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FEHLALARME
Kinderschutz: Meldesystem überfordert die Jugendämter
Montag, 7. Februar 2011 03:28 - Von Florentine Anders
Eines der ambitioniertesten Vorhaben zur Verbesserung des Kinderschutzes droht einem unüberschaubaren
Verwaltungsaufwand zum Opfer zu fallen. Seit Ende Oktober sollen Eltern, die einen Vorsorgetermin ihrer Kinder beim
Kinderarzt versäumt haben, gemahnt werden. Wer trotz Aufforderung nicht beim Arzt erscheint, soll einen Hausbesuch
erhalten.
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Auf diese Weise sollen Vernachlässigungen oder Misshandlungen früher erkannt werden. So weit die Theorie. In der Praxis werden
Tausende Briefe monatlich von den Gesundheitsämtern der Bezirke verschickt, die zumeist überflüssig sind oder folgenlos bleiben. Zu
Hausbesuchen kommt es fast nie, obwohl jeder Bezirk eigens dafür eine zusätzliche Stelle für eine Hebamme oder einen Sozialarbeiter
erhalten hat.
Im Bezirk Neukölln etwa musste das Gesundheitsamt zwischen November und Januar in 500 Fällen nachhaken. Vernachlässigung lag
selten vor. In 98 Prozent der Fälle handelte es sich um Fehlmeldungen. "Die Familien waren längst bei der Vorsorgeuntersuchung gewesen
oder der Termin stand unmittelbar bevor", sagt Gesundheitsstadtrat Falko Liecke (CDU). Der Aufwand für das sogenannte verbindliche
Einladungswesen sei enorm, der Nutzen bisher kaum erkennbar. Zudem könne im Ernstfall ein Arztbesuch gar nicht erzwungen werden.
Nicht einmal der Haubesuch könne gegen die Weigerung der Eltern durchgesetzt werden, so Stadtrat Falko Liecke.
KOMPLIZIERTES MELDEVERFAHREN
Das Meldeverfahren ist kompliziert. Die Eltern erhalten nach der Geburt für jede Vorsorgeuntersuchung einen Aufkleber mit einem
Strichcode, der beim jeweiligen Arztbesuch eingelesen wird. Die Meldung über den absolvierten Arztbesuch geht so in der Zentralstelle der
Charité ein, wo die Daten mit einem Register, in dem die verschlüsselten Angaben aller Kinder gespeichert sind, abgeglichen werden. Ist
ein Kind bis kurz vor Ablauf der vorgesehenen Frist nicht beim Arzt erschienen, geht eine Meldung an das Bezirksamt, das dann tätig
werden soll. Insgesamt neun Untersuchungen sind von Geburt an bis zum sechsten Lebensjahr vorgesehen.
In Reinickendorf wurden von der Charité innerhalb von drei Monaten mehr als 560 säumige Eltern gemeldet. Um die Briefe an die Familien
zu schicken, mussten im Bezirksamt zusätzliche Verwaltungskräfte abgeordnet werden. Fast in allen Fällen habe sich die Mahnung als
überflüssig erwiesen, so Amtsleiterin Margit Engelmann-Renner. Ein Grund dafür könnte sein, dass die Charité bereits zwei Wochen vor
Ablauf der Frist die säumigen Familien weitermeldet, so die Amtsärztin. Viele würden aber erst zum Ende des vorgeschriebenen Zeitraums
zur Untersuchung gehen. "Das ist sogar ratsam, denn dann sind die Kinder in ihrer Entwicklung schon weiter", sagt die Ärztin. Nur etwa
zehn Eltern hatten den Termin tatsächlich versäumt, ihn jedoch schnell nachgeholt. Das Problem sei, dass viele Eltern wütend reagieren,
wenn sie zu Unrecht gemahnt werden.
Auch Martina Schmiedhofer, Gesundheitsstadträtin von Charlottenburg-Wilmersdorf (Grüne), beschreibt das derzeitige Meldeverfahren als
eher kontraproduktiv. Allein im Januar haben 255 Familien die Aufforderung erhalten, sich wegen einer versäumten Arzt-Untersuchung beim
Amt zu melden. Seit November waren es 537 Fälle, doch nur zwei Mal kam es tatsächlich zu einem Hausbesuch. Eine
Kindesvernachlässigung habe nicht vorgelegen.
Die Eltern würden sich kontrolliert und gemaßregelt fühlen, dabei sei es eigentlich Anliegen des Gesundheitsamtes, Vertrauen zu schaffen,
sagt Martina Schmiedhofer. "Das Amt hat zwar eine zusätzliche Stelle bekommen, doch die Fachkraft könnte viel effektiver eingesetzt
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werden", sagt Stadträtin Schmiedhofer. Nützlicher für den Kinderschutz seien beispielsweise die sogenannten Erst-Hausbesuche. In
Charlottenburg-Wilmersdorf können derzeit 60 Prozent der Eltern mit einem neugeborenen Kind vom Gesundheitsamt besucht werden.
Schmiedhofer rät, das Einladungswesen zu überdenken. Gesundheitssenatorin Katrin Lompscher (Linkspartei) sieht aktuell keinen
Handlungsbedarf. "Wir sind mit der bisherigen Arbeit zufrieden. Es hat sich gezeigt, dass ein Großteil der Berliner Eltern die
Untersuchungen erst am Ende des Unterzeitraums wahrnehmen", verlautet es aus Lompschers Verwaltung.
Etwa 75 Prozent der Eltern nehmen derzeit an allen Früherkennungsuntersuchungen der Kinder teil. Dabei nimmt die Quote mit
zunehmendem Alter der Kinder ab. Wenn alle Eltern die Fristen für die Arztbesuche einhalten würden, gebe es in Berlin nach Angaben der
Zentralstelle der Charité etwa 4000 Untersuchungen wöchentlich. Die Eltern können aber nicht zum Arztbesuch gezwungen werden.
HÄUFIG FEHLT PERSONAL FÜR KONTROLLEN
Eine andere Maßnahme, um Kindermisshandlungen und -vernachlässigungen zu verhindern, ist das vom Berliner Senat im Februar 2007
beschlossenen Konzept für das "Netzwerk Kinderschutz". Zentraler Teil des Vorhabens ist eine berlinweite Hotline (Tel. 610 066) unter der
Vernachlässigungen und Misshandlungen gemeldet werden können. Außerdem soll ein Frühwarnsystem gefährdeten Kindern helfen,
indem bestimmte Eltern rechtzeitig Hilfsangebote erhalten. Zu dieser "Risikogruppe" gehören beispielsweise junge alleinstehende Mütter,
kinderreiche Familien und Familien, in denen es Drogensüchtige oder psychisch Kranke gibt. Sollten Anhaltspunkte für die Gefährdung
eines Kindes vorliegen, wird unverzüglich ein Sozialarbeiter beauftragt, einen Hausbesuch durchzuführen. Im vergangenen Jahr wurde vom
Kinderschutzbund Berlin jedoch Kritik laut: Das "Netzwerk Kinderschutz" würde nicht richtig funktionieren. So werden in Bezirken mit
besonders großer Kinderarmut wie in Neukölln längst nicht alle Eltern mit Neugeborenen besucht. Häufig fehlt dafür das Personal.
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