Schönheit im Chaos

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Schönheit im Chaos
Reisen
PIZZA MARGHERITA
Die Napolitaner behaupten, sie
hätten diese Köstlichkeit erfunden.
DIE GALLERIA UMBERTO I
Der Einkaufstempel und Treffpunkt liegt in der Altstadt
gegenüber dem weltberühmten Opernhaus Teatro San Carlo.
Serie Mit Einheimischen durch fremde Städte
Napoli
Schönheit im Chaos
Was erlebt der Reisende, wenn er den Tipps der Einheimischen
folgt? In Neapel findet er im Gewusel das Glück. Und neben Pizza,
Pasta und Pulcinella einen Schweizer «Heiligen».
Fotos: Prisma/SIME, Matthias Mächler, zvg
Text Matthias Mächler
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D
as Glück gleicht einem Peperoncino. Es ist knallrot, meist
etwa fingerlang und wird in
dieser wilden, lauten, unberechenbaren Stadt an jeder Ecke feilgeboten.
Das «Cornetto» (Hörnchen) kann man
zwar kaufen, aber man tut es nicht für
sich, sondern für andere. Denn Glück
wirkt nur, wenn man es geschenkt bekommt, oder selber verschenkt. Deshalb
bin ich ebenso verblüfft wie gerührt, als
mir Francesco, der bärenhafte Regisseur,
zum Abschied ein «Cornetto» überreicht,
ein selbst gemachtes aus Ton mit einem
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Kopf obendrauf von Pulcinella, dieser listigen Figur aus dem neapolitanischen
Volkstheater.
9.35 Uhr: Pulcinella
Francesco Cutolo lernte ich vor einer halben Stunde an der Spaccanapoli kennen,
dieser engen, aber schnurgeraden Gasse
mitten durch die verschachtelte Altstadt. Er
stand an der Theke der Bar Settebello, trank
einen Kaffee und begann, von seinem Pulcinella-Museum zu erzählen. Es liege gleich
um die Ecke, solle aber umfunktioniert
werden. Denn Francescos neue Leiden-
schaft gilt Caravaggio, dem frühbarocken
Maler und Archetyp des verruchten Künstlers. Ihm will der Theater- und Filmregisseur mit einer opulenten Taverne ein
Denkmal setzen, weil er sicher ist, dass genau in diesem Hinterhof eines seiner berühmtesten Gemälde entstand.
Doch das ist lange her. Heute, sagt Francesco, seien es Künstler wie Lello Esposito, die
Neapel prägten: «Lello steht hoch im Kurs
und ist trotzdem ein bescheidener Mensch
geblieben. Du findest sein Atelier gleich da
drüben.» Zum Abschied drückt er mir das
knallrote Cornetto in die Hände.

DER VESUV
Der 1281 Meter hohe
Vulkan befindet sich in
einer Ruhephase. Zum
letzten Mal brach das
Wahrzeichen Neapels
1944 aus.
MITBRINGSEL
Die «New York Times»
adelte sie als die beste
Tomatensauce der
Welt: Die «Pomodorino
del Piennole del
Vesuvio» wird aus
kleinen, traditionell
an einer Schnur
getrockneten VesuvTomaten hergestellt
und ist zum Beispiel in
der «Charcuterie»
(siehe 11:40 Uhr) für
6.80 Euro erhältlich.
WEIBLICHE SICHT AUF NEAPEL
Ortensia Alaio, die Inhaberin des Modegeschäfts «Toy Girl» an der Via Chiaia.
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Reisen
PULCINELLA
Die traditionelle Theaterfigur als
Porzellan-Kunsthandwerk.
AUF EINEN BLICK
Neapel ist die HAUPTSTADT
und Ausgangsort für Ausflüge
mit rund 960 000 Einwohnern
die drittgrösste Stadt Italiens
die Amalfiküste oder auf die
Inseln Capri und Ischia. 1995
DER REGION KAMPANIEN, INS ANTIKE POMPEJ, an
GÖKHAN INLER
Der Captain der Schweizer FussballNati hat die SSC Napoli letzte
Saison zum Cupsieg geführt, seither
gehört er zu den Helden der Stadt.
DIE ALTSTADT
Fotos: Prisma/SIME, Matthias Mächler Illustration: Olaf Hajek
Wirr, farbig und immer mit Leben gefüllt präsentiert
sich Neapels Zentrum dem Flaneur.
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10.05 Uhr: Eisenmann
Das Cornetto scheint mir bereits Glück zu
bringen: Lello Esposito öffnet im Keller
des Palazzo San Severo die Tür zu einem
Universum, das sich ausschliesslich um
seine Heimatstadt und deren Wahrzeichen dreht: den Vesuv, die Schutzheiligen,
Pulcinella oder die Pizza, von der man
sagt, sie sei in Neapel erfunden worden.
Hier steht auch das Werk, mit dem Esposito Italien an der letzten Biennale von
Venedig vertreten hat: Vor einer gigan­
tischen Italien-Flagge stehen 150 Eisen­
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träger mit Garibaldi-Köpfen. Die Geschichte dahinter: Vor 150 Jahren gründete
Garibaldi das moderne Italien, und die
Eisenträger stützten während des grossen
Erdbebens 1980 Neapels Gebäude. «Die
Stärke der Stadt hält die ganze Nation aufrecht», erklärt Lello Esposito, und man
würde so gerne länger bleiben und mehr
erfahren über ihn und sein Schaffen, doch
die Arbeit ruft. Was also ist für ihn das
Wichtigste in Neapel? Lello lacht: «Das Essen natürlich! Und die besten Zutaten dafür gibts in der Charcuterie.»
11.40 Uhr: Gaumenfreunde
Die Brüder Antonio und Vincenzo heissen zwar ebenfalls Esposito, sind aber weder mit Lello verwandt, noch haben sie
etwas mit Kunst am Hut. Höchstens mit
der Kunst, aus dem legendären Schlaraffenland Kampanien die besten Lebensmittel zu filtern und damit das bisschen
Platz in ihrem Laden bis auf den letzten
Millimeter zu verbauen. Besonders ans
Herz legen sie mir den Kaffee von Pas­
salacqua, die Pasta von Setaro und eine
Sauce aus den kleinen, traditionell ge- 
wurde die gesamte Altstadt
(centro storico) zum
UNESCO-WELTKULTURERBE erklärt.
Anreise: Am einfachsten
und günstigsten mit Lufthansa
via München (täglich).
Una Hotel, Piazza Garibaldi 9/10: viel Stil, herzlicher Service, ruhige Zimmer, DZ ab ca.
120 Fr., +39 081 563 69 01
www.unahotels.it
Tourist-Information,
Piazza del Gesù,
+39 081 551 27 01
www.inaples.it (deutsch)
Bar Settebello,
Via ­Benedetto Croce 8,
täglich 9 – 21 Uhr
Atelier Lello Esposito,
Palazzo Sansevero, Piazza
S. Domenico Maggiore,
+39 081 551 41 71
www.lelloesposito.com
Charcuterie, Via Benedetto
Croce 43, +39 081 551 69 81,
täglich 9 – 20 Uhr, Sonntag
9 – 14 Uhr
Ristorante Pizzeria
­Europeo, Via M. Campodisola
4-8, +39 081 552 13 23
www.mattozzieuropeo.com
Trattoria da Nennella,
Vico Lungo Teatro Nuovo 105,
+39 081 414 338, täglich
12 – 23 Uhr
Piazza del Plebiscito
Kostümschneiderei
C.T.N. 75 von Vincenzo
Canzanella, Via Solitaria 39
www.ctn75.com
Napoli Sotterranea,
Piazza San Gaetano 68,
+39 081 296 944
www.napolisotterranea.org
Via Chiaia:
Die Shoppingstrasse für Junge
Baretti: Die Gässchen um
die Via Belledonne im ChiaiaQuartier gelten als ­Apéro- und
Ausgeh-Meilen (ab 19 Uhr).
Allgemeine Auskünfte:
Italienische Zentrale für Tourismus, Zürich, 043 466 40 40
www.enit.it
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Reisen
IL CAFFÈ
Cremig, mit Zucker und in der kleinen Tasse
serviert – so muss er sein in Neapel.
WAS KOSTET…
… eine Taxifahrt
vom Flughafen
ins Zentrum (ohne
zu verhandeln)
30 Euro
… eine Taxifahrt
vom Flughafen
ins Zentrum (mit
Verhandeln)
18 Euro
… eine Pizza (die
beste der Welt!)
und ein Bier
ca. 8 Euro
… ein Café (der be
ste der Welt!)
1 Euro
… ein Museumse
intritt
ca. 6 Euro
LELLO ESPOSITO
Er vertrat Italien an der letzten Biennale
von Venedig mit 150 Garibaldi-Statuen.
… eine Glace
2 Euro
… ein Pet-Fläsch
chen
Mineralwasser
1 Euro
CASTELL DELL’OVO
Die Grundmauern der ältesten Burg der
Stadt stammen aus dem 1. Jh. v. Chr.
FETTNÄPFCHEN
PIAZZA DEL PLEBISCITO
Fotos: Matthias Mächler, Getty Images, zvg, Prisma/SIME
Der Treffpunkt der Neapolitaner erinnert mit seinem Namen an die
Volksabstimmung, mit der sich Neapel 1860 in das Königreich Italien integrierte.
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trockneten Tomaten vom Vesuv, gemäss
«New York Times» die beste der Welt.
Dann zeigen sie stolz auf eine Autogrammkarte, die über der Kasse hängt:
Gökhan Inler, der Captain der Schweizer
Fussball-Nati, hat die SSC Napoli letzte
Saison zum Cupsieg geführt. Shirts, Tassen und Magnete mit seinem Namen gehören in der ganzen Stadt zum Strassenbild. Er ist ein Held, fast schon ein Heiliger.
Vor allem einer ohne Allüren und ohne
Skandale. Und weil das die Neapolitaner
mögen, geniesst man als Schweizer beinahe einen Heimvorteil.
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12.10 Uhr: Wie bei Mama
Wohin würdet ihr mich jetzt zum Essen
schicken, frage ich die Brüder. Antonio
empfiehlt das Ristorante Europeo: «Da
gibts die besten Spaghetti Vongole. Ausserdem gehört dieses rührend altmodische Restaurant ganz einfach zu dieser
Stadt, typischer gehts nicht.» Vincenzo ist
für die Trattoria da Nennella im quirlig
romantischen Spanischen Quartier: «Da
stehen Arme, Reiche, Fussballstars und
Punks gleichermassen Schlange, um für
zehn Euro zu essen wie bei Mama.» Ich
wähle Zweiteres – und bereue es nicht.
SPACCANAPOLI
Die schnurgerade Gasse trennt die
Altstadt in zwei Hälften.
Mit der Absicht, einen netten Ort zum Verdauen zu entdecken, frage ich «Nennella»Chef Ciro Vitiello nach dem schönsten Platz
Neapels. «So chaotisch Neapel ist, so sehr
überrascht es immer wieder mit idyllischen
Gassen, prächtigen Gebäuden und lauschigen Plätzen. Doch kein Platz hat die Grösse
und Eleganz der Piazza del Plebiscito.»
14.50 Uhr: Wunschpoesie
Die Piazza del Plebiscito ist das Herz der
Stadt und der «Arbeitsort» von Renato
Davide, einem neapolitanischen Original.
Seinen Lebensunterhalt verdient er, in-
Natürlich gibt es Wein in
Neapel, es gibt sogar sehr
guten. Doch zu einer
typischen neapolitanischen Pizza, die hier nicht
knusprig ist, sondern
weich und saftig, trinken
die Einheimischen nicht
Wein, sondern – Bier.
dem er für Passanten Gedichte schreibt;
bissige Reime zur Politik, philosophische
Gedanken zum Leben, Weisheiten für
jede Gelegenheit. Er schenkt mir zwei Gedichte und sagt: «Dafür musst du gut über
Neapel berichten.»
Und einmal mehr staune ich über die
Menschen hier, die so wenig haben und so
viel geben. Über das Chaos, das so viel
Platz bietet fürs unerwaretete Glück. Und
über die Spontaneität der Neapolitaner,
die immer wieder überraschende Begegnungen ermöglicht. So wie jene mit
Vincenzo Canzanella. ­
­
Renato Davide
DIE TRATTORIA DA NENNELLA
SPEZIALITÄTENLADEN
In diesem Restaurant gibt es für 10 Euro
eine Mahlzeit mit besten lokalen Speisen.
Vincenzo und Antonio Esposito führen
alles, was neapolitanische Küche ausmacht.
stellt mir den älteren Herrn mit Pudel als
einen der bedeutendsten Kostümbildner
Italiens vor.
phia Loren und Audrey Hepburn. Stolz
zeigt er einen sechs Kilo schweren Dress
mit Glasperlen, den Maria Callas bei einem
Konzert trug. Dann holt er sein Meisterwerk von der Deckenstange, ein Traum
von einem Ballkleid, den Claudia Cardinale 1963 in «Il Gattopardo» trug.
Neapel ist reich an Überraschungen, Si­
gnore Canzanella, doch was vermissen Sie
in dieser Stadt? «Seit 1985 gab es hier keine wichtige Opernaufführung mehr»,
seufzt er. «Ich würde gerne noch einmal
diese grossen Emotionen erleben.» Gibt es
dennoch eine Inszenierung, die Sie in 
15.20 Uhr: Kostümschneider
15 000 Kostüme lagern in den Räumen des
Palazzos, 1500 Hüte, 1924 Schachteln mit
Knöpfen. Überall hängen Plakate von
Opern und Filmen, bei denen Vincenzo
Canzanella mitwirkte, «damals, als alles
noch mehr Stil hatte». Er macht kein Hehl
daraus, wie sehr er dieser Zeit nachtrauert,
als er mit Roberto Rossellini und Ingrid
Bergman arbeitete, mit Jack Lemmon, So-
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Reisen
IM UNTERGRUND
Neapels Zisternen wurden von
den Griechen angelegt.
NACHBARN
Im Spanischen
Quartier machen
die Bewohner ihre
Gassen zu
Wohnzimmern.
VINCENZO CANZANELLA
Der Kostümbildner hat schon an Grössen
wie Sophia Loren und Audrey Hepburn
Mass genommen.
Fotos: Matthias Mächler, Prisma/SIME, zvg
16.40 Uhr: Der Untergrund
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«Napoli Sotterranea», das unterirdische
Napoli, ist ein mystisches, stilles Labyrinth 40 Meter unter der lauten Stadt, eine
Attraktion, die man tatsächlich nicht verpassen sollte. Als der Archäologe Enzo
Albertini vor 20 Jahren die Idee hatte, ein
Teil der 400 Kilometer langen Zisternen
wieder freizulegen, die einst von den
Griechen zur Stadtgründung angelegt
worden waren, nannte man ihn einen
Spinner.
Ohne Subventionen, dafür mit umso
mehr Leidenschaft begann er seine Mission und schuf eine atmosphärische Kulisse für die Geschichte Neapels, die von
ihm und seinem Team ebenso spannend
wie humorvoll erzählt wird. Und der umtriebige Wissenschaftler ruht nicht. Kürzlich hat er ein antikes Theater entdeckt
und für Besucher zugänglich gemacht.
«In Neapel liegen noch so viele Geheimnisse vergraben», sagt er. «Niemand kümSchweizer Familie 31/2012
mert sich darum, also muss ich es eben
selber tun.»
Benommen vom Ausflug in die Unterwelt
spaziere ich durch die Altstadt und am
Spanischen Quartier vorbei, zurück zur
Piazza del Plebiscito, rein in die Via
Chiaia.
18.50 Uhr: In ewiger Liebe
Und während ich mir gerade überlege,
dass ich für meine Geschichte noch keine
weibliche Sicht der Dinge habe, tritt eine
Mittdreissigerin aus einer Boutique: Ortensia Alaio ist die Inhaberin des Modegeschäfts «Toy Girl», verbrachte ihr gesamtes Leben in dieser Stadt und strahlt
mit der Sonne um die Wette. Warum,
frage ich sie, die es ja wissen muss, trifft
man in hiesigen Geschäften, Restaurants
und offiziellen Stellen so wenig Frauen an?
«Wir sind hier in Süditalien; da sind die
Rollen noch klar verteilt: Als Frau hast du
bis spätestens 30 zwei bis drei Kinder,
kümmerst dich um den Haushalt, und der
Mann geht arbeiten.» Nicht so Ortensia
Alaio: Trotz Kindern führt sie mit Leiden-
schaft ihre Boutique und könnte sich im
Leben nicht vorstellen, Neapel zu verlassen: «Hier gibt es Sonne, das Meer, die
Amalfiküste, Capri. Was willst du mehr?»
Natürlich frage ich Ortensia Alaio, wo
man als Frau denn so ausgeht. Sie zwinkert mir zu, wie das nur eine Italienerin
kann, und sagt: «Mit meiner Familie gehe
ich gern in die Fischrestaurants im Quartier Pozzuoli, wo einst Sophia Loren aufgewachsen ist.
21.15 Uhr: Schöne Nacht
Für den Apéro mit Freunden aber bevorzuge ich das Baretti.» Dieses liegt gleich
um die Ecke ausgerechnet an der Via Belledonne und erwacht ab 19 Uhr aus seinem romantischen Dornröschenschlaf:
Rund um die Strasse reihen sich Bars aneinander, viele von ihnen offerieren zu
den Drinks gratis Häppchen. Die Gäste
stehen in Scharen auf der Strasse, lachen,
parlieren, gestikulieren. Laternenlicht
hüllt die Szenerie in stimmungsvolles
Ambiente – und den Reisenden in eine
wunderbare Wolke des Glücks.
■
l­etzter Zeit erstaunt hat. «Ja, Napoli
Sotterranea.»