Computerspiele im Fokus der Kritik
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Computerspiele im Fokus der Kritik
Historische Medienkritik Computerspiele im Fokus der Kritik von Mathias Koch 1. Einleitung: Schulen als Anschlagsziel frustrierter Jugendlicher Seit dem 1. Oktober 1997 vergeht kaum noch ein Jahr, ohne dass wir von einem Blutbad an Lehranstalten hören. An diesem Tag tötet ein 16-Jähriger zwei Klassenkameraden in der High School von Pearl (US-Staat Mississippi), sieben Personen werden schwer verletzt. Zuvor hatte der Teenager seiner 50-jährigen Mutter die Kehle durchgeschnitten. Darauf folgen die Schauplätze Westside Middle School in Jonesboro (US-Staat Arkansas) 1998 und Columbine High School in Littleton (US-Staat Colorado) 1999. In Deutschland ersticht am 9. November 1999 ein 15-jähriger Gymnasiast in Meißen seine 44-jährige Lehrerin vor den Augen von 24 Klassenkameraden. Am 16. März 2000 schießt im oberbayerischen Brannenburg ein 16-jähriger Schüler auf seinen Internatsleiter und unternimmt danach einen Selbstmordversuch. Nach weiteren internationalen Ereignissen bildet am 26. April 2002 der Amoklauf des 19-jährigen Schülers Robert Steinhäuser am Erfurter Gutenberg-Gymnasium den tragischen Höhepunkt. Er tötet binnen zehn Minuten 16 Menschen und sich selbst. Unter den Toten sind zwölf Lehrer, die Schulsekretärin, zwei Schüler und ein Polizist. Steinhäuser war ein Jahr vor der Tat von der Schule verwiesen worden. Am 2. Juli 2003 verletzt ein 16-jähriger Schüler an einer Coburger Realschule eine Lehrerin mit einem Schuss aus einer Pistole und erschießt sich dann selbst. Nach weiteren Übergriffen von Schülern auf Mitschüler und Lehrer in den USA, Kanada und Deutschland, markiert der Amoklauf von Emsdetten das letzte Ereignis dieser Art. Am Montagmorgen, den 20.11.06, stürmt der 18-jährige Sebastian B., bewaffnet mit vier Gewehren und 13 Sprengkörpern, seine ehemalige Realschule, die Geschwister-Scholl-Realschule in Emsdetten. Fünf Menschen werden durch Schüsse verletzt, bevor er sich selbst tötet. 2. Verzerrung der Diskussion und Lenkung der Debatte durch Politik und Medien In Deutschland sorgten vor allem die Ereignisse von Erfurt und Emsdetten für ein großes Interesse seitens der Medien, der Politik und der Öffentlichkeit. Absurderweise richtet sich das Interesse in der Berichterstattung und der politischen Diskussion nicht etwa auf die Probleme der Attentäter und die Gründe ihrer Tat, sondern auf deren Hobbys. Welche Musik hat er gehört? Welche Farbe hatten seine Kleider? Welche Computerspiele hat er gespielt? Und so folgen jedem Amoklauf eines Schülers viele, viele kleine mediale „Amokläufe“ deutscher Politiker, Medienkritiker, Moralapostel und anderen Meinungs- und Stimmungsmacher. In den erwartbaren Reaktionen und politischen Schnellschüssen wird die Ursache mal wieder bei den so genannten „Killerspielen“ gesucht. Und so verkommt die Diskussion über die Hintergründe und Motive der Tat, bevor sie überhaupt beginnt, zu einer Verbots- und Moraldebatte rund um die jungen Medien der Computer- und Internetspiele. Unterstützt werden die populistischen Kreuzzüge à la Stoiber, Beckstein und Schünemann durch Medienformate wie Frontal21 oder Sabine Christiansen. „Verbieten, verbieten, verbieten!“ und „Weg mit dem Virtuellen!“ schallt es aus allen Richtungen. Erstaunlich ist wie schnell sich die Debatte in eine von der Politik vorgegebenen Richtung bewegt. Das zeigt unter anderem ein Interview von Spiegel Online (vgl. Interview mit Edmund Stoiber. In: Spiegel Online vom 22.11.2006) mit CSU-Chef Stoiber vom 22. November 2006. Dort lautet die erste Frage: „Herr Ministerpräsident, nachdem ein junger Mann aus Emsdetten, offenbar angeregt durch Computerspiele, in seiner Schule mehrere Menschen verletzt und sich anschließend selbst umgebracht hat, ist die Debatte über so genannte Killerspiele entbrannt.“ Hier erweckt der Teil der Frage offenbar angeregt durch Computerspiele von vorn herein den Eindruck, die eigentliche und in Wirklichkeit wesentlich komplexere Ursache des Problems wäre bereits erklärt und auf diesen kleinen Nenner, nämlich den der Computerspiele, zurückzuführen. Eine sachliche Diskussion über die wahren Hintergründe und Motive der Tat in und von der Öffentlichkeit erleichtert dies sicher nicht. Oft wird sogar gänzlich auf eine genaue Beschreibung der gemeinten Spiele verzichtet. Gewaltverherrlichende Spiele, Kriegsspiele, Strategiespiele oder Kartenspiele? Was für eine Art Computerspiel ist gemeint? Durch den zweiten Teil der Eingangfrage des Interviews wird dann die Verbindung vom Computerspiel zum Killerspiel gezogen und der Fokus des Interviews gleich zu Beginn auf einen Teilaspekt der Debatte beschränkt. Computerspiele werden Killerspielen gleichgesetzt und verantwortlich dafür gemacht, dass so viele Jugendliche sich und andere umbringen. Was wollen Sie dagegen tun, Herr Stoiber? Ist doch klar: verbieten! 3. Fehlende Zukunftsperspektiven als Ursache des Problems Nachdem das Problem nun also von der Politik, mit tatkräftiger Unterstützung der Medien, nach ihrem Interesse verformt und vereinfacht wurde, ist es natürlich denkbar einfach mit schnellen Lösungen im Sinne von Verbotsforderungen bei der gemeinen Bevölkerung zu punkten. Und wieder einmal wird die Aufmerksamkeit geschickt von den eigentlichen Problemen vieler Jugendlicher hier in Deutschland abgelenkt, die man aber eben nicht einfach so mit lauten Schreien nach Verboten oder Verunglimpfung bestimmter Medien lösen kann. Es geht nicht um gute oder böse Computerspiele, das Problem ist die Zukunftsperspektive von immer mehr Jugendlichen in Deutschland. Die neue Mitte in unserem Land gehört schon längst zur Unterschicht und sie verschafft sich nicht erst seit Erfurt und Emsdetten Gehör. Es gibt unzählige Bücher, Filme und Lieder, die uns von den Problemen der Jugend in der heutigen Zeit erzählen. All diese Medien sind Sprachrohr der Jugend über das sie ihren Unmut, ihre Angst und ihre Verzweiflung kund zu tun. Sie sind nicht verantwortlich dafür, warum Jugendliche Angst vor der Zukunft haben und keinen Mut mehr in ihrem Leben fassen können. Würde sich die Generation Stoiber & Co. mal etwas mehr, bzw. überhaupt damit befassen, würden sie vielleicht von ihrer eindimensionalen Ursache-Wirkungs-Perspektive abkommen. 4. Veröffentlichungen im Internet geben Aufschluss über die Motive Die wirklichen Probleme offenbaren sich nicht nur, wenn man die Jugendliteratur oder -musik betrachtet, sondern sie lassen sich z.B. auch ganz einfach aus dem Text des Abschiedsbriefs von Sebastian B. herauslesen. Dort stehen Punkt für Punkt die Hintergründe und Zwänge, die unsere Jugend beschäftigen und an denen zumindest ein kleiner Teil zu Grunde geht oder die sie zu solch abscheulichen, aufmerksamkeitswirksamen Taten bringt. Unter anderem ist dort zu lesen: “Ich hasse es, ich hasse es immer der Doofmann für alle zu sein. Ich hasse es immer als Depp hingestellt zu werden. Ich hasse es immer das Individuum zu sein, welches als überflüssig erscheint.“ (Auszug aus dem Abschiedsbrief von Sebastian B.; aus: Rötzer 2006. In: Telepolis) An anderer Stelle heißt es: „Das einzigste was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe war, das ich ein Verlierer bin. Für die ersten jahre an der GSS stimmt das sogar, ich war der Konsumgeilheit verfallen, habe anach gestrebt Freunde zu bekommen, Menschen die dich nicht als Person, sondern als Statussymbol sehen. Aber dann bin ich aufgewacht! Ich erkannte das die Welt wie sie mir erschien nicht existiert, das ie eine Illusion war, die hauptsächlich von den Medien erzeugt wurde. Ich merkte mehr und mehr in was für einer Welt ich mich befand. Eine Welt in der Geld alles regiert, selbst in der Schule ging es nur darum. Man musste das neuste Handy haben, die neusten Klamotten, und die richtigen "Freunde". hat man eines davon nicht ist man es nicht wert beachtet zu werden. Und diese Menschen nennt man Jocks. Jocks sind alle, die meinen aufgrund von teuren Klamotten oder schönen Mädchen an der Seite über anderen zu stehen. Ich verabscheue diese Menschen, nein, ich verabscheue Menschen.“ (Abschiedsbrief von Sebastian B.; aus: Rötzer 2006. In: Telepolis) Hier geht es unter anderem ganz offensichtlich um die durch die Industrie erzeugte und durch die Medien transportierte und verstärkte Welt des Konsums, der Produkte und des Kapitals. Erstaunlicherweise kommt nun niemand auf die Idee, die Fernsehsender, die Wellness- und Beautyzeitschriften oder die Werbeindustrie an den Pranger zu stellen oder gar verbieten zu wollen, obwohl diese Verbindung bei genauer Betrachtung wesentlich plausibler erscheint, als die zu den so genannten Killerspielen. Aber nicht nur solche Abschiedsbriefe offenbaren einen Blick in die Köpfe junger Menschen. So schrieb im Online-Tagebuchdienst Livejournal ein Freund von Sebastian B.: „ich lebe in […] langweile mich den ganzen tag und gehe ab und an mal gern auf Party und treffe freunde.. sonst sitz ich meist vorm Pc, weill ich auf niemanden so recht lust habe ^^ ja das ist eigendlich alles was man über mich wissen sollte...“ (Onlineeintrag. In: Livejournal) Dieser Mensch sitzt nicht den ganzen Tag vor dem PC, weil der PC ihn dazu verführt, sondern weil er keine Lust auf andere Menschen hat. Genauso wenig wie man von einem Computerspiel dazu verführt wird, sein Leben und das anderer Menschen zu beenden. Hier geht es darum, dass viele Jugendliche mit ihrem Leben nicht mehr zurechtkommen, keine rechte Perspektive Leben haben bzw. sehen, sich überflüssig und mit ihren Sorgen alleine gelassen fühlen. Weiter heißt es: „Ach ja noch etwas ... alles wirklich alles was ich mache hat meist irgendwas mit den anschlag auf die Columbine High School am 20.4.1999 zu tun ... ich würde fast sagen das diese geschichte nicht nur mein leben verändert hat... nein es IST mein leben geworden ...“ (ebd.) Dieser Satz verdeutlicht, dass es diese realen Ereignisse sind, denen manche Jugendliche nacheifern. Niemand würde jetzt auf die Idee kommen, die Berichterstattung darüber zu verbieten. Aber vielleicht sollten sich die Medien hier mal selbst an die Nase fassen, anstatt sich auf „Killerspiele“, Musik oder sonstiges einzuschießen. Denn die medienwirksame, reißerische und sensationsgeile Inszenierung solcher Ereignisse trägt sicherlich nicht dazu bei, dass Jugendliche, die sich in der Gemütslage eines Sebastian B. befinden, nur von einem kleinen stillen Selbstmord träumen, wenn sie mit dem Gedanken spielen dieses Leben verlassen. 5. Fazit: Diskussion muss mit den Jugendlichen stattfinden Damit es jedoch nicht soweit kommt, dass sich Jugendliche auf welcher Art auch immer aus dem Leben verabschieden, sollte die Diskussion endlich mal den wahren Problemen annehmen und das sind: Angst vor der Zukunft, Arbeitslosigkeit, Armut, immer größerer Leistungsdruck in Schule und Beruf, Orientierungslosigkeit in einer von Produkten bestimmten Welt, Spaltung der Gesellschaft, Schließung von Kultur- und Jugendeinrichtungen, Integrationspolitik, Ausländerpolitik, Familienpolitik, Bildungspolitik, etc. Das sind die Themen über die man reden muss. Im Dialog mit den betroffenen Menschen - allen voran den Jugendlichen. 6. Quellenhinweise Internet: 1. Livejournal: resistantx’s journal. Onlineeintrag. Online unter: http://resistantx.livejournal.com (Zugriff unbekannt) 2. Rötzer, Florian (2006): Ich hasse es, überflüssig zu sein. Artikel vom 21.11.2006. In: Telepolis. Online unter: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/24/24030/1.html (Zugriff 27.03.2007) 3. Rötzer, Florian (2006): Ich will Rache. Artikel vom 21.11.2006. In: Telepolis. Online unter: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/24/24032/1.html (Zugriff 27.03.2007) 4. Was zum Töten animiert, gehört verboten. Interview mit CSU-Chef Stoiber. In: Spiegel Online vom 22.11.2006. Online unter: http://service.spiegel.de/digas/find?DID=49653983 (Zugriff 27.03.2007)