten sind ihr inzwischen so vertraut wie der säuerliche Rauchgeruch in der Luft, der Erinnerungen weckt. »Nein«, sagt der in dem Popelinblouson streng, »das wird nicht besser. Das wird schlechter. Bis wieder ein starker Mann drankommt. Hatten wir alles schon mal.« Heil Hitler! hatte mit dicker schwarzer Farbe an der halb eingestürzten Kellerwand eines birkenbewachsenen Trümmergrundstücks gestanden. Als ein Nachbarjunge beim Mittagessen »Heil Hitler« gesagt hatte statt »Guten Appetit«, hagelte es Ohrfeigen. Genau sieben Stück, hatte er hinterher stolz berichtet. Es folgten Heulkrampf der Mutter, Schreianfall des Vaters, danach war er für den Rest des Tages auf sein Zimmer geschickt worden. Ficken oder Fotze brachten höchstens zwei Ohrfeigen und nur bei richtig fiesen Eltern Hausarrest. Heil Hitler war so zum Spitzenreiter auf der geheimen Hitliste geworden, die wunderbare Freundschaften stiftete. Willst du ein ganz schweinisches Wort wissen? Aber dafür leihst du mir dein Fahrrad, einverstanden? Eine glückliche Zeit. Rif hält stumm ihre Mark für die Zeitung hin und hofft, daß keiner sie anspricht. »Sechs Schrippen«, sagt sie zu der melancholisch dreinschauenden Verkäuferin im Bäckerladen nebenan und fühlt sich schon wie eine Einheimische, weil ihr das Wort so glatt von den Lippen geht. Die Gestalt kommt ihr bekannt vor. An dem blonden Pferdeschwanz erkennt sie die nette Nachbarin mit den gräßlichen Cremehütchen von gestern. Sie steht am Briefkasten vor dem Plattenbau schräg gegenüber und kehrt ihr den Rücken zu. Rif bremst ab und dreht die Scheibe runter. Im Zeitungsladen ist es voll. Es ist Mittwoch, und Mittwoch ist Mittwochslotto. Da stehen die künftigen Millionäre Schlange. »Det ist ja wie früher«, witzelt einer. »Und ick sach dir, die wählen den Kohl nochma«, meint sein Vordermann. »Ick vasteh die Leute nich. Wat hat denn der sojenannte Aufschwung jebracht? Läden, wo se uns wat verkoofen könn’, neuseeländische Appel und holländische Gurken.« »Hallo, Frau …«, wie hieß die noch gleich? Sie kann sich nicht erinnern und winkt statt dessen heftig aus dem Fenster, um sich bemerkbar zu machen. Die Frau reagiert nicht. Entweder ist sie schwerhörig oder tief in Gedanken. Rif will gerade weiterfahren, da dreht sie sich so ruckartig zu ihr rum, daß ihr der Pferdeschwanz ins Gesicht schlägt. Sie starrt Rif an wie einen Angreifer. Ihre Augen sind weit aufgerissen und scheinen Rif nicht wiederzuerkennen. In der Hand hält sie einen aufgerissenen Briefumschlag. »Hallo …«, sagt Rif noch einmal lahm, »ich …« »Wer verdient denn hier noch?« fragt ein älterer Mann mit Prinz-HeinrichMütze und Popelinblouson in die Runde und gibt sich selbst die Antwort. »Die Fidschis und die Mafia. Und an der Börse machen se Jewinne.« Als er dran ist, blättert er drei Hunderter für Lottoscheine auf den Tresen. Die Frau bewegt den Mund, ohne sich zu rühren, und beginnt zu husten. »Und inzwischen verfällt allet. Die Häuser, da will doch keener mehr rin. Glauben Se bloß nich, daß die Bonner in Häuser ziehn, wo mal die Russen drin jewohnt ham.« Sie zittert jetzt am ganzen Körper. »Das Schwein«, krächzt sie nach Atem ringend ins Leere. Plötzlich wird sie schrill. »Diese Drecksau!« »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Rif öffnet die Wagentür. Aber bevor sie aussteigen kann, dreht sich die Blonde um und geht ohne ein Wort ins Haus. Die Tür schlägt hinter ihr zu, und Rif zögert einen Moment, ob sie ihr folgen soll. Vor ihrem eigenen Gartenzaun lehnt das dicke Kind an seinem Rad und beobachtet die Szene interessiert. Das Gör dreht nicht mal den Kopf, als Rif den Wagen neben ihr parkt. Rif steigt aus und wirft einen Blick in ihre Richtung, der folgenlos abprallt. »Schöner Tag, wie?« sagt Rif laut, nachdem sie die Sachen aus dem Wagen geholt hat. »Du redest wohl nur mit Hunden?« Das Mädchen starrt wortlos durch sie hindurch. »Wo hast du denn heute deinen Hund?« Bevor sie ihn sieht, hört sie ihn jiepernde Laute des Jagdeifers ausstoßen. Er hat sich wohl darauf besonnen, daß seine Vorfahren Fuchsbauten ausgehoben haben. Rif kommt gerade dazu, wie er sich abmüht, seinen Fund ins Maul zu nehmen, um ihn seiner Fürstin vor die Füße zu legen. Er hebt den Kopf, als er Rif kommen hört. Der schwarze Fleck über dem linken Auge sieht aus wie eine Augenklappe. Knurrend verteidigt er seine Beute, gibt aber schnell auf, als Rif ihn anbrüllt und drohend mit den Armen fuchtelt. Mit bedauerndem Winseln flitzt er davon und verschwindet um die Hausecke. Rif blickt sich um. Niemand ist in der Nähe zu sehen. Dank der großen Gärten stehen die nächsten Häuser weiter weg. Getarnt unter der Brötchentüte trägt sie den inzwischen vertrauten Gegenstand ins Haus. »Ich hab doch gesagt tiefer, du Idiot«, schreit sie Arkadiusz an, der ihr entgegenkommt und die Hand nach dem Rohr ausstreckt. Statt dessen hält sie ihm den Schädel hin. geworfen hatte, nahm er es gelassen. Laß es raus! hatte er sie noch ermuntert, hinterher fühlst du dich besser. Zu erschöpft und harmoniebedürftig, um seinen diversen Vorhaben noch großen Widerstand entgegenzusetzen, wie er wohl wußte. So blieb alles beim Alten. Plötzlich fehlt er ihr. Arkadiusz ist anders. Nie hätte sie vermutet, daß der Kerl derart empfindlich ist. Er plustert sich auf wie ein Truthahn. »Ich Arschloch? Ja?« fragt er drohend. »Ich Idiot?« Er reißt sich das Hemd auf, wo auf der breiten Brust ein Kruzifix baumelt wie ein einsames Marterl im Wald, und klopft auf seinen Zeugen der Verteidigung. »Das meine Gott.« Rif betrachtet ihn fasziniert und vergißt einen Moment ihren Ärger. Plötzlich steht die blonde Nachbarin in der geöffneten Tür und hält erschrocken ein Glas Marmelade vor die Brust. »Ich wollt nicht stören.« Rif hat gerade noch Zeit, den Schädel unter einer Plastiktüte zu verstecken. Da hat auch Arkadiusz sie entdeckt und dreht sich zu ihr um. Sie duckt sich, als er auf sie zugeht, und Rif nutzt die Gelegenheit, den Schädel in die AldiTüte zu stecken und unter die Spüle zu werfen. Dicht vor der Blonden bleibt Arkadiusz stehen. »Du auch sagen, ich Arschloch? Ich Idiot?« brüllt er sie an. Die schüttelt stumm den Kopf. Da nimmt er ihre Hand wie eine Trophäe und küßt sie. Dann stampft er wütend hinaus. Rif lehnt sich gegen die Spüle und klopft ihre Taschen nach Zigaretten ab, während die ungebetene Besucherin auf irgend etwas wartet. Aber Rif bleibt stumm. »Tiefer! Verstehst du?« Schließlich macht die Nachbarin ein paar zaghafte Schritte in den Raum und stellt das Glas auf den Tisch. Rif kreischt. Udo gegenüber war es nie nötig gewesen, sich zu beherrschen. Eine seiner besten Eigenschaften. Sogar wenn sie Sachen nach ihm »Ich hab Ihnen Marmelade mitgebracht, Heidelbeere mit Holunder. Vorhin, da … ich wollt mich entschuldigen …« »Ich eß keine Marmelade«, sagt Rif schroff, setzt aber dann versöhnlicher hinzu, »ich vertrag nichts Süßes. Diabetes.« Sie ringt sich ein Lächeln ab und ruckt mit dem Kopf in die Richtung, in die Arkadiusz verschwunden ist. »Er liebt Marmelade. Selbstgemacht?« Im Gesicht der Besucherin kämpft die Neugier mit dem Wunsch, sich in Luft aufzulösen. »Hatten Sie Krach?« Rif zuckt die Schultern. »Nix Besonderes.« Wasserkasten die Stufen hochstemmt. In dem roten Tankwartsoverall voller Farbspritzer hat Rif sie im ersten Moment für einen Lieferanten gehalten. Eine günstige Gelegenheit, die alte Dame von den hilfsbereiten Eigenschaften und friedlichen Absichten der neuen Hausbesitzerin zu überzeugen. Dem würde irgendwann ein gemütliches Kaffeestündchen folgen, in dessen Verlauf Rif die sozialistischen Bäume loben und man den Beginn einer wunderbaren Hausgemeinschaft mit einem kleinen Likör begießen würde. »Warten Sie, ich helfe Ihnen«, ruft Rif übertrieben munter. »Das ist doch zu schwer für Sie!« Es raschelt unter dem Spülbecken, und Rif fährt herum. Sie bückt sich, um mit anzufassen, und taumelt, von einem kräftigen Ellenbogen absichtlich oder unabsichtlich getroffen, zurück. »Dutschke, du Mistvieh, mach, daß du da rausgehst!« »Gehen Sie mir aus dem Weg. Das hilft mir am meisten.« Der rote Kater schießt fauchend hinter dem Abfalleimer vor, der scheppernd umfällt und seinen Inhalt auf den Küchenboden speit. Rif bückt sich, um den Abfall wieder einzusammeln. Ewa hebt eine Aluschale auf und reicht sie ihr hinüber. Ohne Rif und ihre guten Absichten eines Blickes zu würdigen, steigt Ada Otter an ihr vorbei zum nächsten Treppenabsatz. Den Wasserkasten hat sie gegen die Hüfte gepreßt. »Dutschke? Komischer Name.« Stalinistische Betonkuh, denkt Rif wütend und reibt sich die Seite. »Kennen Sie nicht? Dutschke, Rudi?« Sie steigt die restlichen Stufen zum ersten Stock hoch. Arkadiusz steht auf einem Stuhl, die Zigarette im Mundwinkel, und klemmt ein Leitungsrohr ab. »Nee.« »Arkadiusz, bitte, du mußt mir helfen.« »Ihr Ossis habt aber auch von nichts ’ne Ahnung.« Putz rieselt ihr in die Augen. Rif zwinkert, niest und wischt ihr Gesicht am Ärmel ab. Rif kippt den Abfall mit so viel Schwung in den Eimer, daß die Hälfte daneben fällt. Die Blonde findet, daß sie jetzt gehen muß, und Rif lächelt zustimmend. Nachdem die Haustür hinter ihr zugefallen ist, holt Rif die Tüte mit dem Schädel aus dem Abfall und verstaut sie im Kühlschrank. Wenigstens vor Hund und Katz ist er dort vorläufig sicher. Dann überlegt sie es sich anders. Das Ding muß aus dem Haus. Auf der Treppe scheppert es. Aber es ist nur die Malerin, die einen »Erst fertig.« Sein ganzer Körper spannt sich, eine Sehne über dem Knöchel tritt stark hervor. Die Haut, die oberhalb der Socken sichtbar wird, ist sehr weiß. Der Stuhl knirscht unter seinem Gewicht. Rif parkt den Wagen hinter einem beigen Wartburg und marschiert auf einem asphaltierten Fußweg geradewegs in den Wald hinein. Schweigend kommt Arkadiusz ihr nach. An seinem gekrümmten Zeigefinger schlenkert die Tüte, die zusätzlich eine kleine Grabschaufel enthält. Das Haar liegt ihm feucht zurückgekämmt am Kopf, und zur schwarzen Hose trägt er jetzt ein makelloses gelbes Hemd. Nur sein Gang bleibt schwerfällig, als trage er ständig einen Zementsack auf der Schulter. Rif verlangsamt ihr Tempo, bis sie nebeneinander gehen. Die Zweige ragen kahl in den wolkenlosen Himmel. Den Waldboden bedeckt noch das trockene Laub vom vergangenen Jahr, in dem eine Amsel nach Würmern sucht. Es raschelt wie im Herbst, bei hochsommerlichen Temperaturen. Rif rollt die Ärmel ihres Pullovers hoch und fühlt den feinen Schweißfilm unter Achseln und Brüsten. So gehen sie stumm nebeneinander her. Kein Mensch ist zu sehen. Allmählich stellt sich das Hochgefühl von heute morgen wieder ein. Immer so weiterlaufen durch die warme Luft, die nach aufgebrochener Erde riecht, wäre schön. Rif hat es plötzlich nicht mehr eilig. »Hier?« fragt Arkadiusz und deutet in den menschenleeren Wald. Man sieht ihm an, daß er von der sinnlosen Lauferei wenig hält. »Noch ein Stück«, sagt sie und sieht ihn träumerisch an, »findest du es nicht schön hier? Die Vögel, die Luft, die Ruhe …« Er zuckt die Schultern. Rif zeigt auf einen korpulenten Mann im grauen Anorak, der ihnen, von einem Schäferhund gezogen, aus einem Seitenweg entgegenkommt. »Besser, wir gehen noch ein Stück.« Widerstrebend trottet er neben ihr her. »Addio, addio, Mexico« tönt es plötzlich durch das Vogelgezwitscher, und mit jedem Schritt wird der Gesang aus rauher Männerkehle lauter, »addio, addio« hallt es zwischen den nackten Stämmen, wo rotweiße Sonnenschirme auftauchen. Arkadiusz beschleunigt seinen Schleppschritt. »Waldkater« steht über dem Eingang. Drei Musiker in schwarzen Cowboyhüten und roten Westen stehen auf einem überdachten Podest neben einem Imbißstand. Der Gitarrist hat sein graues Haar zu einem Zopf geflochten, der ihm dünn über den Rücken fällt. Ein paar einsame Trinker hocken auf Plastikstühlen vor ihren Gläsern. Ein blasses Paar mit Cowboyhüten und Sporen an den Kaufhausstiefeln sieht sich über zwei Pappbecher hinweg in die Augen. Nur ein kahlköpfiger Trinker prostet der Kapelle ekstatisch zu. Rifs Auftauchen wird mit beifälligen Lauten quittiert. Die Frau unter dem schwarzen Cowboyhut mustert sie ernst. Ihr Begleiter beugt sich mit gespitzten Lippen zu ihr hinüber, bis ihre Hutkrempen sich berühren, und greift nach ihrer Hand. Sie trinken sich zu. Die Frau lächelt ein blasses Lächeln. An dem verrosteten Fahrradständer vorbei steuert Arkadiusz schnurstracks auf den Ausschank im Hintergrund zu und hebt zwei Finger. »Bier.« »Wein«, sagt Rif und schiebt die ihr zugedachte Flasche beiseite. »Ungarischen oder rumänischen?« fragt die Frau, die hinter dem Tresen steht wie eine Fahrkartenverkäuferin oder wie die Hexe im Märchen. »Ungarischen«, sagt Rif. Arkadiusz prostet ihr zu. Mit jeder neuen Flasche wird sein Lächeln breiter. Die Kapelle spielt einen Foxtrott. Das Paar erhebt sich und schiebt sich vorsichtig über den rauhen Betonboden. Ihre Sporen klirren gegeneinander. Als die Musik endet, bleiben sie stehen und klatschen in die Hände. Nach einem weiteren Bier, das Trio spielt einen labbrigen Rock ’n’ Roll, fordert Arkadiusz sie auf. Er ist ein tollkühner Tänzer. Fest hält er sie um die Taille gepackt, schleudert sie von sich und fängt sie gekonnt wieder auf, wie ein Jongleur seine Bälle. Die Musiker steigern das Tempo. Der behäbige Gitarrist reißt aufgebracht an den Saiten. Endlich wieder mal zeigen können, was man so drauf hat. Der kahlköpfige Zecher klatscht rasend. Das Cowboypaar tritt staunend auf der Stelle. Sie fliegen, stampfen, kreiseln über die leere Fläche. Rif fühlt keinen Boden mehr unter den Füßen. Heftig atmend halten sie schließlich an. Alle klatschen. Sogar die Hexe hinter ihrem Fahrkartenschalter. Arkadiusz verbeugt sich wie ein Schauspieler und holt neue Getränke. Als sie sich später zu einem langsamen Blues wiegen, hält er sie steif in den Armen, ihre Hand wie in der Tanzstunde von sich weggestreckt. Rosen aus Athen, Tulpen aus Amsterdam streuen die Musiker mächtig sülzend vor ihre Füße, und Rif summt versunken mit. »Ich wollte mal Sängerin werden«, sagt sie am Tisch zu Arkadiusz, der nah an sie herangerückt ist. »Blues und Jazz, nicht dieses Zeug.« Sie schiebt seine Hand weg, die sich auf ihrer Brust breitmachen will. »Gib mir ne Zigarette.« Die Konturen der Sonnenschirme und die Bäume dahinter verschwimmen in der Dämmerung. Der ungarische Wein schmeckt süß, der rumänische schimmelig, aber Arkadiusz holt immer noch eine neue Runde, und irgendwann schmeckt sie keinen Unterschied mehr.