Predigt über… - Französische Kirche

Transcription

Predigt über… - Französische Kirche
Sonntag Judica
17. März 2013
Pfarrer Dr. J. Kaiser
Französische Friedrichstadtkirche
Predigt über Johannes 18,28-19,16
Pontius Pilatus, Jesus Christus und die Wahrheit
18,28 Nun führen sie Jesus
vom Haus des Kajafas zum Prätorium; es war früh am Morgen.
Und sie selbst gingen nicht ins Prätorium hinein, um nicht unrein zu werden, denn sie wollten
am Passamahl teilnehmen.
29 Also kam Pilatus zu ihnen heraus, und er sagte: Welche Anklage erhebt ihr gegen diesen
Menschen?
30 Sie antworteten ihm: Wenn das kein Verbrecher wäre, hätten wir ihn nicht an dich ausgeliefert.
31 Da sagte Pilatus zu ihnen: Nehmt ihr ihn und richtet ihn nach eurem Gesetz. Die Juden sagten zu ihm: Uns ist nicht erlaubt, jemanden hinzurichten.
32 So sollte das Wort Jesu in Erfüllung gehen, das er gesprochen hatte, um anzudeuten, welchen
Tod er sterben sollte.
33 Da ging Pilatus wieder ins Prätorium hinein, liess Jesus rufen und sagte zu ihm: Du bist der
König der Juden?
34 Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus, oder haben es dir andere über mich gesagt?
35 Pilatus antwortete: Bin ich etwa ein Jude? Dein Volk und die Hohen Priester haben dich an
mich ausgeliefert. Was hast du getan?
36 Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt,
würden meine Diener dafür kämpfen, dass ich nicht an die Juden ausgeliefert werde. Nun aber
ist mein Reich nicht von hier.
37 Da sagte Pilatus zu ihm: Du bist also doch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es. Ich bin
ein König. Dazu bin ich geboren, und dazu bin ich in die Welt gekommen, dass ich für die
Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.
38 Pilatus sagte zu ihm: Was ist Wahrheit?
Und nachdem er dies gesagt hatte, ging er wieder zu den Juden hinaus, und er sagte zu ihnen:
Ich finde keine Schuld an ihm.
39 Ihr seid es aber gewohnt, dass ich euch zum Passafest einen freigebe. Wollt ihr nun, dass ich
euch den König der Juden freigebe?
40 Da schrien sie wieder und wieder: Nicht diesen, sondern Barabas! Barabbas aber war ein
Räuber.
19,1 Da nahm Pilatus Jesus und liess ihn auspeitschen.
2 Und die Soldaten flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie auf sein Haupt und legten
ihm einen Purpurmantel um,
3 und sie stellten sich vor ihn hin und sagten: Sei gegrüsst, König der Juden!, und schlugen ihn
ins Gesicht.
4 Und Pilatus ging wieder hinaus, und er sagte zu ihnen: Seht, ich führe ihn zu euch hinaus,
damit ihr erkennt, dass ich keine Schuld an ihm finde.
5 Da kam Jesus heraus; er trug die Dornenkrone und den Purpurmantel. Und Pilatus sagt zu
ihnen: Da ist der Mensch!
6 Als ihn nun die Hohen Priester und die Gerichtsdiener sahen, schrien sie: Kreuzigen, kreuzigen! Pilatus sagte zu ihnen: Nehmt ihr ihn doch und kreuzigt ihn! Ich finde keine Schuld an ihm.
7 Die Juden antworteten ihm: Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muss er sterben, denn
er hat sich zum Sohn Gottes gemacht.
1
Sonntag Judica
17. März 2013
Pfarrer Dr. J. Kaiser
Französische Friedrichstadtkirche
8 Als nun Pilatus dieses Wort hörte, fürchtete er sich noch mehr
9 und ging wieder ins Prätorium hinein, und er sagte zu Jesus: Woher bist du? Jesus aber gab
ihm keine Antwort.
10 Da sagte Pilatus zu ihm: Redest du nicht mit mir? Weisst du nicht, dass ich die Macht habe,
dich freizugeben, und die Macht, dich kreuzigen zu lassen?
11 Jesus antwortete ihm: Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben
wäre. Darum hat der, der mich dir ausgeliefert hat, grössere Schuld.
12 Daraufhin suchte Pilatus eine Möglichkeit, ihn loszuwerden. Die Juden aber schrien: Wenn
du den da freigibst, bist du kein Freund des Kaisers. Jeder, der sich zum König macht, widersetzt sich dem Kaiser.
13 Als nun Pilatus diese Worte hörte, führte er Jesus noch einmal hinaus, und er setzte sich auf
den Richterstuhl auf dem sogenannten Steinpflaster, das auf Hebräisch Gabbata heisst.
14 Es war Rüsttag für das Passa, um die sechste Stunde. Und er sagte zu den Juden: Da ist euer
König!
15 Da schrien sie: Fort mit ihm, fort mit ihm, kreuzige ihn! Pilatus sagt zu ihnen: Euren König
soll ich kreuzigen? Die Hohen Priester antworteten: Wir haben keinen König ausser dem Kaiser!
16 Da lieferte er ihnen Jesus zur Kreuzigung aus.
Pontius Pilatus, Jesus Christus und die Wahrheit
I. Ein Mensch vor seinem Richter.
Was ist das für ein Richter? Ist er ein Diener der Gerechtigkeit, der beurteilt, ob ein Mitglied der Gesellschaft gegen die Regeln der Gesellschaft verstoßen hat? Oder ist er ein Diener der Macht, der die
Interessen der Herrschenden durchsetzt?
Ein Mensch steht vor seinem Richter. Kann dieser Mensch hoffen oder muss er bangen?
Pilatus ist Gesetzgeber, Gouverneur und Richter in einem, Legislative, Exekutive und Jurisdiction in
Person. Kann er die Rollen auseinanderhalten?
Folgt man der Darstellung des Johannesevangeliums, scheint ihm klar gewesen zu sein, dass er hier als
Richter angerufen wird, aber nicht um Recht zu sprechen, sondern weil einige einen bestimmten Menschen loswerden wollen. Pilatus scheint das zu durchschauen und macht nicht mit – zunächst nicht! Er
bleibt in der Rolle des Richters, als der er angerufen wird. Er fragt nach der Anklage. Keine Verurteilung ohne Anklage! Er fragt nach der Gesetzesgrundlage. Keine Strafe ohne Gesetz! Er fragt nach
seiner Zuständigkeit. Er befragt auch den Angeklagten. Er findet heraus, dass es um die Beanspruchung des Königstitels geht. Jesus redet von seinem Reich, von seiner Herrschaft. Das könnte ein Indiz dafür, dass er sich den Königstitel anmaßt, vielleicht sogar einen Putsch anzetteln wollte. Pilatus
fragt nach. Sein Reich aber sei gar nicht von dieser Welt. Der Angeklagte bezeichnet sich plötzlich als
Zeuge. Er sei ein Zeuge der Wahrheit.
Was ist Wahrheit?, fragt Pilatus.
II. Ein Richter vor der Wahrheitsfrage
Was ist Wahrheit?, fragt Pilatus. Ich habe aus dieser Frage immer den Relativisten gehört, den Skeptiker, ja den Zyniker, für den alles relativ ist, für den es kein Absolutes gibt und keine Wahrheit. Der
dekadente Römer, ein Heide aus Überzeugung.
Vielleicht muss man in dieser Frage aber einen ganz anderen Ton hören, den Ton eines gewissenhaften Richters, der feststellt, dass die schwierige Frage nach der Wahrheit außerhalb der Möglichkeiten
der Rechtsprechung liegt. Wenn ein Richter nach der Wahrheit fragt, dann nicht in einem weiten phi-
2
Sonntag Judica
17. März 2013
Pfarrer Dr. J. Kaiser
Französische Friedrichstadtkirche
losophischen Sinn, sondern nur in jenem engen logischen Sinn, dem es darum geht, festzustellen, welche der sich widersprechenden Aussagen die Wirklichkeit angemessener wiedergibt. Die Kriterien
sind Zeugenaussagen, Beweise und Indizien.
Jesus gibt zu Protokoll: Sein Reich sei nicht von dieser Welt. …Er sei ein König…. dazu geboren, und
in die Welt gekommen, für die Wahrheit Zeugnis abzulegen.
Was Jesus von sich sagt, liegt außerhalb der Kategorien dieser Welt und damit außerhalb der Möglichkeiten eines weltlichen Gerichts. Das erkennt Pilatus. Er kann keine Schuld finden. Ein Mensch
mit Wahrheitsanspruch ist kein Hochverräter.
III. Pontius Pilatus im Urteil der Geschichte
Was ist die historische Wahrheit über dieser Richter?
Pontius Pilatus ist im Christentum der bekannteste Antiheld, wohl noch berühmter als Judas Iskariot.
Ihm wurde die zweifelhafte Ehre zuteil, ins Apostolische Glaubensbekenntnis zu gelangen. Das hat
außer Maria sonst kein Mensch geschafft. Aber die Nachbarschaft zum Partizip Perfekt „gelitten“ ist
ihm nicht gut bekommen. Pontius Pilatus ist der, unter dem Jesus Christus gelitten hat. Man hört das
noch direkter: Christus hat an ihm gelitten. Pilatus hat Jesus hinrichten lassen. Er ist der Schuldige.
Man weiß nicht viel über ihn. Pontius ist nicht sein Vorname, sondern sein Familienname und Pilatus
ein Beiname, der – je nachdem, von welchem Wort man ihn ableitet - entweder heißt „der Speerträger“, „der Hutträger“ oder „der Glatzkopf“.
Schon seine Zeitgenossen ließen kein gutes Haar an Pilatus, weshalb man das doch am besten mit
„Glatzkopf“ übersetzt. Es sei grausam und korrupt gewesen, außerdem ungeschickt in der Regierung,
er sei schließlich vom Kaiser abberufen worden und habe sich vor ihm rechtfertigen müssen.
Was ist die Wahrheit über Pontius Piltaus?
Die Evangelien zeichnen ein anderes Bild. Viermal sagt Pilatus im Johannesevangelium, er finde keine Schuld an Jesus. Deutlich ist die Tendenz zu erkennen, die Römer von der Schuld an der Hinrichtung Jesu zu entlasten und sie den Juden anzulasten. Sie hätten bei Pilatus interventiert und intrigiert.
Der Beschuldigung der Juden dient auch die Barrabas-Episode. Pilatus sucht einen geschickten Ausweg. „Einen lasse ich frei, welchen wollt ihr, Jesus oder Barrabas?“ Er hofft, das Volk wähle Jesus,
seinen König. Sie aber rufen: Nicht diesen sondern Barrabas. Das Volk also habe Jesus kreuzigen wollen.
Die Christen haben diese Sicht übernommen und verstärkt. Die durch die Evangelien angeblich belegte Schuld der Juden gab Anlass zu vielen Pogromen. Mittlerweile aber sind wir aus nachvollziehbaren
Gründen dankbar dafür, dass Pilatus im Glaubensbekenntnis steht und es nicht heißt „gelitten unter
Kaiphas“ und wir sagen können: Letztlich tragen die Römer die Verantwortung für die Hinrichtung
Jesu.
Was ist Wahrheit? Wer hat schuld an Jesu Tod? Die historische Antwort ist immer auch eine politische. Aber ist die historische Antwort hier überhaupt die gefragte?
Im Johannesevangelium gibt Jesus eine erstaunlich andere Antwort: Er sagt zu Pilatus: Du hättest
keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre.
IV. Die andere Wahrheit in diesem Prozess
Wer ist schuld am Tod Jesu? Was ist die Wahrheit?
Es gibt seit jeher eine theologische Antwort. Sie wird in allen alten Passionsliedern gegeben: „Was ist
doch wohl die Ursach solcher Plagen? Ach, meine Sünden haben dich geschlagen; ich, mein Herr Jesu, habe dies verschuldet, was du erduldet“ (EG 81,3)
In Wahrheit spielt sich hier ein ganz anderer Prozess ab, ein Prozess von oben. In diesem anderen Prozess, ist Jesus von Nazareth nicht mehr der Angeklagte, sondern Christus der Zeuge der Wahrheit über
3
Sonntag Judica
17. März 2013
Pfarrer Dr. J. Kaiser
Französische Friedrichstadtkirche
uns und zugleich unser Richter und unser Verteidiger. Und wir sind nicht mehr Beobachter und Zeugen, sondern wir sind die Angeklagten und die Freigesprochenen.
Was ist Wahrheit? Es gibt Wahrheit immer nur in Bezug auf einen selbst.
Die Wahrheit dieses Prozesses ist die Wahrheit über uns vor Gott und dem Nächsten schuldig gewordene und um Christi willen freigesprochene Menschen. Diese Wahrheit, unsere Wahrheit, bezeugt
Christus.
Und Pilatus? Er versteht davon nichts. „Bin ich etwa ein Jude?“, fragt er. Er weiß nicht, welche Wahrheit hier in Erfüllung geht.
Pilatus ist Römer, Heide. Die Römer haben die Regeln der Justiz erfunden. Pilatus sucht die Gerechtigkeit durch Verfahrensregeln, aber ohne Wahrheitsanspruch. Das geht eine zeitlang gut. Er findet
keine Schuld an Jesus. Letztlich aber scheitert der Heide am fehlenden Rückgrat. Ihm fehlt der Glaube
an das Offenbarwerden der Wahrheit, ihm fehlt die Courage, die erkannte Unschuld auch politisch
durchzusetzen. Er lässt Jesus nicht frei. Statt dessen gibt er dem Druck der Straße und seinem Oportunismus nach und lässt einen Unschuldigen hinrichten.
V. „Ich bin die Wahrheit!“
Was ist Wahrheit?
Pilatus hätte sie finden können. Sie stand vor ihm, sie war zum Greifen nahe. Wenn er es nicht vorgezogen hätte, seine Hände in Unschuld zu waschen, hätte er die Wahrheit greifen und begreifen können.
Wenn er im Bewusstsein seiner Unvollkommenheit und seiner Fehlbarkeit Verantwortung übernommen hätte – wenn er nicht versucht hätte, sich unbeschadet aus der Affäre zu ziehen, sondern dem
Druck der Straße, dem Druck der öffentlichen Meinung, dem Druck der Medien die Stirn geboten
hätte und einen, den er für unschuldig hält, nicht um eines bösen Friedens willen hätte hinrichten lassen oder – noch schlimmer – um nicht beim Kaiser angeschwärzt zu werden, wenn er Haltung bewahrt
hätte, dann hätte er die Wahrheit sehen, hören und begreifen können. Sie stand vor ihm, sie war zu
Greifen nahe.
Er hätte die Wahrheit sehen können, wenn für Jesus eingetreten wäre, wenn er für das eingetreten wäre, was er als wahr erkannt hat: die Unschuld des Angeklagten.
Die Wahrheit ist nichts Theoretisches, nichts Abstraktum und kein Gedankenspiel. Die Wahrheit ist
konkret, sie ist greifbar, sie entspringt einer Haltung der Wahrhaftigkeit und der Handhabung der Gewissenhaftigkeit. Die Wahrheit fängt immer bei einem selber an und erfüllt sich bei meinem Nächsten.
Indem man für ihn eintritt, tritt man für die Wahrheit ein und so zeigt sie sich.
Wo aber die Angst herrscht, weicht die Wahrheit. Pilatus hatte Angst. Er flieht vor der Situation, er
flieht vor sich selbst.
Durch Christus hat Gott die Angst vertrieben.
Was ist Wahrheit? Sie steht vor Pilatus, zum Greifen nah.
Christus spricht: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Christus, der den Weg in den Tod
gegangen und und unsere Schuld getragen hat, hat die Angst vor dem Versagen vertrieben. Christus,
der von den Toten auferstanden ist und den Tod besiegt hat, hat die Angst vor dem Tod verjagd.
Ohne die Angst vor dem Versagen und die Angst vor dem Tod, in der Freiheit der Kinder Gottes, werden wir wahrhaftig sein und aufrecht. Wir sehen die Wahrheit vor uns stehen und folgen ihr. Und
wenn sie zu uns spricht und uns anrührt, dann sagen wir Ja und Amen.
Amen.
4