Schönheit im Chaos
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Schönheit im Chaos
Reisen PIZZA MARGHERITA Die Napolitaner behaupten, sie hätten diese Köstlichkeit erfunden. DIE GALLERIA UMBERTO I Der Einkaufstempel und Treffpunkt liegt in der Altstadt gegenüber dem weltberühmten Opernhaus Teatro San Carlo. Serie Mit Einheimischen durch fremde Städte Napoli Schönheit im Chaos Was erlebt der Reisende, wenn er den Tipps der Einheimischen folgt? In Neapel findet er im Gewusel das Glück. Und neben Pizza, Pasta und Pulcinella einen Schweizer «Heiligen». Fotos: Prisma/SIME, Matthias Mächler, zvg Text Matthias Mächler 58 D as Glück gleicht einem Peperoncino. Es ist knallrot, meist etwa fingerlang und wird in dieser wilden, lauten, unberechenbaren Stadt an jeder Ecke feilgeboten. Das «Cornetto» (Hörnchen) kann man zwar kaufen, aber man tut es nicht für sich, sondern für andere. Denn Glück wirkt nur, wenn man es geschenkt bekommt, oder selber verschenkt. Deshalb bin ich ebenso verblüfft wie gerührt, als mir Francesco, der bärenhafte Regisseur, zum Abschied ein «Cornetto» überreicht, ein selbst gemachtes aus Ton mit einem Schweizer Familie 31/2012 Kopf obendrauf von Pulcinella, dieser listigen Figur aus dem neapolitanischen Volkstheater. 9.35 Uhr: Pulcinella Francesco Cutolo lernte ich vor einer halben Stunde an der Spaccanapoli kennen, dieser engen, aber schnurgeraden Gasse mitten durch die verschachtelte Altstadt. Er stand an der Theke der Bar Settebello, trank einen Kaffee und begann, von seinem Pulcinella-Museum zu erzählen. Es liege gleich um die Ecke, solle aber umfunktioniert werden. Denn Francescos neue Leiden- schaft gilt Caravaggio, dem frühbarocken Maler und Archetyp des verruchten Künstlers. Ihm will der Theater- und Filmregisseur mit einer opulenten Taverne ein Denkmal setzen, weil er sicher ist, dass genau in diesem Hinterhof eines seiner berühmtesten Gemälde entstand. Doch das ist lange her. Heute, sagt Francesco, seien es Künstler wie Lello Esposito, die Neapel prägten: «Lello steht hoch im Kurs und ist trotzdem ein bescheidener Mensch geblieben. Du findest sein Atelier gleich da drüben.» Zum Abschied drückt er mir das knallrote Cornetto in die Hände. DER VESUV Der 1281 Meter hohe Vulkan befindet sich in einer Ruhephase. Zum letzten Mal brach das Wahrzeichen Neapels 1944 aus. MITBRINGSEL Die «New York Times» adelte sie als die beste Tomatensauce der Welt: Die «Pomodorino del Piennole del Vesuvio» wird aus kleinen, traditionell an einer Schnur getrockneten VesuvTomaten hergestellt und ist zum Beispiel in der «Charcuterie» (siehe 11:40 Uhr) für 6.80 Euro erhältlich. WEIBLICHE SICHT AUF NEAPEL Ortensia Alaio, die Inhaberin des Modegeschäfts «Toy Girl» an der Via Chiaia. Schweizer Familie 31/2012 59 Reisen PULCINELLA Die traditionelle Theaterfigur als Porzellan-Kunsthandwerk. AUF EINEN BLICK Neapel ist die HAUPTSTADT und Ausgangsort für Ausflüge mit rund 960 000 Einwohnern die drittgrösste Stadt Italiens die Amalfiküste oder auf die Inseln Capri und Ischia. 1995 DER REGION KAMPANIEN, INS ANTIKE POMPEJ, an GÖKHAN INLER Der Captain der Schweizer FussballNati hat die SSC Napoli letzte Saison zum Cupsieg geführt, seither gehört er zu den Helden der Stadt. DIE ALTSTADT Fotos: Prisma/SIME, Matthias Mächler Illustration: Olaf Hajek Wirr, farbig und immer mit Leben gefüllt präsentiert sich Neapels Zentrum dem Flaneur. 60 10.05 Uhr: Eisenmann Das Cornetto scheint mir bereits Glück zu bringen: Lello Esposito öffnet im Keller des Palazzo San Severo die Tür zu einem Universum, das sich ausschliesslich um seine Heimatstadt und deren Wahrzeichen dreht: den Vesuv, die Schutzheiligen, Pulcinella oder die Pizza, von der man sagt, sie sei in Neapel erfunden worden. Hier steht auch das Werk, mit dem Esposito Italien an der letzten Biennale von Venedig vertreten hat: Vor einer gigan tischen Italien-Flagge stehen 150 Eisen Schweizer Familie 31/2012 träger mit Garibaldi-Köpfen. Die Geschichte dahinter: Vor 150 Jahren gründete Garibaldi das moderne Italien, und die Eisenträger stützten während des grossen Erdbebens 1980 Neapels Gebäude. «Die Stärke der Stadt hält die ganze Nation aufrecht», erklärt Lello Esposito, und man würde so gerne länger bleiben und mehr erfahren über ihn und sein Schaffen, doch die Arbeit ruft. Was also ist für ihn das Wichtigste in Neapel? Lello lacht: «Das Essen natürlich! Und die besten Zutaten dafür gibts in der Charcuterie.» 11.40 Uhr: Gaumenfreunde Die Brüder Antonio und Vincenzo heissen zwar ebenfalls Esposito, sind aber weder mit Lello verwandt, noch haben sie etwas mit Kunst am Hut. Höchstens mit der Kunst, aus dem legendären Schlaraffenland Kampanien die besten Lebensmittel zu filtern und damit das bisschen Platz in ihrem Laden bis auf den letzten Millimeter zu verbauen. Besonders ans Herz legen sie mir den Kaffee von Pas salacqua, die Pasta von Setaro und eine Sauce aus den kleinen, traditionell ge- wurde die gesamte Altstadt (centro storico) zum UNESCO-WELTKULTURERBE erklärt. Anreise: Am einfachsten und günstigsten mit Lufthansa via München (täglich). Una Hotel, Piazza Garibaldi 9/10: viel Stil, herzlicher Service, ruhige Zimmer, DZ ab ca. 120 Fr., +39 081 563 69 01 www.unahotels.it Tourist-Information, Piazza del Gesù, +39 081 551 27 01 www.inaples.it (deutsch) Bar Settebello, Via Benedetto Croce 8, täglich 9 – 21 Uhr Atelier Lello Esposito, Palazzo Sansevero, Piazza S. Domenico Maggiore, +39 081 551 41 71 www.lelloesposito.com Charcuterie, Via Benedetto Croce 43, +39 081 551 69 81, täglich 9 – 20 Uhr, Sonntag 9 – 14 Uhr Ristorante Pizzeria Europeo, Via M. Campodisola 4-8, +39 081 552 13 23 www.mattozzieuropeo.com Trattoria da Nennella, Vico Lungo Teatro Nuovo 105, +39 081 414 338, täglich 12 – 23 Uhr Piazza del Plebiscito Kostümschneiderei C.T.N. 75 von Vincenzo Canzanella, Via Solitaria 39 www.ctn75.com Napoli Sotterranea, Piazza San Gaetano 68, +39 081 296 944 www.napolisotterranea.org Via Chiaia: Die Shoppingstrasse für Junge Baretti: Die Gässchen um die Via Belledonne im ChiaiaQuartier gelten als Apéro- und Ausgeh-Meilen (ab 19 Uhr). Allgemeine Auskünfte: Italienische Zentrale für Tourismus, Zürich, 043 466 40 40 www.enit.it Schweizer Familie 31/2012 61 Reisen IL CAFFÈ Cremig, mit Zucker und in der kleinen Tasse serviert – so muss er sein in Neapel. WAS KOSTET… … eine Taxifahrt vom Flughafen ins Zentrum (ohne zu verhandeln) 30 Euro … eine Taxifahrt vom Flughafen ins Zentrum (mit Verhandeln) 18 Euro … eine Pizza (die beste der Welt!) und ein Bier ca. 8 Euro … ein Café (der be ste der Welt!) 1 Euro … ein Museumse intritt ca. 6 Euro LELLO ESPOSITO Er vertrat Italien an der letzten Biennale von Venedig mit 150 Garibaldi-Statuen. … eine Glace 2 Euro … ein Pet-Fläsch chen Mineralwasser 1 Euro CASTELL DELL’OVO Die Grundmauern der ältesten Burg der Stadt stammen aus dem 1. Jh. v. Chr. FETTNÄPFCHEN PIAZZA DEL PLEBISCITO Fotos: Matthias Mächler, Getty Images, zvg, Prisma/SIME Der Treffpunkt der Neapolitaner erinnert mit seinem Namen an die Volksabstimmung, mit der sich Neapel 1860 in das Königreich Italien integrierte. 62 trockneten Tomaten vom Vesuv, gemäss «New York Times» die beste der Welt. Dann zeigen sie stolz auf eine Autogrammkarte, die über der Kasse hängt: Gökhan Inler, der Captain der Schweizer Fussball-Nati, hat die SSC Napoli letzte Saison zum Cupsieg geführt. Shirts, Tassen und Magnete mit seinem Namen gehören in der ganzen Stadt zum Strassenbild. Er ist ein Held, fast schon ein Heiliger. Vor allem einer ohne Allüren und ohne Skandale. Und weil das die Neapolitaner mögen, geniesst man als Schweizer beinahe einen Heimvorteil. Schweizer Familie 31/2012 12.10 Uhr: Wie bei Mama Wohin würdet ihr mich jetzt zum Essen schicken, frage ich die Brüder. Antonio empfiehlt das Ristorante Europeo: «Da gibts die besten Spaghetti Vongole. Ausserdem gehört dieses rührend altmodische Restaurant ganz einfach zu dieser Stadt, typischer gehts nicht.» Vincenzo ist für die Trattoria da Nennella im quirlig romantischen Spanischen Quartier: «Da stehen Arme, Reiche, Fussballstars und Punks gleichermassen Schlange, um für zehn Euro zu essen wie bei Mama.» Ich wähle Zweiteres – und bereue es nicht. SPACCANAPOLI Die schnurgerade Gasse trennt die Altstadt in zwei Hälften. Mit der Absicht, einen netten Ort zum Verdauen zu entdecken, frage ich «Nennella»Chef Ciro Vitiello nach dem schönsten Platz Neapels. «So chaotisch Neapel ist, so sehr überrascht es immer wieder mit idyllischen Gassen, prächtigen Gebäuden und lauschigen Plätzen. Doch kein Platz hat die Grösse und Eleganz der Piazza del Plebiscito.» 14.50 Uhr: Wunschpoesie Die Piazza del Plebiscito ist das Herz der Stadt und der «Arbeitsort» von Renato Davide, einem neapolitanischen Original. Seinen Lebensunterhalt verdient er, in- Natürlich gibt es Wein in Neapel, es gibt sogar sehr guten. Doch zu einer typischen neapolitanischen Pizza, die hier nicht knusprig ist, sondern weich und saftig, trinken die Einheimischen nicht Wein, sondern – Bier. dem er für Passanten Gedichte schreibt; bissige Reime zur Politik, philosophische Gedanken zum Leben, Weisheiten für jede Gelegenheit. Er schenkt mir zwei Gedichte und sagt: «Dafür musst du gut über Neapel berichten.» Und einmal mehr staune ich über die Menschen hier, die so wenig haben und so viel geben. Über das Chaos, das so viel Platz bietet fürs unerwaretete Glück. Und über die Spontaneität der Neapolitaner, die immer wieder überraschende Begegnungen ermöglicht. So wie jene mit Vincenzo Canzanella. Renato Davide DIE TRATTORIA DA NENNELLA SPEZIALITÄTENLADEN In diesem Restaurant gibt es für 10 Euro eine Mahlzeit mit besten lokalen Speisen. Vincenzo und Antonio Esposito führen alles, was neapolitanische Küche ausmacht. stellt mir den älteren Herrn mit Pudel als einen der bedeutendsten Kostümbildner Italiens vor. phia Loren und Audrey Hepburn. Stolz zeigt er einen sechs Kilo schweren Dress mit Glasperlen, den Maria Callas bei einem Konzert trug. Dann holt er sein Meisterwerk von der Deckenstange, ein Traum von einem Ballkleid, den Claudia Cardinale 1963 in «Il Gattopardo» trug. Neapel ist reich an Überraschungen, Si gnore Canzanella, doch was vermissen Sie in dieser Stadt? «Seit 1985 gab es hier keine wichtige Opernaufführung mehr», seufzt er. «Ich würde gerne noch einmal diese grossen Emotionen erleben.» Gibt es dennoch eine Inszenierung, die Sie in 15.20 Uhr: Kostümschneider 15 000 Kostüme lagern in den Räumen des Palazzos, 1500 Hüte, 1924 Schachteln mit Knöpfen. Überall hängen Plakate von Opern und Filmen, bei denen Vincenzo Canzanella mitwirkte, «damals, als alles noch mehr Stil hatte». Er macht kein Hehl daraus, wie sehr er dieser Zeit nachtrauert, als er mit Roberto Rossellini und Ingrid Bergman arbeitete, mit Jack Lemmon, So- Schweizer Familie 31/2012 63 Reisen IM UNTERGRUND Neapels Zisternen wurden von den Griechen angelegt. NACHBARN Im Spanischen Quartier machen die Bewohner ihre Gassen zu Wohnzimmern. VINCENZO CANZANELLA Der Kostümbildner hat schon an Grössen wie Sophia Loren und Audrey Hepburn Mass genommen. Fotos: Matthias Mächler, Prisma/SIME, zvg 16.40 Uhr: Der Untergrund 64 «Napoli Sotterranea», das unterirdische Napoli, ist ein mystisches, stilles Labyrinth 40 Meter unter der lauten Stadt, eine Attraktion, die man tatsächlich nicht verpassen sollte. Als der Archäologe Enzo Albertini vor 20 Jahren die Idee hatte, ein Teil der 400 Kilometer langen Zisternen wieder freizulegen, die einst von den Griechen zur Stadtgründung angelegt worden waren, nannte man ihn einen Spinner. Ohne Subventionen, dafür mit umso mehr Leidenschaft begann er seine Mission und schuf eine atmosphärische Kulisse für die Geschichte Neapels, die von ihm und seinem Team ebenso spannend wie humorvoll erzählt wird. Und der umtriebige Wissenschaftler ruht nicht. Kürzlich hat er ein antikes Theater entdeckt und für Besucher zugänglich gemacht. «In Neapel liegen noch so viele Geheimnisse vergraben», sagt er. «Niemand kümSchweizer Familie 31/2012 mert sich darum, also muss ich es eben selber tun.» Benommen vom Ausflug in die Unterwelt spaziere ich durch die Altstadt und am Spanischen Quartier vorbei, zurück zur Piazza del Plebiscito, rein in die Via Chiaia. 18.50 Uhr: In ewiger Liebe Und während ich mir gerade überlege, dass ich für meine Geschichte noch keine weibliche Sicht der Dinge habe, tritt eine Mittdreissigerin aus einer Boutique: Ortensia Alaio ist die Inhaberin des Modegeschäfts «Toy Girl», verbrachte ihr gesamtes Leben in dieser Stadt und strahlt mit der Sonne um die Wette. Warum, frage ich sie, die es ja wissen muss, trifft man in hiesigen Geschäften, Restaurants und offiziellen Stellen so wenig Frauen an? «Wir sind hier in Süditalien; da sind die Rollen noch klar verteilt: Als Frau hast du bis spätestens 30 zwei bis drei Kinder, kümmerst dich um den Haushalt, und der Mann geht arbeiten.» Nicht so Ortensia Alaio: Trotz Kindern führt sie mit Leiden- schaft ihre Boutique und könnte sich im Leben nicht vorstellen, Neapel zu verlassen: «Hier gibt es Sonne, das Meer, die Amalfiküste, Capri. Was willst du mehr?» Natürlich frage ich Ortensia Alaio, wo man als Frau denn so ausgeht. Sie zwinkert mir zu, wie das nur eine Italienerin kann, und sagt: «Mit meiner Familie gehe ich gern in die Fischrestaurants im Quartier Pozzuoli, wo einst Sophia Loren aufgewachsen ist. 21.15 Uhr: Schöne Nacht Für den Apéro mit Freunden aber bevorzuge ich das Baretti.» Dieses liegt gleich um die Ecke ausgerechnet an der Via Belledonne und erwacht ab 19 Uhr aus seinem romantischen Dornröschenschlaf: Rund um die Strasse reihen sich Bars aneinander, viele von ihnen offerieren zu den Drinks gratis Häppchen. Die Gäste stehen in Scharen auf der Strasse, lachen, parlieren, gestikulieren. Laternenlicht hüllt die Szenerie in stimmungsvolles Ambiente – und den Reisenden in eine wunderbare Wolke des Glücks. ■ letzter Zeit erstaunt hat. «Ja, Napoli Sotterranea.»