Erinnerungen an die Winterschlacht in Masuren

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Erinnerungen an die Winterschlacht in Masuren
Erinnerungen an die
Winterschlacht in Masuren
(Februar 1915)
und
die Kriegsgefangenschaft in Rußland
(23.2.1915 – 24.9.1920)
Hermann Petri
Vorwort
Mein Vater Hermann Petri (1891 - 1972) hat in Bielefeld die Schule besucht und
1909 mit dem Abitur abgeschlossen. Danach kam die Wehrdienstzeit beim
Infanterieregiment 55. Er studierte Architektur in Darmstadt und Danzig (1 oder 2 Semester)
und plante im Herbst 1914 die Diplomprüfung abzulegen. Dies ließ sich wegen des
Kriegsausbruchs im Sommer 1914 nicht verwirklichen. Er wurde als Leutnant der Reserve
zum Infanterieregiment 137 (Elsaß) eingezogen. Zunächst wurde er an der Westfront
eingesetzt. Am 30.12.14 begann der Transport des Bataillons (I/137) nach Ostpreußen. Dort
nahm mein Vater an der „Winterschlacht in Masuren“ teil (weitere Informationen hierzu im
Anhang). Am 23. Februar1915 geriet er in russische Gefangenschaft, wurde nach Sibirien
gebracht und kehrte erst am 24. September 1920 heim.
Nach der Rückkehr hat mein Vater seine Erinnerungen an die Kriegszeit und
Gefangenschaft in 6 Heften auf 906 Seiten niedergeschrieben. Diese handschriftlichen
Erinnerungen in der deutschen Schrift (Sütterlin) sind jetzt für junge Leute schwer lesbar.
Um meinen Kindern und anderen Interessierten die Möglichkeit zu geben dieses interessante
zeitgeschichtliche Dokument zu lesen, habe ich begonnen, diese Erinnerungen in den PC
einzutippen.
Um einen Vergleich mit dem Original zu erleichtern habe ich die
Seitennummerierung des handschriftlichen Originals am rechten Rand angegeben. Am linken
Rand steht das Datum an dem mein Vater diese Seiten geschrieben hat.
Weitere Anmerkungen:
 Der Text wurde mit OpenOffice in der Schriftart Times New Roman geschrieben,
für Ortsnamen in Rußland, die mein Vater nicht in Sütterlin sondern mit lateinischen
Buchstaben schrieb, wählte ich die Schrift Arial, z.B. Omsk → Omsk.
 Abkürzungen sind unverändert übernommen worden, z.B. Rgt. für Regiment
Ausnahme: häufig schrieb mein Vater „u“ für „und“, ich habe u zu und ergänzt um die
Lesbarkeit zu verbessern.
 Wenn ich etwas nicht entziffern konnte habe ich xxx oder ??? eingefügt.
 Das gilt auch für kyrillische Buchstaben, sie wurden häufig durch xxxx ersetzt und sollen
später korrekt geschrieben werden.
 Im Anhang befinden sich Bilder, gescannte Seiten und Landkarten.
 Fußnoten sind von mir hinzugefügt.
Jülich, Januar 2011
Hermann Petri
Es hat lange gedauert, aber jetzt nach 2 Jahren sind alle 6 Bände des Textes
abgeschrieben, Abbildungen und Textteile wurden gescannt und in den Text eingefügt. Mein
ganz besonderer Dank gilt Frau Dr. Overdick, sie hat durch Abschreiben wesentlicher Teile
entscheidend zum Gelingen dieses Projektes beigetragen.
Ich habe das Nachwort meines Vaters auf der folgenden Seite an den Anfang gestellt
– zum besseren Verständnis des Ganzen erscheint es mir sinnvoll, diese Überlegungen schon
am Anfang zu lesen.
Jülich, September 2013
Hermann Petri
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Nachwort
Berlin 9. Januar 1923.
Die 1. Niederschrift meiner sibirischen Erinnerungen ist beendet. Ich habe das in
mehr als 2 Jahren Niedergeschriebene jetzt noch einmal durchgesehen und will, ehe ich die 6
Hefte denen, die sie lesen wollen, in die Hand gebe, noch einige Bemerkungen machen, die
zum richtigen Verständnis und zur richtigen Einschätzung beitragen können.
Alles ist aus dem Gedächtnis geschrieben, nur für Einzelheiten der Winterschlacht im
Februar 15 und der Beschreibung von Petersburg habe ich deutsche Karten zur Unterstützung
benutzt. So mögen sich manche Ungenauigkeiten und Fehler eingeschlichen haben, doch war
ja wissenschaftliche Genauigkeit nicht von mir beabsichtigt. Dann ist mir aufgefallen, daß
die einzelnen Abschnitte sehr ungleichwertig sind. Tagesstimmungen, auch gelegentliche
Unlust, das immer mehr in die Länge wachsende Werk zu vollenden, machen sich mitunter
bemerkbar.
Manches ist kleinlich, vielleicht sogar bewußt einseitig oder ungerecht geschrieben,
doch daran ist nachträglich nichts zu ändern, jedenfalls ist alles nach dem jeweils besten
Wissen und Vermögen geschrieben, und auch gerade in seiner Unvollkommenheit ein
Zeugnis.
Am meisten bedaure ich, daß die ungeheure Fülle von Erlebnissen und die
Schwierigkeit, die unendlich vielen Einzelheiten, die dem Außenstehenden so schwer
verständlich zu machen sind, mir manchmal die größeren Zusammenhänge verwischt hat,
und daß ich jetzt den Eindruck habe, daß ich meist nur Einzelbilder, nicht den ganzen
Komplex des Gefangenenlebens und seiner verschiedenen Abschnitte habe darstellen
können.
Doch das hängt auch damit zusammen, daß die ganze Gefangenschaft ja nicht ein
Erlebnis ist, das man von gesicherter Warte aus unbeteiligt an sich vorüberziehen läßt. Die
Bewertung und Deutung des Geschehenen, Beobachteten und Erlebten schwankt und macht
Wandlungen durch. Ganz besonders gilt dies von der Beurteilung Rußlands und seiner
Bewohner, die wir Gefangenen anfangs fast ausschließlich von hohem und, wie uns dünkte,
unfehlbarem Standpunkte betrachteten, bis wir allmählich, der eine mehr, der andere
weniger, erkannten, daß wir es hier mit einer Welt zu tun hatten (und noch haben), die uns
zwar fremd und meist unfaßlich ist, die uns aber gelehrt hat, über vieles nachzudenken und
umzulernen.
Ich hoffe, daß im Getriebe der Tagesarbeit der kommenden Jahre mir Zeit genug
verbleibt, einzelne besonders wichtige Kapitel des Gefangenenlebens noch eingehend und
zusammenfassend zu behandeln. Ich schließe meine Niederschrift einstweilen mit der Bitte
an alle Leser, mich möglichst rückhaltslos ihre Fragen und Urteile wissen zu lassen und mir
dadurch die geplanten Ergänzungen zu erleichtern.
Hermann Petri
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Erinnerungen an die
Winterschlacht in Masuren (Februar 1915)
und
die Kriegsgefangenschaft in Rußland (23.2.1915 – 24.9.1920)
nachträglich aus dem Gedächtnis aufgezeichnet für meine Eltern. Die nie wankende
Gewißheit, daß sie ständig meiner gedachten, gab mir die
Kraft, 5¾ Jahre Gefangenschaft zu überstehen.
Bielefeld, November 1920.
Hermann Petri
1. Die Winterschlacht in Masuren
2. Der 23. Februar 1915
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3. Grodno und Wilna
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4. Die Fahrt nach Tomsk (1.-20.III.15)
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5. Tomsk – Neue Kaserne (20.III.- Anfang IX.15.)
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6. Tomsk – Haus Isossimow (IX.15.)
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7. Pestschanka bei Tschita (X.1915)
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8. Krasnaja Rjetschka (28.X.15 – 24.XI.1916)
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9. Nach Chabarowsk, 730 Drushina 24.XI.16–14.XII.17) 96
10. 724. Drushina (14.7. – 7.10.1917)
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11. Wieder 730. Drushina (7.10.17 – 8.4.18)
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Dies ist die Kopie der ersten von über 900 Seiten
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Bielefeld 18. November 1920.
In der Gefangenschaft bildete sich, je länger sie dauerte, desto mehr bei mir der Wunsch
heraus, die ganze Kriegs- und Gefangenschaftszeit so schnell wie möglich zu vergessen. Ich
wollte nach glücklicher Heimkehr einen dicken Strich unter die Vergangenheit machen und
nur noch der Gegenwart und Zukunft leben. Doch es kam anders. Jetzt, nachdem ich schon
über 5 Wochen wieder im Elternhaus bin, habe ich gemerkt, daß sich über 6 Jahre mit so
vielen eindrucksvollen Erlebnissen nicht einfach streichen lassen, sondern ein Bestandteil
meiner selbst geworden sind. So will ich denn rein aus dem Gedächtnis das wesentlichste
niederschreiben, mir zur Erinnerung und Lehre und denen, die teilnehmend meiner gedenken
und gedacht haben, als einen Beitrag aus meinem Leben und als Zeugnis eines der so
unendlich verschiedenartigen Erlebnisse des Weltkrieges. Schon im April 1915 habe ich in
Tomsk kurz meine Feldzugserinnerungen aufgeschrieben aus der Zeit vom 2. - 23.2.15. Aber
die Niederschrift war so gehalten, daß auch der argwöhnischte russische Zensor nichts darin
finden sollte. Später habe ich sie wieder verbrannt, als ich merkte, wie scharf die Russen auf
alle schriftlichen Aufzeichnungen sind. Sie konnten mir zu leicht ein unnützer oder
gefährlicher Ballast im revolutionären Rußland werden. Über die Erlebnisse in der
Gefangenschaft habe ich ein Tagebuch geführt, nur die wichtigsten äußeren Daten notierte
ich mir in einem Notizbuch, das mir im August 1920 mit anderem Gepäck auf der Bahnfahrt
Krasnojarsk –
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gestohlen wurde. So bin ich gänzlich auf mein Gedächtnis angewiesen, aber gerade das
Wesentliche haftet ja, und historische Treue in den äußeren Daten ist ja nicht so wichtig in
diesem Falle. Als Einleitung gebe ich noch eine kurze Schilderung meiner Erlebnisse auf der
russischen Front, des schönsten, aber schwierigsten Teiles des Feldzuges, den ich mitmachen
durfte.
Schon im Januar 1915 merkten wir, daß uns nach dem eintönigen
Schützengrabenleben der vorhergegangenen Monate etwas Besonderes bevorstand. Der
Offiziersstand des Regimentes wurde durch Ersatz von anderen Truppen und aus der Heimat
auf ein seit August 1914 nicht dagewesene Höhe gebracht, ebenso die Zahl der
Mannschaften. Als unser Bataillon (I/137) nach 14 Tagen in der Stellung am Ancre nördlich
Albert beim XIV Res.A.K. nach St. Quentin gebracht wurde (25.I.15) sickerte die Äußerung
eines Generalstabshauptmanns vom Stabe der II. Armee durch, daß wir nach Ostpreußen
kommen sollten, wo Hindenburg mit dem XXI und einigen in Deutschland neu aufgestellten
Armeekorps Anfang Februar einen großen Schlag gegen die Russen plane. Und zwar solle
der Vormarsch am 6.2. beginnen und zwischen 15. und 25. die Hauptschlachten stattfinden.
Doch wir glaubten nicht so recht daran. In Liez, südlich St. Quentin, hatten wir noch einige
Ruhetage und wurden gegen Cholera geimpft. Am 30.1. wurden wir in Tergniers verladen,
wohin, weiß niemand, wir raten auf Loissons, Vogesen, Galizien, Polen, Serbien oder
Ostpreußen. Im Laufe des Tages kamen wir durch Diedenhofen
Omsk
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und Trier. Am 31.1., einem schönen klaren Sonntagmorgen, erwachten wir in dem leicht mit
Schnee bedeckten Moseltal. Es war wunderbar schön, nach den langen Monaten in
schmutzigen Bahngräben und in landschaftlich wenig ansprechender Gegend auf einmal
wieder deutsche Berge, Burgen, Kirche, Dörfer und Städte zu sehen. Und überall sonntäglich
geschmückte Leute. Ich fuhr lange Zeit (bei Limburg) mit meinen Leuten zusammen in dem
recht kühlen Güterwagen. Es war mir eine große Freude, so mit ihnen zu erleben, wie schön
doch unser Deutschland ist, und zu sehen, wie sie guten Mutes einer ungewissen Zukunft
entgegen fuhren. Vorbei an Stätten schöner Erinnerungen: Koblenz, Lahntal mit Diez,
Limburg und Marburg kamen wir im Laufe des Tages noch bis Hannöversch-Münden. Am
1 Seitenzahl im Original
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1.2. Güsten, Berlin, (Ergänzung der Einkleidung in größter Eile) Eberswalde, Stettin. Am 2.
leider nicht das erhoffte Zoppot und Danzig, sondern gleich Dirschau, Marienburg (das
letzte, so bedeutungsvolle deutsche Bauwerk), Elbing, Königsberg. In der Nacht Insterburg
und die Nähe der Front machte sich schon bemerkbar. Wir bekamen Karten 1:500 000 –
19.11.201
Um ½3 wurden wir in Szillen ausgeladen. Es dauerte eine Stunde, bis das Bataillon
marschbereit war, während der wir bei der scharfen Kälte scheußlich froren. Dann begann
der Vormarsch in östlicher Richtung. Am Morgen kamen wir nach Lengwethen und bogen
dann bald nach Norden ab. Hier wurde ich mit meinem Zuge als Feldwache in ein Gehöft
Kleiyinnen gelegt. Wir wurden
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richtig gastlich aufgenommen, frühstückten gut und legten uns dann schlafen, ich sogar in
einem richtigen, sauber bezogenen Bett. Um so größer war die Enttäuschung als wir schon
um 11 wieder herausgeholt wurden. Unser Regt. war dazu ausersehen, dem Grenzschutz,
(I. Kav. Div.) der sich der Russen nicht so recht wehren konnte, zu helfen und so
marschierten wir dann bei starkem Schneetreiben in nordöstlicher Richtung über Budwethen,
Eggleningken (hier abends Verpflegung aus der Feldküche) bis Ulzballen, wo wir nachts 12h
in der zerstörten Oberförsterei untergebracht wurden. Am nächsten Morgen 4.2. lernten wir
die Russen kennen, die wir aus einigen Dörfern nördlich der Seen Schuggen (Grigklauken,
Budbinahlen) vertreiben mußten, unterstützt vom 5. Garde Feld Art. Regt. Die Russen
machten ihre Sache vorzüglich, es war Kavallerie mit Maschinengewehren, die sich immer
wieder im letzten Augenblick geschickt zurückzogen, so daß wir sie nie fassen konnten. Es
waren keine schönen Aussichten, sich bei dieser Kälte mit so einem Gegner herumschlagen
zu müssen. Glücklicherweise waren sie später nicht alle so gut. Vom 4.-7.2. lag unsere
Komp. in Jucknaten, einem von den Russen übel zugerichteten Dorf, es war fast alles sinnlos
zerstört und verdreckt, doch fanden wir ein erträgliches Quartier, das sich wenigstens heizen
ließ und wo wir noch einige gemütliche Tage verlebten. Hier wurden wir zum 2. mal gegen
Cholera geimpft. Hier gab es auch die letzte Post. Am 7. war ganz tolles Schneetreiben, wir
hofften immer im Stillen, daß
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der Vormarsch verschoben würde, doch ganz früh am 8.2. mußten wir raus und zum
Sammelplatz der Division, Lubinehlen. und damit begann der Vormarsch in wüstem
Schneetreiben. In Lubinehlen haben wir ca 5 Stunden gestanden und gefroren, weil (wie man
sich erzählte) die 42. I.D. (die 2. Division unseres XXI A.K., bei ihr war Walther.) noch nicht
auf der ihr befohlenen Linie war. Gegen Abend kamen wir über die russische Grenze,
ungefähr dort, wo die Szuszuppe aufhört Grenzfluß zu sein. Wunderschön war der
Sonnenuntergang über den weiten Schneeflächen; wir kehrten Deutschland den Rücken und
marschierten ins riesige Rußland hinein. Kämpfe hatte es für uns nicht gegeben, nur die linke
Seitendeckung, unser III. Bat. hatte russischen Widerstand brechen müssen. In einem Gehöft
wurde die Komp. untergebracht, es war kalt und an Feldküche nicht zu denken.
9.2.15
Am 9. war unser Bat. linke Seitendeckung, wir gingen über weite Schneefelder vor, ohne
Zusammenstöße mit den Russen zu haben. Am Morgen sprach ich kurz einen seit sieben
Jahren nicht gesehenen Schulfreund, Hans Junderichs (aus Kösen, Sohn des P.D.), Lt. im
Pionierbataillon 27. Die Märsche an diesen Tagen waren richtig anstrengend und ermüdend.
Man rutschte ständig aus. Die Straßen waren meist durch Artillerie und Maschinengewehre
gesperrt, die ständig stecken blieben und dann immer mehrere Bespannungen zusammen
schirren mußten, um 1 Geschütz heraus zu kriegen. Wir marschierten dann neben der Straße.
Meist war nur ein schmaler Pfad in den Schnee getreten, dann marschierte
6
1 An diesem Tag wurde der Text geschrieben
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das Bataillon zu 1 und das gab immer entsetzliche Aufenthalte, bis wieder alles zusammen
war. So angenehm die kleinen Halte im Sommer sind, so unangenehm waren sie hier, denn
nur solange man marschierte, war man einigermaßen warm, stand man still, so bekam man
sofort kalte Füße. So waren wir manchmal 15 – 20 Stunden am Tage unterwegs und
schafften doch nur 30 km. Verpflegung gab es nur so viel, wie requiriert wurde, und das war
bei unserer Kompanie nicht viel. Ständig blieben Leute zurück, besonders nachts, und zwar
am meisten in den Kompanien, deren Führer sich nicht ordentlich um Verpflegung und
Unterkunft bekümmerten. Am 9. abends kamen wir auch recht spät nach Dunkelwerden in
einem Gehöft unter. Die Leute waren so kaputt, daß man sie nur mit Mühe davon abhalten
konnte, sich bei den vielen Halten einfach in den Schnee zu legen. Die Bauern sprachen
vielfach noch ein dem Platt ähnliches deutsch und rückten meist ganz bereitwillig Brot
heraus. Kaum hatten wir 4 Stunden geschlafen, da mußten wir wieder raus und marschierten
die große Straße längs der Grenze nach Süden. Nach 12 stündigem Marsch kamen wir
mittags in Wladislawo an, das am Morgen von anderen Truppen des A.K. genommen war.
Auch hier keine vernünftige Ruhe. Den Mannschaften wurde die kalte Kirche zugewiesen,
wir Offiziere legten uns in dem Pfarrhaus etwas auf den Fußboden. Um 4 hieß es aber wieder
antreten, in unser Pfarrhaus zog der kom. General, Exz. von Below. Nur sehr langsam kamen
wir aus
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dem mit Truppen überfüllten, ständig von russischer Artillerie beschossenen und an vielen
Stellen brennenden Ort heraus. Immer wieder stockte der Marsch und wir waren kaum 2 km
marschiert, als abends der Brigadekommandeur – Oberst Kreyenberg – die vielleicht noch 15
km entfernten Quartiere angab. Da begann vorne auf einmal eine riesige Schießerei, die
Vorhut war vor Zielonka – an der Straße nach Wilkowischki – auf eine russische Stellung
gestoßen. Bis ca. 2 oder 3 Uhr nachts standen wir bei bitterer Kälte nicht weit von
Wladislowo, dann wurde es ruhig, es kam die Meldung daß die Stellung genommen sei und
daß wir weiter marschieren könnten. Diese Nacht war besonders schlimm. Zeitweilig hatten
wir einen kleinen kalten Raum eines Hauses, in dem der Div. Stab lag, eng neben und
übereinander ruhen können.
- 20.11.20 – Und dabei mußten wir ständig der armen Truppen gedenken, die vorne einen schweren
Kampf zu kämpfen hatten. Als wir weiter marschierten, begegneten uns viele Verwundete
und bei Morgengrauen (11.2.15) kamen wir auf dem Schlachtfelde an, vor dem Dorf
Zielonka. Die Vorhut, bei der auch 2 Komp. Pioniere waren, war im Dunkeln in die russische
Stellung hineingeraten, und es dauerte mehrere Stunden, bis sie genommen war. Unsere
Truppen mußten über weite schneebedeckte Felder vorgehen gegen einen heftigen Wind von
vorn. Glücklicherweise hatten die Russen die Stacheldrahthindernisse nicht
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mehr fertig stellen können, die Pfähle waren schon eingeschlagen, aber der Draht lag noch in
Rollen daneben, und vor allem hatten sie, so viel ich erfahren konnte, nur 1 M.G.(?). Das
Feld vor den Schützengräben war besät mit Toten, viele Leichtverwundete waren erfroren; es
waren nachts etwa 10 - 150 Kälte. Hier fand ich auch Hans Diederichs wieder, in der Stirn
einen Schuß, der verbunden war. Er lag auf dem Rücken und hatte einen schönen glücklichen
Ausdruck im Gesicht. Ein Feldwebel seiner Komp. sorgte für seine Beerdigung. In der Nacht
soll sich auch unser Divisionskommandeur Exz. von Bewar, sehr ausgezeichnet haben und
mit einer Batterie des 31. F. Art. Reg. in vorderster Linie den Kampf entschieden haben, wie
mir später in Tomsk Herren des Regts erzählten. Wir hatten zunächst wieder mehrere Stunden
zu warten, bis die einzelnen Truppen fertig zum Weitermarsch waren. Hier sah und sprach
ich auch Onkel Hans Petri, der mit seiner Komp. 2/131 hier kurz hielt, von uns sehr beneidet,
da er noch seine Feldküche bei sich hatte. Mittags gings weiter, auf die Bahn Eydtkuhnen –
Kowno und Wilkowischki los. Unsere Kompanie hatte die Spitze der Division. Man erwartete,
daß die Russen die Bahnlinie verteidigen würden. Wir traten den Marsch angesichts des
Schlachtfeldes vom vorigen Tage mit recht gemischten Gefühlen an. Doch wir hatten
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mehrfaches Glück, kein Russe war zu sehen, und anstelle des klaren Frostes trat dichtes
Schneetreiben bei etwas wärmerer Luft. Und abends ca 8h fanden wir
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in Wilkowischko ein heizbares Haus, in dem wir bis um 6 des 12.2. schlafen konnten. Es war
ein wüst zugerichtetes Bürgerhaus, in dem wir das letzte Holz verbrannten. Daß sich am 11.
abends unser Komp.chef, Hauptmann Bredemann wegen Rheumatismus krank melden
mußte, wurde auch von niemand bedauert. Er hatte es zu wenig verstanden, für die Leute
Verpflegung zu besorgen. Unter Mitnahme der beiden requirierten Gänse, auf die wir uns
schon lange freuten, verschwand er.
12.2.15
Vom 12. ab war das Wetter sehr viel angenehmer. Zwar häufig naß und schmierig, aber doch
nicht mehr die große Kälte. Die Kompanie übernahm jetzt Leutnant Vaterrodt, der sehr viel
besser für die Leute sorgte, so daß sich die Marschleistungen sofort verbesserten, und mit
dem wir beide (Lohrberg und ich) besser auskamen. Aus den folgenden Tagen bis zum 15.
einschließlich, weiß ich nur wenig Einzelheiten. Wir marschierten andauernd nach Süden,
durch Wälder und Felder und schmutzige Dörfer. Auch die Natur sah unglaublich schmutzig
aus, da der schmelzende Schnee ganz verdreckt war. Am 13. abends kamen wir, vollständig
naß geregnet, nach Bozdija, wo wir bei deutsch sprechenden Juden anständig aufgenommen
wurden. Die kleinen Judenmädchen brachten uns für teures Geld zwar nicht Brot oder Wurst,
aber Bonbons. Außerdem lag man warm in dem verhältnismäßig sauberen Raum. Noch
schöner war es am 14. Mittags wurde gehalten in einem kleinem Dorf, und das Glück war
uns günstig, wir blieben hier bis zum nächsten Morgen.
h
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Sofort begann ein allgemeines Requirieren und bald hatte jeder etwas im Topfe. Abends kam
sogar die Feldküche, das 1. Mal seit dem 8. (in Lubinehlen?). Besonders dankbar war ich,
daß ich mit Vaterrodt und Lohrberg einige Stunden recht gemütlich zusammensaß, in denen
V., der bisher immer sehr korrekt gewesen war, zum 1. Mal etwas auftaute. Wir zeigten uns
gegenseitig unsere Bilder von Hause und sprachen viel von zu Hause.
15.2.15
Am 15. war wieder großer Marschtag, viel durch Wälder bis kurz vor Sopozkinie, wo wir
hörten, unser Brigaderegt. 166 eine russische Bagage erbeutete.
16.2.15
Am 16. morgens marschierten wir über den Augustowkanal. Der Regts. Kom. – Major
Lakmann- begrüßte uns und sagte uns, heute würden wir an die Russen herankommen. Bald
waren wir in Lopozkinie, wo es ganz wüst aussah. Der ganze Markt und die Straßen voll mit
russischen Wagen. Ganze Leiterwagen voller Möbel aus Ostpreußen, einer voll
Hirschgeweihe. Die Leute liefen aus der Kolonne, um sich russische Stiefel zu ergattern, die
mir zunächst sehr dünn vorkamen, die aber sehr haltbar waren. Auf der Straße lag viel
russisches Geld, hätte ich nur zugegriffen, 8 Tage später konnte ich es gut gebrauchen.
Kilometerweit sah man immer noch russische Landkarten auf der Straße liegen, alles Blätter
von Ostpreußen mit russischer Schrift. In Lopozkinie bekam unsere 4. Komp. den Befehl, als
Spitzenkompanie der Division vorzugehen, was gar nicht so leicht war, da alle Straßen
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dicht gerammelt voll standen mit Artillerie und russischen Wagen. Auf freier Landstraße
gingen dann Vaterrodt und Lohrberg mit der Spitze, ich folgte mit dem Rest der Kompanie.
So marschierten wir etwa 3 – 4 Stunden bergauf bergab, durch mehrere Dörfer ohne Russen
zu Gesicht zu bekommen. Als wir aber die letzte Höhe vor der Straße Augustow – Grodno
erreichten, sahen wir auf dieser Straße, etwa 2 km von uns entfernt, geschlossene Kolonnen
im Marsche Richtung Grodno. Wir hielten, schickten Meldung nach hinten und bekamen sehr
bald wirkungsloses Infanteriefeuer. Bald fuhr Feld Art. Regt. 67 (oder 31?) auf und eröffnete
das Feuer auf die Russen und gleichzeitig wurden wir von russischer Artillerie beschossen.
Die Komp. bekam Befehl, vorzugehen. Vaterrodt schickte Lohrberg mit dem 2. und mich mit
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dem 1. Zuge entwickelt längs der Straße vor. Er folgte mit dem geschlossenen 3. Zuge in
einigen hundert m Entfernung. Mein Zug hatte schon 2 Gruppen abgegeben zum
Durchsuchen von Dörfern abseits der Straße, und zählte nur noch 3 Gruppen, der 2. 4-5
Gruppen. Wir waren noch nicht weit gegangen, als Lohrberg, der zuerst Überblick hatte,
mich auf eine russische Batterie aufmerksam machte, die halblinks in 6-800 m Entfernung
auf einer Anhöhe stand, und bis dahin durch eine andere Erhebung unseren Blicken entzogen
gewesen war. Wir einigten uns gleich dahin, auf die Batterie vorzugehen, ließen unsere Züge
halblinks schwenken
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und rückten in weiten Schützenlinien den Russen aufs Fell. Es war das einzig Richtige,
einmal überhaupt bei Artillerie, und außerdem konnte man sich nicht hinlegen, denn der
Boden war 10 cm getaut, darunter Eis. Bei jedem Schritt sank man bis über die Knöchel in
den Schlamm. Die Russen verlegten sehr bald ihr Feuer auf uns, taten uns aber nicht viel
Schaden, da wir mit weiten Zwischenräumen vorgingen. Einige Leute wurden leicht
verwundet, Die Russen hatten eine großartige Stellung, längs eines Feldweges hinter einem
Wall aus Feldsteinen, vor dem noch dazu ein Graben mit Schnee war.
30.11.20
Umso mehr staunten wir, daß sie uns nicht mehr Schwierigkeiten machten, sondern, als wir
auf unmittelbare Nähe heran gekommen waren, die Hände hoch hoben. So bekamen wir 4
schöne neue Feldhaubitzen, 2 Offiziere und ca.40-50 Mann von der 27. Art. Brigade in
unsere Gewalt. Zuerst kam mir die Sache etwas unheimlich vor, das Groß unserer Division
war auf der Straße nach Augustow in westlicher Richtung weitermarschiert, wir waren mit
unseren 2 Zügen allein auf weiter Flur und östlich in nächster Nähe waren Wälder, in denen
ich noch Russen vermutete. Doch es war ganz harmlos. Wir nahmen unsere Gefangenen mit
und suchten den Rest unserer Komp. wieder auf, der mittlerweile gerade aus auf
Dulkowzcysna marschiert war, und dort ca 50 Fahrzeuge und ca 200 Mann erbeutete. Dabei
auch 2 weitere, noch bespannte Geschütze
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und die Bespannung der 4 von uns in der Feuerstellung genommenen Geschütze. So konnten
wir auch unsere Leute abholen. Mehrere Stunden vergingen, bis wir alles zusammen hatten.
Der Div. Kommandeur Exz. von Bewar, kam vorbei und sprach der Komp. seine
Anerkennung aus. Erbeuteten Würfelzucker und Fleischkonserven ließen wir uns gut
schmecken. Es fing schon an, dunkel zu werden, als wir in westlicher Richtung weiter
marschierten und mit dem Bataillon wieder zusammen kamen. Unser Bat., knapp 400 Mann
stark, hatte ca 1000 gefangene Russen bei sich, dazu eine Unmenge Fahrzeuge
(Munitionskolonnen, Feldküchen u. a.). Es machte einen sonderbaren Eindruck, wie wir paar
Leute so mitten zwischen russischen Kolonnen marschierten, Die Fahrzeuge hatten alle noch
ihre russischen Kutscher. Bei völliger Dunkelheit kamen wir in Bijesk? an, wurden von der
Feldküche verpflegt und stellten Sicherungen nach Westen, gegen den Augustower Wald aus.
Etwa um 11, ich war gerade als Offizier vom Ortsdienst eine Stunde unterwegs gewesen, um
in Nacht, Dreck und Nässe die Posten zu revidieren und wollte mich schlafen legen, kam der
Befehl, sofort anzutreten. Von Augustow her seien starke russische Truppen im Anmarsch,
denen wir nicht standhalten konnten: So zog sich unser Bataillon wieder mit seinem
russischem Troß – der sich noch vergrößert hatte, da wir in Lipsk noch eine Menge Russen
aus den Häusern geholt hatten - zurück. Es war ein etwas unheimliches Gefühl, hinter uns
Russen, mitten unter uns Russen und vor uns in ca 20 km Entfernung die Festung Grodno.
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17.2.15
Wir marschierten dieselbe Straße, die wir gekommen waren, und machten bei
Morgengrauen völlig erschöpft in Holynka halt. Nach langem Suchen brachten wir die Komp.
ganz anständig unter, es war das schon oft erlebte Theater, daß zunächst alle Häuser, in
denen man Unterkunft suchte, von Artilleristen u. a. besetzt war. Auch der „Komp.stab“ fand
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ein warmes Quartier. Es war ein richtiges polnisches Bauernhaus. Durch den Kuhstall kam
man in die Stube, deren Fenster überhaupt nicht auf gemacht werden konnten. Eine
zahlreiche Familie vom Großvater bis zum Säugling lagerte auf und an dem Backofen. Dazu
kamen nun noch wir, Vaterrodt, Lohrberg, ich, Uffz Wulff (Offz.aspirant und Führer des 3.
Zuges, unsere aktiven Feldwebel und Uffze hatten sämtlich abgebaut.) Der Fahnenjunker
Hagedorn und die dazu gehörigen Burschen. Zu überanstrengt, um zu schlafen, bauten wir
ein am vorhergehenden Tage den Russen abgenommenes Wirtshausgrammophon auf und
versetzten unsere Polen durch die edle Musik in höchstes Staunen. Glücklicherweise hatten
wir 24 Stunden Ruhe, nur Lohrberg hatte Pech, und mußte am Nachm. auf Patrouille in der
Richtung Grodno, merkwürdigerweise in dieselbe Gegend, in der wir 7 Tage später gefangen
wurden.
18.2.15
Einigermaßen ausgeruht konnten wir dann am 18. früh wieder weiter gehen. Das
Regt. besetzte Aufnahmestellung in der Richtung auf den Augustower Wald, unsere 4. Komp.
wurde dem III Bat. zugeteilt. Wir hatten leichte Arbeit, denn wir brauchten
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nur den Schnee aus russischen Gräben heraus zu werfen, denn unsere Front war ja nach
Westen, und so konnten wir die ausgezeichneten russischen Befestigungen benutzen, die die
Russen wohl im Herbst 14 in Erwartung einer deutschen Offensive angelegt hatten. Es war
eine sonderbare Lage, wir hatten die Front nach Deutschland, vor uns lag der Wald, durch
den die Russen erwartet wurden, hinter uns Grodno, dessen Fesselballon über uns schwebte,
etwa 25 km rückwärts. halblinks lag Lipsk, das von deutscher Artillerie beschossen wurde
und an verschiedenen Stellen brannte. Man hatte einen schönen Überblick und konnte sich
ein gutes Bild von der Gesamtlage machen, und vertrauensvoll bewunderten wir
Hindenburgs Kühnheit, so gewagte Operationen zu unternehmen. Da es uns gegenüber ruhig
war, konnten wir nach Aufstellung von Posten in dem unmittelbar bei der Stellung gelegenen
Skjebljewo Unterkunft beziehen. Hier kam der Brig.kommandeur, Oberst Kreyenburg, zu uns
und sprach auch der Komp. seine Anerkennung für die Erfolge am 16. aus. Wir Offiziere
fanden ein sauberes Zimmer bei einem Juden, der uns gleich einen Samowar anheizen ließ,
so daß wir uns mit Tee mit Zucker ordentlich erwärmen konnten. Leider währte die Ruhe
nicht lange, bei Einbruch der Dunkelheit kam nämlich durch einen Kürassieroffizier die
erfreuliche Meldung, daß jetzt der Ring geschlossen sei, daß wir Fühlung mit dem I.A.K.
hätten. Andere Truppen, ich glaube Kürassiere, übernahmen unseren Abschnitt, und wir
zogen in das
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nächste Dorf nördlich. Hier ging natürlich wieder viel Zeit drauf, bis wir die probeweise
Besetzung der für einen Angriff der Russen für uns bestimmten Verteidigungsstellung
durchgeführt hatten, und dann mußte ich noch einen Unteroffiziersposten im Walde, etwa 10
Min. vom Dorfe entfernt, Front nach Westen, aufstellen. Trotz dem etwas beunruhigenden
Gefühl, gegen Überraschungen nicht gesichert zu sein, legten wir uns ruhig schlafen.
19.2.15
Am 19. früh besetzen wir wieder eine russische Stellung. Es waren schöne, tiefe
Schützengräben, nordöstlich des Dorfes auf einem ziemlich steilen Abhang gelegen, an
dessen Fuß ein glatt gefrorener See lag. Wir wünschten die Russen herbei, da wir sie so
glänzend hätten abschmieren können. Doch trotzdem man lebhaftes Feuer in verschiedenen
Richtungen hörte, blieb bei uns zunächst alles ruhig. Bis ein Melder kam und V. ganz
aufgeregt rief:“ Lt. P. u. Lt. L., treten sie sofort mit ihren Zügen in der und der Richtung an.
Das II. Bat. ist überfallen, die Lage ist sehr ernst.“ Etwas verärgert über seine Unruhe, und
darüber, daß er gleich alles so ausposaunte, zogen wir dann los, ohne in diesem
unübersichtlichen Kuselgelände so recht zu wissen, wohin, ungefähr wohl in nördl. Richtung.
Bald kamen wir in lebhaftes Feuer und mußten dann, als die Verluste zunehmen (hier wurde
mein von mir sehr geschätzter Melder Krause verwundet. Er wirkte als Berliner unter lauter
11
Westfalen, Elsässern u.a. immer sehr belebend), halten und Stellung nehmen, zumal, da wir
sahen, daß die Anschlußkompanien rechts zurück blieben und daß links überhaupt kein
Anschluß war. Es war ein recht ungemütliches
17
Gefecht, da man so gar nicht wußte, was eigentlich los war, und in dem Kieferngelände fast
überhaupt keine Russen erkennen konnte. Doch nach einer Weile, als auch rechts und links
Anschlußtruppen vorgingen, gingen auch wir weiter vor und kamen ein gutes Stück vorwärts,
über Hügel und durch Wälder. Im Walde war ein ziemliches Durcheinander, die Verbindung
riß ab, und einmal hätte ich beinahe eine große Dummheit gemacht, als ich, auf eine
Lichtung kommend in ca 600 m Entfernung einen geschlossenen Haufen Russen erblickte
und schon das Feuer auf sie eröffnen lassen wollte, aber glücklicherweise noch rechtzeitig
entdeckte, daß sie ohne Gewehre waren und von einigen unserer Leute als Gefangene
abtransportiert wurden. Als die Komp. ganz aus dem Walde heraus war und gegen die jetzt in
größeren Mengen sichtbaren Russen vorging, kamen wir in so lebhaftes Feuer von
russischem Masch. Gew. und russischer und eigener Artillerie, daß V. schleunigst kehrt
machen ließ. Im Walde ging dann das ganze Bat. einige km zurück, bis wir eine
einigermaßen zu verteidigende Stelle fanden. Hier buddelten wir uns notdürftig im Sande ein,
die 4. Komp. am rechten Flügel, dann die 11. und die anderen des III. Bat., und waren recht
froh, daß uns die Russen nicht belästigten. Rechts von uns, etwa 800 m entfernt, lag ein
brennendes Dorf. Um festzustellen was dort los war, schickte der Major Meyer eine
Patrouille von 8 Mann dorthin. Aber nur 3 kamen zurück und brachten die Meldung, daß die
übrigen von den Russen, von denen das
18
ganze Dorf voll sei, gefangen genommen seien. (Den Patr.führer Uffz. Überholz, hat Walther
bei seiner 5 tägigen Gefangenschaft getroffen und durch ihn von mir gehört.) Doch
glücklicherweise hatten die Russen keinen Schneid, und ließen uns ungeschoren. Wir
krochen in engen Sandlöchern möglichst eng zusammen und kamen so gut durch die bitter
kalte Nacht.
20.2.15
Auch am 20. blieb es ruhig, bis wir mittags plötzlich – wir hatten gerade begonnen,
die Stellung vom linken Flügel her zu räumen und ab zu marschieren – heftig von eigener
schwerer Artillerie beschossen wurden. Durch lebhaftes Schwenken mit der entrollten
Bat.Fahne gaben wir uns zu erkennen und konnten dann abmarschieren, vorbei an
zahlreichen Truppen des I. A.K. in das schon bekannte Holynka, wo wir auf dreckigem Stroh
die gewünschte Wärme und Ruhe fanden. Das II Bat. war am 19. – so erzählte man sich durch Nichtaufpassen der 166er von den Russen überfallen worden und hatte schwere
Verluste gehabt, u.a. sollte der Lt. Reinback, den ich noch als Ortskommandanten von
Hattencourt gut kannte und schätzte, schwer verwundet sein.
21.2.15
Am 21. vorm blieben wir in dem durch einen lebhaften Regen in eine riesige Pfütze
verwandelten Holynka. Wir wurden mehrere mal alarmiert, konnten aber immer bald wieder
wegtreten. Mittags als wir bei der Feldküche aßen, sahen wir auf der Straße nach Lopozkinie
unabsehbare Mengen von russischen Gefangenen abmarschieren, die Einkreisung war
vollendet und die Russen hatten den Widerstand aufgegeben. Während wir noch die
Gefangenenkolonnen betrachteten, wurden wir
19
wieder alarmiert, und mußten durch Pfützen, Bäche und aufgeweichte Felder auf die gegen
Grodno gerichtete Front. Ungefähr zu derselben Zeit, als die eingeschlossenen Russen erledigt
waren, machte aus Grodno eine erst in der Nacht aus Wilna eingetroffene Division einen
Ausfall. Es war ein recht imposantes Gefecht in dem hier waldarmen Gelände, immer neue
Geschütze und Maschinengewehre fuhren auf unserer Seite auf und die zahllosen russischen
Schützenlinien wurden elend abgeschmiert. Holynka wurde tüchtig von schwerer Artillerie
12
beschossen, die krepierenden Granaten machten riesige schwarze Wolken und schleuderten
große Mengen von Dreck und Holz hoch in die Luft, so daß wir ganz froh waren, daß wir uns
die Sache von draußen besehen konnten, wenn es auch naß von oben und unten war.
Glücklicherweise hörte der Regen im Laufe des Nachm. auch wieder auf, und als dann der
russische Angriff endgültig zusammengebrochen war, gingen wir vor. Das Schlachtfeld bot
uns gute Gelegenheit, uns mit ganz neuen Kochgeschirren und Zeltbahnen, mit großen
runden Brotlaiben und сухарu (geröstetes Schwarzbrot) zu versorgen. Wir zogen
stundenlang durch die Gegend in der Richtung auf Grodno, bis wir in der Dunkelheit über
Rigalowka nach Holynka zurück kehrten. Die am Tage aufgeweichten Felder und Wege waren
hart und glatt gefroren und wir waren heilfroh, als wir das jetzt mit Truppen voll belegte
Holynka erreicht hatten. An diesem Abend meldete sich Major Meyer krank und Hauptmann
Schürmann
20
übernahm das III. Bat., zu dem wir immer noch gehörten. In Holynka war noch der Kampf um
die Unterkunft mit den 166ern, die in den uns zugewiesenen Häusern lagen, im Gange, als es
wieder hieß „Antreten“! Diesmal ging es nach Südosten. Über halb gefrorene, halb in Brühe
verwandelte Wege, durch das endlose Dorf Ginowitschi, dessen Dorfstraße durch Artillerie
gesperrt war, zogen wir bis zu dem großen Gute Kulakowtschisna. Da eine Meldung vorlag,
daß es von Russen besetzt sei, gingen wir in Schützenlinien vorsichtig darauf vor, fanden
aber das Nest leer. Nachdem uns eine Stallung für den Fall eines Angriffes zugewiesen war,
versuchten wir uns für den Rest der Nacht noch etwas Ruhe zu verschaffen und legten uns in
einem riesigen Pferdestall schlafen. Glücklicherweise war hier viel Heu, so daß man sich
ordentlich einpacken konnte.
6.XII. 1920
Diese Heupackung hat uns gute Dienste geleistet, wir wurden nämlich nachts
plötzlich geweckt durch Pferde, die in unseren Stall gedrungen waren, und zwischen und z.T.
auf uns herum trampelten. Es waren die in den Stall gehörigen, aber durch unsere Leute
daraus vertriebenen Pferde, die jetzt ihre Unterkunft wieder aufsuchten.
22.2.15.
Der 22. vorm. ging mit dem Besetzen der uns zugewiesenen Verteidigungsstellungen
hin. Noch jahrelang habe ich mir den Kopf zerbrochen über die merkwürdige Anordnungen
meines damaligen Bat-führers und es ist mir nicht gelungen, sie zu verstehen. Er legte
nämlich 2 Komp. in vorgeschobene Stellungen:
21
die 11. mit 2 M.G. in das Vorwerk Kulkowtschisna, jenseits der Straße Sopockinie – Grodno
etwa 1 km von uns auf der Höhe gelegen. Die II. hatte oben eine schöne Stellung vor dem
Vorwerk mit gutem Schußfeld. 1½ - 2 km links davon in und vor einem anderen Vorwerk
(Wilkowtschina ?) lag die 10. Komp. (Oberlt. Schreiner). Beide waren ziemlich isoliert und
hatten weder rechts noch links Anschluß. Die anderen 3 Komp – (Oberlt. Brosch), 12.
(Hauptm. Müller) und 4. (Ht. Vaterrodt) – lagen unten vor Kulakowtschisna, ohne
ausreichendes Schußfeld, denn gerade vor uns stieg die Anhöhe empor, auf der das Vorwerk
K. lag. Doch bedauerlicherweise habe ich mir das alles erst in vollem Umfang klar gemacht,
als es zu spät war, und begnügte mich am 22. damit, den meinem Zug und der Komp.
zugewiesenen Abschnitt kennen zu lernen. Am Nachm. saßen wir in unserer kalten Scheune
und versuchten es uns durch Holzfeuer einigermaßen behaglich zu machen. Zum 1. Mal seit
dem 8. bekamen wir wieder Brot (¼ Kommißbrot) geliefert. Nachm. als die Befehle
ausgegeben wurden, wurde ein Erlaß S. M. an das XXI. A.K. verlesen, in dem er uns seine
Anerkennung für das Geleistete aussprach, bedauerte, daß er uns bei Schnee und
Weglosigkeit nicht hatte persönlich aufsuchen können, und teilte uns mit, daß 120000(?)
gefangen seien. Stolz steckte ich den Befehl in meine Kartentasche, um ihn mir als Andenken
aufzuheben. Auch eine Karte nach Hause schrieb ich, die ich dem Fahnenjunker
13
22
Hagedorn, der sich krank gemeldet hatte und zurück sollte, mitgeben wollte, sie blieb aber
auch in der Kartentasche stecken. Lohrberg übernahm die 11. Komp. im Vorwerk K. und
Vaterrodt setzte einen Bericht über den 16.2. auf.
8.12.20.
In der Nacht ereignete sich ein merkwürdiger Zwischenfall, wir wurden geweckt
durch irgend jemand, der in unseren Stall kam und rief „Die Russen sind da“. Es ließ sich
aber nichts feststellen, und wir schliefen weiter. Erst am morgen erfuhren wir, daß die
Ablösung eines Doppelpostens vor dem Gehöft morgens zwischen 3 und 4 die Posten nicht
mehr vorgefunden hatte. Am 25. im Gefängnis in Grodno traf ich die beiden Leute wieder,
die von einer starken russischen Patrouille gefangen und mitgenommen waren.
23.2.15.
Am 23. früh wurden wir alarmiert, die Russen griffen an. Die Komp. besetzte ihre
Verteidigungsstellung und ausgerechnet an diesem Tag sagt Vaterrodt zu mir: „Sie sind mit
ihrem 1. Zuge bis jetzt immer als 1. eingesetzt worden, bleiben Sie heute mal als
Unterstützungszug bei mir.“ Der Vormittag verlief verhältnismäßig ruhig. Wir konnten nicht
schießen, da wir kein Schußfeld hatten, lagen aber im indirekten Feuer, und alle Geschosse,
die über die vor uns liegende Höhe (Vorwerk Kul.) hinweg flogen, kamen auf uns. So hatte
ich schon 6 Verwundete im Zuge, ehe wir überhaupt einen Schuß abgaben. Ich zog mich
etwas nach links, wo ich (zusammen mit der 12. Komp.) Deckung hinter einem Wall aus
Findlingen fand. Was wann vor sich ging, war nicht ganz klar zu erkennen. Jedenfalls
wunderten wir uns
23
sehr, als auf einmal die linke der beiden vorgeschobenen Komp. (die 10. unter Oberlt.
Schreiner) zurück kam und uns links verlängerte. Von der 11. vor dem Vorwerk
Kulakowtschisna kamen immer bedrohlichere Nachrichten. Sie bat immer wieder um Patronen
und um Unterstützung. Sie war auch in einer üblen Lage, da sie rechts und links ohne
Anlehnung war, und sich in den gefrorenen Boden nicht eingraben konnte. Der Bitte um
Patronen wurde auf Anordnung von Hauptmann Müller (der hier stillschweigend das
Kommando über das Bat. an sich riß, da Hauptmann Schürmann, der eigentliche Bat.führer
sich meist in einem der Gebäude des Gutes aufhielt) dadurch entsprochen, daß meine Leute
je 10 Patronen abgeben mußten, die dann von einzelnen Leuten in Helmen nach vorn
gebracht wurden. Ein schöner Munitionsersatz für eine Komp. die sich verschossen hat! Als
Unterstützung wurden 2 Züge der 12. Komp. nach oben geschickt, von denen ich nichts
wieder gehört habe. Mittlerweile war der Mittag vorüber gegangen und ich wollte gerade
etwas nach vorn gehen, um mir mal ein Bild von der Lage zu machen, als plötzlich
Hauptmann Müller anrief und sagte „Sie müssen sofort mit Ihrem Zuge vor zur
Verstärkung“. (Er schickte nicht etwa den letzten Zug seiner eigenen Komp., dann hätte er ja
selbst mitgemußt). Ich ging natürlich erst zu meinem Komp.führer und fragte den, ob er
damit einverstanden sei, aber der meinte, da sei nichts zu machen, und wollte sich wohl auch
nicht weiter mit M. verkrachen, mit dem er am Vormittage schon mehrere mal ziemlich
aneinander geraten war, weil M. immer in der 4. Komp. herum kommandierte. (M. war
24
nämlich lächerlich besorgt gewesen, daß uns die Russen, die uns überhaupt nicht sehen
konnten, direkt befeuerten, und schnauzte jeden Mann, der sich etwas aufrichtete, an, bis sich
V. das ständige Befehlserteilen in seiner Komp. verbat). Ich verabschiedete mich also von V.,
der mit einem Gesicht, auf dem das Gegenteil zu lesen war, sagte „nun, es wird ja nicht so
schlimm werden da oben“, ließ meine Leute antreten, meldete mich bei Müller und bat um
nähere Auskunft, wo die 11. Komp. liege usw. Er sagte „Gehen Sie nur auf die Höhe herauf,
da werden Sie das weitere schon finden. Im übrigen ist keine Zeit zu verlieren, die Russen
sollen das Gehöft bereits genommen haben“. Ich trat also an, mit dem Gefühl, daß es doch
ziemlich viel verlangt sei, daß ich mit einem Zuge ein Gehöft wieder nehmen sollte, daß 1
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Komp. mit 2 M.G. nicht hatte halten können. Je näher wir der Höhe kamen, desto dichter
wurde der Geschoßregen, ich ließ deshalb meine Leute sich hinlegen und ging mit meinen
beiden Entfernungsschätzern (Huster und Hagendorf) allein vor, um zunächst mal
festzustellen, was eigentlich los war. Oben war es ganz übel, ein lebhaftes Gewehr-, Masch.
Gew.- und Artilleriefeuer von vorn und von rechts machte einen Aufenthalt unmöglich. Wir
fanden in einem Schuppen einen Haufen von Verwundeten, von denen aber nicht
vernünftiges zu erfahren war. Nur hörte ich, Lohrberg sei durch Bauchschuß schwer
verwundet und läge bewußtlos in einem Stall weiter vorn. Ich konnte nur feststellen, daß
immer abwechselnd eine Batterie von vorn und eine von rechts feuerte, und dementsprechend
25
nahm man, wenn man das Aufblitzen der Abschüsse gesehen hatte, hinter oder neben großen
Steinpfeilern eines zusammengeschossenen Gebäudes volle Deckung. In kurzer Zeit hatte ich
3 Streifschüsse weg, einen am Knöchel (nur durch die Gamasche) einen an der linken Hüfte
und einen am Hals, wohl von einem Steinsplitter, der mir meinen um den Hals gewickelten
Schal zerfetzte. Weiter vorzugehen, hielt ich für sinnlos, denn es wäre nicht ein einziger zu
der vor dem Gehöft auf freiem Felde liegenden Komp. gelangt, da sich die Russen schon auf
ein paar hundert Meter heran gearbeitet hatten. Ich stellte fest, daß das Gehöft, bestehend aus
einem noch in Rohbau befindlichen, jetzt ziemlich zerschossenen Herrenhaus und einigen
Ställen, Scheunen und Schuppen, frei von Russen war und ließ meine Leute Deckung suchen
wo sie sie fanden. Das Feuer wurde im Laufe des Nachm. schwächer. Ich beschloß, zu
beobachten, was vor, rechts und links von mir vor sich ging, und mich bereit zu halten, um je
nach Bedarf nach rechts oder links die Komp. zu sichern, da ich den Angriff von der Seite
und nicht von vorn erwartete. Schätzungsweise zwischen 4 und 5 bemerkte ich, daß in einem
Gehöft etwa 2 km links von uns x(Wilkowtschisna? in dem morgens die 10. Komp. (Oberlt.
Schreiner) gelegen hatte?) sich Truppen versammelten etwa 1 Bat., konnte aber von meinem
Beobachtungspunkt, dem an einigen Stellen brennenden Dachstuhl des Herrenhauses, nicht
feststellen, ob es Deutsche oder Russen waren. Ich ging mit meinem Entfernungsschätzer
Huster bis an den etwa 500 m entfernten Rand des Parks, der sich in der Richtung auf das
genannte Gehöft hin erstreckte, und bemerkte jetzt, daß
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hier eine schöne Stellung mit gutem Schußfeld war – die Angreifer mußten über abfallendes
Gelände auf uns zukommen – aber leider war es schon zu spät, alles was an Unverwundeten
noch da war, herbeizuholen, denn die vorderste russische Linie war schon auf etwa 600 m
herangekommen, und als wir beide aus den deckenden Nadelbäumen des Parkes heraustraten,
wurden wir beschossen. Wir liefen marsch marsch zurück, ich trommelte alles, was schießen
konnte, zusammen und ließ die Leute sich in dem ebenerdigen Herrenhaus zur Verteidigung
einrichten. Dann schickte ich noch eine dringende Meldung an Hauptmann Müller und bat
ihn, mich durch Flankenangriff gegen die von der Seite herkommenden russischen
Schützenlinien zu unterstützen. Meine Lage war recht übel, denn ich hatte nicht viel mehr als
20 Mann zusammen bekommen, und dann hatten wir nur sehr schlechtes Schußfeld, da die
parkartige Bepflanzung fast bis unmittelbar an das Haus heranging. Außerdem fing es schon
an zu dämmern. Bei einem zufälligen Blick auf meine Kartentasche sah ich die am Tage
vorher geschriebene Karte nach Hause, fand daß die Mitteilung darauf „mir geht es gut“
durch die Ereignisse überholt sei, und zerriß die Karte. Bald tauchten die ersten Russen auf.
Meine Leute benahmen sich famos. Obgleich die Russen höchstens 50m von uns entfernt
waren, schossen sie ruhig und sicher, und fast jeder Schuß von uns war ein Treffer. Bald
gaben
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die Russen, es mögen 100 – 200 gewesen sein, das weitere Vordringen auf und verkrümelten
sich. In einer kurzen Atempause konnte ich feststellen, daß höchstens noch 10 Mann
unverwundet bei mir waren, einige waren gefallen (z.B. ein Kriegsfreiwilliger Runde, ein
sehr tüchtiger Mann) und verwundet. Außerdem hatten sich sicher einige in den vielen
15
Kellerräumen, die voll Verwundeten lagen, verkrümelt. So wurde mir jetzt gemeldet, daß der
elsässische Gefreite Frey mit seiner ganzen Gruppe in einem abseits gelegenen Stall steckte
und sich weigerte zu uns zu kommen. Ich konnte die Sache nicht persönlich verfolgen, denn
die Russen kamen schon wieder näher, habe aber nie feststellen können, was aus diesen
Leuten geworden ist. Diesmal war die Lage schlimmer, es war dunkler geworden und die
Russen kamen in größerer Anzahl. Einige Zeit konnten wir sie uns noch fern halten, dann
kamen sie von allen Seiten und alles war schwarz von Russen rings um das Haus. Wir
schossen noch einige Zeit, bald sah man aber nichts mehr. Das Haus hatte 3 ebenerdige
Eingänge, eine Unmenge Fenster, war zerschossen und brannte an mehreren Stellen, so daß
ich bald nicht aus noch ein wußte. Ich hatte den Eindruck, daß sich die Russen zum letzten
entscheidenden Vorstoß sammelten, daß aber keiner der erste sein wollte. Man hörte
Kommandos und Hurra rufen. Da sagte ich mir, jetzt ist nichts mehr zu machen, sagte allen
Leuten, sie sollten nicht mehr schießen, ihre Gewehre hinlegen und hinter mir herauskommen.
28
22.12.20.
Ich fühlte mich berechtigt, jeden weiteren Widerstand, der sinnlos geworden wäre,
aufzugeben, und kann auch jetzt nach jahrelangem Grübeln über die Richtigkeit meines
Handelns nicht zu einem anderen Ergebnis kommen. Ich hielt das Leben der noch bei mir
verbliebenen Leute für wertvoller als die geringen Verluste, die wir jetzt noch den Russen
hätten beibringen können.
So bin ich denn vor meinen Leuten herausgetreten, gab den Russen durch Schwenken
meines Taschentuches zu erkennen, daß wir jetzt harmlos seien, und ließ mir von ihnen die
Waffen abnehmen. Sie machten einen führerlosen Eindruck, keiner wußte so recht, was er
machen sollte, und es wollte auch keiner als 1. uns etwas zu leide tun. Mein Versuch, durch
laute französische Anfragen eine Verständigung zu ermöglichen, waren erfolglos, es kam ein
Offizier oder Feldwebel und stellte uns, nachdem keiner mehr Waffen bei sich hatte, zu 2
auf, im ganzen (mit mir) 8 Unverwundete und 15 Verwundete, die gehen konnten. Dann
führten sie uns sofort ab, umgeben von mindestens der doppelten Anzahl Russen, auf das
Gehöft zu, von dem sie gekommen waren (Wilkowtschisna?).
23.XII.
Auf diesem Wege durch die Senkung hindurch und auf der anderen Seite wieder in
die Höhe sahen wir immer neue Truppen, und ich mußte mit Sorgen an die Reste unseres
Bataillons
29
in seiner schlechten Stellung unter dem Vorwerk K. denken, die bei einem energischen
Angriff diese vielfach überlegenen Kräfte von oben herab verloren gewesen wären. Doch wie
ich später erfuhr, haben sich die Russen – wie so oft – mit dem bescheidenen Erfolg, das
Vorwerk K. zu nehmen, begnügt und unser Regt. in Ruhe gelassen. Wie mir später
Oberleutnant Schreiner, der Führer der 10/137, erzählte, war schon am Abend befohlen
worden, das Vorwerk K. zu nehmen, doch scheiterte das Unternehmen daran, daß die Führer
der dazu bestimmten Truppen – I.R. 166 und 10/137 – sich nicht einigen konnten, wer zuerst
vorgehen sollte, und ein Versuch der 10/137, allein das Gehöft zu nehmen, wieder
aufgegeben wurde, nachdem S. durch Patrouillen festgestellt hatte, daß sich die Russen schon
mit mehreren Masch. Gew. auf der Höhe am Rande des Vorwerks zur Verteidigung
eingerichtet hatten. Doch erfuhr ich dies alles erst im Oktober 1915, als ich auf der Reise
Tomsk – Tschita mit Oberlt. Schreiner und Lt. Lambertz von der 10/137 zusammentraf,
zunächst brachten mich die Russen zu einem höheren Offizier, wohl einem Regts.
kommandeur, der mit seinem Stabe in dem Gehöft war, von dem aus der Angriff auf uns
erfolgt war und geleitet wurde.
Er empfing mich in durchaus würdiger Weise, rief sofort einen deutsch sprechenden
Offizier herbei, der mich auch weiterhin in dieser Nacht begleitete, ließ mir sagen
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16
ich solle meine Leute auffordern, alle noch in ihrem Besitz befindliche Waffen abzuliefern,
und gab mir für mich und die Verwundeten eine riesige Feldflasche mit einem Südwein, der
uns sehr gut tat, da wir am ganzen Tage noch kaum etwas genossen hatten. Dann war es mir
ein großer Trost, als ein 2. Häuflein Gefangener vorgeführt wurde, bei dem der Offz. Stellv.
Louras von der M.G.K. war, ein guter Bekannter schon seit Okt. 14 in Frankreich. Sie hatten
vor dem Gehöft auf freiem Felde gelegen, hatten dann, als sie merkten, daß die Russen schon
in ihrem Rücken, waren versucht zurück zu gehen, waren aber abgeschnitten und gefangen
genommen worden. Das einzige M.G., das noch schoß, hatten sie noch unbrauchbar machen
können. Dann wurden wir, mit Rücksicht auf die Verwundeten in sehr langsamen Tempo,
zusammen abgeführt. Wir kamen durch immer neue Linien von Russen hindurch, die sich
auf freiem Felde ihre Schützenlöcher gruben, auch an verschiedenen Batteriestellungen.
Diese Fülle von Soldaten, die schweigsam ihre Arbeit verrichteten, machte einen ganz
unheimlichen Eindruck, besonders wenn man daran dachte, wie schwach unsere Truppen
waren, an einigen wichtigen Stellen immer eine dünne Linie und nichts dahinter, nur
gelegentlich mal ein schwaches und erschöpftes Bataillon als Reserve. Auf einem mächtig
31
mit Stacheldraht umwehrten Fort machten wir halt. Sofort kamen große Mengen neugieriger
Russen aus den Baracken und bestaunten uns. Ich hatte Durst, wollte etwas trinken und
merkte, daß meine Feldflasche nicht mehr da war. Als ich Konrad gegenüber meinen
Unwillen hierüber äußerte, sagte auf einmal ein riesig großer stattlicher russischer Offizier
mit großem dunklem Vollbart, der vor mir stand und den ich schon vorher bewundert hatte
als eine schöne, stattliche männliche Erscheinung, in reinem deutsch zu mir „Wozu brauchen
Sie denn jetzt noch eine Feldflasche?“ Ich antwortete: „ich habe Durst und wollte etwas
trinken“, worauf er einem Russen einen Auftrag gab, und dieser sofort auf einer weißen
Untertasse ein Glas heißen Tee und einige Stück Zucker brachte, die mir köstlich
schmeckten. Bald ging der Marsch weiter. Jetzt begegneten uns viel Kolonnen, teils
Munitionswagen, teils lange Züge von 2räderigen Karren zum Wegschaffen der
Verwundeten. Die Sorge für die Verwundeten war bewundernswert, eine große Zahl von
Wagen und Leuten war beschäftigt, um alle Verwundeten schnell und sachgemäß
wegzuschaffen. Schon früher in Gefechten hatte ich beobachten können, daß die Russen sich
eifrig und mit gutem Erfolg bemühten, die Verwundeten schnell aus der Kampflinie
zurückzubringen und sie nicht in unsere Hände fallen zu lassen. Spät in der Nacht – es war
wohl schon nach Mitternacht – kamen wir
32
immer noch geleitet von unserem anständigen Führer, der uns auch immer wieder russische
Zigaretten anbot, in einem größerem Fort oder Barackenlager an, in dem große Mengen von
russischen Soldaten herumstanden. Hier wurde nach geraumer Wartezeit, in der mir
unbemerkt noch mein gutes Armeemesser gestohlen wurde, ich, dann Konrad und 1
Unteroffizier der M.G.K. einzeln vernommen in einem Zimmer, in dem mehrere Offiziere,
Dolmetscher und Schreiber saßen. Zunächst ließen sie sich alles Gepäck und den Inhalt aller
Taschen zeigen und behielten alles Schriftliche und auch Bilder zurück. So kam ich um alle
meine Familienbilder und einige wertvolle Briefe, die ich bei mir trug. Die Vernehmung war
durchaus anständig. Ich machte einige Angaben, wie Truppenteil, zu dem ich gehörte usw.
und gab keinerlei Auskunft über Truppenbewegungen usw. Aber die Russen wußten mehr als
ich, sagten mir, daß wir dann und dann aus Frankreich gekommen seien, in Szillen
ausgeladen usw. Sie sagten auch, unser II. Bat. sei vernichtet. Unsere Angabe, wir hätten
über 100000 Gefangene gemacht, wollten sie nicht glauben, gaben aber schließlich 80000 zu.
Dann fragten sie Allgemeines, zu der Dauer des Krieges, was für Pläne Hindenburg habe, ob
er seine Aufgabe jetzt erfüllt habe u.a., daß man beim besten Willen nicht beantworten
konnte. Nach der Vernehmung wurde uns 3 in einer Wachtstube ein
33
Platz zum Schlafen auf Stroh angewiesen.
17
24.2.15
Am nächsten Morgen – nachts war noch ein Fahnenjunker Rindtorf von der 11.
Komp. zu uns gebracht worden – bekamen wir ein gutes Frühstück – Tee und geschmierte
Brote – dann mußten wir antreten zum Weitermarsch nach Grodno. Während wir standen und
warteten, versuchte ein Photograph uns zu photographieren, doch gelang es mir immer, ihm
im entscheidenden Moment meine Rückseite zuzukehren. Die Nähe der Front verrieten die
deutschen Schrapnelle, die in einiger Entfernung von uns hoch in der Luft zerplatzten; unser
Wunsch, daß mal einige ordentlich in das dichte Russengewimmel um uns herein hauten,
ging leider nicht in Erfüllung. Kosaken brachten uns dann nach Grodno. Sie benahmen sich
durchaus manierlich, einer wollte immer meine schönen gefütterten Lederhandschuhe haben
und mir seine wollenen dafür geben, als er aber die Erfolglosigkeit seiner Bemühungen sah,
gab er sich auch damit zufrieden. Die Verwundeten wurden auf Wagen nachgeführt. Nach
etwa 1 stündigem Marsche kamen wir durch eine mit Blockhäusern und Baracken bebaute
Vorstadt über die Njemen Brücke nach Grodno. In der Stadt gab mir eine ärmlich gekleidete
Frau 3 Rubel, für die ich, wie mir einer unserer polnisch sprechenden Leute verdolmetschte,
Brot kaufen sollte. In der Stadt wurden wir in ein großes Kanzleigebäude geführt, hier noch
mal vernommen in Listen aufgenommen und aller fiskalischen
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Ausrüstungsstücke wie Tornister, Koppel usw. beraubt. Dann ging es, ohne etwas zu essen
zu bekommen, ins Gefängnis, einem riesigen Steinkoloß. Hier auch erst wieder Eintragung in
Listen. Dann wurden wir in Zellen, mehrere Stockwerke hoch, untergebracht. Konrad,
Rindtorf und ich bekamen eine ganz saubere Zelle für uns, die durch eine dicke eiserne Tür
abgeschlossen war und nur ein kleines Guckloch zum Gang hatte. Da die Russen nur heißes
Wasser lieferten, schickten wir einen Wärter oder Soldaten mit 20 M in die Stadt, damit er
uns etwas einkaufte, er brachte einige kleine Weißbrote, etwas Knoblauchwurst, Tee,
Zigaretten und schlechte Schokolade mit und hat, dar das zusammen höchstens 2 – 3 R
kostete, ein schönes Geschäft gemacht.
Doch das Hauptbedürfnis war nach Stillung des ärgsten Hungers, zu schlafen und an
nichts zu denken und ich habe die ganzen 2 Tage, die wir in dieser Zelle zubrachten fast nur
gelegen und mich von den körperlichen und seelischen Strapazen der letzten Wochen und
Stunden ausgeruht und alles Nachdenken ausgeschaltet. Bei Gelegenheit des Austretens – auf
einem unglaublich verdreckten Orte – konnte ich auch Fühlung mit meinen Leuten
aufnehmen, die zu etwa 20 Mann in großen nur durch eiserne Gittertüren vom Gange
getrennten Zellen untergebracht waren. Von den Verwundeten, die zum Verbinden im
Lazarett gewesen waren, hörte ich, daß ein Offizier unseres Regimentes dort liege, es muß
wohl Kiefl von der 11. Komp. gewesen sein, denn Lohrberg mit seinem Unterleibsschuß
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ist erst später nach Grodno hereingebracht worden. Außerdem sah ich viele eingesperrte
Russen, vorwiegend polnische Juden; einem von ihnen fehlte die Zunge, so daß er nur
furchtbare Laute von sich geben konnte. Unsere Zelle war ganz leidlich eingerichtet, es
waren eine Bank und ein Tisch darin und ein großer runder Ofen. An der Wand waren mit
Stoff bespannte Rahmen, die man herunter klappen und mit dem freien Ende auf die Bank
auflegen konnte, so hatte man eine gute Schlafgelegenheit. Von unserem vergitterten Fenster
aus sahen wir sehnsüchtig über die Stadtweg nach Westen, wo man öfters weiße
Schrappnellwölkchen auftauchen sah und von wo man Kanonendonner hörte. Da der
deutschfreundliche Arzt im Lazarett den Leuten beim Verbinden gesagt hatte, die Lage der
Russen sei ernst, eine deutsche Division habe den Njemen überschritten und man hörte, daß
Gr. abgeschnitten werde, gaben wir uns bald schönen Hoffnungen hin, ja, als der Abtransport
zum Bahnhof nicht zu der ursprünglich festgesetzten Stunde erfolgte, glaubten wir schon, die
Bahn sei gesperrt und wir gerettet. Doch es kam ganz anders, am 25. oder 26. abds. mußten
wir raus, marschierten zum Bahnhof, wurden nach längerem Warten, umdrängt von vielen
18
Neugierigen, von denen viele Helme kaufen wollten, in Güterwagen verladen und fuhren am
anderen Morgen ab nach Wilna. Die Fahrt war recht ungemütlich, da man nur
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sitzen, nicht liegen konnte, aber es wurde wenigstens geheizt. In Wilna kamen wir bei klarem
Frost und Sonnenschein auf einem Militärbahnhof an und wurden in ein Barackenlager
geführt. Hier gab es zunächst ein warmes Essen, dann erfuhren wir, daß wir hier einige Tage
bleiben. Wir lagen zu etwa 200 in 2 großen Räumen mit 2geschossigen Pritschen, auf denen
dünne Strohmatten zum Schlafen lagen. Die Verpflegung war nahrhaft und ausreichend, 2x
am Tage irgendwelche Grütze und prachtvolles Weißbrot, das, wie man sagte, die Stadt W .
lieferte. Die Aufsicht hatten 2 Deutsche, ein Landwehrunteroffizier und 1 Gefreiter, die auch
russisch sprachen. Tagsüber konnte man spazieren gehen auf dem Kasernenhof. Meist lag ich
dösend auf meiner Pritsche. Gelegentlich kam neugieriger Besuch; so kam öfter ein junger
russischer Offizier, der mir und Konrad französische Zeitungen brachte, er hatte großes
Interesse an unserem deutschen Gelde, das er 30 R für 100 M wechseln wollte. Ein anderer
kam sogar mit weiblichen Wesen, denen er das Gefangenenlager zeigte. Einmal war ich in
der Revierstunde und ließ mir meinen Verband am Halse erneuern. Auch hier wurde deutsch
gesprochen, und ein jüdischer Sanitäter erbot sich wieder, Geld zu wechseln. Das beste an
Wilna war, daß man Postkarten nach Hause schreiben konnte, was wir dann auch mit Erfolg
taten. Auch von anderen Gefangenen, die über W. kamen, ist mir später gesagt
37
worden, daß ihre von dort geschriebenen Karten verhältnismäßig schnell zu Hause
angekommen seien.
Die Fahrt nach Tomsk
Doch der Aufenthalt im Wilnaer Lager war nicht erfreulich. Man hatte nichts
vernünftiges zu tun, die Unterbringung war sehr eng, und einige Leute verlumpten furchtbar
schnell. So war ich froh, als es am 28.2. oder 1.3. mittags wieder zur Bahn ging. Durch den
deutschen Uffz. hatte ich mir noch 50 M in 17,50 Rubel wechseln lassen. Auf dem Bahnhof
zwischen zahlreichen prachtvoll eingerichteten Lazarettzügen wurden wir verladen, etwa 200
– 250 Mann, vorwiegend 31. I.D. aber auch von den Regimentern um 260 herum. Ich ging
zusammen mit Konrad, Rindtorf und einigen Unteroffizieren der 11. Komp., von denen mir
noch ein sehr sympathischer aktiver Vizefeldwebel Hauptfleisch und ein Uffz. d. Res. Stüssel
aus Bielefeld in Erinnerung sind. Die Mannschaften unseres Wagens haben sich, solange ich
mit ihnen zusammen war und sie beobachten konnte, gut benommen. Sie halfen sich mit
Galgenhumor und vor allem mit Singen über die traurige Lage hinweg. Unvergeßlich sind
mir die langen Abende, wo wir, während der Zug uns nach Sibirien brachte, immer wieder
unsere Volks- und Soldatenlieder sangen, und am meisten: „Sei gegrüßt in weiter Ferne,
teure Heimat, sei gegrüßt!“
38
Das Lied, das, wie Franssen berichtet, schon unsere Soldaten in Südwest immer wieder
gesungen hatten und das ich auch in Frankreich so oft von unseren Leuten gehört hatte.
Die Unterbringung im Wagen war recht gut, da die russischen Militärtransportwagen
viel besser sind als unsere deutschen. Wir waren mit 2 oder 3 russischen Posten etwa 25
Mann und so fand jeder gut Platz auf einem der beiden Böden aus Bohlen. Wenn der Zug
fuhr, konnte man besonders gut schlafen auf den federnden Brettern. In der Mitte stand ein
eiserner Ofen, und daß gut geheizt wurde, dafür sorgten schon die Posten. Mit ihnen kamen
wir überhaupt gut aus. Sie kauften uns auf den Stationen Brot, Milch oder sonst etwas ein, sie
besorgten Holz und machten gar keine Ansprüche. Sogar harmlose Balgereien kamen vor.
Mit einem von ihnen, - wir tauften ihn seines kriegerischen Äußeren wegen Iwan den
Schrecklichen, und später stellte sich heraus, daß er tatsächlich Iwan hieß – hatte ich eine
besondere Freundschaft. Er schnitzte mir einen Holzlöffel und hätte zu gerne meine kleine
Pfeife gehabt, doch konnte ich mich darauf natürlich nicht einlassen, mußte ihm aber
19
versprechen, ihm später eine ähnliche zu schicken. Hierzu ließ er durch einen „des Lesens
und Schreibens kundigen“ ( xxxxx) Kameraden, Nikolaus, seine volle Adresse in mein
Notizbuch schreiben. mit den russischen Verkäuferinnen ging er oft sehr wenig freundlich
um, holte
39
bei ihnen Milch oder Brot für uns, und wenn sie dann Geld haben wollten, jagte er sie mit
dem Bajonett weg. Die Verständigung war sehr mangelhaft, teils Zeichensprache, teils halfen
einige Leute aus, die etwas polnisch konnten. Auch fingen Konrad und ich an, etwas russisch
zu lernen und versuchten zunächst die Namen der Station heraus zu buchstabieren und die
Zahlwörter zu lernen, damit man wenigstens einkaufen konnte. Verpflegung wurde selten
und unregelmäßig geliefert, gelegentlich gab es in großen Schüsseln Buchweizenkascha, und
Rindfleisch, auf Hölzchen aufgespießt, das gelieferte Brot war meist klitschig.
Von der Außenwelt sahen wir wenig, es ging meist durch eine ebene, oder leicht
bewegte, mit Schnee bedeckte Landschaft, in der von Zeit zu Zeit Dörfer und Städte mit
ihren grauen Holzhäusern lagen. Mit russischer Zivilbevölkerung kamen wir wenig in
Berührung; auf größeren Stationen kamen häufig irgendwelche, die scharf auf unsere Helme
waren, doch habe ich nie Unannehmlichkeiten gehabt, wenn ich meinen nicht herausrückte.
Nur einmal, in Grodno oder Wilna, mußte ich einem Offizier gegenüber deutlicher werden
und ihm übersetzen lassen, daß es seiner als Offizier nicht würdig sei, mir als einem
Wehrlosen gewaltsam den Helm wegzunehmen, worauf er sich zurück zog. Unsere Reise
ging über Smolensk , dann südlich Moskau (Tula ?) und weiter nach Pensa1.
Unser Transportführer war ein russischer Unteroffizier, der seine Sache recht
geschickt machte.
40
Er kam täglich und zahlte Geld aus, wir 3 bekamen 1,50 R, die Mannschaften 33 Kop., für
damalige Zeiten eine ganz ordentliche Summe. Die Mannschaften bekamen aber, soweit ich
mich erinnere, Geld nur an den Tagen, wo es keine Verpflegung gab, während uns keine
Verpflegung zustand. Über unser Reiseziel machten wir uns gar keine Gedanken, hatten ja
auch gar keine Ahnung, wo wir eigentlich waren und wohin es ging. Ich sehnte mich nur
nach Ruhe. Einmal sagte uns ein Zivilist, wir kämen nach Taschkent und dort sei es sehr
warm und es gäbe viel Obst, und beides lockte mich sehr.
Auf einer größeren Station lud man uns aus einem Lazarett 2 Österreicher ein. Beiden
war ein Bein abgenommen, und ich fand es empörend, daß man sie, anstatt nach Hause ins
Innere von Rußland oder Sibirien schickte. Einer von ihnen war aus Triest und konnte nur
wenig deutsch, er freute sich riesig, wenn ich meine paar italienischen Brocken herausholte
und mit ihm in seiner Muttersprache redete.
In Pensa verließen uns unsere alten Wachmannschaften, unsere 7 oder 8 Wagen
wurden an einen anderen, größeren Zug mit Gefangenen (Deutsche und Österreicher)
angehängt und die Bewachung wurde strenger. So wurde es uns verboten, den Wagen zu
verlassen, was natürlich nicht immer durchgeführt wurde. Ich konnte feststellen, daß ein
Wagen mit Offizieren im Zuge war und ließ durch einen
41
polnisch sprechenden Mann dem Transportführer 1 R versprechen, für den Fall, daß er mich
in diesen Wagen brächte. Am 2. Tag nach Pensa kamen wir morgens an die Wolga (Bratraki ?)
und fuhren zunächst längere Zeit an dem riesigen zugefrorenen und zu geschneiten Strom
entlang, dann darüber, über die Brücke, die ich auf 2 km Länge schätzte.
16.8.1921
Bald hinter der Wolga wurde ich von meinen Leuten getrennt. Gelegentlich eines
Haltes wurde draußen an unserem Wagen gefragt, ob hier deutsche Offiziere seien. Ich
erschien an der Luke und sah einen deutschen in Mannschaftsmantel, mit sehr struppigem
Bartwuchs und einer russischen Pelzmütze vor mir, ärgerte mich darüber, da ich unsere Leute
1
Pensa liegt
ca. 500 km südöstlich Moskau
20
zu beeinflussen gesucht hatte, nicht die russischen Uniformstücke zu tragen – die Russen
versuchten immer unsere Helme gegen ihre schmierigen Pelzmützen einzutauschen, oft mit
Gewalt – Meine Antwort fiel infolgedessen etwas schroff aus, worauf sich der Unbekannte
als Hauptmann Gerlach vorstellte. Schnell sprang ich aus dem Wagen heraus und war sehr
froh, als er mich – und nachher auch Konrad und Rindtorf – in einen Personenwagen nahm,
in dem etwa 10 deutsche und 20 österreichische Offiziere untergebracht waren. Es war doch
eine große Wohltat, nun wieder mit
42
Gebildeten zusammen zu sein, zumal da man uns sehr herzlich aufnahm. Sehr bald ließen
sich Beziehungen feststellen. Meine Abteilkameraden waren Hauptmann Gerlach, Führer des
Ers. Bat. L.I.R. 61 aus Danzig, früher aktiv, dann Landwirt im Kaukasus, zuletzt
Weinhändler in Danzig. Ein Bruder von Frau Pastor Wichmann, in deren Hause ich 1913
öfter gewesen war, dann Lt. Konstantin von Dietze, Ul. R. 3. Referendar, Pförtner Schüler,
als solchen hatte ich ihn schon 1908 in Pforta bei Geheimrat Muff gesehen, und Oberleutnant
Günther vom Jäg. Bat. 4 (Naumburg) im Felde R.J.R.61., aus Halberstadt, Reg. Assesor
Wehlau (Ostpr.). Auch zu ihm hatte ich mancherlei Beziehungen (Halberstadt), besonders da
ich später feststellte, daß er eine Komp. in Onkel Walthers Bataillon (I/R.I.61) geführt hatte.
Außerdem waren im Wagen: Hauptm. Taubaer (aktiv im I.R.26), Lt. Meynen (Hus.
Rgt. 3) Referendar aus Köln und Korpsbruder von R. Ötker aus Bielefeld, Held und
Weidemann (L.I.R.99) und einige Vizefeldwebel und Kriegsfreiwillige, die schon nach
wenigen Tagen von uns getrennt wurden. Neu war mir die Bekanntschaft mit Österreichern,
ein akt. Hauptmann Wesselsky, sehr weich, der auf jeder Station versuchte, in ein „Spital“ zu
kommen, da er „marod“ sei (ein Ehrgeiz, für den uns jedes Verständnis fehlte), und einige
43
jüdische Typen sind mir in Erinnerung geblieben. Die deutschen Herren waren alle an der
Mlawa-front in unglücklichen Einzelkämpfen gefangen genommen worden und freuten sich
sehr, von uns Näheres über die große erfolgreiche Masurenschlacht zu hören. Im Ganzen
herrschte eine etwas laute Stimmung in dem Wagen, jeder versuchte wohl etwas gewaltsam
auf andere Gedanken zu kommen. Abends wurde viel gesungen, wobei – wie fast immer bei
bunt zusammen gewürfelter Gesellschaft – manchmal ziemlich geschmackloses zustande
kam. Den 15. März gestalteten wir zu einer Feier, bei der durch Vorträge und Gesänge der
Iden des März mit dem Wunsche gedacht wurde, daß auch Nikolai Nikolajewitsch bald das
Schicksal Julius Cäsars erleiden möchte.
Die Unterbringung war recht bequem, es war ein Wagen 3. Kl. und jeder hatte zum
Schlafen eine Bank oder eine hoch geklappte Bahre. Sehr übel war mir die zunehmende
Unsauberkeit, nachts juckte es mich immer am ganzen Leibe und trotz allen Vorsätzen fing
man immer wieder an, sich zu zerkratzen. Besonders, da ich sehr bald feststellen konnte, daß
ich Läuse hatte, die sich trotz täglich 3 maliger scharfer Jagd immer vermehrten. Das war ein
ganz ekelhaftes Gefühl. Anfänglich zählte ich die erlegten Opfer, gab das aber bald auf, da
ich
44
immer sehr schnell in 2stellige Zahlen kam. An einigen Tagen, besonders an dem, den wir
auf dem Bahnhof Tscheljabinsk zubrachten, steigerte sich das Unbehagen zu scharfen
Kopfschmerzen. Die Verpflegung war ausreichend, meist war es einmal am Tage möglich in
einem russischen Wartesaal zu essen mit den gleichbleibenden Gerichten: Suppe mit
Rindfleisch (entweder Borschtsch – Rote Beete – oder Schtschi – Kohlsuppe - ) und dann
κοмгемсс = Fleischklöße mit Kartoffeln. In den Wartesälen gab es großartige Leckereien zu
kaufen, die uns allerdings meist zu teuer waren, so Braten als Aufschnitt, Äpfel, Apfelsinen,
Marmeladen und Zigarren, von denen wir uns einige mit deutschen Bauchbinden, auf denen
unser Kaiserpaar oder Bismarck abgebildet war, aus patriotischem Interesse kauften.
Gelegentlich wurde uns der Zutritt zu den Wartesälen verboten, dann kaufte man sich bei den
großen Verkaufsständen, die auf jeder Station waren und wo man billig Brot, Kringel
21
(сумки), Fleisch, roten Kaviar, Fisch, Spanferkel, Hühner, Milch, Zucker und anderes
erstehen konnte. Die notwendigsten Zahlen und die Frage скомко смом (Wie teuer ?) lernte
ich schnell, da Hauptmann Gerlach etwas russisch sprechen konnte und ein österreichischer
Fähnrich die russische Grammatik von Petroff hatte,
45
aus der ich mir die russischen Buchstaben aneignete.
Die Fahrt durch den Ural hat keinen besonderen Eindruck hinterlassen, da die Berge
nicht sehr gewaltig wirkten. Ich erinnere mich einiger Hüttenwerke, und loser Waldungen auf
sanften Höhenzügen, der Stadt , Ufa ganz schön am Abhange gelegen, durch die wir bei
scheußlicher Kälte hindurch kamen, und des Grenzsteines zwischen Europa und Asien.
In Tscheljabinsk lagen wir einen Tag; ein deutscher Stabsarzt (Dr. Henneburg aus
Hamburg) kam in den Zug und erzählte uns allerlei interessantes, von der Mißwirtschaft in
russischen Lazaretten, von kranken Türken, die man in verschlossenen Wagen hatte
umkommen lassen, und daß die Zahl der gefangenen Deutschen sehr gering sei. in den
letzten 4 Wochen seien etwa 1000 auf der Reise nach Sibirien durch Tscheljabinsk
gekommen.
In Omsk wurden wir einem anderen Transport angegliedert und kamen sehr eng und
unbequem in einen schmutzigen 4. Kl. Wagen. Im gleichen Zuge war ein 2. Kl. Wagen mit
österreichischen Offizieren, mit denen wir uns sehr anfreundeten, sie luden uns und wir sie
ein. Bei ihnen saß man in weißen Polstern und wurde mit Kakao und köstlichen
„Mehlspeisen“ bewirtet, da sie Köche, Bäcker und „Diener“ bei sich hatten. Bei uns gab es
nur harte Bänke und чам (Tee).
46
Wir sangen viel und waren recht ausgelassen. In Erinnerung blieben mir der Wiener
Maler Diez – der mich später in Tomsk gezeichnet hat – deutsch, sehr begabt aber etwas
energielos und etwas verkommen, ein deutsch-Böhme, Hauptmann, gerade aus und ehrlich,
und ein literarisch interessierter Wiener namens Möser, der auf Wunsch beliebig oft sang „Es
ist im Leben häßlich eingerichtet - - - Behüt dich Gott, es wär so schön gewesen, Behüt dich
Gott es hat nicht sollen sein“
Die sibirische Landschaft war recht eintönig, manchmal fuhr man einen ganzen Tag
durch glatte, schneebedeckte Ebenen, ohne Wald, die nur mitunter durch einige niedrige
Holzhäuser oder eine Kamelkarawane belebt war. So etwas von schwermütiger
Unendlichkeit war uns allen ganz neu, nur haben bei mir seelisches und körperliches
Unbehagen einen erfreulichen Eindruck davon unmöglich gemacht. Den Gang der Reise
konnten wir verfolgen, da einige russische Kursbücher mit Eisenbahnkarte vorhanden waren.
Am 20.III. morgens stellten wir fest, daß wir in Taiga (мацса = sibir. Urwald) von der
Hauptstrecke abgebogen waren und nun durch kümmerlich bewaldetes Hügelland nach dem
von Taiga 82 km in nördlicher Richtung entfernten Tomsk fuhren.
47
17.8.21
Tomsk Neue Kaserne
Am 20. März früh kamen wir auf dem Bahnhof Tomsk II an, wurden von einem
österreichischen Offizier, der als Slawe einen Posten bei den Russen bekleidete und zu
unserem großen Erstaunen frei herumlief, abgeholt und in die etwa ¼ Stunde entfernten
Neuen Kasernen gebracht. Diese waren eine große Militärstadt für 2 sibirische Regimenter
mit allem, was dazu gehört: Bädern, Küchen, viel Magazinen, Offizier- und
Beamtenwohnungen. Im Hause 58 kamen wir unter, einem 3 stöckigem Hause, das 12
Wohnungen von je 3 Zimmern und 1 Küche enthielt.
22
In Zimmer 1 kamen Gerlach, Günther, v Dietze und ich, in 2 Held, Konrad, Molt (Lt. I.R.
119 Stuttgart, war schon in Tomsk ) und Todt (ungarischer Leutnant der sich uns anschloß
und bis 1920 alles Unangenehme und Angenehme mit uns Reichsdeutschen teilte), in
Zimmer 3 Teubner, Weidmann und Meynen. Der erste Tag war sehr übel. In den Räumen
war es
48
kalt, mich plagten rheumatismusartige Schmerzen. An Einrichtung fanden wir nur eiserne
Bettstellen mit Brettern darin vor, einen Tisch konnten wir uns irgendwie besorgen. Ein
kaltes Mittagessen bekamen wir nur unter großen Schwierigkeiten von dem russischen
Kasinowirt (gegen Vorausbezahlung und Hinterlegung von Geld für Geschirr und Bestecke,
da „die deutschen Offiziere sonst alles stehlen würden)
Allmählich richteten wir uns ein. Hauptmann G. durfte in die Stadt fahren und
Wäsche und andere notwendigen Sachen einkaufen. Am 22. kehrte er allerdings
unverrichteter Dinge zurück, da alle Läden wegen der Einnahme von Prezemycl geschlossen
waren, aber am 23. brachte er die heiß ersehnte Wäsche, so daß man endlich den Dreck und
die Läuse los werden konnte. Außerdem machte er die wertvolle Bekanntschaft des
deutschen Bäckermeisters Grenig, der Strohsäcke verschaffte. Wir bekamen Burschen und
richteten eigene Küche und Verpflegung ein. In den ersten14 Tagen war es auch möglich, mit
mehreren Posten in die Stadt zu gehen und wir 4 Zimmergenossen nutzten dies fleißig aus.
20.8.
Sehr zu statten kamen uns Hauptmann Gerlachs Sprachkenntnisse. Bei großer Kälte
zog man morgens zu 3 oder 4 von 2 Russen mit Bajonett bewacht los. Die Kasernen lagen
hoch, durch Vorstädte stieg man herab zur Stadt, deren Mittelpunkt der große Marktplatz
war, wo ein großes Leben und Treiben
49
war und hunderte von Bauern ihre Waren feilboten. Jenseits des Marktes an einer wieder
ansteigenden Straße lagen verschiedene große Geschäfte, so das Warenhaus „Europa“ von
ВмороЬс (Ftoroff), wo man alle Kleidungsstücke in großer Auswahl und bis zur höchsten
Eleganz kaufen konnte. Aber unpraktisch, z.B. die von uns sehr begehrten
Hosenträgerersatzgummistrippen gab es nicht, nur zahllos ganze Hosenträger in den
extravagantesten Mustern. Sehr gut war die Drogerie von Stoll und Schmidt. Ebenso ein
deutsches Fleischergeschäft. Hier wurden wir sehr freundlich von dem deutschen Inhaber
angesprochen, und während unsere kümmerlichen Einkäufe eingepackt wurden, ließ er uns
ein großes Paket mit Aufschnitt aller Art zurecht machen, womit wir unser ganzes Quartier
beglücken konnten. Weiter bergauf lagen noch verschiedene öffentliche Gebäude wie die
große Kathedrale, die Gouvernementsverwaltung, die Universität, die Bergakademie u.a.
alles in einem etwas rohen und nüchternen und farblosen Klassizismus, die Kathedrale in
23
überreichen byzantinischen Formen, doch wirkungsvoll mit ihrer überragenden
Zwiebelkuppel. Der Tom machte keinen großen Eindruck, da er noch gefroren war. In der
Nähe des Marktes (Basares) lag auch die große Buchhandlung von Макумцг (Makuschin),
wo wir allmählich alle russisch – deutschen und russisch – englischen
50
Grammatiken (von Petroff und von Nurok), sowie einige deutsche Klassiker und
Ullsteinbücher aufkauften. Wie unsere Vermögensverhälnisse waren, geht daraus hervor, daß
wir, um einen 4 bändigen Goethe (von Reclam) zu kaufen, der 3,60 Rubel kostete, uns zu 4
zusammen tun mußten, zu einem Schiller (für 6 R) langte es nicht.
Auf dem Rückweg
sprachen wir dann noch gewöhnlich beim deutschen Bäcker Grenig vor, der aus Ostpreußen
stammend nach seiner Militärzeit nach Sibirien ausgewandert war und es durch fleißige
Arbeit zu großem Reichtum und Ansehen gebracht hatte. Er tat sehr viel für die
Kriegsgefangenen, hatte aber viel dafür zu leiden, da manche sehr unvorsichtig waren. So
wurde er auch bald verhaftet, und bis zu unserer Abreise (30.9.15.) war er noch nicht wieder
frei gelassen. Bei ihm kaufte man ganz ausgezeichnetes Gebäck (-----) Stück 4 Kop.
Auch eine evangelische Kirche war in Tomsk, ein unscheinbares Backsteinkirchlein
aus der Mitte des 19. Jahrh. In ihr hörten wir 2 x deutschen Gottesdienst. Es waren etwa 200
Besucher in der Kirche, darunter auch einige Kriegsgefangene. Das Gebet für die
Zarenfamilie, den Sieg der russischen Waffen usw. mußten wir geduldig über uns ergehen
lassen. Außer deutsch predigte der selbe Pfarrer noch russisch, esthisch und eine 4. Sprache.
Der Rückweg aus der
51
Stadt ins Lager war meist recht beschwerlich, da die Sonne gegen Mittag schon große Wärme
spendete, so daß die Straßen und Plätze zu großen Seen wurden. Meist nahmen wir uns eine
Droschke, die für 4 Mann 75 Kop. – 1 – R kostete und dann ging es wie der Wind durch tiefe
Pfützen, durch Schnee und Dreck.
22.8.21
Das Leben in der Kaserne war recht unerfreulich. Zwar zu essen usw. hatten wir. Nach 4
Wochen bekamen wir unser 1. Gehalt 50 Rubel pro Monat und von da ab mit einiger
Regelmäßigkeit bald nach dem 20. das betreffende Monatsgehalt. Im Juni wurde es
allerdings auf ca 28,- R. heruntergesetzt (Repressalien, weil Deutschland den russischen
Offizieren das Geld zu irgendeinem Zwangskurs auszahlte), doch auch damit ließ sich zur
Not leben, wenn man nicht Wäsche oder Kleidungsstücke kaufen mußte. Außerdem sickerten
vom Juli ab die ersten Geldsendungen aus Deutschland durch. Auch ich bekam 2 x 10 Rubel,
die damals ein beträchtliches Kapital waren.
Das Essen war recht gut, besonders im Vergleich zu dem, was wir in den späteren
Jahren vorgesetzt bekamen. Für 15. R im Monat hatten wir vollständige Verpflegung einschl.
Brot, Tee und Bedienung. Die Lebensmittel waren z.T. noch lächerlich billig, Brot kostete so
wenig, daß der Preis beim Veranschlagen keine Rolle spielte, Rindfleisch 17 Kop. das
(Pfund)(400 gr) Zucker 20 Kop.
52
1(Pfund) Butter 40 Kop., 1 (Pfund) Schweineschmalz 25 Kop., 1 Huhn 25 Kop. 1 Schnepfe
10 Kop., 1 Schneehase 10 Kop. (schöne kräftige Tiere, für das Fell gab es wieder 10 Kop.),
100 Eier für ca. 1 Rubel. 1 (Pfund) Honig 25 Kop.
Wir kochten in kleinen Gemeinschaften von 10 – 20 Mann. Wir hatten (von Juli ab ?)
einen sehr tüchtigen und angenehmen Koch, einen österreichischen Zugführer, der von Beruf
Fleischer war (in Nordböhmen) ein sehr brauchbarer (sprach Russisch) und zuverlässiger
Mensch. Er war Tiroler Kaiserjäger. Ich hatte viel mit ihm zu tun, da ich damals die Leitung
unserer Küche hatte, und bedaure, daß ich nach unserer Trennung im Sept. 15. nie wieder
von ihm gehört habe. Morgens tranken wir Tee mit Zucker und aßen Butterbrot dazu,
24
Feinschmecker aßen Weißbrot geröstet. Mittags war eine kleinere Mahlzeit, im Sommer oft
saure Milch, und abds die Hauptmahlzeit.
All die Essensfragen spielten bei uns eine ziemlich untergeordnete Rolle, im
Gegensatz zu den Österreichern, die sich stundenlang über die „Menage“ unterhalten und
ereifern konnten.
Sehr unangenehm war der Mangel an Bewegungsfreiheit. Nur zu bestimmten Zeiten
(Im Hochsommer nur 1½ Stunden gegen Abend) durften wir aus der Kaserne. Und dann lief
alles wie die Sträflinge
53
auf dem abgesperrten Raume rings um das Haus herum. In den übrigen Stunden saß man auf
seinem Zimmer und las – in der Stadt bei Makuschin war eine Leihbibliothek von deutschen
Reclambüchern - , arbeitete, schlief, machte oder erhielt Besuch u.a.
Unser Lager hatte sich nämlich immer mehr gefüllt. Alle 2 – 3 Tage kamen Trupps
von 10 – 20 Herren an, meist Gefangene aus den Kämpfen bei Prasnitsy. Und da gab es viel
zu erzählen. Und mancherlei Beziehungen ließen sich feststellen. Zunächst traf ich einen
Landsmann, Dr. Prieß aus Bielefeld, der als Oberlt. beim R.I.R. 256 in der Winterschlacht
gefangen war, dann verschiedene Herren, die Onkel Walther1 kannten wie Peter Bruhn vom
R.I.R 21, und den Bruder von Ursels Freundin Heta Schlüter, Kurt Schlüter, Lt im Füs. Regt
34, von dem ein ganzes Bat. unter Hauptmann Schimmelpfennig bei Praßnitz gefangen war.
Auch Österreicher und Ungarn trafen immer mehr ein, und unter ihnen waren die
verschiedensten Typen vertreten, deutsch – Böhmen, Tiroler, Wiener, Juden, Polen, Galizier.
Alle Slawen genossen Vorrecht, hatten freien Ausgang und kamen bald in die Stadt in
bessere Quartiere. Sehr gern denke ich an 4 türkische Offiziere zurück, die einige Wochen
mit uns zusammen waren. Sie
54
waren in ihren Lebensgewohnheiten nicht immer ganz europäisch, aber sehr fleißig, und
deutschen herzlich zugetan. Bei uns im Zimmer waren sie oft zu Besuch und erzählten uns
und ließen sich erzählen. Einem, Hussanndin Effendi, gab ich deutschen Unterricht. Als sie
wieder wegkamen luden wir sie auf unser Zimmer zu Tee und Kuchen ein. Aus einem alten
Mützenschachtel hatte ich ein Transparent gemacht, daß den Halbmond mit dem Stern rot
leuchten ließ. Sie freuten sich riesig darüber und haben uns den ganzen Abend türkische
Lieder (vom Sultan Suleiman, der auf Galipoli begraben liegt, u.a.) vorgesungen. Schon nach
wenigen Wochen kamen sie in ein anderes Lager, und nur einen habe ich später
wiedergesehen, Hadi aus Tripolis, mit ganz schwarzen glänzenden Augen. 1915 saß er immer
stumm dabei, da er kein Wort deutsch oder französisch konnte, 1918 im Juni sahen wir uns
in Atschinsk, wo er in einem Transport Österreicher und Ungarn stand, die aus Pestschanka
kamen, und da sprach er sehr gut deutsch.
In unserem Zimmer (Gerlach, Günther, v. Dietze und ich) war es anfangs recht
gemütlich. Wir vertrugen uns recht gut und alle 3 waren interessante und eigenartige
Menschen, sodaß es nie langweilig wurde. Dazu kamen die vielen Besuche, denen wir
besonders ausgesetzt waren, da Gerlach der älteste deutsche Offizier war. Das war oft recht
lästig, denn man war ja immer gezwungen, alles mit anzuhören.
55
Leider wurde Anfang Mai v Dietze strafversetzt in ein anderes Lager in der Stadt (Er hatte
nämlich Tagebuch geführt und dies unvorsichtiger weise nach Hause geschrieben, sodaß die
Russen es erfuhren). Von da ab war ich etwas vereinsamt und auch ins Hintertreffen geraten.
Denn vorher waren wir zu 2 jüngeren eher in der Lage, uns durchzusetzen, als ich allein
gegen die beiden älteren Herren. Dazu kam, daß beide im Lauf des Sommers immer mehr
sich den übrigen Herren der Wohnung und des Lagers entfremdeten, wovon ich gegen
meinen Willen schließlich auch in Mitleidenschaft gezogen wurde. Und das Zusammenleben
mit beiden war nicht immer leicht. Hauptmann Gerlach war ein außerordentlich ausgeprägter
1 Walther Petri, 2.3.1880-16.4.1935
25
Charakter, immer gerade heraus, aber in manchem komisch. Nach sehr strenger Jugendzeit in
einem altlutherischen Pfarrhause, war er in Posen aktiver Offizier geworden, und zwar ein
recht flotter. Dann nahm er den Abschied, weil er heiraten wollte und kein Geld hatte und
ging als Farmer in den Kaukasus. Doch er kam nicht so recht auf den grünen Zweig, kehrte
nach Deutschland zurück und wurde Weinhändler in Danzig. Doch viel Freude hat er wohl
nicht daran gehabt und für ihn war der Ausbruch des Krieges eine richtige Wohltat. Im Felde
als Führer eines Landwehr Bataillions hat er jedenfalls hervorragendes geleistet und
sicherlich nicht umsonst schon 1914 das E.K.1. bekommen (für Deckung des Rückzuges des
56
Korps Zastrow aus Ziechanow). Er vereinigte in einem mir nicht ganz faßlichen Grade eine
derbe Lebensfreude mit einer strengen Religiosität, war abergläubisch und las immer wieder
in der Offenbarung Johannis, deren Erfüllung er in unserer Zeit zu sehen glaubte. Manchmal
mußte man sein frisches Urteil, sein schnelles und praktisches Erfassen einer Lage
bewundern, manchmal auch über die Enge seiner Gesichtspunkte staunen. Er spielte viel und
schlecht Schach, noch mehr und schlechter Skat, traute sich aber immer, wenn er einen fand,
der ihm das Geld abnahm. Bücher las er fast garnicht, das Literarische lag ihm nicht, er hatte
wenig Geschmack und Kritik. Es lag ihm auch nicht immer, den richtigen Umgangston zu
finden, und so vereinsamte er immer mehr, zumal er auf keinem Gebiet eine überragende
Persönlichkeit war. Sehr viel unsympathischer war Herr G. Korpsstudent,
Regierungsassessor und borniert. Kollossal patriotisch. Monokel. Gönnerhaft. Oft recht
unterhaltend und immer von sehr korrekten Umgangsformen. Mir gegenüber stets sehr
liebenswürdig. Und wie atmete ich auf, als ich im Oktober 15 in andere Gesellschaft kam.
26.8.21.
Sonst hatte ich wenig Verkehr. Beim Spaziergang ging ich häufig mit Oberlt. Nausch
(Reg. Ass. bei der Zollverwaltung), der als Schüler des Gymnasiums in Höxter unsere
Familie kannte1.
57
5.9.
Ein sehr kluger und geschmackvoller Mensch, der sich aber wenig Freunde erwarb, da er
seine Person immer in den Vordergrund zu schieben wußte. Oft war ich auch in dem uns
benachbarten (nach Südosten gelegenen) Badener Quartier, wo ich mit Hitzig (aus Freiburg,
Philologe) Kegel (Maarfelder Bergmann) Schwing (Notar in Freiburg) und Kujanek
(Postbeamter aus Posen) zusammen war und mich wohler fühlte als im eigenen Zimmer.
Gelegentlich besuchte ich auch Herrn Prieß, oder den einzigen Architekten, Herrn Könitz
(Reg??? in Stolp).
Das Leben in Tomsk bot natürlich eine Unmenge des Ungewohnten und Interessanten,
woraus ich einiges hervorheben möchte. Sehr schön war die Lage der Kasernen. Sie lagen
hoch an einem Ende der Stadt, auf unserer (Südwestseite) der Kaserne 58 (am Nordostende
des Lagers) hatte man vom Dach einen feinen Blick auf auf die Stadt und ihre Gärten im Tal.
So unerfreulich die russischen Städte (und Dörfer) oft in der Nähe wirkten, (durch Schmutz
und einzelne Geschmacklosigkeiten) so schön ist ihr Gesamtbild, da eine wohltuende
Einheitlichkeit im Baustoff und Bauart – (Blockhäuser mit weißen Fensterumrandungen und
flache
58
Metalldächer) immer wieder geschlossene Bilder hervorbringen, wie wir sie kaum noch
kennen. Große Städte wie z.B. Omsk bilden in ihren europäisch sein sollenden Hauptstraßen
allerdings ein häßliches Gegenbeispiel. Der Blick von unserer Kaserne nach Südosten zeigte
reine Natur, ein Tal mit einem Flüßchen und Wiesen, auf denen viel exerziert wurde, und
bewaldete Hänge. Oft war ich bei den Badener Herren, um mich an diesem Anblick zu
erfreuen. Der Blick aus unseren Fenstern auf den Kasernenhof war recht wenig erfreulich, die
Kasernen waren ganz schematisch nach irgendwelchen in Petersburg oder Paris aufgestellten
Plänen (wie in allen sibirischen Garnisonsstädten der xxxxxxx -die Militärstadt - ) ohne
1 Hermann Petris Vater war Lehrer an diesem Gymnasium.
26
irgend welche Rücksichten in die Gegend gesetzt, und nicht ein bißchen war getan, um die
Häuser und den Platz durch Anlagen oder Gärten wohnlich zu gestalten. Auch die viele
Russische Wirklichkeit, meist Frauen der im Felde stehenden Offiziere und Beamten, machte
einen recht unangenehmen Eindruck. Ein ziemlich komische Figur war unser Kommandant,
der Oberstleutnant Klagin. Alles andere als eine militärisch korrekte Erscheinung, wie wir es
von unseren Offizieren verlangen,
59
hatte er seinen Posten bekommen, weil er gut deutsch sprach. Er war vorher Polizeioffizier
gewesen, und mag im russischen Überwachungs- und Spitzelwesen eine brauchbare Person
gewesen sein. Wie mit seinen Schikanen und oft unangenehmen Maßregeln persönliche
Launen und wie seit er seine Stellung und seinen Vorgesetzten schuldig war, weiß ich nicht,
jedenfalls war er ein windiger, unerfreulicher Charakter. Auch die russische Gewohnheit, daß
Befehle gegeben, aber deshalb noch lange nicht ausgeführt werden, mußten wir uns erst
anlernen. Mir fiel es jedenfalls sehr schwer, wenn am Tage vorher zum x-ten Male ein
schwerer Befehl herausgekommen war, die gefang. Offiziere dürften unter keinen Umständen
in die Stadt, doch hinzugehen und um Konvoi (Begleitperson) zu bitten, die einen zum Arzt
oder in irgend ein Geschäft brachten. Doch er fand nichts dabei, und genehmigte die Bitte
meist, wenn man beharrlich blieb. Seine Wohnung war, wie die der anderen Offiziere auch,
äußerst kümmerlich eingerichtet, desto mehr Geld wurde für Essen und Trinken und die
Kleider der Frauen ausgegeben.
Seine Frau war eine ganz besonders tolle Person. Man sagte, sie sei ehemalige
Zirkusreiterin, was nach ihrem Auftreten nicht unwahrscheinlich war. Immer schlampig und
gemein,
60
wirkte sie besonders fein, wenn sie mit einer alten Bratpfanne Roßäpfel für ihren Garten
suchte – daß sie als einzige einen Garten hatte und pflegte, war ein sympathischer Zug an ihr
– oder wenn sie ebenso betrunken wie ihr Mann sich im Garten auf dem Boden wälzte.
[Nebenbei bemerkt war es nicht immer erfreulich, wie sich die Kriegsgefangenen Kameraden
bei solchen Gelegenheiten benehmen und es vielfach sehr an der dringend gebotenen
Zurückhaltung fehlen ließen.]
Von den vielen wechselnden Verschärfungen oder Verbesserungen unserer Lage habe
ich das Meiste vergessen, gerade an meinem Geburtstag1 wurde die Spaziergangszeit von 2
auf 1 Stunde beschränkt. Sehr lernten wir bald das russische Schwitzbad schätzen, in das wir
wöchentlich 1 – 2 mal geführt wurden. Aus der Art der Behandlung wollten manche auf die
Lage an der Front schließen, ich glaube aber, daß sie damit dem Russischen Bürokratismus
ein System und ein schnelles Arbeiten zutrauten, das ihm beides gleich fremd war. Ein
russischer Unteroffizier hatte nur den Auftrag, bei unserem Spaziergang darauf zu achten,
daß wir nicht mit Zivilbevölkerung, besonders Zeitungsjungen in Berührung kamen, und er
besorgte dies auch gründlich. Aber war der
61
Rundlauf beendet, so ging er von Wohnung zu Wohnung und verkaufte die Frontmeldungen,
nur daß er nicht 2, sondern 10 Kop, nahm. Doch so wußten wir was los war, und verfolgten
mit größtem Interesse und den schönsten Hoffnungen die große Festungsoffensive und was
sonst so vor sich ging. Hatten wir doch durch die Bank viel zu optimistische Vorstellungen
über die Dauer des Krieges – im Gegensatz zu den Russen, die von Anfang an mit mehreren
Jahren rechneten.
Eine ganz besondere Aufregung gab es wenn Post ins Lager kam. Auch ich war einer
der Glücklichen, die schon im Juni Nachrichten von zu Hause bekamen, als erstes, wenn ich
mich recht entsinne, ein Päckchen Zigarren von Herrn Pastor Schener, dann eine Karte von
Vater und Herrn Prieß' Schwester und Schwager (aus Dortmund?), bald auch eine
telegraphische Geldanweisung, regelmäßige Karten von Hause und einige andere, wie z.B.
1 14. August
27
eine Einladung nach Dedensen zum Kirschen pflücken. Dann (wohl im August) kamen die
ersten Bücherpäckchen, die große Freude erregten. Ein Heft – japanische Novellen und
Gedichte – hatte ich immer behalten, bis es mir im August 1920 auf der Flucht mit meinen
anderen Gepäck gestohlen wurde.
Der Trieb nach Unterhaltung ließ sehr bald die Kaffeegesellschaften weite
Verbreitung finden. D.h. auf unserer Stube fanden sie kaum Anklang und auch ich
62
beteiligte mich nur selten daran, teils aus Mangel an Verkehr, oder Geld, teils aus Abneigung
gegen die oft glatte und alberne Unterhaltung. Nur die silberne Hochzeit meiner Eltern,
(8.7.15) feierte auch ich und lud dabei außer meinen Zimmerkameraden Herrn Prieß (als
Bielefelder) und Herrn Nausch (als Höxteraner) zu Kaffee und Torte ein. Ein Kartengruß
kam in Bielefeld an.
Allerdings haben wir ohne es zu ahnen, einen Tag zu spät gefeiert. Meinen Geburtstag
überging ich wie in den späteren Jahren mit Stillschweigen, da ich es wenig erfreulich fand,
wenn man in Gefangenschaft wieder ein Jahr älter geworden war.
Fluchtpläne wurden viel geschmiedet, aber kaum ausgeführt. Ein sehr unbegabter
Versuch eines österr. Fähnrich Wind, der mit einem Kameraden zu Fuß in Wickelgamaschen
und mit Rucksack losging – aller 3 so unrussisch wie nur möglich – endete natürlich sofort
mit Mißerfolg. Auch Hauptmann Herlag schmiedete Tag und Nacht die abenteuerlichsten
Pläne, die wir ihm immer wieder auszureden versuchten. Zweifellos ein Fehler, denn
vielleicht wäre es ihm doch geglückt. Auch das ich mich nicht von Anfang an mit solcher
Energie wie z.B. Dietze auf das Lernen der russischen Sprache warf, ist sicher ein großer
Fehler gewesen, denn 2½ Jahre später nach der Revolution kamen Zeiten, wo man sie gut
hätte gebrauchen können,
63
und wer rechtzeitig russisch gelernt hatte, hatte manchen Vorteil, unter Umständen die
Möglichkeit der Flucht. Und diese Möglichkeit hätte man vom 1. Tage an durch fleißiges
Russischlernen und allmähliches Umwandeln der Kleidung usw. anstreben sollen. Zum
Russischlernen war es jedenfalls nie zu spät, und ich bin sehr froh, es doch noch getan zu
haben, abgesehen davon, daß ich meiner Kenntnis der Sprache eine um mehr als
½ Jahr frühere Heimkehr und manche interessante Beobachtung verdanke.
Unbegreiflich war mir die Faulheit und Leichtfertigkeit vieler, die bis zum letzten
Tage nicht einmal die Anfangsgründe lernten, besonders viele der aktiven Herren, denen dies
doch besonders nahegelegen hätte.
Ende August merkte man aus verschiedenen Anstalten der Russen, daß sie irgend
etwas mit uns vorhatten. Es war ja gewöhnlich so, daß wochenlang von irgend welchen
Plänen gesprochen wurde, bis man selbst nicht mehr so recht daran glaubte, so oft wurde es
hinausgeschoben. Bis schließlich ganz plötzlich irgend eine „Evakuierung, Einwaggonierung
und Transferierung“ erfolgte. Im August 15 mußten eines Tages nun das Nachbargebäude, in
dem u.a. die Kanzlei und die Wohnung des Oberslts untergebracht war, von allen
Österreichern geräumt
64
werden und alle reichsdeutschen zogen zusammen hinein. Diese Umzüge waren immer sehr
unerfreulich. Man verbesserte sich selten, die Übergangslage war scheußlich ungemütlich
und die Platzfrage gab immer unfehlbar Anlaß zu den unerquicklichsten
Auseinandersetzungen. Hier hatte der Umzug nur den Zweck, die Nationen auch grob
sinnlich wahrnehmbar zu trennen, auf dem Papier und lediglich auf Listen brachten die
Russen (und die auf den Kanzleien beschäftigten Slawen) das nämlich nicht fertig. Dann, ich
glaube am 3. September hieß es mit Sack und Pack antreten, Koffer, Tische, Betten usw.
wurde verladen und wir marschierten durch die Stadt hindurch, bis wir auf der jenseitigen
Höhe mitten zwischen viel Birkengärten unser neues Quartier erreichten, das xxxxxxxx
28
(Isossimovs Haus) – In Rußland werden alle Häuser nach dem Besitzer genannt. - Dieser
Umzug war (im Gegensatz zu denn meisten späteren) eine große Verbesserung. Wir kamen
in ein großes russisches Holzhaus, aus dem am Morgen eine Anzahl österreichischer und
ungarischer Herren ausgezogen war und uns Platz gemacht hatten. Die zurückbleibenden
Reichsdeutschen (unter dem Kommando des Hauptmann Klein I.R. 17) hatten alles sehr gut
vorbereitet und als wir von den Russen durch das Eingangstor eingelassen waren, wußte
schon jeder, wo er unterkam.
65
6.9.21
Bei uns in den neuen Kasernen hatte die Unterbringung in lauter Einzelwohnungen
von 10-15 Herren, das Durcheinander aller Nationen und Glaubensbekenntnisse und vor
allem das Fehlen einer geeigneten Persönlichkeit dahin geführt, daß jedes Quartier für sich
allein dahin lebte. Hier zwang die einheitliche, ziemlich enge Wohnung auch zur
einheitlichen Regelung aller gemeinsamen Interessen und Hauptmann Klein hatte durch eine
glückliche Verbindung von militärischer Kommandogewalt mit der Tätigkeit von allen
gewählten Beamten und Ausschüsse ein uns imponierende Organisation geschaffen.
Schon als wir vor dem Hause auf Einlaß warteten, hatte ich eine große Freude, ich
entdeckte unter den am Fenster stehenden Herren meinen Regimentskameraden Lohrberg,
der am 23.2. einen Schuß in den Unterleib bekommen hatte und den ich für gefallen hielt, da
ich nie trotz vieler Erkundungen etwas über seinen Verbleib hatte erfahren können. Sein
Schuß war schnell und gut geheilt und er war auch schon seit dem Frühjahr in Tomsk, ohne
daß wir voneinander wußten.
Was das Leben im „xxx xxxxxxxxxx“ so sehr viel angenehmer als in den „Neuen
Kasernen“ machte war einmal das Fernseien von allen Russen, und dann daß wir nur
Reichsdeutsche waren und uns ganz unter uns und zusammengehörig fühlten.
66
Wir waren 86 Offiziere usw., gerade genug, um mancherlei verschiedenartigen Verkehr zu
haben, und doch nicht zu viel, man lernte sich gerade noch kennen. Die Unterbringung war
etwas eng. Wir lagen in kleinen oder größeren Zimmern, 3-14 Mann im Zimmer. Die
Verpflegung war ausgezeichnet, die Leitung der Küche hatte Herr Korte, Stadtgartendirektor
in Essen, aus Herford kommend, ein sehr gewandter und geschickter Mann. Gekocht wurde
von deutschen Mannschaften. 2 der Burschen durften jeden Tag einkaufen gehen, so daß man
täglich alles gewünschte aus der Stadt bekommen konnte. Der Garten war klein, aber bis auf
den letzten Platz ausgenutzt zu einem kleinen Faustballplatz, Beeten, Anlagen und Lauben,
Turngerät und Spazierweg. Die Zeitung wurde von der Redaktion (von Dietze) übersetzt,
vervielfältigt und lief dann von Zimmer zu Zimmer. Lieferant der Zeitung war der
„Wassermann“, der Russe, der mit seiner Tonne das Wasser für Haus und Küche fuhr.
Zuverlässig war er allerdings nur solange er nüchtern war. Hatte er sich von dem an uns
verdienten Geld einen Rausch angetrunken, so entwickelte sich ein großer Deutschenhaß bei
ihm und dann brachte er keine Zeitung. Ich war wieder mit Gerlach und Günther auf ein
67
Zimmer gekommen, doch kam man hier viel mehr mit anderen Leuten zusammen, und für
den Winter hatte ich allerlei Arbeits- und Beschäftigungspläne.
Eine sehr große Annehmlichkeit, die uns Neuen großen Eindruck machte, war die
Bücherei unter Leitung unseres nachher durch 5 Jahre bewährten Bücherwartes „Anton“
Raedt. So war alles geordnet und was in unserer Macht stand, um das Leben erträglich zu
machen, war geschehen. Sehr wohltuend wirkte auch, daß wir nicht mehr in der Kaserne
sondern in einem hübschen Bürgerhaus, das mitten zwischen 4 großen Gärten lag,
untergebracht waren.
Auch materiell war es eine Verbesserung, da hier besser gekocht wurde, außerdem
gab es jeden Tag Kaffee und vorzüglichen Kuchen für billiges Geld, und hier kamen die uns
in den Neuen Kasernen kaum bekannten „Jausen“ zu allen möglichen Gelegenheiten sehr in
29
7.9.21
Schwung. Kurz, eine große Zahl von Vorzügen durften wir kennen lernen, um gerade zu
empfinden, wie viel sie wert waren, und dann schleunigst weiter zu kommen.
2. Hälfte September tauchten die ersten Gerüchte auf, alle deutschen Offiziere
sollten nach dem Osten gebracht werden. Sie verdichteten sich immer mehr und wir in
unserem Optimismus waren geneigt, sie für eine Markierung unseres Heimtransportes oder
gar
68
für seine erste Etappe zu halten, zumal uns die günstige Lage auf der Ostfront einen baldigen
Frieden erhoffen ließ. Am 30.9. wurde gepackt, wir marschierten zur Bahn und fanden hier
noch etwa 40 deutsche Offiziere aus einem anderen Hause der Stadt und unsere
österreichisch- ungarischen Kameraden von den neuen Kasernen vor. So war glücklich
wieder alles durcheinander, nachdem mit vieler Mühe eine Trennung durchgeführt war. Die
Verladung ging schrecklich umständlich vor sich. Durch das Aufrufen nach dem Alphabet
wurden alle Gruppen auseinander gerissen, und nach einiger Mühe fand ich eine leidliche
Unterkunft im Abteil der Gruppe Prieß. Von der etwa 10 tägigen Fahrt ist mir nur wenig in
Erinnerung geblieben. Zunächst hatte ich die große Freude, unter den neuen Herren 2
Regimentskameraden, Oberlt. Schreiner und Lt. Lambertz, beide 10/137, vorzufinden, die
ich beide von Frankreich her gut kannte, die am 10.4.15 bei Kalvaria gefangen genommen
waren und die viel interessantes von meiner Gefangennahme von der anderen Seite aus
gesehen, und von den weiteren Schicksalen des Regts zu erzählen wußten. Der Bahnhof
Krasnojarsk, wo wir einen Tag Aufenthalt hatten, machte einen sehr unfreundlichen und
schmutzigen Eindruck, der mir 3 und 5 Jahre später genauer bestätigt wurde. Dort lag der
erste Schnee.
69
Zwischen Tomsk und Krasnojarsk sahen wir viel von dem sibirischen Urwald (Taiga)
und viele Spuren der Riesenwaldbrände, [die uns in Tomsk oft Wochenlang jede Aussicht
nahmen und manchmal als ganz dichter Nebel in Erscheinung traten, sodaß man keine 10 m
weit sehen konnte]. Irkutsk, durch das wir gegen Abend fuhren, war von der Bahn aus als
eindrucksvolles Städtebild hinter der Angara mit vielen Türmen und Kuppeln zu sehen. Dann
fuhren wir durch das breite Tal der sehr breiten und wasserhaltigen Angara zum Baikalsee,
den wir abds 10h bei der Station Baikal erreichten. Hier wie an den anderen Bahnhöfen der
Baikal-Uferbahn gab es ausgezeichneten geräucherten Fisch zu kaufen. Das erste Stück am
Baikalsee entlang mit den vielen (40?) Tunneln fuhren wir leider nachts, erwarteten aber mit
größter Spannung den Sonnenaufgang. Unser frühes Aufstehen und Warten auf der kalten
Plattform wurde durch einen prachtvollen Anblick belohnt. Vor uns sahen wir die
Riesenwasserfläche des Sees, halblinks die teilweise in Wolken gehüllten hohen Felsen
seines Westufers, beschienen von der aufgehenden Sonne.
Am Nachmittag hinter der Station xxxxxxx (Myssowaja) verließen wir den See und
bogen in das Tal der Selenga ein, das mich mit seinen hohen mit Nadelholz bestandenen
Bergen viel an die Fahrt Partenkirchen – München erinnerte.
70
Wohl noch am selben Nachmittag kamen wir nach Werchne-Udinsk und hielten hier bei
einem großen Gefangenenlager Beresowka. Auf der einen Seite waren viele Offiziere,
darunter auch einige Deutsche (wie ich später hörte, war auch Leo Petri1 bei ihnen),
gegenüber – und streng von ihnen getrennt – war ein großes Mannschaftslager. Von den
Mannschaften konnten wir viel über die schlechte Behandlung und vor allem mangelhafte
Vepflegung hören. Außerdem bekamen wir hier Extrablätter mit der Meldung, daß Bulgarien
Rußland den Krieg erklärt habe.
Etwa 2 Tage später schon im Dunkeln kamen wir in Tschita an. Wir hatten zwar
gehört, dies sei unser Bestimmungsort, da man aber in Rußland nie bestimmtes wußte, wir
auch den Russen ein Ausladen bei Nacht nicht zutrauten, legten wir uns ruhig schlafen. Aber
1 Leo Petri, 1879 - 1969
30
gegen 12 wurden wir mit großem Getöse geweckt, mußten unsere Sachen packen, draußen
antreten und uns stundenlang zählen lassen, was natürlich nie stimmte, da es vollständig
dunkel war, und die Russen konnten ja nicht einmal bei Tageslicht zählen, dann ging es mit
viel Hetzerei des Konvois einen ziemlich steilen Berg hinauf. Kein Mensch wußte, was
eigentlich los war, wohin es ging und warum diese Hetze. Vorsichtshalber schleppte jeder
sein Gepäck mit.
71
8.9.21
Dieser nächtliche Einzug (in Pestschanka, wie wir am folgenden Tage erfuhren) ist eine der
übelsten Erinnerungen, und bei allen sammelte sich eine so große Wut gegen die Russen
wegen dieser sinnlosen Maßregel, daß es mich wunderte, daß es nicht zu Handgreiflichkeiten
kam. Wo man eine Baracke entdeckte, suchte man Unterkunft, es war ein heilloses
Durcheinander, außerdem war man von dem Gepäckschleppen müde und heiß und fror dann
in der recht kalten Nacht scheußlich. Nach langem Herumlaufen glückte es mir, einen
leidlichen Platz auf einer Pritsche in der Gruppe Lohrbergs zu finden, ja ich entdeckte sogar
noch eine xxxxxxx (Wasserküche), wo es mitten in der Nacht den landesüblichen xxxxxxxx
(kochendes Wasser) gab, so daß man sich etwas stärken konnte.
Als es hell wurde, wachte man in einer großen unwirtlichen Baracke auf, in der
zwischen 2 Seiten und 1 Mittelgang 4 Reihen 2-geschossige Pritschen standen, also eine
richtige Massenunterbringung. Jeder hatte nur seinen Schlafplatz, sonst nichts. Solche
Baracken standen vielleicht 50 -100 in dem Lager. Davon abgesehen hatte das Lager manche
Vorzüge. Es lag landschaftlich sehr schön in den Bergen, und einzelne Leute, die schon
länger hier waren, erzählten von den schönen Ausflügen, die sie in der ersten Zeit noch ohne
Posten hatten machen können, und verkauften auch Edelweiß, daß sie damals gepflückt
hatten.
72
Auch das jetzt eingezäunte Lager bot noch Platz genug zum Herumlaufen. So dauerte z.B.
ein ganzer Rundgang an der Grenze entlang etwa ½ Stunde und bot viel schöne Fernblicke
auf die umliegenden hohen Berge. Natürlich sollte diese Herrlichkeit nicht lange dauern,
denn kaum waren wir da, als die Russen auch schon Pfähle einschlagen und Stacheldraht um
unsere Baracken ziehen ließen, so daß man sich weder in noch außerhalb der Baracken
rühren können sollte. Ein anderer Vorzug war die Berührung mit den Mannschaften, die uns
hier (solange unser Stacheldrahtzaun noch nicht fertig war) zum 1. Mal und für lange Zeit
zum letzten Mal ermöglicht wurde. Zum Teil lagen sie in einem benachbarten Lager, fanden
aber immer Möglichkeit zu uns herüber zu kommen. Sehr beliebt war es, darauf zu
spekulieren, daß die Wachtposten nicht lesen konnten. Unsere Leute schrieben sich
irgendwelche Unsinn in deutscher Sprache auf einen Zettel, „stempelten“ ihn durch
abdrücken einer deutschen Münze und weisen ihn als Paß vor. Die Leute wußten viel von
ihren Erlebnissen, von schlechter Behandlung, Verpflegung usw. zu erzählen, verkauften ihre
Erzeugnisse wie Aluminiumringe, Blechleuchter, Bilder, Rahmen u.a. und soweit unsere
dürftigen Mittel (28 Rubel im Monat) reichten, kaufte man ihnen ab. Im Allgemeinen war
auf beiden Seiten Freude über das Zusammensein, man half sich wo man konnte und kam gut
miteinander aus. Wir trafen auch eine Reihe 137er1, z.T. mit uns gefangene, und halfen ihnen
mit unseren kümmerlichen Mitteln. Ich bin überzeugt, daß es für beide Teile Offizier wie
Mannschaften, von großem Vorteil gewesen wäre, wenn die Russen sie zusammen gelassen
hätten und beiden menschenwürdige Arbeitsgelegenheit gegeben hätten.
73
Dann wären unsere Leute nicht so verloddert und boschewistisch verführt nach Hause
gekommen.
Haupmann Klein machte sich nun gleich mit der ihm zu solchen Aufgaben eigenen
Energie und Ordnungsliebe daran, die von Tomsk her bewährten Einrichtungen auf die neuen
größeren Verhältnisse zu übertragen und Ordnungen für unser Leben zu schaffen. Es wurde
1 Infantrieregiment (IR) 137
31
die eigene Beköstigung vorbereitet, Herde gebaut, die in der Nacht wild durcheinander
gewürfelten Nationen wieder getrennt, eine Liste der älteren Herren aufgestellt, für die es
gelang, Zimmer aufzutreiben, in denen bisher die sehr zahlreiche öster. ung. „Intelligenz“
wohnte, Turnen, Spiel und Sport, Baden, Zeitungsvorlesung usw. wurde geordnet. Bis zur
Fertigstellung unserer Küche übernahmen die vielen vorhandenen öster. Ung. „Menagen“
unsere Verpflegung, wo wir gut aßen und freundlich aufgenommen wurde. Dann begann ein
großes Zimmern und Tischlern. Jeder bemühte sich um Tisch und Stuhl, die für Zimmer
auserlesenen machten sich mit Feuereifer an das Säubern (Wanzen!), Weißen und Einrichten
ihrer Zimmer und steckten die letzten Kopeken hierein, um sich eine anständige Unterkunft
für den Winter zu schaffen. Natürlich erlebte keiner, daß er seinen Bau beziehen konnte.
Nach etwa 10 Tagen hieß es plötzlich: Packen und noch am selben Tage wurden
74
wir d.h. alle Reichsdeutschen Offiziere, - ca. 90 aus Tomsk, ca. 40 aus Barnaul und Bisk, ca. 20
aus Antipicha - verladen, aber diesmal ging es geregelter zu, denn Hauptm. Klein hatte
Aufsicht und Einteilung übernommen.
Aus dem Aufenthalt in P. verdienen noch Erwähnung die Konzerte, die, veranstaltet
von der im Nov. 14 gefangenen Kapelle des I.R. 94 oft in unserer Baracke stattfanden und
eine Unmenge Gäste herbeilockten. So vor allem eine Reihe türkischer Herren, die, einige
Tage nach uns eingetroffen, sich viel an uns anschlossen. In Erinnerung ist mir von ihnen
eine prachtvolle charakteristische Erscheinung, ein großer stattlicher Kurdenhäuptling mit
schönem schon etwas grauen Vollbart und großer Pelzmütze. Man erzählte von ihm, er habe
schon etwa 24 Feldzüge mitgemacht, und er sah ganz danach aus. Sodann war es mir eine
Freude, unter den Mannschaften einen Wingolfphilister1, Prof. Ölgarte aus Stettin, der als
Kriegsfreiwilliger im I.R. 34 gefangen war, kennen zu lernen, mit dem ich manche
genußreiche Stunde beim Schachspiel und auf Spaziergängen verlebte und dem ich beim
Abschied noch durch einen Band Goethes Gedichte erfreuen konnte.
Auf dem Bahnhof stießen zu uns noch 17 deutsche Herren, die bisher in einem nahen
Lager (Antopicha) gewesen waren und nun mit uns nach Osten fuhren. Von ihnen lernte ich
bald 2 kennen, Herrn Backhaus aus Bielefeld, Vetter unseres Landrates, und den Unterarzt
Dr. Stratherenn, ehemaliger
75
Pförtner Schüler2. Am 2. Tage der Bahnfahrt sahen wir das erste Eis auf den Flüssen.
Untergebracht war ich diesmal mit Lohrberg und einigen seiner Tomsker Zimmergenossen
darunter Lichtenstein (aus Ostpreußen, Lehrer in Berlin) und Starke (aus Dortmund,
Bankbeamter in Bln). Viel war ich mit Herrn von Dietze zusammen, der im selben Wagen
fuhr. Als erste bemerkenswerte Station ist mir Mandschuria3, die Grenzstation zwischen
Rußland und der Mandschurei, in Einnerung. Von hier an durch die ganze Mandschurei gab
es manche Sachen auffallend billig (da zollfrei) zu kaufen, so Zigarren, eingemachte Früchte
– eine Dose Ananas 35 Kop. - auch Wäsche und Jacken – die ich in Mandschuria ganz billig
kaufte und Schnaps, der hier erlaubt war. Der Bahnhof Mandschuria glich einem großen
Warenlager. Sehr viel Käufer fanden auch die mit chinesischen Drachen geschmückten
Zinnbecher, die als chin. Erzeugnis gekauft wurden, aber wohl europäischer Kitsch waren.
Mandschuria lag schon in der baumlosen, ganz ebenen Steppe, über die ein eisiger Wind fegte.
In der Mandschurei wurde die Bahn sehr streng bewacht. Überall sah man viel russisches
Militär, und starke Befestigungen gegen die Tschungusen. Unser Zug wurde bei jedem Halt
von Militär umstellt. Trotzdem machten an der südlichsten Stelle, bei Charbin4 (das wir
nachts erreichten) 2 Herren einen Fluchtversuch. Sie wollten von Charbin
76
1 Studentische Verbindung „Wingolf“
2 Internat „Schulpforta“
3 Die Grenzstadt Mandschuria heißt jetzt Manzhouli. ( 满洲里 )
4 Die Stadt Charbin wird heute Harbin geschrieben. ( 哈 滨 )
32
aus auf Pferden, die ihnen ein polnischer Eisenbahner besorgen wollte, Peking erreichen. Es
waren von Dietze, der ganz gut russisch sprach und zu solchen Unternehmungen wohl
geeignet war, und der etwas zweifelhafte Kavalier de Landas, der als Großkapitalist mitging.
Sie sprangen aus dem fahrenden Zuge aus dem Fenster, da auf beiden Plattformen Posten
standen, d.L. aber so umständlich, daß sie wohl hierbei schon gefaßt wurden. Als wir in
Charbin einliefen, wurden sie auch bald angebracht, aber es dauerte sehr lange bis die Russen
heraus hatten, wo die beiden fehlten. Sie zählten unseren Wagen in dem wir uns gerade
schlafen gelegt hatten mehrmals durch, und hatten immer die richtige Zahl. Die Stiefel der
beiden Ausreißer hatten wir ins oberste Pritschengeschoß gelegt, so daß es aussah, als ob die
dazugehörigen Herren oben lagen. Ich glaube, sie zählten die von uns aufgebauten Stiefel der
beiden mit, bis sie dahinter kamen, daß in den Stiefeln keine Leute steckten.
Auf de Landas ging der Transportführer gleich los und schlug ihn in seiner Wut ins
Gesicht, daß er fiel. Dann ging er auf D. los, der kam ihm aber zuvor und versetzte ihm eine
Ohrfeige, daß er hinfiel und sich den ganzen Hosenboden aufriß. Da rief er seinen Soldaten
zu, sie sollten D. erschießen, sie stießen ihn auch zu Boden mit ihren Kolben, kamen aber
wohl mit dem laden nicht so recht zustande. Inzwischen verrauchte auch die Wut des
Transportführers einigermaßen und beide wurden in Krasnaja Rjetschka in den Strafpavillon
eingeliefert. Aber die zerrissene Hose wurde an den 2 – 3 folgenden Reisetagen nicht
geflickt. Eine gegen v D. eingeleitete Gerichtsverhandlung verlief im Sande.
77
Hinter Charbin kam eine interessante, eigenartige Landschaft. Hohe Gebirge, die die
Bahn in großen Windungen erstieg, mit ganz spärlichem Baumbewuchs, aber in ganz
seltsamen, uns ausländisch anmutenden Farben, viel Braun und Blau mit Übergängen ins
Violett. Ein schöner Sonnenuntergang in diesem fernen Lande ist mir unvergeßlich.
Bei Pogranitschnaja kamen wir aus der Mandschurei wieder auf sibirisches Gebiet, es
war ein echt sibirisches Städtchen, lauter Holzhäuser, die der Eingeborenen vielfach äußerst
kümmerlich, der Bahnhof Talmi. Europa mit übereleganter russischer Weiblichkeit. In
Nikolsk-Ussuriisk unweit Wladiwostok bogen wir von der Hauptbahn ab und fuhren längs des
Ussuri, immer über mächtige Nebenflüsse, dieses Nebenflusses des Amur, nach Norden.
Am 28.10. vorm. hielten wir mitten in der Gegend bei einem Stationsgebäude namens
Krasnaja Rjetschka (Rotes Flüßchen), wurden von einem gut deutsch sprechenden
xxxxxxxxxx (Hauptmann) hoch zu Roß empfangen – eine noch nie dagewesene
Pünktlichkeit – und marschierten nur mit leichtem Gepäck durch Schnee auf einem
Eisenbahndamm ins Lager Nikolo-Alexandrowskaja.
78
Naumburg 30. Nov. 1921
Der in Minden im Herbst gemachte Versuch, diesen Gefangenschaftsbericht wesentlich
zu fördern, hat mir gezeigt, daß ich mit der bisherigen Weitschweifigkeit nicht
weiterkomme, und ich habe beschlossen, nun kürzer einen Rahmen des äußeren
Geschehens zu bringen, um noch einmal fertig zu werden, und dann später, soweit
Zeit, Platz und Lust vorhanden, einzelne Kapitel nachträglich unter anderen
Gesichtspunkten ausführlicher zu behandeln.
Lager Nikolo-Alexandrowskaja, Pavillon 7.
Also am 28. Okt. 1915 vorm. nahm uns der Kapitän Walitzki (Rechtsanwalt aus Warschau,
einer der geriebensten Leute, die ich kennen lernte, er schwamm immer oben auf, unter dem
Zaren, nach der 1. Revolution und auch nach 1918 bei den Bolschewiken) am Bahnhof Krasnaja
Rjetschka (der ganz einsam in kümmerlichem Walde lag) in Empfang und führte uns etwa 1
Stunde durch schneebedeckte Wälder der Militärstadt Nikolo-Alexandrowskaja, bestehend aus etwa
1 Dtz. großer Backsteinkasernen, mit allem Zubehör, weit ausgedehnt am Ussuri liegend, etwa 12
km oberhalb dessen Einmündung in den Amur bei Chabarowsk. Auffallend schnell, ohne daß wir
irgendwo lange warten mußten [er war eben kein Russe!], brachte er uns in den für uns
Krasnaja Rjetschka
33
bestimmten „Pavillon“ VII ein ebenerdiges Gebäude,
79
80
dem Vernehmen nach früher zu einer Munitionsfabrik (?) bestimmt, das 6 große Säle und
eine Anzahl kleinerer Räume hatte. Sehr angenehm empfanden wir, daß es überall erträglich
warm war, eine Zentralheizung – die den ganzen Winter vorzüglich arbeitete, war in Betrieb,
an Einrichtung war vorhanden für jeden eine eiserne Bettstelle (auf deren Eisengeflecht wir
uns die ersten Nächte, ehe unsere Koffer und Matratzen kamen, Muster in den Rücken
lagen), ein „Nachtkasterl“ d.h. ein Schränkchen von 80cm Höhe, ca. 45/45cm im Grundriß mit
2 Fächern, ein Schemel und für 8 Mann ein großer Esstisch. Weniger angenehm berührte uns
die Unterbringung in großen Sälen, da wir durch das Wohnen in Zimmern verwöhnt waren.
Doch wir richteten uns bald so gut es ging ein. Zunächst wuchs unsere Schar bald auf 250
Offiziere an, durch einen Transport aus Irkutsk und einen aus Wexchnendinsk und Beresowka.
Hierbei entdeckte ich zu meiner großen Freude Leopold Petri aus Bremen und auch manch
anderen, wie Herrn von Wietzigerode,
Lt. in Onkel Pauls Komp. (2/I.R.95) und als solcher am 27.9.13 in Granow ? kennen gelernt,
und Herrn Schöne, Oberlehrer in Elbig und al. port. Lagerältester wurde jetzt Major Beyer,
ein älterer, schon vor dem Kriege verabschiedeter Herr, der sich mehr für seine
81
1.XII.1921
wissenschaftlichen Liebhabereien interessierte, als daß er mit Verstand und Folgerichtigkeit
versucht hätte, die Leitung eines so vielseitig zusammengesetzten Offizierlagers in den
Händen zu behalten.
Ich war in Saal V verschlagen und erwischte einen Fensterplatz. So ein Beziehen
eines neuen Lagers war immer eine ziemlich wüste Sache und man war dabei sehr auf den
Zufall angewiesen. Zumal in jenen Anfängerjahren, und wenn Hauptmann Klein keinen
34
Einfluß auf das Verfahren hatte. Jeder suchte unterzukommen, wo er am schnellsten einen
günstigen Platz fand oder zu finden glaubte. Denn es war beim Betreten eines Raumes nicht
leicht, gleich Vorzüge und Nachteile der Plätze abzuwägen und dann noch einen
wünschenswerten Platz frei zu finden. Und die Mangelhaftigkeit eines Platzes konnte die
verschiedensten Gründe haben: Kälte, Zug, Dunkelheit, Störung durch Vorübergehende,
darüber oder daneben wohnende Nachbarn mit lärmenden oder sonst störenden Tätigkeiten
oder Angewohnheiten, die Nähe sächsisch sprechender Männer oder – und das war meist und
überall der Fall, - der Zwang ekelhaftes Gewäsch niedrigster und einfältigster Art, sei es
politisch oder allgemein, mit anhören zu müssen. Den Gipfel in dieser Beziehung bildete der
Kompagnieofen der Baracke 25 in Kansk im Winter 19/20. Doch davon später. Diesem Spiel
des Zufalls und des am Schnellsten Laufen und Zugreifenkönnens
82
suchte man in späteren Jahren entgegenzuwirken, indem man nach Lebens- oder Dienstalter
die Führer der größeren oder kleineren – durch Zufall oder Neigung entstandenen – Gruppen
wählen oder losen ließ, doch auch diese Weltverbesserung vermochte nur einen ganz groben
Ausgleich zu schaffen. Nur ich muß dabei anerkennen, daß ich es oft noch auffallend günstig
getroffen habe, besonders dadurch, daß ich am 30.8.18 in Kansk mit der Kompagnie Oberlt.
Trauf in die bei weiten anständigste Erdbaracke (No. 25) kam. Auch in Kr.R. hatte ich Glück.
Saal 5 war nicht so sehr Durchgangssaal wie 4, durch den andauernd starker Verkehr ging,
und der allabendlich zur Kontrolle, die in einem Hammelsprung durch seine Eingangstür
bestand, aus allen Sälen Massenbesuch erhielt, der Lärm und Rauch und Gestank
verursachte.
Mein Nachbar in 5. war Gust. Lichtenstein, Lehrer aus Ostpreußen in Berlin, ein
durchaus bescheidener und anständiger Mensch, der mir nie die geringsten Schwierigkeiten
gemacht hat. Mit ihm ließ sich recht gut zusammen hausen, obgleich ich nicht gut zu ihm
paßte und er mir auch wegen tiefer Wesensverschiedenheit nicht nähertrat. Mit ihm gehörte
ich zur Gruppe Korte. - Wir mußten uns zu Tischgruppen von je 8 Mann zusammenschließen
– die aus der Gemeinschaft Korte – Raedt –
83
La Baume- Krämer und den Außenseitern Rogge und Schleutker bestand. Das Zu- und
abnehmen der gegenseitigen Zuneigungen während der 13 Monate Kr.Rj. zu schildern wäre
vielleicht eine dankbare Aufgabe für einen Psychologen, hier nur so viel, daß ich (und
Rogge) sich mit Schleutker im Sommer 1916 derart verkrachten, daß er unter großen
Schwierigkeiten in einen anderen Saal zog, und daß ich Kortes unaufrichtige glatte Art sehr
daneben schätzen lernte, so daß mich beim nächsten Umzug nur der Gedanke leitete, weg
von ihm, auch wenn ich mich deshalb von den anderen seiner Gruppe trennen mußte. Mit
allen anderen 5 aber habe ich mich bis zum Schluß der Gefangenschaft gut vertragen und
stehe auch heute noch in Briefkontakt mit ihnen, soweit das möglich ist.
Im Saale versuchte man sich nun einzurichten. Die Stellung der Betten wurde immer
wieder geändert, um irgendwie Platz zu gewinnen, und aus dem gleichmäßigen
Nebeneinander der Plätze sonderten sich immer mehr größere oder kleinere Gruppen aus.
Man beschaffte sich Tische, zunächst durch „Übernahme“ der Gartentische unserer
Vorgänger, dann tat sich ein Tischler auf, der Tische, Lehnstühle, Bücherregale und anderes
anfertigte. [So raffiniert die Russen uns von den Mannschaften trennten, ebenso gründlich
verhinderten sie auch, daß wir selber uns handwerklich betätigten.] Dann kamen Vorhänge
auf und wuchsen immer mehr in die Höhe. Jeder Einzelne oder jede Gruppe grenzte sich
immer entschiedener von der
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Umwelt ab durch Kattun(?) Vorhänge, die an Stangen hingen die ihrerseits am Bett befestigt
waren. Natürlich wurden die Vorhänge von den Russen verboten, woraus folgte, man mußte
sie abnehmbar machen. Jedes mal, wenn der Lagerkommandant, Oberst Wysotzki, [dem das
Lager N.A. (einschl. russ. Garnison) unterstand, Kapitän Walitzki hatte nur die
35
Kriegsgefangenen unter sich.] kam – und er kam täglich – ging es (nach Benachrichtigung
des angsterfüllten wachhabenden russischen Unteroffiziers) wie ein Lauffeuer durch das
Lager „der Oberst kommt“, und alle Vorhänge verschwanden.
Die Verpflegung war recht mäßig. Vor dem Lager, aber gleichfalls von Stacheldraht
umgeben, lag eine Küche, in der ein kaukasischer Unternehmer für uns und andere Kasernen
einen Massenfraß herstellte, der ihn reich machte und uns kümmerlich ernährte. Kein
Wunder, daß für die einzelnen Gerichte Bezeichnungen wie „Gehackter Hund“ „Toter
Chinese“ und anderes sich bald einbürgerten.
Unsere Kasernen umgab ein rechteckiger Hof, ging man seine Außenseiten ab, so
hatte man mit 1 Runde ½ km zurückgelegt, dies ergab den täglichen Spaziergang. Außerdem
war ein Faustballplatz da, auf dem bei fast jedem Wetter gespielt wurde. Eingezäunt wurde
das Lager zunächst von einem Stacheldrahtzaun, der sogenannten Demarkationslinie, und
etwa 2½ m dahinter einem 4 m hohen Bretterzaun,
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der uns von der Umwelt so gründlich absperrte, daß nur ein ferner Höhenzug (die Entfernung
wurde auf 10 – 40 km, die Höhe auf 500 – 2000 m geschätzt) und einige Bäume in der Nähe
darüber hinwegsahen. So war es ein großes Ereignis, als man im September 1916 an einer
Ecke jenseits des Zaunes ein Baugerüst emporwachsen sah, dem dann bald das Hochmauern
eines Wasserturmes (durch Chinesen) folgte, von dem ganzen Lager mit größter Spannung
beobachtet. „Belebt“ wurde der Zaun durch 6 Postenhäuschen, von denen aus wir bewacht
wurden. Auch das war eins der täglichen Ereignisse, daß der Oberst kam und die Posten
begrüßte: xxxxxxxxx ! worauf die rituelle Antwort folgte: xxxxxxxxxxx . („Morgen Leute!“
und „Morgen Herr Oberst!“) Einmal im Monat war auch Gelegenheit, aus dem Zaun heraus
zukommen, anläßlich der Führung zum Bad. Wir haben diese wertvolle Einrichtung des
Dampfbades sehr zu schätzen gelernt, die allein genügen sollte, die anmaßende Behauptung
des Europäers, er sei reinlicher als die Russen, zu widerlegen. Von Posten streng bewacht
und des öfteren gezählt – was in Rußland ja immer eine Staatsaktion ist, die nur selten glückt
– zog man etwa ½ Stunde durch mancherlei Kasernen, Schuppen, Magazinen und
Exerzierplätze bis zum „Echt russischen Dampferbad“ am Ussuriufer und hatte außerdem
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garnicht hoch genug einzuschätzenden Vorteil des Dampfbades (mit allerdings sehr
primitivem Aus- und Ankleideraum) noch die Möglichkeit, ein Stück Welt zu sehen, den
schönen Blick über die Eis-(oder Wasser-)massen des Ussuri nach Chabarowsk hin zu
genießen und gelegentlich Mannschaften oder Offiziere aus anderen Teilen des Lagers zu
sprechen.
Nun kurz noch einige Einzelheiten über den Ablauf der 13 Monate, die wir in
Krasnaja Rjetschka absitzen mußten. Am 28.X.15 trafen wir ein, bei leichten Schnee und
Frost. Der Schnee fiel immer stärker, doch der tägliche Massenspaziergang bahnte immer
wieder Wege. Der Frost stieg bald auf -20° R, eine Höhe, die er meist erreichte, wie
bedeutend überschritt. Als das Lager voll besetzt war, wurden bald Kurse eingerichtet, ich
beteiligte mich an „Russisch für Anfänger“ bei Herrn Löblich, der gut russisch sprach, aber
nicht unterrichten konnte, und auch nur die schlechte Grammatik von Petroff hatte, und an
Stadtp. bei La Baume. Dazu kam noch Italienisch bei Leo Petri (privat).
Weihnachten wurde festlich und wehmütig begangen, zunächst Predigt von Juhl,
anschließend Verlosung zugunsten der Mannschaft, dann Einzelfeiern, ich war in Saal 1 bei
der Gruppe Liegener (Oberleutnant Liegener – gefallen 18 in Frankreich, Hermann Däse –
Referendar aus Danzig – Franz Spohn – Bankmensch aus Danzig – Glage – Kaufmann
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aus München, später im Irrenhaus (+?) - und Leos Stubengenossen Rittm. v. Helldorf und
Hauptmann Mannig) und bei glänzender Verpflegung - schwarzer Kaviar, harter
Gänsebraten und vieles andere! - feierten wir den 24. XII. Nachher saß ich auch noch eine
Weile bei unserer Gruppe Korte, wo es dann noch die von mir mit vorbereiteten
36
Scherzgeschenke und Gedichte gab. Es war doch ein recht kümmerlicher Notbehelf, lief aber
gut und ohne Rührung ab, nur blieb natürlich die nächtliche Ruhestörung durch Viecher, die
zu viel getrunken hatte, nicht aus. Am 1. Weihnachtstage war ich früh auf und konnte lange
allein bei dichtem Schneegestöber draußen herumlaufen.
Sylvester war ein sogen. Bunter Abend angesetzt, da ich aber die meisten Schlager
des Programms (regelmäßig kamen: die Landsknechte im Himmel, die Lederhosen, Mutter,
es ist unser Sohn, Er war auf der Leipziger Straße.) schon kannte, drückte ich mich, ging früh
ins Bett, genoß die Ruhe des fast leeren Saals und las das bißchen Post, das mir das Jahr
1915 gebracht hatte, immer wieder. Ein Verfahren, das sich auch später bei anderen
Gelegenheiten bewährt hat. Bald nach Neujahr kam nach etwa 3 Monaten Unterbrechung
wieder Post ins Lager, auch ich hatte mehrere Karten mit guten Nachrichten und einen Brief
und von da an gab es mehre Jahre ziemlich regelmäßig Post, höchstens mal 2 – 4 Monate
Pause. Eine große Freude war uns allen, als am 2. und 4. Dez. 1915 eine
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deutsche Schwester, Frl. von Walsleben, kam und uns Grüße von zu Hause brachte. Man
empfand ihren Besuch dankbar wie ein Stück Deutschland. Dann kam Ende Februar die
aufregende Zeit der Verdun Offensive. Mit Eifer wurde das bißchen Kartenmaterial des
Lagers ausgetauscht und vervielfältigt, alles vernünftige Arbeiten war unmöglich bei der
Unruhe, mit der man unsere Nachrichten verwertete, und beschämend niederdrückend legte
sich wie Blei das traurige Gefühl, nun in Sicherheit zu sein, auf uns nieder, was ich nie
vorher so brennend empfunden hatte.
Im Frühjahr, Anfang April, kam wieder eine deutsche Schwester, die Gräfin Üxküll,
wieder eine große Freude für uns, begleitet von einer sehr erfreulichen Geldunterstützung, als
kleine Entschädigung für das zu wenig gezahlte Gehalt (Repressalien vom Sommer 1915).
Je wärmer es wurde, desto mehr veränderte sich das Bild und umso mehr hielt man
sich außerhalb des Hauses auf. Das bißchen Land rings um das Haus wurde eifrig bebaut mit
Gemüse und Blumen aller Art. Es entstanden Sitzplätze, besonders in dem vom Verkehr
abgelegenen Innenhofe. Hier entstanden auch großartige Badeanstalten, zuerst wohl in
unserer Gruppe. Ein kleines ½ m großes Fäßchen wurde auf einem Pfahl aufgebaut,
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mit einem Holzkran versehen, daran eine durchlöcherte Konservenbüchse gehängt und das
Brausebad war fertig. Ringsherum wurde ein billiger Vorhang gehängt, der im Laufe des
Sommers immer mehr durch eine Sonnenblumenhecke überflüssig gemacht wurde. Die
Badeanstalt erfreute sich lebhaften Zuspruchs seitens aller Gruppenmitglieder und der
geladenen Gäste, und ist sicher eine einfache Einrichtung, die Nachahmung verdiente.
Im Sommer 1917 wurde sie erweitert, d.h. anstatt der Konservenbüchse eine
Gießkannenbrause befestigt, und als es Herbst 17 wurde, nahmen wir die ganze Einrichtung
mit ins Haus und bauten sie im Waschraum auf, da ich mittlerweile noch eine große flache
Zinkbadewanne von ca. 1 m Durchmesser erworben hatte, sodaß ich nun Sommer und
Winter täglich duschen konnte, was mir ausgezeichnet bekam.
Schwierig war mitunter in Krasnaja Rjetschka die Wasserbeschaffung. Der Volksmund
behauptete, ein Brunnen bestehe nach den Plänen in unserem Lager, auch seien seiner Zeit
die Mittel dafür verausgabt worden, zu finden war er aber nicht und wir bekamen all unser
Wasser //Trink – und – Wasch-// in Fässern von dem ½ Stunde entfernten Ussuri auf Wagen
oder Schlitten herauf gefahren. Daß dieses Wasser nicht immer einwandfrei war, ist
begreiflich, denn
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die Kutscher schöpften dort, wo es ihnen am bequemsten war. So legten sich einige Herren
Aquarien an mit Stichlingen und anderen Lebewesen, die dem Waschwasser entnommen
waren, und im Teewasser, das häufig gemein schmeckte, war meist ein ziemlicher
Bodensatz. Im Sommer, wohl im Mai, gab es mit einem mal viel Geld, da unser Gehalt
wieder von 28,20 R auf 50 R im Monat heraufgesetzt wurde, und außerdem jedem der Betrag
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von 152,- R nachgezahlt wurde, nicht bar, sondern als Konto. Nun ging ein großes einkaufen
los, Wäsche, Schuhzeug, Rasierwasser und ä., und vor allen Tabak und Lebensmittel wurden
in großen Mengen gekauft, damit nicht etwa plötzlich der Abtransport uns überraschte und
wir unser Guthaben noch nicht klein hätten. Die Organisation des Einkaufens war nicht ganz
einfach. Zunächst wurden die Bestellungen gruppenweise gesammelt und nach 8 Rubriken
(Lebensmittel, Wäsche, Scheibwaren usw.) geordnet. Dies wie anderes besorgte bei uns ich.
Die Gruppenbestellungen wurden nun wieder saalweise zusammengestellt, dann die
Saalbestellungen fürs ganze Lager und deutsch und russisch aufgeschrieben.
Hiermit durfte etwa alle 2 – 3 Wochen ein russisch sprechender Herr (Herzberg, Löblich u.a.)
in die Stadt fahren und die großen Kaufhäuser auskaufen, eine
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nicht ganz einfache Aufgabe, da bei 250 Männern entsetzlich viel Sonderwünsche waren.
Kamen dann die gekauften Sachen, so wurden sie auf umgekehrtem Wege verteilt, was nicht
immer ohne Reibereien abging, und dann kam die Abrechnung, meist mittels Konto, da die
Russen uns kein Bargeld in die Hand geben wollten, natürlich ein vergebliches Bemühen, da
wir Mittel fanden, die Konten in Bargeld umzuwandeln – womit allerdings auch nicht viel
gewonnen war -.
Ein anderes Ereignis im Sommer, das große Begeisterung hervorrief, war die
Seeschlacht am Skagerak. Aus den russischen Zeitungen war klar zu erfahren, wie sehr man
in London bestürzt war, erst am 2. Tage fing man in London an, einen Sieg in die Welt
hinaus zu rufen.
Doch sehr bald wurde unsere Freude gedämpft, als wochenlang täglich eine große
Siegesmeldung nach der andere von der Brussilow Offensive an der russisch – galizischen
Front kam. Das Vorrücken der Russen war schrecklich bedrohlich, täglich konnte man auf
der Karte neue Linien markieren. Allmählich dank deutschem Eingreifen wurde es dann
wieder ruhiger, und wir erlebten noch in Krasnaja Rjetschka das Eintreffen der ersten
ungarischen Gefangenen vom Juni, unter denen ganz sympatische Leute waren.
92
Im Laufe des Sommer trieb ich eifrig mit Herrn Stausch zusammen italienisch, wir
arbeiteten den ganzen Gaspry-Sauer durch und fingen wohl auch schon Lektüre und Berlitz
an. Außerdem las ich mit Hitzig und Sulewski Schillers „Briefe über die ästhetische
Erziehung des Menschen“, was bei der großen Hitze nicht immer leicht fiel, und schließlich
nahm ich an einem Kursus im Aquarellieren teil, zu dessen Leitung Herr Martini –
Baugewerkschuloberlehrer in Weimar – 2 x in der Woche aus einem anderen „Pavillon“ zu
uns herüber gelassen wurde. Erschwert wurde das Arbeiten einmal durch die schreckliche
tropische Hitze – in den Kasernen schimmelte alles Lederzeug, Brot u.a. – und dann durch
die Fliegen und Mücken jeder Art die uns keine ruhige Minute ließen und zu allgemeinem
tragen von Mückenschleiern und zum Zusetzen der Fenster mit Netzen zwangen.
Die Zusammensetzung des Lagers unterlag ständigem Wechsel, kleinere oder größere
Gruppen kamen in andere Kasernen, andere kamen neu hierher. Zu erwähnen ist nur, daß in
unser bis dahin reichsdeutsches Lager im Sommer die ersten „feldgrauen“ Österreicher und
Ungarn kamen und daß im Juli etwa 20 deutsche Herren kamen, die „erst“ im Frühjahr 16
gefangen waren, und die uns, die wir alle seit August 14 draußen und spätestens Anfang 1915
gefangen waren, eine Unmenge Neuigkeiten
93
aus dem Felde und aus Deutschland erzählen konnten. In unsere Gruppe kam auch einer,
Dücker, Volkswirtschaftsstudent aus Frankfurt, der mit mir und Lichtenstein zusammenzog,
und mit dem wir uns etwa 1 Jahr gut vertragen haben, bis er andere Genossen aufsuchte. Im
Sommer kam auch aus einem anderen Pavillon zu uns der Fürst Adolf von BentheimTecklenburg-Reda, der sich bald wie wohl kein 2. im Lager, allgemeiner Beliebtheit erfreute,
da er nicht ein bißchen Hochmut hatte und auf den verschiedensten Gebieten unermüdlich
arbeitete. Für mich war es besonders interessant, mancherlei heimatliche Beziehungen mit
38
ihm gemeinsam zu haben. Besonders großes leistete er im Kochen, abends konnte man ihn
stets am Petroleumkocher mit eleganten Husarenhosen und Schürze sehen.
Eine wichtige Neuerwerbung war auch die Kantine, wo Herren von uns eine Reihe
von Gegenständen verschiedenster Art verkauften, zu denen wir so billig und besser kamen,
als wenn wir sie außerhalb des Lagers durch die Burschen, - nur dann wurde das Einkaufen
dort gestattet – kaufen mußten.
Auch ich bekam ein Pöstchen, ich hatte den Verkehr mit dem kleinen
Mannschaftslager, dem sogenannten Arbeitskommando. Offiziell war uns jeglicher Verkehr
mit den Mannschaften verboten, aber es gab natürlich Mittel und Wege, um doch mit ihnen
in Verbindung zu treten.
94
Denn unsere Burschen holten ihr Essen aus einer Küche, in der Leute vom Arbeitskommando
saßen und durch sie wurden die Sendungen vermittelt, und es ging wohl kaum etwas
verloren. Ich sammelte nun im Lager die Bestellungen auf Tische, Stühle, Liegestühle und
anderen Holzarbeiten und auf Zigarren, übermittelte sie, ordnete die Reihenfolge, verteilte
die eintreffenden Sachen, regelte die Bezahlung usw.
Anfang Oktober kam wieder eine Schwester, diesmal eine Österreicherin, Gräfin
Kinsky, die uns vor allem durch Privat- Briefe, -Bilder und Geld erfreute. So hatte ich
endlich die lange ersehnten Bilder von Hause. Auch verschiedene Bücher hatte ich im Laufe
des Sommers bekommen, so daß man jetzt um Beschäftigung nicht mehr verlegen war.
Infolgedessen nahm auch das Kartenspielen etwas ab, das im ersten Winter vorherrschend
gewesen war. Allabendlich sammelten sich die Männer zu 3 (Skat) oder 4 (Doppelkopf) und
man hörte im Saale nichts als das Schlagen auf den Tisch und üblichen Redensarten und
Beschwerde. Auch ich lernte Skat und es hat mir auch eine Weile gut gefallen, doch bald
spielte ich nur jeden 2. Tag, dann 2 x in der Woche, schließlich nur noch Sonntags mit
Lichtenstein und Starke. Und das diente uns auch meist nur als Vorwand, um Kaffee und
Kuchen zu bewilligen.
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Da wir uns nun in Krasnaja Rjetschka ganz gut eingerichtet hatten, wurde es Zeit, das
Lager zu wechseln. 2. Hälfte November – Es war wunderbar milde, man konnte mittags noch
im Freien sitzen, erfuhren wir, daß alle deutschen Offiziere in Rußland in „Mannschafts
Regime“ kommen sollten, weil man in Deutschland einige russische Offiziere mit
vornehmen Namen in Mannschaftslager gesteckt hatte (wegen der Murmanbahn oder sonst
einer Viecherei.) Der Erfolg war natürlich allgemeine Heiterkeit. Einige Miesmacher sahen
natürlich schwarz, sprachen vom „Dank des Vaterlandes“, bei allen anderen erreichten die
Russen das Gegenteil des Gewollten. Überraschend schnell kamen die Ausführungsbefehle.
Schleunigst hieß es alles marschbereit machen und sich von allem Überflüssigen
trennen. Der tüchtige Kapitän Walitzki gab zu alledem die Parole aus, jeder dürfe nur so viel
Gepäck mit nehmen wie er selbst tragen könne. Infolge dessen wurden die abenteuerlichsten
Karren und Tragegerüste gebaut, auf denen teils einer allein, teils 2 ihr Gepäck trugen. Am
24. Nov. früh ließ er antreten, und da konnte man die merkwürdigsten Bilder sehen. Herren
in eleganten Friedensuniformen hatten sich die furchtbarsten Säcke gebaut und aufgehängt,
der Fürst trug
96
Mannschaftsbehandlung
zusammen mit Leo Petri einen Riesentragbahre mit Matratzen und allen möglichen Hausrat.
Andere hatten einen Samovar aufgeschnallt, oder trugen Eimer und Säcke und alles
Mögliche.
In endlosem Zuge von Kosaken umschwärmt, zogen wir zum Bahnhof Krasnaja
Rjetschka wo wir stundenlang warteten und froren und gezählt wurden. Schließlich kam aus
Chabarowsk der Zug mit unseren Ersatzmännern, Österreicher und Ungarn, wir (d.h.
sämtliche Lager aus Krasnaja Rjetschka) stiegen ein und rollten nach Chabarowsk. Dort kamen
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wir an, als es anfing zu dämmern, und marschierten im Dunkeln hin und her, was recht
ermüdete. Unser mühsam bis dahin geschlepptes Gepäck überließen wir auf dem Bahnhof
Chabarowsk russischen Kutschern, froh, die Schlepperei los zu sein, und haben auch im Laufe
des nächsten Tages alles gebracht bekommen. In vollständiger Dunkelheit kamen wir dann in
einem großen Lager an; nach längerem Warten wurde uns eine Kaserne zugewiesen und jeder
suchte sich zunächst irgendein Bett zu ergattern, um erst mal ein Unterkommen zu haben.
Man trank einen Tee und schlief dann, so gut es ging, ein. Am nächsten Morgen besah man
sich den Schaden und richtete sich so gut es ging ein.
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Und es ging besser, als wir erwartet hatten,
denn in mehrfacher Beziehung war es eine Verbesserung gegenüber Krasnaja Rjetschka. So
vor allem darin, daß man nicht mehr in Sälen untergebracht war, sondern immer zu 11 Mann
in einer sogenannten Kasematte, die rechts und links eines etwa 2,50 m breiten Ganges lagen.
Die 2 stöckige Kaserne zählte in jedem Geschoß 9 solcher Doppelkasematten, außerdem an
beiden Enden Treppenhäuser mit einzelnen Stuben, Waschräume und Abort. Am 25. Nov.
machten wir uns nun zunächst einmal an die Einrichtung. Auf Vorschlag unseres
Komp.führers, Hauptmann Klein,
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wurden die 18 ältesten Herren beauftragt, sich Gruppen von je 11 Mann zusammenzustellen
und durften sich dann Kasematten aussuchen. Ich wollte von Gruppe Korte loskommen,
ebenso Lichtenstein und Rogge. So bildeten wir letzteren
eine neue Gruppe, außer uns 3 noch Dücker und dann neun Leute, Juhl, der eine ruhige
Umgebung suchte, und uns noch Mewes und Pagenstecher, beides ruhige und ordentliche
Leute und Halberstätter Kürassiere, ferner Martin, einen famosen, eifrigen aktiven
Vizefeldwebel (1921 in Singapore gestorben) und einige andere zuführte, die ich garnicht
erst einführen will. Wir erwischten die am Ende gelegene Kasematte 9N., die als besondere
Nachteile die Nähe der Aborte und eine kalte Außenwand mehr hatte und infolgedessen sehr
schwer warm zu kriegen war.
Im Laufe des Tages erfuhr man auch, worin eigentlich die Mannschaftsbehandlung
bestand. Wir bekamen kein Gehalt, keine Burschen, mußten uns Essen, Wasch- und
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Teewasser selber holen, selber aufwaschen usw. 2 Mann hatten immer Dienst und mußten
alles erledigen. So hatte man immer nur an den Tagen des Dienstes zu tun, dann allerdings
ordentlich. Denn es war kein Vergnügen, ganz früh im Dunkeln aufzustehen, bei Glatteis
oder Schneegestöber und großer Kälte in der Schlange
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am Heißwasserkran zu stehen und zu warten, oder mit einer großen Schüssel Linsen in der
behandschuhten Faust den etwa 150 m langen und abschüssigen Weg von der Küche
zurückzulegen mit der ständigen Angst, jeden Augenblick mit der ganzen Bescherung
hinzufallen, was bei dem Winde und Glatteis oft genug vorkam. Noch übler war das
Aufwaschen mit dem sehr knappen heißen Wasser. Doch vielleicht war es ganz gut, daß man
jetzt mal vorübergehend kennen lernte, was man von den Burschen täglich als
selbstverständlich verlangte. Zu dieser Burschenlosigkeit kamen noch andere
Erschwerungen. Die Betten mußten so stehen bleiben, wie sie – mit gleichen
Zwischenräumen nebeneinander – standen, Vorhänge waren verboten. Man konnte sich
kaum rühren. Ferner durften wir keinerlei Lebensmittel kaufen, die Kantinen nichts Eßbares
mehr handeln. Dies wurde natürlich nicht durchgeführt. Dazu waren viel zu viele
handelsgewandte Mannschaften im Lager. Doch ich kam gut mit der Beköstigung aus.
Ziemlich verheerend war allerdings die häufige Fischsuppe. Auch Kaffee (Buchweizen)
wurde in wenig zusagender Form gebracht. Dagegen gab es gute Erbsen und Bohnen und viel
gutes Brot.
Einmal fand auch eine Besichtigung statt, der Allgewaltige, der Kommandeur des
Amur- Militärbezirkes
100
(Sibirien war in 4 Mil. Bez. eingeteilt) General Nischtschenkof erschien. Das war ein großes
Theater. Schon ganz früh, als es noch dunkel war, erschienen die Wachunteroffiziere mit
großen Klingeln, gingen in den Gängen auf und ab und versuchten uns zum Aufstehen zu
bewegen, ohne mehr zu erreichen, als daß sie furchtbar beschimpft wurden. Dann kam der
Lagerkommandant, ein (sehr anständiger) Oberstleutnant Babaduff, und bat flehentlich:
„Aufstehen Sie bitte“. Allmählich war man von dem Spektakel doch so wach geworden, daß
man aufstand. Dann vergingen Stunden, in denen immer wieder gefegt und probeweise
angetreten wurde. Schließlich kamen 2 Autos und der General mit großem Stabe erschien,
ging von Kasematte zu Kasematte und wohnte dem Namensaufruf bei. Er legte großen Wert
darauf, daß jeder nur mit Haus- und Vornamen genannt wurde, und daß alle
Rangbezeichnungen, sowie „von“ oder „Graf“ usw. wegfielen, z.B. den Fürsten Bentheim
ließ er als Adolf Bentheim aufrufen, was uns und allen Betroffenen natürlich nur großen
Spaß machte. Einzelne ließ er fragen, ob sie wüßten, warum die Repressalie verhängt sei;
antworteten sie mit nein, so ließ er sie Tage einsperren, was gar nicht übel gewesen sein soll.
Ein paar Tage darauf wurde die ganze Beschränkung wieder
101
- 3.12.21-
aufgehoben, sie hatte gerade 3 Wochen gedauert.
Und wir waren doch alle froh, daß einige Erleichterungen kamen, nämlich daß es wieder
Burschen gab und vor allem, daß die Belegung der Lager auf 8-9 heruntergesetzt wurde, so
daß man sich etwas einrichten und einen Arbeitsplatz schaffen konnte. Außerdem gab es
wieder die sogen. „Offiziersmenage“. Doch wichtiger waren uns im Augenblick die damals
hoch wichtigen Zeitungsmeldungen. Damals wurde der Tot Kaiser Franz Josephs bekannt,
die Einnahme von Bukarest, die deutschen Friedensvorschläge, von denen wir uns großes
versprachen und die Bildung eines engl. Kabinettes mit Loid George an der Spitze, was mir
gar nicht gefiel. Auch die Post von Hause sickerte mal etwas reicher durch, ich bekam 2
Pakete aus Jokohama – von Frau Schramm (Bücher und Zeitschriften und Lebensmittel) –
verschiedene Päckchen und Bücher von Hause und auch eine Anzahl Karten. Und so mußte
am 22. Dez. abds die traurige Nachricht bekommen, daß Onkel Walther gefallen war, und
wieder ein Weihnachtsfest in tiefem Schmerze verleben. Als einzige Möglichkeit, dem
41
Trubel und der Geschäftikeit zu entgehen blieben nur die abendlichen Spaziergänge am
Stacheldraht entlang. Vom Weihnachtsfest ist so wenig zu berichten. Wir saßen abends in
unserer Box bei Tee und deutschen Zigarren zusammen. Ich hatte Hauptmann Gerlach aus
seiner einsamen Häuptlingsbude
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zu uns heraufgeholt. Auch Neujahr kam wohl ziemlich sang- und klanglos.
Das neue Lager – Vereinigung von 3 Abteilungen Krasnaja Rjetschka, von Spasskoje
und Skotowo (beide nicht weit von Wladiwostok) – war wohl auf 700 – 800 Offiziere
angewachsen und stieg durch ständigen Zuzug aus europ. Rußland Anfang 1917 auf gegen
1000. Da gab es auch wieder neue Bekannte. So lernte ich noch einen Pförtner1 Herrn Wallis,
Direktor einer Zuckerfabrik in Schlesien und 2 Reg. Baumeister: Herrn Radter aus Geesen
und Herrn Fritsche aus Bremen kennen, ferner ein Herr Kühe, Bruder der Frau des Dir.
Kämmerer in Bielefeld und Hütteningenieur. Mein italienisches Studium mit Herrn Stausch
setzte ich fort, zeitweilig hatten wir einen Lehrer, der 2 Jahre in Italien gelebt hatte, den wir
aber wegen seiner Unbegabtheit und Großmäuligkeit bald wieder schwimmen ließen.
Wichtiger war mir der regelmäßige Unterricht bei Herrn Martini, bei dem ich zusammen mit
einem jüngeren Danziger Studenten, Lothar Neumann (wohl 18 gefallen, da wir nie wieder
etwas von ihm hörten)[stimmt nicht, war Sommer 1920 als Regierungsbauführer in
Würzburg.] größere und kleinere Aufgaben mancherlei Art bearbeitete und viel lernte. Was
ich in den Abendstunden (außer italienisch) trieb, habe ich vollkommen wieder vergessen.
Zeitweilig habe ich mir auch verschiedene von Hause gekommene Bücher gebunden.
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In den ersten Monaten 1917 kamen in kleinen Trupps von 10 – 30 eine Menge Herren
aus europäisch Rußland. Alles Gefangene von Ende 15 oder 16. Uns war es besonders
interessant, 2 137er zu treffen, die beide bei der Brussiloff Offensive gefangen waren, nicht
weit von Kowel, und viel zu erzählen wußten, vor allem von dem großen Sterben unter den
Offizieren. Mein Komp.kamerad in den ersten Kriegswochen, ein frischer, sympatischer
Zeichenlehrer aus Rudolstadt, Rehm war gefallen ebenso der der Regts.adjutant, Lt. Rien,
dem ich im Nov. und Dez. 14 als Führer der Nachbar (3.) Komp. sehr schätzen gelernt hatte,
und Lt. Korsch, mein Nachbar in den schlimmsten Stunden der Nacht von Lihons(?).
Doch vor allen muß ich hier Wilhelm Hartmann erwähnen, der mir den Namen nach
schon in Deutschland bekannt war als Darmstädter Wingolfit und Neffe von P. Hartmann in
Rödinghausen, und den ich sehr bald persönlich kennen lernte und der mir; je länger die
Gefangenschaft dauerte ein immer treuerer Freund wurde, besonders die schlimmen Jahre in
Kansk sind mir untrennbar mit seiner Person verknüpft. [wir waren zusammen bis zum
24.6.20 in Kansk, wo er mich auf den Bahnhof brachte, dann besuchte er mich am 18.7. in
Krassnojarsk auf der Durchreise und Mitte Okt. 20 konnte ich ihn in Gütersloh begrüßen.]
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Das nächste, auch für uns wichtige Ereignis war die Russische Revolution.
5.12.21
Schon den ganzen Winter über hatte man aus den doch unter strenger Zensur
stehenden Zeitungen entnehmen können, daß in Petersburg dicke Luft war. Die Ermordung
des geheimnisvollen Rasputin durch den Fürsten Jussupow, über die man nie so recht etwas
erfuhr, war ein Vorläufer. Die Zwistigkeiten zwischen der Duma und den (nach
Zeitungsberichten sehr reaktionären) Ministerpräsidenten Fürst Golizin nahmen zu. Da kamen
mal Mitte März etwa 8 Tage überhaupt keine Zeitungen, dann erschien wieder die erste
Nummer und war ganz in roten Lettern gedruckt. Nun erfuhren wir von den Ereignissen in
Petersburg, der Reise des Zaren zur Front, seiner Umkehr und Thronentsagung, von der
Bildung der „zeitweiligen Regierung“ mit dem Kadetten (demokrat) Fürst Lwow als
Min.Präsdt., dem Professor Miljukow als Außen- und dem Soz.dem. Kerenski als JusizMinister. In Chabarowsk merkte man sonst nicht viel von der Revolution. Hier, wie wohl fast
1 Schüler der Internatsschule Schulpforta
42
überall in der Provinz war alles glänzend vorbereitet, niemand dachte daran, Widerstand zu
leisten, die Gewalt ging sofort in schon vorher gebildeten „Komitees der öffentlichen
Sicherheit“ über.
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Die Gewaltigen des Gebiets – den Generalgouverneur Gondatti (der im Rufe stand, ein
vorzüglicher Verwaltungsbeamter zu sein, wie überhaupt im „fernen Osten“ auffallend gute
Ordnung herrschte,) und den Militärbefehlshaber, General Nischtschenkow, die beide zu einer
Dienstreise nach Wladiwostok gefahren waren, empfing man bei ihrer Ankunft auf dem
Bahnhof in Chabarowsk mit einer Sotnie? Kosaken, verhaftete sie und brachte sie auf die
Hauptwache. Interessant und bezeichnend für das Land „der unbegrenzten Möglichkeiten“
ist, was ich über ihr weiteres Schicksal erfuhr. Die örtlichen Komitees beschlossen, sie zur
Aburteilung nach Petersburg zu schicken. Mit einem großen aufwand demokratischen
Phrasengetönes wurde eine Anzahl der Revolution treu ergebener Soldaten – deren Namen
als Auszeichnung in der Zeitung veröffentlicht wurden! - beauftragt, die beiden nach
Petersburg zu bringen. Später erfuhr man dann, daß überhaupt nur N. in P. Angekommen
war, in Begleitung eines Soldaten, der ihn auf sein besonderes Bitten so weit begleitete.
Gondatti und alle anderen hatten sich unterwegs verdrückt. Im Jahre 1919 wurde G. wieder
genannt, es hieß, er habe sich damals in Wladiwostok und Charbin aufgehalten und daran
gearbeitet,
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die Handelsschifffahrt zwischen Rußland und Japan und R. und Amerika in Gang zu bringen.
Für uns persönlich hatte die Revolution gar keine Folgen, die Soldaten trugen jetzt rote
Kokarden, Offiziere keine Achselstücke mehr; und die Zeitungen andere Namen.
Militärbefehlshaber des Gebietes wurde Oberst Wysotzki, der Kommandant von Kresnaja
Rjetschka, der uns dort täglich besucht hatte. Wir bekamen einen neuen Kommandanten, den
Stabskapitän Adersen, der uns gegenüber sehr anständig war und daneben wohl ein tüchtiger
Kaufmann. Denn zu Ostern übernahm er es, das Lager überreich mit Fressalien jeder Art zu
versehen. Nachdem man Monate lang recht kümmerlich gelebt hatte, leistete man sich zu
Ostern, soweit das Geld reichte, Aufschnitt jeder Art, geräucherte Fische, Käse, Kuchen und
Torten.
Der weitere politische Verlauf war nun kurz folgender. Die demokratische Regierung
tauschte mit den Ententeländer Adressen a la Wilson aus und geriet immer nach links
herüber. Schon im Mai fanden in Petersburg Straßenkämpfe statt, aus denen hervorging, daß
das Volk mit diesem Anschluß an die Ententepolitik nicht einverstanden war. Bei der
Maifeier in Petersburg traten zum ersten Mal Bolschiwisten auf mit der Losung: Frieden um
jeden Preis! Die Regierung wurde bald sozialistisch mit
107
Kerenski als Min.Präsdt. und Kriegsminister. Seiner Energie gelang es noch einmal, eine
Offensive (im Juli) zustande zu bringen, die dank österreichischer Schlappheit und
aufopferungsvollem Vorgehen der russischen Offiziere noch einige Erfolge hatte, aber nicht
lange. Dann begann immer mehr die Verbrüderung einzureißen. Die Deutschen hatten im
September noch einmal große Erfolge, an der Südfront und bei Riga.
Zur selben Zeit fand der nicht ganz verständliche Putschversuch des General Komilow
statt. Doch wir waren ja weit vom Schuß und in Sibirien blieb es ruhig. Wir richteten uns
wieder für den Sommer ein, ließen uns Leinwandanzüge machen, bauten Badeanstalten,
bestellten den Garten (d.h. den steinigen Kasernenhof), und turnten und trieben Sport. Noch
im Winter hatte uns der Vertreter des amerikanischen Vereins christl. Junger Männer ein
Holzhaus im Hof bauen lassen, einen großen Saal von vielleicht 9x20 m, der für
Gottesdienste, Feiern, Vorlesungen, Theater usw. diente. Großen Zulauf fanden die sehr
guten volkswirtschaftlichen Vorträge von Dr. jur. Molt, Rechtsanwalt aus Stuttgart – der
1920 zu den Kommunisten überging, aber damals bei manchmal sehr scharfen Urteil in
43
politischen Fragen vollkommen an der kapitalistischen Ordnung festhielt – und die
geistreichen von Herrn Wesenburg.
Im Mai fand eine große Kunstausstellung statt,
108
die Arbeiten von Gefangenen (Bilder, architektonische Entwürfe, Kunstgewerbe und
Handfertigkeit jeder Art) und gesammelte Landeserzeugnisse (hauptsächlich japanische
Elfenbeinschnitzereien und Webereien aus dem Turkestan) vorführte und eine recht
sehenswerte Veranstaltung war.
Monatelang spukte das Gerede von einem Umzug in eine andere Kaserne. Als man
gar nicht mehr daran glaubte, wurde es plötzlich wahr. Am 14. Juli zogen wir um in das etwa
20 Min. entfernte Lager der 724 Druschina (Druschina heißt eigentlich so etwas wie
Kameradschaft und ist der Name für die russischen Landwehrbataillone). Warum wir
umzogen, war niemanden klar, vermutlich, weil die 724. Dr., die aus recht üblen Gestalten
bestand, uns auch einmal melken wollte. Wir mußten die ganzen Gartenanlagen im Stich
lassen und kamen dort in widerlich enge Verhältnisse, wieder zu etwa 100 in einen Saal, so
eng, daß man sich kaum rühren konnte. Ich vollzog bei dieser Gelegenheit den Rückanschluß
an die frühere Gruppe Korte, die ihren Führer aber mittlerweile abgeschoben hatte und sich
mit den wesentlich sympathischeren Hitzig, Kober (Bergassessor aus Oberschl.) Marth
(Viehhändler aus Schleswig) und Dyck (Postsekretär aus Halle a S) vereinigt hatte. Einige
Tage war auch Leo Petri bei uns, fand dann
109
aber bessere Unterkunft in einem Einzelzimmer (mit Hauptmann Günther und „Rittmeister“
Plorin). Wir kamen bei dieser Gelegenheit in eine andere Kompanie, die bisher unter uns
wohnende und bei uns etwas übel beleumdete Spaßkojer?. Und der Anfang war auch übel.
Zunächst große Hitze, dann das lange Herumstehen und Warten bis man drankam, dann im
neuen Lager das widerliche feilschen um die Plätze, wobei die zuerst eingezogenen uns übel
übers Ohr hauten, sodaß man abds müde, abgespannt und verärgert schlafen ging und kaum
Platz hatte, seine Knochen auszustrecken. Dazu kamen bei mir mal wieder Kopfschmerzen.
Nachher bekam ich dann (zusammen mit Hitzig) einen Platz am Gang, der aber nur etwas für
Leute mit guten Nerven war, zu denen ich glücklicherweise gehörte. Mein Arbeitsplatz und
mein Bett standen im Gang, dem einzigen Zu und Ausgang für etwa 30 Mann, der etwa 50
cm breit war, sodaß ständig jemand über Schulter und Buch sah. 3 m entfernt hatte einer der
furchtbarsten Menschen seinen Platz, ein Thüringer, der nie sein Maul hielt. Doch auch
hiermit suchte man sich abzufinden. Von Arbeiten in jener Zeit ist mir vor allem erinnerlich,
daß ich Damaschkes „Bodenreform“ gründlich durcharbeitete und das sehr kniffliche Haus
für Herrn
110
Stasch durcharbeitete, der für wenig Geld sehr viel Raum haben wollte und vor allem an
seiner Diele mit großer Treppe nach oben, Flügel und Kaminplatz festhielt, was in
Verbindung der notwendigen zentralen Lage und den Türen eine fast unmögliche Forderung
war.
Bei den mancherlei Nachteilen hatte dies Lager doch einen großen Vorteil, das war
seine Lage. Bisher hatte man weder von Chabarowsk noch von seiner Umgebung etwas
gesehen, jetzt konnte man, da die Kasernen – übrigens ohne jede Anpassung und Ausnutzung
der Geländeform vermutlich in Petersburg oder Paris entworfen – an steil abfallendem
Gelände lagen, weit über den Zaun hinwegsehen und sah weit ins Land. Man übersah den
Ussuri (mit Krasnaja Rjetschka und seinem Wasserturm im Hintergrund) und seine
Einmündung in den Amur, ganz gewaltige Wassermassen, wie man sie in Europa nicht kennt;
und man sah auch etwas von der Stadt. Eine weitere Annehmlichkeit war, daß die Russen uns
öfter zum Baden im Ussuri führten. Hatte man erst das lästige Warten in der Prallhitze und
das schwierige gezählt werden am Lagerausgang hinter sich, so ging es etwa ½ St. durch
44
Gärten und Kartoffelfelder, die fleißig von Chinesen bearbeitet wurden, durch
Birkengestrüpp, vorbei
111
an dem großen Funkturm zum Fluß, wo wir an verschiedenen Stellen badeten, ein seit 1914
nicht mehr genossenes Vergnügen. Einmal war bei Wind das Wasser sogar wild bewegt,
sodaß das Baden nicht ungefährlich war. Der breite Fluß kam einem wie ein See vor; auf den
Gedanken hinüber zu schwimmen, kam man garnicht, da man immer nur Inseln, nie das
andere Ufer sah.
Zur Erweiterung des Ortsbildes trug auch bei, daß ich einmal Gelegenheit hatte (Ende
August), in die Stadt zu kommen. Im nächsten Gefangenenlazarett vor unserem Lager war
ein tüchtiger ungarischer Augenarzt, Dr. Bajor, der mir eine neue Brille verschrieb (von der,
die mir Sept. 16 ein russischer Augenarzt verschrieben und Conger in Wladiwostok besorgt
hatte, bekam ich nur Augen- und Kopfschmerzen). Um sie zu kaufen, bekam ich Erlaubnis,
mit Bewachung in die Stadt zu gehen. 3 Herren, die in ähnlicher Lage waren, schlossen sich
an, und ich mußte mit meinem damals sehr lückenhaften russischen Kenntnissen den
Dolmetscher spielen. Zunächst machte ich mich an unseren „Konvoi“ Herren und suchte
durch Leutselichkeit, Schmeichelei und Rubel sein Gewissen zu weiten, damit er uns nicht
nur zum Optiker, sondern auch etwas weiter begleitete.
Und der Spaziergang war recht lohnend. Chabarowsk liegt
112
landschaftlich sehr schön, natürlich haben die törichten Russen diese Vorzüge nicht
auszunutzen verstanden. Vom Wald ist allerdings weit und breit (auf dem einen Ufer
wenigstens) nichts mehr zu sehen, alles haben sie abgeholzt, wodurch die Landschaft recht
häßlich geworden ist. Überall haben die Sturzregen die Grasnarbe losgerissen und sich tiefe
Täler gefurcht. 3 parallele Höhenzüge führen zum Ussuriufer, auf jedem geht eine breite
Längsstraße, rechtwinklich dazu führt ein stumpfsinniges System von Parallelstraßen, ohne
jede Anpassung an die Geländeform den steilen Abhang hinauf. Die Hauptstraße bot ein
ziemlich schauriges Bild, alle Geschmacklosigkeiten Europas im Ausgang des 19. Jahrh.
waren zusammengetragen, um daraus eine Stadtduma, mehrere Warenhäuser, Kinos, Hotels,
Kafés und Varietes zusammen zu stoppeln. Wir sahen auch die großen Niederlassungen der
beiden führenden ostsibirischen Firmen: Tschurin und Kunst und Albers. Doch am Ende der
Straße bot sich ein einzigartiges unvergeßliches Bild, man Stand unvermittelt an der Stelle,
wo der Ussuri in den Amur mündet, etwa 40 m über dem Wasser. Wohin man sah, riesige
Wassermassen, nur auf der anderen Seite, etwa 2 km entfernt, schoben sich 2 Inseln immer
dichter zusammen.
113
Dahinter lag die Mandschurei. Zum rechten Genuß kamen wir leider nicht, der alberne
Posten drängelte ständig, da es ihm streng verboten sei, uns so weit gehen zu lassen. Das
Straßenbild war das echt russische, auffallende Eleganz der Weiblichkeit, bis zur Marktfrau
und nach Parfüm stinkend. Auffallend viel Chinesen (und Japaner?), auch einzelne
Vornehme unter ihnen in feiner Seide. Von einigen großen europäischen Geschäften
abgesehen war das ganze Gewerbe wohl ausnahmslos in chinesischen (auch wohl
japanischen und koreanischen) Händen. Von den Russen mit Tritten und Kolbenstößen
behandelt, wußten sie wohl doch auf ihre Kosten zu kommen, und hatten den Russen
gegenüber, die sich so kollossal erhaben vorkamen, doch das deutlich wahrnehmbare Gefühl
eigenen Wertes und eigener Überlegenheit. Wie ich nachträglich von einem Kameraden
hörte, der Winter 20/21 durch die Mandschurei gefahren ist, hatten damals Bedrücker und
Bedrückte die Rollen getauscht.
Zu den Unannehmlichkeiten des Lagers gehörte die mangelhafte Wasserversorgung.
Wir konnten von unseren Fenstern aus auf die Wassermasse sehen, die mit zu den größten
der Welt gehören, und mußten oft Durst leiden und konnten uns manchmal tagelang nicht
45
waschen. Wasserleitung gab es nicht – ganz spät im Herbst fing man an, sie anzulegen, was
viel
114
Arbeit kostete, da man wegen des Frostes tief in die Erde mußte – und darum mußte das
Wasser (für über 1000 Mann) auf 1 Wagen, der auf schmalen Schienen lief, herbeigeschafft
werden.
(6.XII.21.)
Die Besorgung eines Pferdes oder die Stellung der notwendigen Mannschaften
machte bei der zunehmenden Unordnung oft Schwierigkeiten, und dann saßen wir ohne
Wasser da. Auch mit der Beschaffung von Lebensmitteln begann es schwierig zu werden.
Die Kantine war in den Händen des russischen Wachbataillons, das aus recht üblen Burschen
bestand, die uns betrogen, wo sie konnten, im Gegensatz zu den formloseren Bauern in der
730. Druschina. Etwa seit September schnellten die Preise von Tag zu Tag höher und Brot
war nur unter großen Schwierigkeiten zu bekommen.
Ein anderer Übelstand waren die allabendlichen Kontrollen, bei denen man immer
endlos stehen und warten mußte. Sehr angenehm (im Gegensatz zu Krasnaja Rjetschka) war
die meist bewegte Luft, die auch bei großer Hitze keine Mückenplage aufkommen ließ.
Neben unseren 3 Kasernen lag ein kleines Lager, in dem die deutschen Matrosen
untergebracht waren. Obgleich sie streng bewacht wurden, konnte man (durch das Lazarett)
mit ihnen in Verbindung treten, und wir freuten uns alle, wie stramm,
115
frisch und sauber sie sich gehalten hatten. Die Mehrzahl war von dem kl. Kreuzer
„Magdeburg“, der Ende August 14 in den finnischen Schären (?) aufgelaufen war. Ich lernte
so den Bootsmannsmaat Schulz aus Bielefeld, mit dem ich von 730. aus schon in schriftl.
Verbindung gestanden hatte, kennen, einen den Russen gegenüber unglaublich
unverschämten kleinen Kerl.
Plötzlich Anfang Oktober hieß es, wieder zurück nach 730. Warum war uns
unbekannt, aber wir freuten uns riesig, denn der Winter wäre sonst unerträglich geworden bei
den üblen Wachsoldaten und den Riesensälen.
Vorher ging noch der 2. Invalidentransport ab, am 5.10., dabei Hauptmann Gerlach.
Der 1. hatte uns schon im April verlassen, war aber nur bis Nikolsk-Ussurisk (Kreuzungspunkt
der sib.- und Ussuri-eisenbahn) gekommen. Der 2. hatte mehr Glück und kam im Frühjahr
1918 über Finnland und Schweden nach Hause.
Am 7. Okt. zogen wir um und bei dieser Gelegenheit schlängelte sich unsere Gruppe
Kober wieder an die alte Kompagnie (Teubner) heran, so daß wir wieder bei den Leuten
waren, mit denen wir schon seit 1915 zusammen waren. Wir kamen wieder in das selbe
Gebäude, nur diesmal nach unten. Beim Einzug in das Lager kamen etwa 30 Herren zu uns,
die erst im Juli 1917 bei der Kerenskioffensive
116
gefangen genommen waren und mancherlei aus Feld und Heimat zu erzählen wußten. Mit
ihren Feldzugserzählungen und den Trommelfeuer Schilderungen fanden sie allerdings wenig
Gegenliebe bei den alten Gefangenen, die derartige Unterhaltungen mieden. Einer von ihnen,
der vielleicht keine schlechte Beobachtungsgabe hatte, prägte das Wort, die alten Gefangenen
zeichneten sich durch „stieren Blick, blödes Lachen und übertriebenes
Reinlichkeitsbedürfnis“ aus. Ich lernte keinen von ihnen näher kennen, da bei mir das
Verlangen, neue Bekanntschaften zu mache, gänzlich eingeschlafen war.
8.12.21.
Gleich nach der Rückkehr ins alte Lager fand wieder eine Ausstellung statt, diesmal
nur Kunst. Einige Berufsmaler und Zeichenlehrer unter den deutschen und später hinzu
gekommenden Österreichern stellten sehr gute Sachen aus.
Auch in 730. hatten wir jetzt einen recht üblen Kommandanten oder üble
Wachmannschaften. Wie weit das Kommando in den Händen eines Offiziers und wieweit
in denen eines Soldatenrates lag, weiß ich nicht, aber es gab eine Menge Reibereien, und wir
46
hatten das letzte halbe Jahr in Chabarowsk eigentlich ständig Schwierigkeiten von Seiten der
Russen. Gleich Mitte Oktober weigerten
117
sie sich, Schwester Elsa Brändström – die Tochter des Generals Brändström, des
schwedischen Gesandten in Petersburg, von der wir viel gehört hatten und deren Besuch wir
schon lange erwarteten – zu uns herein zu lassen, und alle Papiere und Proteste halfen nichts,
sie kam nicht herein zu uns. Glücklicherweise gelang es aber, die Post und das Geld, das sie
für uns mitgebracht hatte, herein zu schmuggeln, wobei auch ich zu meiner großen Freude
mit Brief, Geld und Bildern (aus dem Sommer 17) bedacht wurde. Die Bilder konnten mir
allerdings nur ein recht unerfreuliches Zeugnis der Wirkung der Kriegsjahre sein.
Bald darauf kam wieder eine andere Schikane: die Verpflegungsrepressalie. Weil
Deutschland den russischen Offizieren den Bezug von Lebensmitteln aus dem neutralen
Ausland verboten hatte, wurde allen deutschen Offiziere auf die Verpflegungsration von
Petersburg gesetzt. Dieser Schlag kam überraschend und traf uns hart. Es gab nur 200 gr Brot
am Tag, wenig Kartoffeln und Fleisch (ein kleines Stück) nur am Sonntag. Und dieses Vieh
von Speisewirt (Tewsadse hieß das Schwein, dem wir die schönsten Sachen wünschten)
kochte uns einen ganz gemeinen Fraß, wir waren ja gezwungen, alles zu essen.
118
Da gab es Fische, die sog. Luftblasen, an denen nichts war als Haut und Gräten, ein
Sauerkraut, das den widerstandskräftigsten Mägen schwer zu schaffen machte und
Fischklöße, die glücklicherweise nach garnichts schmeckten, oder Bohnen, die schon in
Gärung übergegangen waren. Leo Petri, der damals als Kantinenleiter mit im
Lagergeschäftszimmer wohnte, aber mittags mit mir und Hitzig zusammen aß, machte uns
ein köstliches Geschenk: eine Büchse mit Senfpulver. Hiermit konnte man jedes Gericht so
präparieren, daß einem die Tränen auf den Teller fielen, aber daß der ursprüngliche
Geschmack vollkommen ertötet war. Und so bekam man es herunter. Die ersten 3 Wochen
war es nicht möglich irgend etwas herein zu bekommen, und die Wirkung des Hungerns
waren nicht schön. Ich hatte mir glücklicherweise einen Lehnstuhl gemacht, der mich oft
beim Arbeiten gehalten hat, wenn mir schwindelig wurde. Glücklicherweise waren die
Russen nicht im Stande, die Bewachung streng durchzuführen. Zunächst wurden einzelne
Sachen eingeschmuggelt: durch die Burschen, die außerhalb des Lagers das Brot holen
mußten, durch russische Soldaten,
119
und durch Musiker, die abends in der Stadt spielten und dann ohne Untersuchung ins Lager
kamen. Sehr beliebt war auch der Besuch des Dampfbades, wo man von deutschen
Mannschaften (von der Marine?) Brot kaufen konnte. Schwierig war dann nur das
Hereinkommen ins Lager, da der Posten jeden auf Lebensmittel untersuchen mußte. Die
meisten warfen die Brote über den Zaun, aber es kam vor, daß sie hier von russischen
Soldaten in Empfang genommen wurden. Allmählich gelang es, all dies zu regeln, es wurde
ein Lager Schmuggeloffizier – der Fürst, der dank seinem Eifer und seiner Uneigennützigkeit
sehr hierzu geeignet war – und Komp.Schm.Off. ernannt. Jede Nacht gingen Einzelne über
den Zaun und kauften bei den in der Nähe wohnenden Chinesen ein. Bei zunehmender Kälte
zogen es die Russen nämlich immer mehr vor, Nachts in der Wachstube zu bleiben; es gab ja
auch kaum mehr Vorgesetzte. Einige mal gelang es sogar, die ganze Wache zu schmieren,
und dann wurden ganze Schlitten voll Brot und „Affenfett“ (Baumwollsaatöl, als Schmalz
verkauft) ins Lager gefahren. Alles dies wurde nun gleichmäßig verteilt, und diese Zuschüsse
zur Ernährung, so klein sie auch waren, haben uns dann über Wasser gehalten.
120
Die Repressalie dauerte bis Weihnachten in voller Stärke und verlor im Laufe des Januar
allmählich ihre Bedeutung. Zusammen mit dem einen Schweinehund, dem Speisewirt
Tewsadse, muß auch noch ein anderer genannt werden, der sich in gleicher Weise auf unsere
Kosten bereicherte, der Oberst Lukianoff, der es immer verstand, die Einrichtung einer eigenen
47
Küche zu hintertreiben, und der uns und alle ihm unterstellten Lager tüchtig schröpfte. Wie
oft hofften wir, daß seine Soldaten, die auch garnicht gut auf ihn zu sprechen waren, ihn
gelegentlich mal umbrächten, doch war er immer zu schlau.
Meine Hauptarbeit in jener Zeit war die eingehende Durcharbeitung eines Hauses, das
ich im Sommer für Leo Petri entworfen hatte. Hierbei half mir Reg. Baumeister Fritsche
(vom Staat Bremen) mit dem ich alle notwendigen Zeichnungen anfertigte und vor allem
auch Massenberechnung und Voranschlag aufstellte. Außerdem hatte ich noch ein Diplom
vom letzten Sportfest für Oberlt. Biepenn anzufertigen.
Im November hörten mit einem male die Meldungen aus Europa auf. Die
Chabarowsker Zeitungen erschienen,
121
brachten aber 3 Wochen lang nur Lokalnachrichten. Also wieder ein Putsch. Endlich (am 22.
Nov.) erschien ein Extrablatt und brachte die Lösung: die Bolschewiken mit Lenin und
Trotzki hatten sich durchgesetzt, die gerade einberufene Verfassunggebene Versammlung aus
einander gejagt und die Räterepublik ins Leben gerufen. Und, was das Wichtigste war,
beschlossen, mit Deutschland Friede zu schließen. Der Jubel und die Hoffnungen waren nun
groß und mit Spannung sahen wir den kommenden Wochen entgegen. Und dann war in dem
Extrablatt noch eine Meldung, die kaum weniger Freude hervorrief, nämlich Venezia sei von
den Deutschen genommen. Da wir schon gehört hatten, daß an der italienischen Front eine
große Offensive im Gange sei, glaubten wir, Venedig sei erobert und freuten uns nicht
wenig. Auf einer großen Fliegeraufnahme von Venedig, die ich über meinem Bett hängen
hatte, brachte ich sofort die deutsche Fahne auf dem Campanile an. Leider mußten wir im
Laufe der kommenden Wochen uns überzeugen, daß es ein Irrtum war, gemeint war die
Provinz Venezia.
Am 25. Nov., einem Sonntag, ging der 3. Invalidentransport ab, bei dem eine Menge
Bekannter war, z.B. Backhaus,
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Marth (aus unserer Gruppe), der Lagerkommandant Major Tummeley, Herr Fritsche, der
Fürst, u.a. und vor allem unsere beiden vorzüglichen Dolmetscher Herzberg und Senpers.
Letzteren beiden gelang es, diesen 3. Transport so schnell und glücklich durch die mancherlei
Hindernisse des revolutionären Rußland hindurch zu bringen, daß er als erster in Deutschland
ankam, im Februar 1918.
Daß Major Tummeley entschwand war eine große Erleichterung. Er hatte es durch
seine Unbegabtheit verstanden, den Spalt zwischen Lagerkommando und Allgemeinheit zu
einer riesengroßen, höchst unerquicklichen Angelegenheit des ganzen Lagers zu machen.
Glücklicherweise übernahm nun Hauptmann Klein das Kommando, der die überwiegende
Mehrheit des Lagers hinter sich hatte. Meine Haupttätigkeit in den nächsten Wochen galt der
Vorbereitung auf Weihnachten. Die mittlerweile gegründete Künstlervereinigung plante für
Weihnachten eine Ausstellung, die Herausgabe eines Kalenders (von den NichtBerufsmalern) und einer Festgabe. In dem Kalender hatte ich den Monat Oktober
übernommen und zeichnete in Sepia ein Blatt, das eine Landschaft mit Burg darstellte, wofür
mir die Rudolsburggegend vorschwebte,
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eingesäumt in Weintrauben und Blätter-Ornament. Außerdem hatte ich mehrere Seiten xxx
der Künstlerfestgabe zu schreiben, eine tüchtige Arbeit. Doch die Wochen vergingen schnell
in der frohen Hoffnung. Denn mitlerweile war der denkwürdige Waffenstillstand durch den
Oberstkommandierenden Praportschik (Fähnrich) Krulenko abgeschlossen worden. Und als ich
Juhl1 half, das Kongerhaus für die 1. Adventsandacht mit Tannen und einfachen Leuchtern zu
schmücken, hofften wir im Stillen, Weihnachten womöglich nicht mehr in Ch. zu sein. Eine
große Aufregung gab es m 24.12. nachm, Nach langen vergeblichen Bemühungen war es
dem Vertreter des schwe. Roten Kreuzes, Hodblom, gelungen, mehrere Schlitten voll
1 Juhl, Pastor in Hamburg
48
Liebesgaben ins Lager zu bringen. Da, als die Schlitten schon vor der Lagerkanzlei standen,
machten die Russen wieder Schwierigkeiten und wie der Wind ging es durchs ganze Lager,
die Russen wollen den Weihnachtstabak beschlagnahmen, und sofort versammelten sich eine
große Menge um die Schlitten, um gutwillig den heiß begehrten Tabak nicht wieder zu
lassen. Die Russen hatten ein Einsehen; so wurden üble Zwischenfälle vermieden und jeder
bekam Zigarren, Zigaretten, Tabak und etwas Dörrobst. Und wir haben Weihnachten
geraucht wie die Schlote, sonst ist mir nicht
124
mehr viel in Erinnerung, ich weiß nur, daß ich die verschiedensten Besuche am 24. abends
machte, sonst war ich in unserer Gruppe, dann bei Juhl und schließlich bei Leo.
Von Neujahr weiß ich garnichts mehr. In den ersten Monaten des neuen Jahres war
mir körperlich nicht sehr wohl. Zwar hielt ich mich einigermaßen auf dem Damm durch die
tägliche kalte Dusche, aber das war auch die einzige körperliche Bewegung, die ich hatte; der
Spaziergang an der Planke entlang war mir so verleidet, daß ich mich nicht mehr dazu
entschließen konnte. So blieb ich dann wochenlang Tag und Nacht im Hause, bis der Schlaf
nicht mehr so recht wollte. Da bin ich dann abends im Dunkeln immer noch ½ Stunde
spazieren gegangen, wo man glücklicherweise niemand sah, aber auf dem glatt getretenen
Schnee auch leicht fiel.
Mit dem neuen Jahr nahm auch die üble Behandlung seitens der Russen wieder zu.
Bei der immer mehr um sich greifende Unordnung ließ ihre Fürsorge für Sauberkeit und
Reinlichkeit im Lager stets mehr zu wünschen übrig, was zu Zuständen führte, die ein
Europäer kaum glaubt. Dann, nachdem es ihnen mehrere Wochen entgangen war, daß einer
nach dem anderen aus dem Lager verschwand, kamen sie schließlich dahinter und
veranstalteten üble Kontrollen. Oft mußte man eine Stunde auf dem Kasernenhof stehen,
125
bis die Zählung erledigt war, und das immer in den kurzen Tagesstunden. Heizung und
Beleuchtung wurden auch immer mangelhafter. Um die immer seltener werdenden Lampen
und Lichter sammelten sich kleine Gruppen, wo früher jeder seine Einzellampe hatte. (Um
Neujahr 18 längere Zeit -300 R, 16 und 17 höchstens -20!). Und daß man im Mantel arbeitete,
war nichts Seltenes. Besonders übel war das Holzhacken während der
Verpflegungsrepressalie gewesen, da die knappe Portion kaum zur Ernährung eines
Nichtstuens ausreichte. Deshalb wurde Holz gehackt nur an den Tagen, an denen es
Schmuggelbrot gab, denn nach dem Holzhacken verschwanden die 200 gr Brot der
Tagesportion ohne daß man Sättigung verspürte.
In den ersten Monaten 1918 breitete sich der Bolschewismus immer weiter nach
Osten aus. Im allgemeinen ging es ziemlich glatt, nur in Irkutsk fanden Anfang Januar bei
großer Kälte blutige Kämpfe statt. Bei uns merkte man kaum etwas davon. Da im fernen
Osten immer verhältnismäßig Ordnung geherrscht hatte, blieb auch jetzt viel beim alten. Die
Personen blieben, bekamen nur andere Titel. Doch die Bewachung war nicht mehr so streng.
Und so begannen im Januar die Fluchtversuche sich zu häufen. Durch irgendwelche
Mittelsmänner, (wohl polnische Juden in Chabarowsk) konnte man sich für
126
viel Geld Reisepapiere, Zivilkleidung und Darlehen besorgen. Dann hieß es nur noch
unbemerkt aus dem Lager zu kommen. Das Weitere war nachher nicht schlimm, da die
Kontrolle garnicht streng war. Die ersten, die ausrissen, waren Maynen, bei dem das Geld
garkeine Rolle spiele und Kölla, unser Lagerdolmetscher, ein aktiver Offizier, der schon vor
Kriegsausbruch in Rußland war, und bei der Mobilmachung festgesetzt wurde. Bald folgten
andere. Bedauerlicherweise konnte ich mich nie entschließen, das Darlehen zu nehmen, oder
wenigstens nicht rechtzeitig. Sehr schön waren die Kontrollen, die damals noch auf dem
Mittelgang in den Kasernen stattfanden. Von den beiden Schlußkasematten gingen so viele,
wie nötig waren, nach vorn, um dort die Lücken zu füllen; denn wenn sie gezählt waren,
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liefen sie marsch marsch vorn aus dem Hause heraus, außen herum, hinten wieder herein und
ließen hier zum 2. Mal zählen. So ging es mehrere Wochen, ohne daß die Russen es merkten.
Eine große Aufregung gab es Ende Februar (oder Anfang März). Die Japaner rüsteten
sich, Wladiwostok zu besetzen, da die Machtlosigkeit Rußlands immer mehr zunahm. Da
Japan noch Gegner Deutschlands war, glaubten wir sie würden sich sofort auf uns stürzen
und uns die durch Abschluß des Waffenstillstandes doch ziemlich nahe gerückte Heimkehr
verderben. Der schwedische Vertreter
127
Hedblom ließ uns dies mitteilen und erbot sich, denen, die allein fahren wollen, 650 R zu
verschaffen. Sofort nähte ich an meinen schwarzen Militärmantel Zivilknöpfe, im übrigen
war ich vollkommen nicht militärisch ausgerüstet, und meldete mich als „reisefertig“ beim
Kommando. Doch glücklicherweise wurden wir garnicht erst losgelassen, denn es hatte sich
mittlerweile herausgestellt, daß es unmöglich war, durch zu kommen, da die Tschechen die
die Kontrolle der Eisenbahn übernommen hatten. Und ihre Kommandos fuhren im Zuge mit.
Und spätestens bis Botschkarevo, 600 km hinter Chabarowsk, (Blagowjeschtschensk am Amur)
hatten sie unweigerlich jeden Gefangenen heraus. So blieb dann nach Tagen größter
Aufregung nichts anderes übrig, als den allgemeinen Abtransport abzuwarten, und für den
schien ja auch alles günstig zu stehen. Anfang März wurde der Brester Friede geschlossen,
Mitte März ratifiziert.
Sonst ist aus dieser Zeit noch zu erwähnen, daß im März ein seit Jahren erwartete
Büchersendung eintraf, aus der jeder im Lager einen Band schöner Literatur (Meist Raabe in
der schönen großen Ausgabe, aber auch Keller, Storm, C.F. Meyer u.a.)
und einen Band der Velh. und Klasing Monographien bekam. Und so begann ein großes
Lesen, da man in dieser aufregenden Zeit zum Arbeiten doch nicht mehr fähig war . Und die
Aufregung stieg noch, als Ende März die uns alle überraschenden Meldungen
128
9.12.21.
von der großen deutschen Offensive kamen, die jetzt hauptsächlich von dem Gesichtspunkte:
wird es uns noch glücken, rechtzeitig nach Hause zu kommen, um da noch mit zu helfen? aus
besprochen und bewertet wurde. Die Zeitungsvorlesung wurde wieder zu dem großen
Ereignis des Tages.
Mitte März war ich auch mal wieder in der Stadt an einem schönen klaren
Wintertage, wie sie dort ja die Regel waren. Wir wurden in eins der der großen privaten
Schwitzbäder geführt, wie sie in allen sibirischen Städten in großer Zahl vorhanden sind.
Und das war aus mehreren Gründen sehr angenehm. Zunächst schätzte ich die
Dampfbäder sehr. Dann war es ein Vergnügen, mal aus dem Bretterzaun heraus zu kommen
und etwas von der Umwelt zu sehen. So ein Spaziergang bei etwa 150 Kälte war
wunderschön. Ganz klare reine Luft (Kohlenfeuerung gab es nicht), durch den Schnee hatte
das Städte- und Landschaftsbild eine Sauberkeit, die man im Sommer vergeblich suchte, und
schließlich freute ich mich immer, wenn ich etwas von unserer geographischen Lage kennen
lernte, hinter dem Zaun konnte man immer nur raten, wo die Stadt u.a. lag. Ende März oder
Anfang April wurde es dann warm und fing mittags an zu tauen. Die Sonne hatte zwischen 1
und 4 schon eine so große Macht, daß man an geschützter Stelle im Freien sitzen und sich auf
den Sommer freuen konnte. Abends fror allerdings alles wieder zu.
129
Nun zur „Heimfahrt“.
Im März kam der schwedische Graf Bunde (oder Bande) und brachte uns Gelder zu
einem sehr günstigen Kurs und vor allem Hauptmann Klein den Befehl von Hause, auf den
Abtransport hinzuarbeiten und uns nach Hause zu bringen. Zusammen mit den Vertretungen
der verschiedenen österreichischen Lager wurde nun mächtig hinter den Kulissen mit den
verschiedenen Soldatenräten und Kommissionen gearbeitet. Es wurden Gesichtspunkte für
die Reihenfolge der Lager und innerhalb der einzelnen Lager aufgestellt und unendlich viele
Listen deutsch und russisch geschrieben. Und in der ersten Aprilwoche wurde es Ernst. Man
50
verkaufte und verschenkte alles überflüssige, um möglichst wenig Gepäck zu haben, und am
8. April wurde als 1. Lager das unsrige mit allen deutschen Mannschaften (hauptsächlich
Marine) verladen, im ganzen etwa 500 Offiziere und 500 Mann. Früh erschienen die
russischen Bauernwagen in großer Zahl und schafften unser Gepäck kompagnieweise zur
Bahn. Mittags waren wir dran. Ohne Bewachung, ein eigenartiges Gefühl! Gingen wir bei
ziemlicher Kälte und Wind zur Bahn. Chinesen, die uns begegneten, riefen uns
freudestrahlend: gomou, gomou! (nach Hause!) zu, und freuten sich mit uns. Wir waren
allerdings nicht so ganz sorgenfrei. Am 4. April hatten die Japaner Wladiwostok besetzt und
130
wir rechneten stark mit der Möglichkeit, daß sie uns den Weg versperren würden. Außerdem
wußten wir, daß in Mittelsibirien „Internationalisten“ d.h. ehemalige Kriegsgefangene, die in
die Rote Armee eingetreten waren, ihr Wesen trieben, besonders in Tschita, Irkutsk,
Krasnojarsk und Omsk und wir mußten sehr fürchten, von ihnen nicht durchgelassen zu
werden.
51
Anhang 1
52
Anhang 2
Feldpostbrief
An: Herrn Gymnasialprofessor Petri
in Bielefeld
Abs.: Lt. d. R. Stendel
I.R. 137. 3 Komp.
Obrytki bei Lomza
13. III. 1915
Sehr geehrter Herr Professor!
Da ich nicht weiß, ob Ihr Herr Sohn, Lt. d.R. Petri im I.R. 137, 4. Komp., in der Lage ist,
Ihnen über sein Ergehen Nachricht zu kommen zu lassen, erlaube ich mir, Ihnen das, was ich
über das Schicksal meines guten Kameraden erfahren habe, mitzuteilen.
Ihr Sohn ist, soweit das Rgmt unterrichtet ist, am 23. II. 15 leicht verwundet,
Halsstreifschuß, in russische Gefangenschaft geraten. Das Rgmt. focht an diesem Tage gegen
eine gewaltige Übermacht. Die 11. Kompagnie hatte ein isoliert liegendes Vorwerk,
Witkowschtschisna etwa 13 km nordwestlich Grodno zu halten. Während der Feind die
Hauptstellung des Rgmts angriff, wurde das erwähnte Vorwerk von weit überlegenden
Kräften angegriffen. Da die 11. Kompagnie, geführt von einem guten Kameraden Ihres
Sohnes, Lt. d.R. Lohrberg, schwere Verluste hatte, wurde ein Zug der 4. Kompagnie unter Lt.
Petri zur Verstärkung in das Gehöft gesandt. Die 11. Kompagnie im Verein mit dem Zuge
der 4. Kompagnie und einem Zuge Maschinengewehre hielt trotz schwerster Verluste das
Vorwerk. In dem Vorwerk lagen mindestens 140 deutsche Verwundete und Tote. Nach der
letzten Meldung existierten von der 11. Kompagnie nur noch etwa 15 Mann.
Inzwischen war der Feind vor der Hauptstellung unseres Rgmts zurückgeworfen und
flutete im Zurückgehen mit großer Übermacht von hinten auf das Vorwerk, dieses nur noch
von ganz schwachen Kräften verteidigt nehmend.
Unter den Verwundeten, die in Feindes Hand fielen, befand sich nach den
Nachrichten der letzten Entkommenen, auch unser lieber Kamerad Petri, durch
Halsstreifschuß verwundet und Lt. Lohrberg durch Oberschenkelschuß verwundet.
Es ist nicht anzunehmen, daß die Russen ihre Gefangenen schlecht behandelt haben.
Jedenfalls sind Gefangene, die von uns später befreit worden sind, ganz menschlich
behandelt behandelt worden, verwundete sogar sehr gut verbunden worden.
Weiter ist es wohl für Sie von Interesse zu hören, daß unser Rgmts Kommandeur
erklärt hat, das Rgmt sei stolz auf diese Truppen, die das Vorwerk gegen eine vielfache
Übermacht gehalten hätten, bis sie selbst beinahe vollständig aufgerieben seien.
Ich bin seit Beginn des Feldzugs mit Ihrem Herrn Sohn zusammen gewesen, den ich
unter allen Kameraden als besten schätzen gelernt habe. Deshalb darf ich wohl mit der Bitte
kommen, mir, falls Sie verehrter Herr Professor etwas Neues über das Ergehen Ihres Sohnes
erfahren sollten, Nachricht darüber zu kommen zu lassen.
In der Hoffnung bald Günstiges zu erfahren bin ich Ihr
sehr ergebener
O. Stendel
Lt. d.R. Im I.R. 137, 3. Komp.
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