Leseprobe

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Leseprobe
`ano nui
bedeutet im Hawaiianischen wichtig und das sind folgende Angaben auch:
Bei diesem E-Book handelt es sich um die XXL Leseprobe. Sie umfasst die ersten 12
Kapitel, während das vollständige Buch 24 Kapitel umfasst.
Band 1
Version 3
1. Auflage 6/2013
Auch als Taschenbuchausgabe u. a. über meinen Blog erhältlich.
ISBN 10: 1481111507
ISBN 13: 9781481111508
Copyright Text und Bilder(inside): © 2009 Astrid Rose
Copyright Text und Bilder: © 2009 Astrid Rose
Umschlagsgestaltung: Casandra Krammer unter Verwendung mehrerer Bilder von [email protected] und lostandtaken.com
Verwendung zur kommerziellen Zwecken und Veränderung unter Namensnennung
erlaubt.
Alle Rechte verbleiben beim Autor.
Kopie und Weitergabe sind ausdrücklich untersagt.
Weiterempfehlungen sind selbstverständlich erlaubt und auch erwünscht.
Autorin:
Astrid Rose
Römanns Kamp 1a
49393 Lohne
www.traumrose.blogspot.de
Lektorat: H. P. Kleinknecht und Astrid Rügamer
Magie liegt in der Luft
Das Gefühl der Unruhe traf mich wie immer völlig unvorbereitet: Meine Haut kribbelte und
trotz der sengenden Hitze an diesem frühsommerlichen Freitag, lief mir ein kalter Schauer
über den Rücken. Ich wusste, irgendwo in der Nähe wartete sie auf mich: meine neue
Aufgabe.
Forschend sah ich mich in der Menge der Passanten um. Viele nutzten, wie ich, den
Nachmittag, um durch die Bremer Innenstadt zu schlendern und Ausschau nach etwas
Neuem und Einmaligem zu halten. Dennoch unterschieden sich die anderen von mir: Keiner
von ihnen sah sich nach einem magischen Rätsel um.
Es war wahrscheinlich nur der Wind, beruhigte ich mich selbst, ahnend, dass dem nicht so war.
Diese innere Unruhe hatte ich schon zweimal zuvor erlebt und jedes Mal kam ein Auftrag zu
mir: Ich konnte es nicht herbeiholen oder gar verhindern.
Erneut lief mir ein kalter Schauer über den Rücken, um sich im nächsten Moment in
glühende Hitze zu verwandeln. Blitzschnell drehte ich mich um und durchforstete erneut
die Menschenmasse: Wer auch immer meine Auftraggeberin war; Sie hatte mich entdeckt,
allerdings sah ich sie nicht. Es waren einfach zu viele Leute unterwegs und dennoch spürte
ich, wie ihre Blicke auf meiner Haut brannten.
Für einen Augenblick wurde ich an die Seite gedrängt. Ihr Blickkontakt brach ab und das
Gefühl beobachtet zu werden verlor sich. Ich besann mich darauf, weshalb ich
hergekommen war: Mein jüngerer Bruder wollte in sechs Wochen heiraten und ich war
eigens nach Bremen gefahren, um für diesen Anlass ein Abendkleid und ein paar Pumps zu
kaufen.
Beim nächsten Geschäft sah ich mir die Schuhe im Schaufenster an. Abermals beschlich mich
das Gefühl beobachtet zu werden. Durch die Spiegelung der Schaufenster versuchte ich
ihren Blick einzufangen, doch wiederum sah ich niemanden.
Beruhige dich, da ist keiner. Reiß dich zusammen. Ich versuchte Haltung zu bewahren. Eine neue
Aufgabe ist das Letzte, was du jetzt gebrauchen kannst. Schnell schob ich die Gedanken beiseite
und sah mir die Angebote an.
Letztendlich entschied ich mich dafür, ein Paar nachtblaue Pumps mit schwarzen
Verzierungen anzuprobieren. Die Schuhe sahen sehr gut an meinen Füßen aus. Und der
Absatz ist auch nicht zu hoch. Darin kann ich bestimmt einen Abend lang laufen, ohne mir Blasen zu
holen, dachte ich und sah nach dem Preis. Oh, runter gesetzt, aber für meinen Geschmack immer
noch zu teuer. Seufzend stellte ich das Paar zurück.
Enttäuscht ging ich weiter. Der nächste Laden war ein größeres Bekleidungsgeschäft. Es war
mir allzu bekannt: In grauer Vorzeit, noch bevor mein Leben auf qualvolle Weise in andere
Bahnen gelenkt wurde, war ich regelmäßig hier, um die neuen Kreationen anzusehen.
Ehe die Erinnerungen an diese Zeit Besitz von mir ergreifen konnten, blendete ich sie aus,
betrat den Laden und ging zielstrebig in die Abteilung für Abendmode. Dort entdeckte ich
bald ein dunkelrotes langes Abendkleid aus Acetat. Es wurde mit zwei dünnen Trägern im
Nacken festgebunden. Der obere Saum war ein bisschen gerüscht, sodass die Sicht aufs
Dekolleté versperrt war. Das Kleid war oben schmal geschnitten und ging dann ab der Hüfte
in einen weiten Rock über.
Genau was ich suche: elegant, aber nicht sexy! Ich nahm es und schaute mich nach einer freien
Umkleidekabine um. Meine Achtsamkeit wurde jedoch von einem Cocktailkleid abgelenkt.
Es war in demselben Nachtblau, wie zuvor die Schuhe.
Der Schnitt des Kleides glich einer Einladung zu mehr: Es hatte breite durchsichtige Träger
aus Spitze, ging dann in einen tiefen V-Ausschnitt hinunter und endete mit einem kurzen
mehrschichtigen, ebenfalls durchsichtigen Spitzenrock. Das Einzige, was Blicke auf die reine
Haut verhinderte, waren zwei kleine eingenähte Seidenstücke in Höhe der Brust und eins
unterhalb der Hüfte. Dieses Gewand verkörperte alles, was ich nicht wollte und dennoch
war ich wie verzaubert und nahm es an mich.
Mit den beiden Kleidern im Arm machte ich mich erneut auf die Suche nach einer
Umkleidekabine.
Mist alle besetzt! Ich drehte mich um und entdeckte am anderen Ende des Raumes noch eine
freie Kabine in der Herrenabteilung. Na toll! Wenigstens brauche ich da nicht noch stundenlang
zu warten. Schnellen Schrittes ging ich hinüber.
Zuerst zog ich das rote Abendkleid an und ging vor die Kabine zum Spiegel. Es saß perfekt
und war auch nicht überteuert.
Das ist meins, freute ich mich innerlich. Der Triumph währte jedoch nicht lange: Er wurde
erneut von der inneren Unruhe abgelöst. Ich versuchte die Unsicherheit aus meinen
Gedanken zu streichen und eilte in die Kabine zurück.
Panisch griff ich in meine Tasche, nahm eine Wasserflasche heraus und entleerte sie bis zur
Hälfte in einem Zug, wodurch die Unruhe verflog.
Nachdem ich das Rote ausgezogen hatte, nahm ich zögernd das Nachtblaue und schaute es
lange an. Leise murmelte ich zu mir selbst: »Ach, was soll’s? Ich will’s ja nur anprobieren.«
Ich wollte mir diesen kleinen Augenblick gönnen. Was soll schon passieren? Ich war
schließlich mitten in einem Geschäft voller Leute und dieses Kleid lockte mich förmlich an.
Schnell schlüpfe ich hinein und ging abermals aus der Kabine heraus zum Spiegel.
Wahnsinn! Es ist wie für mich geschnitten. Es sah überwältigend an mir aus. Die Blicke der
umherstehenden Männer brannten sich förmlich auf meiner Haut ein, doch ich spürte noch
mehr: Ein Kribbeln erfasste meinen Körper, meine Nackenhaare stellten sich auf. Wie in
Trance drehte ich mich um und fühlte nur noch einen elektrischen Schlag. Dann schossen die
Bilder nur so in meinen Kopf:
Ich stand vor einer Hütte aus Lehm und davor saß eine - mir nur allzu bekannte - grauhaarige
Polynesierin.
»ALOHA, E Komo Mai!«, begrüßte sie mich freundlich.
»ALOHA«, antwortete ich.
»Hele mai«, die Frau winkte mich mit einer Hand näher heran und mit der anderen nahm sie einen
Stapel alter Karten und reichte ihn mir.
Neugierig betrachtete ich die schönen handgemalten Bilder: Sie sprachen von Liebe, Leid, Glück, Tod
und Hoffnung. Ich mischte die Karten und gab sie ihr zurück.
Die Grauhaarige drehte die erste Karte um. »Ohana.«
Dann hob sie die zweite Karte ab. »Ho'oponopono.«
Die Dritte folgte. »Kapu.«
Die Vierte. »Makuahine.«
Die Fünfte. »Huna.«
Die Sechste. »`eha koni.«
Die Siebte. »Kâpili.«
Die Achte. »Nohona hau `oli.«
Ein Kreischen über uns ließ mich zusammenfahren. Sie schaute in den Himmel und mein Blick folgte
ihr. Wir sahen eine Eule und die alte Frau murmelte beschwörend: »‘aumakua ho`omaluhia.«
Die Bilder verschwanden und ich wachte aus meinem merkwürdigen Traum auf. Für einen
Moment ließ ich die Augen noch geschlossen und versuchte mich an die Vision zu erinnern.
Familie, etwas richtig stellen, Verbot, Mutter, Geheimnisse, schmerzende Herzen, jemanden
zusammenbringen, glückliches Leben und den Familiengöttern Frieden bringen. Ich wusste nicht,
woher ich die Bedeutung der Wörter kannte, aber ich kannte sie.
Durch meine Gedanken hindurch hörte ich eine überaus betörende Stimme: »Bleib ganz
ruhig liegen, du hattest einen Schwächeanfall. Der Rettungsdienst müsste bald kommen.«
»Bitte keinen Arzt«, murmelte ich und rieb mir dabei über meine Augen. »Mir geht es gut.«
»Diesen Eindruck habe ich aber nicht!«, erwiderte die sanfte Stimme eines Mannes.
Mein Verstand sank abermals ab. Dieser Traum hatte mich sehr viel Kraft gekostet und mein
Geist brauchte noch einen Moment, um sich zu erholen.
Als ich das nächste Mal klar denken konnte, drang diese wundervolle Stimme erneut an
mein Ohr: »... habe sie bereits eine Zeit lang hier gesehen und mir ist aufgefallen, dass sie,
trotz der Hitze, gar nichts getrunken hat.«
»Nicht nur bei solch hohen Temperaturen ist die Einnahme von Flüssigkeit sehr wichtig. Ich
werde ihr zunächst eine Ringerlösung und ein Schmerzmittel verabreichen. Sie wird mit
Sicherheit starke Kopfschmerzen haben. Und dann nehmen wir sie zur weiteren
Beobachtung mit in die Klinik.«
»Nein«, japste ich. »Kein Krankenhaus. Mir geht es gut!«
»Das sehe ich aber nicht so«, antwortete mir der Notarzt und schob mir eine Nadel in den
Arm.
Langsam wurde mein Körper mit kühler Flüssigkeit durchtränkt und für einen Moment war
ich versucht die Injektion herauszuziehen, doch ich besann mich eines besseren, denn ich
wusste, dass ich dann auf jeden Fall eingewiesen werde. Nach einer Weile hatten sich mein
Geist und mein Körper erholt und ich konnte mich aufsetzen. »Bitte. Ich möchte nicht in eine
Klinik. Ich verspreche auch heute noch mindestens vier Flaschen Wasser zu trinken und zum
Arzt zu gehen, wenn es mir in drei Stunden nicht besser geht.«
»Mmh«, murmelte der Arzt. »Ich kann Sie nicht zwingen mitzukommen, aber genauso
wenig kann ich Sie in Ihrem Zustand noch Auto fahren lassen ...«
»Keine Sorge. Ich kümmere mich schon darum, dass sie nach Hause kommt«, antwortete
mein geheimnisvoller Freund, der im Halbschatten des Arztes stand.
Der Doktor sprach wieder: »Okay, Ihr Blutdruck scheint ja so weit in Ordnung zu sein ...« Er
zog die Nadel aus dem Arm und klebte ein Pflaster fest. »Aber denken Sie zukünftig daran,
mindestens anderthalb Liter, nichtalkoholische Flüssigkeit, am Tag zu sich zu nehmen, dann
passiert Ihnen so was hier nicht noch einmal. Und wenn Ihnen in zwei Stunden immer noch
schwindelig sein sollte, suchen Sie bitte umgehend erneut einen Arzt auf.«
Ich bedankte mich herzlich und versprach Besserung, wohl wissend, dass dieser
Zusammenbruch nicht durch einen Flüssigkeitsmangel hervorgerufen worden war.
Der Mediziner stand auf, drehte sich um und sprach den Mann hinter ihm an: »Ich gebe sie
jetzt in Ihre Hände. Denken Sie dran, dass Frau Lorenz in den nächsten vierundzwanzig
Stunden kein Auto fahren sollte.«
Ich hörte, wie der Unbekannte antwortete: »Vielen Dank für Ihre Mühen. Ich werde Nina
gleich nach Hause bringen und dafür sorgen, dass sie auch noch etwas trinkt.«
Der Arzt nickte und verabschiedete sich. Als er mir nicht mehr die Sicht auf den Fremden
versperrte, sah ich in wunderschöne grüne Augen. Sie gehörten zu einem makellosen
Gesicht: Die Wangenknochen schlossen eine gerade geschnittene Nase zwischen sich ein und
die Lippen brachten das warmherzigste Lächeln hervor, welches ich je gesehen hatte. Das
braune Haar fiel ihm locker ins Gesicht, ohne jedoch die Augenbrauen zu berühren.
Plötzlich verband ich mit diesem Gesicht eine Erinnerung an einen jungen Mann mit
Sonnenbrille, der vorhin in einem Café saß und hin und wieder in meine Richtung blickte.
»Du warst es. Du bist derjenige, der mich die ganze Zeit beobachtet hat, stimmt´s?«, stieß ich
hervor. Aber er ist ... ein Mann! Meine Gedanken kreisten: Bisher wurde mir eine neue Aufgabe
immer von einer Frau auferlegt ...
Der Unbekannte unterbrach meine Überlegungen: »Yes«, erwiderte er und setzte sich neben
mich auf den kalten Boden, »ich gebe zu, dass ich dich beobachtet habe. Ich fand es einfach
süß, wie du dich immer wieder so nervös umgeschaut hast.« Er lächelte mich bewundernd
an. »Dann habe ich dich aber für einen Moment aus den Augen verloren und erst
wiedergesehen, als du hier mit dem dunkelroten Abendkleid vor dem Spiegel gestanden
hast.« An seinem Mundwinkel bildete sich ein kleines Grübchen. »Als du dann in diesem
Kleid aus der Kabine gekommen bist«, er schloss kurz die Augen, »Really Hot! Das war ein
toller Anblick. Vor allem deine linke Pobacke sah hinreißend aus«, er grinste leicht amüsiert.
»Wie bitte?«, fragte ich empört.
»Na ja der Unterrock saß an der linken Seite nicht richtig.« Er schaute verlegen zu Boden
und sah dabei wie ein kleiner Junge aus, den man in der Mädchendusche ertappt hat. »Ich
wollte dir ja zur Hilfe kommen und die Dinge ins rechte Licht rücken, stattdessen habe ich
dir einen elektrischen Schlag versetzt und du bist umgefallen.«
Eine kleine Falte bildete sich auf seiner Stirn. »Es tut mir wirklich leid, meine Schuhe hatten
sich wohl an diesem Teppich elektrisch aufgeladen. Ich wollte dich nicht unter Strom
setzen.«
»Schon gut ... ist ja nichts weiter passiert.« Nervös schaute ich auf meine Armbanduhr. »Oh,
schon so spät? Ich sollte mich langsam mal auf den Heimweg machen.« Bloß weg hier! Ich
wollte mich nur noch aus dieser verfänglichen Situation befreien.
»Wo soll ich dich denn hinbringen?«, frage er.
Verwirrt schaute ich ihn an.
Das musste er wohl bemerkt haben, denn gleich darauf sprach er weiter: »Der Doc sagte,
dass du heute kein Auto mehr fahren darfst und ich hab ihm versprochen, dafür zu sorgen,
dass du sicher nach Hause kommst.« Er sah mich ernst an. »Für gewöhnlich halte ich meine
Versprechen.«
»Ja, irgendetwas in der Richtung habe ich vernommen, aber meinst du wirklich, dass ich
mich von einem Wildfremden einfach nach Hause fahren lasse?«
Mit einem Grübchen über dem Mundwinkel antwortete er: »Natürlich nicht! Deswegen habe
ich mir auch gedacht, dass es am besten ist, wenn du bei mir schläfst.«
Mir blieb die Spucke weg, aber nicht nur wegen seiner unverschämten Antwort, sondern
vielmehr, weil mir sein herzerfrischendes Lachen durch und durch ging. Jede andere hätte
sich in diesem Moment in ihn verliebt. Nur ich nicht - ich durfte nicht!
»Im Ernst Nina. Wir sollten jetzt gehen. Die Leute haben schon genug zu tuscheln. Ich bring
dich jetzt heim.« Er stand auf und hielt mir seine Hand hin, die ich geflissentlich übersah.
Obwohl ich immer noch benommen war, versuchte ich aufzustehen. Doch bevor ich erneut
hinfallen konnte, fasste er mich an der Taille und hielt mich fest. Er hatte so starke Arme und
er duftete nach einem Hauch von Iris. Für einen Moment verlor ich mich in diesem Duft ...
Nein!, hämmerte es in mir. Ich versuchte mich von ihm loszueisen, doch er zog mich nur
noch näher an sich heran. Für einen Moment war ich sogar versucht einen erneuten
Schwächeanfall vorzutäuschen, nur damit er mich losließ. Das wird nichts nützen, sagte mir
mein Instinkt. Wahrscheinlich hält er dich dann noch fester oder er bringt dich ins Krankenhaus. Das
ist das Letzte, was du willst. Also reiß dich am Riemen, beruhigte ich mich.
Er lockerte den Griff noch immer nicht. Für eine Weile kannst du seine Nähe wohl ertragen,
ermutigte ich mich.
Arm in Arm gingen wir nebeneinander her, als ob wir uns schon ewig kennen würden. Jeder
Versuch mich ein wenig aus seiner Nähe zu entfernen endete damit, dass er meinen
Bewegungen folgte und wir dadurch immer noch im selben Abstand zueinander
nebeneinander hergingen.
Zwei Straßen weiter hielt er plötzlich an einem knallblauen Audi R8 an. Mit einem Druck auf
die Fernbedienung entriegelte mein Begleiter den Wagen. Ohne mich loszulassen, öffnete er
die Beifahrertür.
Erneut sträubte sich alles in mir. »Du meinst doch nicht ernsthaft, dass ich zu einem
Fremden ins Auto steige«, blaffte ich ihn an. Für nichts auf der Welt wollte ich mein Leben in
die Hände eines Mannes geben.
»Aha! Jetzt bin ich wenigstens nicht mehr wildfremd. Allerdings hast du recht: Ich habe
mich noch nicht einmal vorgestellt. Ich bin Thomas Jefferson McAllister, meine Freunde und
meine Ohana nennen mich alle einfach nur Tom ... Du darfst mich auch Tom nennen.«
»Du sprichst hawaiianisch?«, japste ich überrascht.
»Klar, da komme ich schließlich her. Ich bin Hawaiianer! Interessierst du dich für die Inseln,
Nina?«
»Ein wenig. Mein Großvater ist Hawaiianer und ich bin in Honolulu zur Welt ...«, ich stutzte.
»Sag mal, woher kennst du eigentlich meinen Namen?«, fragte ich ihn misstrauisch.
»Von deinem Reisepass! Den habe ich in deiner Handtasche gefunden, als der Doc deine
Versichertenkarte haben wollte.« Er schaute auf die Uhr. »Es ist schon kurz vor drei. Ich
sollte dich jetzt wirklich besser nach Hause bringen. Nicht, dass dein Boyfriend sich noch
Sorgen macht.«
»Ich habe keinen Freund, aber wenn es dir nichts ausmacht, werde ich kurz meine Eltern
anrufen.« Bevor er auch nur den Mund aufmachen konnte, hatte ich mir sein iPhone
geschnappt, welches er die ganze Zeit schon in der Hand hielt. Tom zuckte kurz. »Ich ruf am
besten mit deinem Handy an, dann können sie wenigsten gleich deine Nummer sehen.«
Seine bereits ausgestreckte Hand schnellte zurück. »Du meinst, falls ich doch noch auf
falsche Gedanken kommen sollte und dich entführen will.« Abermals war da dieses
unverschämte Grübchen an seinem Mundwinkel.
Tom griff in seine Tasche und zog einige Kärtchen heraus. Zwischen seiner VISA-Karte und
der American Express fand er dann seinen Ausweis und reichte mir diesen. »Zu meiner
Ohana gehören meine Mutter Christine, mein Cousin Ben mit seiner Frau Sophie und den
Zwillingen Cassie und Justin, mein Onkel Eric und seine Frau Leanne, meine Cousine Sunny
und deren Tochter Lucy.« Bei den letzten Namen glitt seine Stimme ab, fast so, als wenn er
sich scheute, sie auszusprechen.
Vielleicht irrte ich mich auch. Vielleicht hatte er sich verschluckt oder einen Frosch im Hals,
denn gleich darauf fuhr er in dem, mir inzwischen bekannten, lebhaften Ton fort: »Meine
Grundschulzeit habe ich mit Ben zusammen hier in Deutschland in einem Internat verbracht.
Unseren Highschool Abschluss haben wir jedoch auf Hawaii abgelegt. Danach gingen wir
beide auf die Hawai’i Pacific University in Honolulu, wo wir unseren Master of Arts in
Computer Information Systems, Science und Communication abgeschlossen haben. Zurzeit
bin ich hier an der Bremer Uni ...«
»Stopp!«, sagte ich bestimmend. »Warum erzählst du mir das alles?«
»Du hast selbst gesagt, dass du zu keinem Fremden ins Auto steigst. Jetzt kannst du
wenigstens nicht mehr sagen, dass ich dir fremd bin.« In jeder Sekunde bewahrte er dieses
verführerische Grinsen und seine Augen strahlten mich an und für einen Augenblick verlor
ich mich in diesem Gesicht. Er stupste mich sanft an. »Ist alles in Ordnung?«
»Ähm ja ... natürlich. Mir ist nur noch ein bisschen schwindelig und der Kopf schmerzt auch
noch.«
»Soll ich dich doch noch zu einem Arzt fahren?«
»Nein geht schon, die Medikamente wirken langsam.« Schnell wählte ich die Nummer
meiner Eltern. »Papa ... bitte reg dich nicht auf. Ich hatte eine Art Unfall ... Nein, mir geht’s
gut ... Ich hatte wohl einen Hitzschlag, aber ich wurde sehr gut versorgt. Mich bringt jetzt ein
... Warte ich muss eben den Ausweis lesen ... Also, mich bringt jetzt ein Tom McAllister nach
Hause ... Ja, er ist nett ... Papa! Könntest du mich bitte mal ausreden lassen? Also, Tom
wohnt zurzeit hier in Bremen, seine Handynummer hast du ja auf dem Display, also wenn
ich nicht in einer Stunde zu Hause bin, ruf bitte die Polizei ... Papa, es geht mir wirklich gut.
Bis gleich.«
Tom war ein Stück weggegangen. Sein Gesichtsausdruck zeigte mir, dass er gegen einen
Lachanfall ankämpfte.
Das wiederum brachte mich leicht auf die Palme. »Wenn du nicht sofort aufhörst, gehe ich
zu Fuß nach Hause.«
»Entschuldige bitte. Aber, wenn man dich so reden hört, könnte man glauben du bist erst 15
und nicht 25 Jahre alt. Dein Pass ist nicht gefälscht, oder?« Immer noch breit grinsend kam er
zurück und öffnete nun die Fahrertür.
»Nein, ist er nicht. Können wir jetzt bitte fahren? Wir brauchen schließlich eine knappe
Stunde bis zu mir nach Haus.«
»Nö, höchstens 45 Minuten, aber das auch nur, wenn wir einen Trecker vor uns haben«,
sagte er trocken, schmiss eine Tüte in den hinteren Fahrgastraum und setzte sich hinter das
Steuer.
Ich verzog meinen Mund zu einem spöttischen Grinsen und stieg ein. »Wie schnell fährt der
Wagen?«, fragte ich beiläufig.
»Spitze 316 km/h«, er griff in die Mittelkonsole. »Hier bitte sehr. Die wirst du brauchen. Ich
lass mir gern den Fahrtwind um die Ohren pusten.« Freudig erregt reichte er mir eine riesige
Sonnenbrille von Gucci und drückte erneut auf die Fernbedienung seines Schlüssels. Sofort
öffnete sich das Dach und verschwand zusammengefaltet im Kofferraum.
»Spezialumbau«, gluckste er sichtlich erfreut über mein ungläubiges Gesicht und startete
den Wagen, um mit aufheulendem Motor loszufahren.
Allein bei dem Gedanken, wie schnell das Auto fahren konnte, drehte sich mir der Magen
um. Das Gefühl jedoch legte sich schnell, als ich merkte wie sicher und souverän Tom den R8
zunächst durch den dichten Stadtverkehr und später dann über die Autobahn Richtung
Süden lenkte.
Als wir den Stadtrand passiert hatten und die dreispurige Autobahn auf zwei wechselte, fing
ich sogar an, den kühlen Fahrtwind zu genießen. Es war eine richtig erfrischende Brise nach
der Hitze des Tages. Meiner selbst geschaffenen Natur zum Trotz fühlte ich mich auch in
seiner Gegenwart wohl und dennoch konnte ich mich meiner Angst nicht vollständig
entziehen. Ich musste einfach mehr über ihn erfahren. »Wie kannst du dir so ein Auto
leisten?«, fragte ich.
Tom wiegte den Kopf hin und her. »Du weißt bereits eine ganze Menge über mich«, er sah
zu mir herüber, »wie wäre es, wenn du zur Abwechslung etwas von dir erzählst. Wie kommt
es zum Beispiel, dass du in Honolulu geboren wurdest?«
Sein Blick ließ mich erahnen, dass er nicht nachgeben würde, bis auch er seinen
Wissenshunger gestillt hatte und so fing ich an zu erzählen: »Meine Eltern waren dort, weil
mein Vater wollte, dass ich wenigstens einen US-Pass erhalte, wenn er schon keinen kriegt.«
»Aber ich dachte, er ist Hawaiianer«, unterbrach er mich.
»Nein, mein Großvater ist von den Inseln. Mein Vater ist hier geboren. Pass auf!«, rief ich.
»Der Idiot überholt dich von rechts.«
Tom grinste und trat noch mal kräftig aufs Gas. Mit Leichtigkeit ließ er den Rowdy links
liegen. »Also, ich fasse zusammen: Dein Großvater ist Hawaiianer, dein Vater Deutscher und
du bist US-Bürgerin.«
»Ja, aber ich habe auch einen deutschen Pass, wie du weißt. Ich war nur meine erste
Lebenswoche auf Oahu. Erst nach meinem Abi habe ich das Deutschland wieder verlassen,
um in Maastricht internationales Völkerrecht zu studieren. Vor wenigen Wochen bin ich
fertig geworden und habe jetzt meinen Master in der Tasche.«
»Dann hast du aber ziemlich lange studiert«, sagte Tom.
Pikiert darüber, dass er mich für dumm hielt, ließ ich meine antrainierte Vorsicht außer Acht.
»Ich war eine der Jahrgangsbesten in meinem Fach! Das Studium hat sich nur so lange
hingezogen, weil ich aufgrund einer Krankheit für ein halbes Jahr ausgesetzt habe. Im
Anschluss war ich für ein paar Wochen in Afrika und später dann für ein Praktikum in
Neuseeland.«
»Und was hat Frau Rechtsanwältin jetzt vor? Machst du eine eigene Kanzlei auf oder
versuchst du lieber in einer der Großen unterzukommen?«
»Weder noch. Ich habe mich bei der UNO und der NATO beworben und bis dahin wollte ich
in den USA Jura studieren und meine Computerkenntnisse ausbauen.«
»Oh, da hast du dir aber was vorgenommen. Hast du ein bestimmtes Ziel vor Augen?«
»Ja. Mein Ziel ist es die Unterdrückung der Frauen und Kinder zu unterbinden und ihre
Stellung in der Gesellschaft zu festigen. Ihr Männer vergesst leider viel zu oft, dass es euch
ohne uns nicht geben würde«, sagte ich bissig.
»Und ihr Frauen vergesst viel zu oft, dass es auch euch nicht ohne uns Männer geben
würde«, lachte er.
»Punkt für dich!« Ungewollt umspielte ein Lächeln meine Lippen. Einen Augenaufschlag
später erstarrte ich. »Stopp! Wir müssen umdrehen«, rief ich, »das ist nicht mein Kleid. Ich
muss es zurückbringen.« Mein Blick war auf dem nachtblauen Chiffonkleid hängen
geblieben.
»Mach dir darüber keine Sorgen. Das Kleid habe ich bereits bezahlt.«
»Es kostet 500 Euro«, empörte ich mich.
»Das ist nicht ganz richtig: Es kostete nur 495,99 Euro«, antwortete er umgehend und grinste
dabei über beide Ohren. »Ich konnte dich ja schlecht umziehen, als du ohnmächtig warst,
also habe ich es für dich erworben.«
Verlegen murmelte ich: »Danke ich gebe dir das Geld gleich zurück. Du musst nur an einer
Bank anhalten.«
»Nicht nötig. Betrachte es als Geschenk.«
»Das kann ich ...«
Tom unterbrach mich. »Ich bestehe darauf!« Sein Tonfall ließ keinen Widerspruch zu.
Doch so leicht gab ich nicht auf. »Nein! Ich bezahle es. Erstens kenne ich dich nicht wirklich.
Zweitens kann ich es mir leisten und drittens hättest du das Geld auch genauso gut zum
Fenster rausschmeißen können, denn ich werde es nicht wieder anziehen. Es ist nämlich
nicht mal meine Stilrichtung. Ich trage lieber lässig als ... aufreizend.«
»Das ist schade. So etwas Reizvolles steht dir recht gut. Aber wenn du es nicht im Alltag
tragen willst, kannst du es ja wenigstens auf unserer Hochzeitsreise zum Tanzen anziehen.«
Diesmal hatte er ein extra breites Grinsen aufgesetzt, doch der Blick, den er auf sein Handy
in meinen Händen warf, sprach eine andere Sprache.
Nachdem wir die Autobahn verlassen hatten, navigierte ich ihn zunächst in die Innenstadt
und ließ ihn an einer Bank anhalten. Nach dem Aussteigen hielt ich ihm sein Handy hin.
»Danke. Ich brauche es nicht mehr.« Lächelnd drehte ich mich um und lief ins Bankgebäude
hinein, um das Geld abzuheben.
Als ich ihm die Scheine übergab, bedachte er mich mit einem Blick, der zugleich einen
Hauch Ungnade als auch Respekt in sich trug.
Mit einem kräftigen Tritt aufs Gaspedal fuhr er an, musste aber sofort wieder scharf
abbremsen, um eine ältere Dame die Straße überqueren zu lassen. »Ups«, entfleuchte ihm,
dann lächelte er ihr entschuldigend zu und ließ sie in Ruhe vor dem Wagen herschleichen.
Beim Anfahren achtete er sogar darauf, sie nicht zu sehr mit den Pferdestärken seines Motors
zu erschrecken.
Nur fünf Minuten später hielt er vor meinem Elternhaus.
»Ich danke dir für deine Hilfe ...«
Er lächelte mich an. »Gern geschehen. Es war mir ein Vergnügen, dich kennengelernt zu
haben. Aber warte noch. Ich hab hier irgendwo«, er streckte sich hinter meinem Sitz aus und
wühlte nach etwas, »dein Sommerkleid.« Tom zog eine Papiertüte hervor.
Ich griff nach ihr und seine Finger berührten meine Hand. In diesem Moment sah ich die
Kartenlegerin vor mir, die mich ermahnte, dass ich das Rätsel lösen müsse. Verdammt!,
fluchte ich in mich hinein, denn ich befürchtete jetzt schon, dass ich ihn auf Dauer nicht so
auf Abstand halten konnte, wie ich es gerne gehabt hätte.
Tom stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete mir die Tür. Zur gleichen Zeit ging
die Haustür auf. Mit einem Lächeln in Richtung meiner Eltern sagte er. »Wenn dein Dad
möchte, nehme ich ihn mit nach Bremen, dann kann er dein Auto holen.«
Ich nickte und ging zu meinen Eltern, die mich wortwörtlich mit offenen Mündern in
Empfang nahmen. Bei ihnen angekommen, gab ich den Vorschlag von Tom weiter. Mein
Vater zog seine linke Augenbraue hoch, dann schaute er Tom an. Mein Blick fiel zum
tausendsten Mal auf seine Stirn. Sie war immer noch da. Diese verdammte kleine Narbe über
der rechten Schläfe meines Vaters wollte einfach nicht verschwinden. Mit einem Schlag war
ich wieder in meiner, mir selbst erschaffenen, Welt.
Kurz darauf stieg er zu ihm ins Auto, und ohne, dass Tom sich verabschiedet hatte, fuhren
sie davon.
Meine Mutter sah in mein verwirrtes Gesicht und sagte: »Er scheint dich zu mögen ...«
»Ich weiß«, krächzte ich, »das ist ja das Problem.«
Sie nahm mich in die Arme. »Ach Kleines. Was dir passiert ist, ist schrecklich, aber das
Leben geht weiter. Eines Tages musst du wieder anfangen zu vertrauen. Du willst bestimmt
nicht ewig alleine bleiben, oder?« Meine Mutter entließ mich aus ihrer Umarmung und
blickte mir tief in die Augen. »Und, sieh mal dieser junge Mann war sogar so freundlich dich
nach Hause zu bringen. Also mir gefiel sein Lächeln und wie galant er dir die Tür geöffnet
hat.«
Ich verschränkte meine Arme, biss mir auf die Lippen, drehte mich um und ging
schnurstracks in mein Zimmer. Dort ließ ich mich aufs Bett fallen und verfiel umgehend in
einen unruhigen Traum:
Gefesselt lag ich auf meinem Bett und der Angreifer vor mir, entledigte sich gerade seiner Hose. Ich
fühlte die Kälte, die von ihm ausging und sich in mir breitmachte.
Mit letzter Kraft stieß ich mit meinem Fuß zu. Ein Schmerz durchzuckte meine Schläfe und meine
Kehle brannte. Ich schloss meine Augen und verlor mich in der Finsternis.
Die Kälte ließ nach und wandelte sich in eine angenehme Wärme. Etwas Schweres ... Angenehmes lag
auf mir. Meine Hände glitten nach vorne und berührten nackte Haut. Ich atmete den Geruch von Iris
ein.
Zarte Finger wühlten sich durch mein Haar und sanfte Lippen berührten meinen Mund.
Eine gewisse Unruhe breitete sich in mir aus. Meine Hände glitten über den nackten Rücken und
wanderten tiefer, während fremde warme Lippen weiter hinunter zu meiner Brust glitten, um diese zu
liebkosen. Ein Stöhnen entfuhr mir, dann fühlte ich den heißen Atem an meiner Wange.
Langsam öffnete ich meine Augen und sah in das sanfte Gesicht von Tom. »Vertrau mir«, hauchte er
mir zu.
Ich nickte und schloss erneut meine Augen. Mein Körper versank in einem Bett aus Sand. Die Küsse
waren jetzt fordernder. Heiße Lippen saugten an meinem Busen und sinnliche Hände flogen sanft
über meine Haut. Ein Duft von Sandelholz legte sich auf mir nieder und eine befremdliche Stimme
flüsterte: »Was geschehen ist und was geschehen wird, ist dir vorherbestimmt, doch nur mit mir bist
du eins.«
Ich öffnete meine Lider und sah in golden schimmernde Augen.
Erschrocken fuhr ich hoch und wischte mir zittrig übers Gesicht. Meine Lippen fühlten sich
an, als wenn sie gerade geküsst worden wären.
Noch völlig benommen stand ich auf und ging ins Bad. Dort nahm ich eine kalte Dusche und
nur langsam verschwanden die Erinnerungen an den Traum.
Ein Geschenk gibt Rätsel auf
Zwei Stunden später kam mein Vater mit meinem alten Polo auf den Hof gefahren. So sehr
ich auch versucht hatte nichts zu fühlen, war ich in meinem Innern doch ein klein wenig
enttäuscht. Von Tom war keine Spur zu hören oder zu sehen und, anstatt mir einen Gruß
auszurichten, sagte mein Vater zu mir: »Ein toller Junge, den solltest du dir angeln und
festhalten.«
»Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen, Papa«, antwortete ich demütig, weil ich
wusste, dass er mir, genauso wie die Kartenlegerin, keine Ruhe lassen würde.
»Na, das ist doch schon mal ein Anfang.« Er grinste und ging in die Küche.
Nachdenklich setzte ich mich in den Fernsehsessel und ließ den Nachmittag noch mal vor
meinem inneren Auge Revue passieren.
Immer wieder sah ich die Grauhaarige auf die Mana-Karten deuten. Ich fasste zusammen,
was ich wusste: Die Polynesierin hatte hawaiianisch gesprochen. Das Rätsel wurde mir mit
der Berührung Toms aufgelegt, folglich musste es mit ihm oder seiner Ohana zu tun haben.
Mir war klar, dass ich nicht umhin kam, ihn ein weiteres Mal zu sehen. Die Greisin würde
mir sonst jede Nacht im Traum erscheinen und mir nach und nach sogar am Tag den
Verstand rauben. Doch mit jeder Minute, die verstrich, wurde mir bewusster, dass meine
Fassade auch schon Risse hatte, ich spürte es genau. Das Rätsel um Tom zu lösen, war eine
Sache, Gefühle für ihn zu hegen war eine andere. Dagegen musste ich mich wehren. Mein
eisiger Mantel durfte nicht durchbrochen werden. Kein Mann sollte je wieder die
Gelegenheit bekommen, mir so weh zu tun: mich zu verletzen und zu demütigen.
Noch bevor mein Handy klingelte, hatte ich es schon in der Hand und klappte es mit
zittrigen Händen auf. »Hallo, wer ist da?«, fragte ich mit einer unterdrückten Freude in der
Stimme.
»Hier ist Tom.«
»Wer?«, fragte ich tonlos.
»Tom McAllister, der Fremde, der dich heute Nachmittag nach Hause gebracht hat.« Die
Enttäuschung war ihm anzuhören. »Erinnerst du dich nicht mehr an mich?«
»Doch, doch mir schwant da etwas.« Dabei konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen.
»Allerdings rede ich nicht mehr mit dir. Du hast es nicht mal nötig tschüss zu sagen«,
erwiderte ich betont sarkastisch.
»Oh ... Sorry. Aber ich dachte immer, dass man sich nur verabschiedet, wenn man sich eine
Weile nicht mehr sieht.«
Mein Bauch fing an, zu kribbeln. Ich schloss für einen Moment die Augen und kämpfte
gegen die Verwirrung an, die sich in mir breitmachte.
»Bist du noch da?«, fragte er besorgt.
»Ja«, flüsterte ich zaghaft.
»Du hast mir einen Schrecken eingejagt. Tu das bitte nicht noch einmal.«
»Was möchtest du?«, fragte ich ihn.
»Nun, ich hab es mir doch noch mal überlegt. Ich wollte dir gerne die Gelegenheit geben,
dich bei mir zu bedanken.«
Obgleich ich mich innerlich sträubte, wusste ich, dass ich um eine Verabredung nicht umhin
kam. Zu stark war die innere Unruhe, die mich erneut erfasste. »Gerne. Ich könnte dich
morgen Nachmittag auf einen Kaffee oder ein Eis einladen.«
Spontan antwortete er: »Nein, das ist mir zu wenig! Hast du nichts Besseres anzubieten?«
Tom klang jetzt fordernder.
Verdammt! Es sollte nicht zu persönlich werden. Jetzt muss ganz schnell Plan B her.
Mein Blick fiel auf die Zeitung. »Ich lade dich ins Kino ein ... in eine Nachmittagsvorstellung
am Sonntag. Vielleicht in Terminator?«
Alles nur kein Liebesfilm. Ja, das war ein guter Plan B, den ich jedoch ohne Tom gemacht hatte.
»Ich hab eine bessere Idee: Ich hab deinem Dad ein Geschenk für dich mitgegeben. Zieh es
bitte an. Ich müsste in ungefähr 30 Minuten bei dir sein.«
Bevor ich auch nur antworten konnte, hatte er bereits den Hörer aufgelegt.
Ich blickte auf und sah in das grinsende Gesicht meines Vaters, in dem eine breite Kerbe sich
bis in beide Wangen zog. »Du wusstest, was er vorhat«, warf ich ihm vor.
Er konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. »Klar, ich hab ihm ja schließlich den Floh ins
Ohr gesetzt, dass er dich überrumpeln muss, wenn er mal mit dir Essen gehen will. So und
jetzt mach dich fertig, du hast schließlich eine Verabredung.«
»Was soll das?«, fragte ich ihn angesäuert. »Du weißt genau, dass ich nicht auf der Suche
nach einem Freund bin. Musst du denn immer wieder versuchen mich zu verkuppeln?«
»Ja!«, antwortete er spontan. »Himmelherrgott Nina. Ich weiß, dass das, was Markus dir
angetan hat nicht wieder rückgängig gemacht werden kann. Und Daniels Verhalten ist auch
nicht gerade entschuldbar, aber ich bin es leid, wie du dich ständig in dich zurückziehst.
Versteh doch. Ich vermisse dich. Ich vermisse das kleine fröhliche Mädchen, welches du mal
warst.«
»Das gibt es aber nun mal nicht mehr!«, fauchte ich ihn an, verschränkte die Arme und biss
mir auf die Unterlippe.
Mein Vater blickte mich missbilligend an, doch was auch immer ihm nun auf den Lippen
lag, er behielt es für sich, denn er wusste, dass ich gehen würde, sobald er einen der beiden
Namen noch einmal erwähnte.
»Hör zu Paps«, lenkte ich stattdessen zu seiner Verwunderung ein, weil die Unruhe in mir
wieder anstieg, sobald ich auch nur daran dachte, mich nicht noch mal mit Tom zu treffen.
»Ich habe diesem Kerl versprochen, mich für seine Hilfsbereitschaft zu bedanken und das
werde ich auch tun, indem ich mit ihm auf meine Kosten Essen gehe. Doch das war´s auch
schon. Mach dir bloß keine Hoffnung, dass da jemals mehr draus werden könnte.« Mein
Entschluss, es bei einem einfachen Restaurantbesuch zu belassen, stand fest. Eher würde die
Narbe auf der Stirn meines Vaters verschwinden, als dass ich mich jemals wieder auf einen
Mann einlassen würde.
Diese Narbe hatte für mich einen symbolischen Wert: Sei wachsam und lass nicht noch mal
zu, dass ein Mann dich so verletzen kann! Meine finsteren Gedanken wurden erneut von
ihm unterbrochen.
»Na gut, das ist immerhin ein Anfang.«
Ich verdrehte die Augen. Gib´s auf, sagte ich mir selbst. Er will es einfach nicht kapieren.
Mein Vater ahnte schon, was gleich passieren würde, doch bevor ich den Raum verlassen
konnte, sagte er beschwichtigend zu mir: »Nina es tut mir leid, was dir wiederfahren ist, aber
der Junge scheint wirklich sehr nett zu sein und du hättest ihn mal sehen sollen, als er über
dich sprach. Wenn er deinen Namen erwähnte, glänzten seine Augen, als sähe er zum ersten
Mal einen Tannenbaum.«
»Klar und morgen kommt der Weihnachtsmann«, bemerkte ich schnippisch. »Papa tu mir
den Gefallen und misch dich nicht immer in meine Angelegenheiten ein, und bitte, bitte hör
auf immer alles so übertrieben darzustellen.«
»Aber wenn ich´s dir doch sag. Der hat richtig von dir geschwärmt. Er sagte so Sachen, wie
´Ich hab das Gefühl ihre Tochter schon ewig zu kennen´ und ´Sie hat mich nahezu
verzaubert´.«
Ich kniff die Augen zusammen. Verzaubert?! Er hat wohl eher mich verzaubert, aber gewiss auf
eine andere Art, als er es wollte. Und wie auf ein Zeichen hörte ich die Stimme der
Kartenlegerin: »Der Weg zur Lösung führt über ihn.«
»Weißt du was Paps? Ich gehe ja nachher mit ihm essen und, wenn er mich dann noch mal
wiedersehen will, werde ich ihn morgen zum Kaffee einladen. Ich denke, bevor du ihn mir
weiter als deinen Schwiegersohn präsentierst, solltest du ihn erst mal selber besser
kennenlernen. Man kann niemanden nach einer halben Stunde Autofahrt beurteilen. Das
kann man nämlich noch nicht einmal, wenn man jahrelang mit jemanden zusammen war.«
Ich drehte mich auf dem Absatz um und verschwand in meinem Zimmer, so wie ich es
immer tat, wenn ich nicht zeigen wollte, dass auch ich ein menschliches Wesen war.
Die Tür knallte hinter mir ins Schloss und sofort drückte ich auf den Knopf meines CDPlayers: Eins meiner liebsten Lieder ertönte, während ich meinen Gedanken nachhing.
Mein Blick war auf die Nachttischlampe geheftet. Sie war ein Sinnbild dessen, wie ich mich
fühlte. Nachdem sie damals zerbrochen war, hatte ich sie gekittet. Sie wird nie wieder ganz
werden. Genauso wie ich ... ich werde auch nie wieder heilen.
Ich hing meinen düsteren Gedanken nach. Kein Licht konnte mich jetzt erreichen. Wie in
Trance sang ich den Refrain mit. Er handelte von einer verletzten Seele, die sich jedoch nicht
unterkriegen ließ.
Nachdenklich nahm ich das blaue Kleid, welches ich notgedrungen gekauft hatte und
betrachtete es sehnsüchtig. Es war wirklich eine nette Geste, aber es war auch rausgeschmissenes
Geld. Das Kleid werde ich nie wieder in der Öffentlichkeit tragen.
Mir stieg die Röte ins Gesicht, als ich daran dachte, wie die Männer mich im Kaufhaus
angestarrt hatten. Jetzt fiel mir auch wieder ein, dass sich einige Jugendliche nach uns
umgedreht hatten, als wir zum Auto gingen. So etwas darf dir nie wieder passieren. Du wirst
dich nicht noch mal zur Zielscheibe fremder Blicke machen lassen.
Als ich die Lider schloss, sah ich diese umwerfenden grünen Augen und das Grübchen über
dem Mundwinkel vor mir, als ob er direkt vor mir stehen würde. Mist!, fluchte ich. Der hat
jetzt schon ´nen bleibenden Eindruck hinterlassen. Wehr dich dagegen!
Automatisch sang ich den Refrain des nächsten Liedes mit, welches davon sprach, dass das
verletzte Mädchen eine Mauer um sich aufgebaut hatte. Doch am Ende sieht sie einen
Hoffnungsschimmer aufkeimen.
Nein, nichts wird gut. Es kann nicht wieder gut werden. Was ist nur mit mir los? Ich hatte mich doch
bisher immer gut im Griff. Ich schmiss mich aufs Bett und zog mir die Decke über den Kopf.
Nein! Ich darf mich nicht verlieben. In meiner Not schrie ich in mein Kopfkissen. Es war ein
lauter Schrei und doch war ich mir ganz sicher, dass keiner ihn hören konnte.
Plötzlich berührte mich etwas an meinem Knöchel. Ich wirbelte herum und konnte meine
geballte Faust im letzten Moment noch zurückziehen.
Meine Mutter starrte mich an, der Schreck war ihr ins Gesicht geschrieben. »Johannes sagt,
du hast das im Auto vergessen«, ihre Stimme zitterte, während sie mir den Karton reichte.
Ich nahm ihr die Schachtel ab und murmelte leise: »Danke. Mama ... es tut mir leid.«
Sie lächelte zaghaft. »Es ist ja noch mal gut gegangen. Das nächste Mal ruf ich lieber durch
den Lärm hindurch.« Sie ging zur Anlage und stellte die Musik leiser. Am Türrahmen blieb
sie kurz stehen und drehte sich zu mir um. »Kleines, er muss es dir aber ganz schön angetan
haben. Ich habe schon lange nicht mehr erlebt, dass dich jemand so aus der Fassung
brachte.« Dann schloss sie die Tür hinter sich zu.
Wenn du wüsstest, dachte ich. Meine Eltern ahnten nichts von meiner Gabe, also konnte ich
ihnen auch nicht erklären, dass ich keine Wahl hatte. Meine Aufgabe war es ein Geheimnis
zu lüften, welches ihn oder seine Familie umgab, nur so konnte ich wieder Frieden finden.
Ich betrachtete die Pappschachtel in meiner Hand. Für das dunkelrote Abendkleid ist die Box zu
klein, überlegte ich und öffnete sie. Abgefahren! Da lagen sie: diese herrlichen blauen Pumps.
Ich zog sie gleich an, ging an meinen kleinen Kleiderschrank und holte ein paar Jeans, einen
langen Rock und ein paar Blusen heraus. Aber was ich auch anhielt, es passte nicht zu diesen
Schuhen: Meine Sachen waren einfach alle zu unauffällig und schlicht.
Als ich die Schuhe auszog, fiel mein Blick auf eine Karte in dem Karton:
Haha, sehr witzig! - Auf der einen Seite empfand ich es als snobistisch von ihm, dass er mir
die Schuhe gekauft hatte, obwohl ich auf die Bezahlung des Kleides bestanden hatte, doch
auf der anderen Seite war ich amüsiert, ob des kleinen Scherzes. Was wenn es keiner war?,
kam mir in den Sinn. Verdammt! Wie soll ich bloß das Rätsel lösen, ohne Gefahr zu laufen, dass er
sich in mich verliebt, oder schlimmer noch: Ich mich in ihn. Ich war zugleich rat-, als auch
machtlos.
Im oder besser gesagt, an meinem Bauch, fing es an zu kribbeln und mein Handy ertönte.
»Sie haben eine Nachricht erhalten.«
Sofort zog ich es aus meiner Tasche und öffnete die Kurzmitteilung:
Noch fünfzehn Minuten!
Ich freu mich auf ein Wiedersehen!
Tom.
Oh je, jetzt muss ich mich aber schnell anziehen. Eiligst rannte ich in das Schlafzimmer meiner
Eltern und zog ein schwarzes, knielanges Kleid meiner Mutter an.
Während ich mir ein schlichtes Make-up auflegte, klingelte es an der Haustür.
Normalerweise öffnete meine Mutter, diesmal war mein Vater jedoch schneller.
»Hallo Tom. Komm rein und trink eine Kleinigkeit mit mir. Nina ist noch nicht fertig. Sie
will sich bestimmt ganz besonders in Schale werfen«, sagte er laut, damit ich es auch durch
die zwei Räume und meine Zimmertür hören konnte.
»Blödmann«, fluchte ich leise, genau wissend, dass er mich durch die Tür nicht hören
konnte.
»Das braucht sie gar nicht! Selbst in ihrem schlichten Sommerkleid heute Mittag sah sie
hinreißend aus. Ich glaube, sie könnte sogar in einem Kartoffelsack gut aussehen.« Auch
Tom war unnatürlich laut.
»Schleimer«, kicherte ich ungewollt.
Wieder ertönte die Stimme meines Vaters durch die Tür hindurch. »Tja, da kann ich dir nur
beipflichten! Sie ist unser ganzer Stolz!« Und der hallte auch in seiner Stimme wieder. Mir
wurde richtig warm ums Herz. Ob es an meinen Vater lag oder an Toms Komplimenten, ich
vermochte es nicht mal zu unterscheiden.
Trotz des Make-ups konnte ich im Spiegel sehen, wie die Röte in meine Wangen rutschte.
Mist!, fluchte ich zum wiederholten Male innerlich. »Behalt die Nerven!«, ermahnte ich mich
leise. »Es geht nur um den Auftrag. Lass dich von so einem Schleimbolzen bloß nicht
einwickeln.«
Mein Vater behielt die Lautstärke bei, obwohl er bereits im Wohnzimmer sein musste und
nur noch meine Zimmertür zwischen uns war. »Wusstest du eigentlich, dass Ninas
Großvater, also mein Vater ebenfalls Hawaiianer ist, oder war. Leider wissen wir nicht, ob er
noch lebt. Er ist 1944, kurz vor dem D-Day, in der Normandie gelandet, dabei hatte er sich
verletzt. Meine Mutter fand ihn in der Scheune ihrer französischen Freunde und pflegte ihn
gesund. Sie verliebten sich alsbald ineinander. Allerdings forderte der Krieg seinen Preis: Sie
wurden auf der Flucht getrennt. Nach Kriegsende hat sie jahrelang versucht meinen Vater zu
finden, doch es war ein aussichtsloses Unterfangen. Durch die Bomben wurde damals
einfach zu viel zerstört. Auch heute, mit knapp 83 Jahren, denkt sie noch oft an ihren Alois.«
»Ein ungewöhnlicher Name. Bist du sicher, dass dein Vater Hawaiianer war?«, fragte Tom.
»Na ja, zumindest hat er das meiner Mutter erzählt.«
Schnell legte ich mir noch einen unauffälligen Lippenstift auf, sah noch mal prüfend in den
Spiegel und sagte zu mir selbst: »Erledige den Auftrag, dann bist du ihn wieder los!«
Als ich das Wohnzimmer betrat, schoss mir jedoch nur noch ein Gedanke durch den Kopf:
Himmel sieht der gut aus.
Tom hatte einen anthrazitfarbenen Anzug an, dessen Stoff bei jeder Bewegung edel
schimmerte. Seine blanke, braun gebrannte Brust blitzte unter seinem zartblauen Hemd
hervor und sein Lächeln ging mir wieder durch und durch.
Er musterte mich von oben bis unten. »Auch, wenn es nicht das Blaue ist, siehst du dennoch
umwerfend aus.«
»Du übertreibst mal wieder maßlos, Fremder«, sagte ich leise.
Tom fing an zu lachen und hörte erst wieder auf, als ich hoch erhobenen Hauptes zur
Haustür hinausging.
»Sorry, ich wollte dich nicht verärgern«, rief er hinterher.
Ich drehte mich auf dem Absatz um und schaute ihn mit meinem schönsten Lächeln an.
»Hast du auch nicht. Ich habe jetzt nur großen Hunger und dachte ich geh schnell zur
Imbissbude rüber, um mich dort zu beköstigen.« Innerlich hoffte ich ihn mit meiner albernen
Art ein wenig zu verschrecken, ohne ihn jedoch zu verjagen.
Tom lachte erneut. »Okay, du hast gewonnen. Wir fahren ja schon los. Schließlich kann ich ja
nicht riskieren, dass den Bubis hier die Kinnlade einfriert, wenn sie dich so sehen«, griff er
das Spiel, welches ich trieb, mühelos auf. Er reichte mir seinen Arm und führte mich zur
Beifahrertür seines Wagens.
Bereits zehn Minuten später hielten wir vor dem Restaurant in meinem Nachbarort.
Tom musterte mich für einen Augenblick, doch ich verzog keine Miene und so schüttelte er
kaum wahrnehmbar den Kopf und stieg aus.
Während er schnellen Schrittes um den Wagen ging, nutzte ich den kleinen Moment der
Ungestörtheit und flüsterte leise vor mich hin: »Was für ein kleiner charmanter Mistkerl ...«
Innerlich ärgerte ich mich darüber, dass ich schon zum zweiten Mal an diesem Tag etwas
vom Blutgeld nehmen musste, um etwas zu bezahlen, was ich mir ohne diesen Kerl nie
gekauft hätte. Bisher hatte ich immer vermieden dieses Geld zur Anschaffung schöner Dinge
zu verwenden. Es hatte für mich einfach nichts Schönes an sich, es war in meinen Augen
schmutzig.
Just in dem Moment, als er die Tür öffnete, setzte ich wieder ein ernsteres Gesicht auf.
Schließlich wollte ich ihm ja nicht zeigen, wie verärgert und dennoch beeindruckt ich
wirklich war. Dies war das einzige Sterne Restaurant weit und breit und er kannte es.
Mit einem leichten Lächeln übersah ich seine, mir dargereichte Hand und stieg freihändig
aus.
Im Innern des Restaurants erwartete uns bereits der Chef de Rang. »Guten Abend. Herzlich
Willkommen im Legato. Möchten Sie dinieren, oder lieber einen Drink in unserer kleinen
Lounge zu sich nehmen?«
Tom sah mich fragend an. »Das Restaurant scheint mir ein wenig zu überfüllt zu sein, meinst
du nicht auch?«
Für einen Augenblick sah auch ich mich in dem puristisch eingerichteten Raum um, der
tatsächlich sehr gut besetzt war. »Haben Sie vielleicht noch einen Platz auf Ihrer Terrasse
frei?«, fragte ich den Angestellten freundlich.
Sein Lächeln schwand ein wenig. »Es tut mir leid. Bei solch schönem Wetter möchten alle
gerne draußen sitzen. Aber wir haben noch einen Tisch direkt beim Kamin.«
Ehe ich etwas sagen konnte, ergriff Tom das Wort: »Schade, dabei wurde mir Ihr Restaurant
so sehr vom kubanischen Botschafter ans Herz gelegt. Na ja, da kann man wohl nichts
machen. Da meine Begleitung gerne draußen etwas zu sich nehmen möchte, werden wir
wohl ein anderes Restaurant aufsuchen müssen. Eins was zwar nicht so exklusiv ist, aber
zumindest einen Platz …«
»Aber nicht doch! Ich hätte da vielleicht noch einen Tisch für zwei im hintersten Teil des
Gartens, allerdings ist er auf der Rasenfläche ...«
»Das hört sich sehr gut an. Ich denke, damit werden wir alle zufrieden sein«, sagte ich, weil
ich mir nicht die Blöße geben wollte, auf sein unterschwelliges Angebot, ein günstigeres
Restaurant aufzusuchen, einzugehen.
Tom zog seine Augenbraue ein wenig hoch, während der Angestellte kaum merklich grinste.
»Wenn Sie mir dann bitte folgen mögen.« Er führte uns tatsächlich in die hinterste Ecke des
Grundstücks und deutete auf einen kleinen Tisch, auf dem lediglich ein leuchtendes
Windlicht stand. »Bitte sehr. Hier sind Sie auch ein wenig ungestörter.« Während er dies
sagte, zwinkerte er mir leicht zu.
Lächelnd nickte Tom ihm zu, während ich mich eher versteifte.
Ungestörter – wohl eher am Arsch der Welt. Ich liebe es zwar draußen zu essen, aber das hier ...
Meine anfängliche Begeisterung für einen Gartenplatz wandelte sich mehr und mehr in
Unwohlsein ob der abgeschiedenen Lage.
Der Chef de Rang räusperte sich und holte mich damit aus meinen Gedanken heraus. Er
stand hinter einem der beiden Stühle und forderte mich mit seinem Blick dazu auf, mich
hinzusetzen, was ich dann auch tat.
Nachdem Tom ebenfalls Platz genommen hatte, reichte er an uns die Speisekarten weiter,
die er von einem anderen Mitarbeiter erhielt.
Tom fragte ihn jedoch ganz direkt, was er uns denn heute empfehlen könnte, während ich
einen Blick in die Karte warf.
»Heute kann ich Ihnen Zweierlei von der Norwegischen Jakobsmuschel empfehlen.
Anschließend könnten Sie ein Irisches Lammkarreè an Cassoulet von Cocobohnen genießen
und sich als Dessert das Duett von der Erdbeere ...«
»Gekauft!«, rief ich laut aus. »Ähm ... ich meinte, das Erdbeerduett nehme ich gerne an«,
sagte ich um einiges leiser.
Mein Blick auf die Männer sagte mir, dass der Chef de Rang sich innerlich zwar über meinen
kleinen Fauxpas amüsierte, aber versuchte äußerlich die Fassung zu bewahren. Unterdessen
grinste Tom mich breit an, wobei in seinen Augen etwas anderes zu lesen war, etwas, was
ich jedoch nicht deuten konnte.
Diesmal räusperte ich mich. »Nach so einem heißen Tag würde ich lieber etwas Leichtes zu
mir nehmen. Bitte bringen Sie mir das Spargelmenü, doch anstelle der Himbeermousse
nehme ich das Erdbeerduett.« Ich lächelte ihn wohlwollend an.
»Sehr wohl.« Der Mann nickte mir mit einem leicht schiefen Grinsen zu und wandte sich
dann an Tom.
»Well ... Ich nehme Ihren Menüvorschlag gerne an. Ich vermute, Ihre Weinkarte ist gut
bestückt?«
»Ja, wir haben 120 europäische Weine zur Auswahl.«
»Nina möchtest du einen bestimmten Wein?«
Kopfschüttelnd verneinte ich.
»Nun, dann überlasse ich Ihnen die Wahl des Weines passend zum Essen für die Dame und
mir bringen Sie bitte ein Selters.«
»Jawohl.« Damit ging der Angestellte erst mal von dannen.
Für einen Augenblick war es sehr still an unserem Tisch und ich begann mit der Kerze zu
spielen.
Tom beobachtete mich eine Weile dabei, bis er plötzlich sagte: »Ich glaube, der Kellner mag
dich.«
»Au! Verdammt, jetzt hab ich mich verbrannt.«
Tom lachte. »Das kommt davon, wenn man mit dem Feuer spielt.«
Ich warf ihm einen giftigen Blick zu. »Nein, das kommt davon, wenn jemand so ´n Blödsinn
redet, wie du.«
Mein Gegenüber versteifte sich und zog seine Augenbrauen hoch. »So, so, ich rede
Blödsinn.«
»Ja genau, oder was war das mit dem kubanischen Botschafter?«
Diesmal lachte er und über seinen Mundwinkeln bildete sich ein Grübchen. »Okay, du hast
mich erwischt. Den kubanischen Botschafter kenne ich tatsächlich nicht persönlich, aber
seine hübsche Frau hat mir heute getwittert, dass er hier schon einmal eingekehrt ist.« Das
sagte er in so einem ernsten Ton, dass mir für einen Moment glatt die Spucke wegblieb.
Just in diesem Moment kam der Kellner und reichte mir den Wein, den ich erst mal in einen
Zug leer trank, statt an ihm zu nippen, um ihn zu kosten.
»Der ist gut, den können Sie stehen lassen«, sagte ich und hielt ihm mein leeres Glas gleich
zum Nachfüllen hin, was er dann auch mit einem Augenzwinkern tat.
Als er dann Toms Wasser hingestellt hatte, verließ er uns auch schon wieder.
»Erzähl mir von Afrika«, forderte mein Gegenüber mich auf.
»Naja, da gibt es nicht so viel zu erzählen. Es ist ein schönes, wenngleich auch ein teilweise
sehr armes Land. In Namibia liegen die Farmen so weit auseinander, dass man sich darüber
ärgert, wenn man sieht, wie über der anderen eine Regenwolke hängt.«
»Du warst auf einer Farm? Ich dachte, du hättest Urlaub gemacht.«
»Nein, das waren keine Ferien. Ich war in Begleitung eines Bekannten dort. Wir beide haben
dort in einem Kinderdorf ausgeholfen und auf der Farm konnten wir unterkommen, weil er
mit den Farmbesitzern über Ecken verwandt ist.«
Verdammter Daniel! Ich wollte die Erinnerungen an die gemeinsame Zeit nicht zulassen. Zu
tief saß der Schmerz, den sein plötzliches Verschwinden verursacht hatte.
Erneut trat der Kellner an den Tisch und unterbrach dadurch meine Gedanken. Er reichte
uns den ersten Gang und ließ uns dann wieder allein.
Von nun an wechselten Tom und ich kaum noch ein Wort, da wir uns am köstlichen Essen
labten. Erst beim Nachtisch suchte ich erneut das Gespräch, schließlich galt es ein Rätsel zu
lösen, um ihn wieder loszuwerden.
»Was führt dich nach Deutschland? Ich meine, viele würden das warme Klima Hawaii´s
dem unseren vorziehen. Warum du nicht?«
»Wie du ja schon weißt, habe ich meine Kindheit hier auf einem Internat verbracht und mir
gefällt das Land, die soziale Absicherung und auch die Mental…«
»Die soziale Absicherung?«, ungläubig sah ich ihn an. »Deinem Auto zufolge bist du nicht
gerade arm, also wozu brauchst du …«
»Nicht für mich«, unterbrach er jetzt mich. »Ich bin, wie du bereits bemerkt hast, abgesichert.
Aber ich unterstütze einige Einrichtungen, die es ohne die soziale Infrastruktur des Landes
wohl nicht geben würde. Das macht es mir leicht, mein hart verdientest Geld denen zu
geben, die es brauchen. In anderen Ländern kommt die Hilfe leider nicht immer dort an, wo
sie hin soll, es sei denn man ist vor Ort. Doch das kann ich nicht sein, weil ich dann
wiederum nicht meinen Beruf ausüben könnte, mit dem ich das Geld, was ich weitergebe,
erwirtschafte.«
»Du gehst arbeiten?« Dieser Mann überraschte mich immer mehr.
»Ja. Ob du´s glaubst oder nicht: Ich bin ein stinknormaler Referendar an der Bremer Uni.«
Nun war ich vollends sprachlos. Sollte ich mich wirklich in ihm geirrt haben? Ist er doch keiner
von diesen Kerlen, dem die Frauen zu Füßen liegen, nur weil er Geld und Charme im Übermaß hat?
»Außerdem kann ich hier einfach nur Tom sein«, holte er mich aus meinen Überlegungen
zurück ins Gespräch.
»Ach, und auf Hawaii bist du dann wer?«
Statt eine Antwort zu geben, grinste er mich nur an.
»Rück schon raus mit der Sprache«, forderte ich ihn auf. »Bist du vielleicht der Ur-Enkel von
Liliʹuokalani, der letzten hawaiianischen Königin, oder was?«
Nun lachte er sogar. »Nein, nicht ganz. Meine Urgroßmutter hieß Iho Ki und sie war die
letzte Kahuna Kupua, also Meisterschamanin des Stammes der Noelani.
Als ich dies hörte, bekam ich eine Gänsehaut. Saß hier vor mir vielleicht nicht mein neuer
Auftraggeber, sondern vielmehr der Schlüssel zu meiner Gabe? Schließlich wurden mir die Rätsel
immer von einer polynesischen Kartenlegerin offenbart. Und, wenn mich nicht alles täuschte, war sie
Hawaiianerin, denn sie hatte dieselbe Augenform wie mein Vater. »Stamm der Noelani?«, hakte ich
deshalb jetzt nach.
»Ja, es ist ein sehr alter Stamm. Einer der wenigen, indem die alten Werte noch überliefert
und praktiziert werden. Während in anderen Gegenden Hawaiis die christliche Lebensweise
Einzug nahm, gelang es den Noelanis sich der Missionierung zu entziehen, indem mein UrUrgroßvater Kelii einen Pakt mit einem neureichen Deutsch-Engländer namens Robert
McAllister schloss. In einem Abkommen von 1905 wurde Robert erlaubt, auf einem Teilstück
der stammeseigenen Landes eine Plantage aufzubauen, auf der jedoch ausschließlich
Noelanis beschäftigt werden. Des Weiteren durfte Robert sich ein Haus direkt am Strand
errichten. Im Gegenzug versprach er das Land vor äußeren Einflüssen, zu beschützen. Der
Vertrag galt zwar nur, bis einer von beiden verstorben war, doch als mein Großvater Keanu
1944 zum Ali'i, also Häuptling der Noelani, ernannt wurde, erneuerten er und Roberts Sohn
den Vertrag.
William ließ sich sogar darauf ein, den Noelanis ein Anrecht auf einen Arbeitsplatz
einzuräumen. Im Gegenzug bekam er einen kleinen Landstrich direkt am Kailua Beach
überschrieben. Weil dort inzwischen fünf Häuser, eine riesige Garage und ein Pferdestall
stehen, nennen wir es das Center.
Ganz wie Keanu es wollte, wurde die Natur jedoch rund um das Center und außerhalb der
Plantage in ihrem Urzustand belassen.«
Während er endlich mal Luft holte, brachte ich meine nächste Frage hervor: »Also ist alles
noch, wie vor sechzig Jahren?«, dabei dachte ich ungewollt an die Lehmhütte der
Kartenleserin.
»Na ja ... nicht alles. Wie du dir vorstellen kannst, leben die Noelanis ebenfalls in
stromversorgten Häusern und um das Grundstück ist ein elektrischer Zaun gespannt, der
mit Infrarotkameras versehen ist. Am Tor zu Noelani steht ein Wachposten, der nur
Familienangehörige oder angemeldete Personen einlässt. Die hohen Sicherheitsmaßnahmen
waren ebenfalls ein Wunsch von Keanu, den ich allerdings bis heute nicht ganz verstehe.
Wenn man ihn danach fragt, antwortet er immer nur, dass Noelani mehr zu bieten hat, als
nette Menschen und einen schönen Strand.«
In meinen Gedanken sah ich mich am weißen Sandstrand entlanglaufen, während die Gischt
mir ab und an Wasser ins Gesicht spritzte. »Es muss wie im Himmel sein«, flüsterte ich.
Während ich selig vor mir hingrinste, huschte über Toms Gesicht ein Schatten. »Ja, das ist es
wahrlich. Noelani heißt frei übersetzt: schöner Himmel«, sagte er mit einem bekümmerten
Unterton.
»Du vermisst es, oder?«
»Beizeiten«, antwortete er knapp.
»Aber wieso gehst du nicht zurück? Du hast den Job doch nicht nötig, oder?«
»Weil der Schein manchmal trügen kann. Hawaii ist wirklich einmalig und das Leben auf
Noelani ist unbeschreiblich schön, doch ganz Oahu überwacht uns mit Argusaugen: Unser
Leben auf Noelani ist einfach zu blütenrein, um wahr zu sein. Jeder Fehltritt, den einer von
uns tut, wird gleich auf den 137 Inseln breit getreten.« Für einen Moment wirkte er in sich
gekehrt
Der Chef de Rang trat an unseren Tisch heran. »Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit? Kann ich
Ihnen vielleicht noch etwas bringen?«
»Ja, die Rechnung bitte«, antwortete ich, weil mir gerade vom Wein ganz schummerig
wurde.
»Sehr wohl«, sagte er lächelnd, aber an seinen Augen erkannte ich, dass es ihm nicht
wirklich gefiel.
Kaum war er aus Hörweite, sagte Tom: »Normalerweise fordert derjenige die Rechnung, der
sie auch bezahlen möchte.«
»Will ich ja auch.«
»Aber ich habe dich doch eingeladen.«
»Nein, es war doch so, dass ich mich bei dir bedanken wollte, also zahle ich.«
Der Chef de Rang stand urplötzlich wieder neben unserem Tisch und, noch bevor Tom seine
Geldbörse gezückt hatte, zog ich eine Visa unter meinem BH-Träger hervor und gab sie ihm.
Umgehend verschwand er damit im Haus.
Tom schwenkte seinen Kopf hin und her und brummte: »Du bist echt unglaublich!«
»Wie bitte?«
»Genau, das meine ich! In der einen Sekunde bist du eine vornehme junge Dame, die aus
einer Seifenoper entsprungen zu sein scheint, in der nächsten gleichst du einem kleinen
Teenager, der die Welt zum ersten Mal betritt. Und ehe man sich versieht, bist du ein
selbstsicherer Vamp, der fremden Männern den Kopf mit nur einem Lächeln verdreht.«
Überrascht über seine Einschätzung, lächelte ich verlegen, während mir die Quittung
überreicht wurde.
»Danke«, flüsterte ich dem Angestellten zu.
Tom legte einen Zwanziger auf den Tisch. »Das ist für Ihre zuvorkommende Behandlung.
Ich denke, wir werden dieses Lokal bald wieder aufsuchen.« Damit stand er auf und hielt
mir die Hand entgegen, die ich sogar entgegennahm, jedoch sofort wieder losließ, als ich auf
meinen eigenen Füßen stand. Das allerdings bereute ich bereits nach wenigen Schritten
wieder, weil ich strauchelte.
»Man sollte nicht mit Highheals über Rasen laufen«, sagte Tom in Richtung des Kellners, der
uns gerade entgegen kam. »Komm ich helfe dir«, bot er an, und fasste umgehend um meine
Taille. »Eine Flasche Wein war wohl zu viel für dich allein«, flüsterte er mir leise zu.
Meine Antwort bestand aus einem leisen »Hicks.«
Im Auto angekommen, bedankte ich mich erst mal für seinen Einsatz, um meine Ehre zu
retten.
»Kein Problem. Auch ich hab mal über die Stränge geschlagen und fand es weniger amüsant,
als andere mich deswegen belächelten.«
»Hicks.« Mein Blick fiel auf die Quittung und ich sah doch tatsächlich eine handgeschriebene
Telefonnummer und eine kleine unleserliche Notiz.
»Was steht da?«, fragte ich Tom und hielt ihm den Zettel hin.
Er ergriff ihn. »Ruf mich an! ... Siehst du, ich hab doch gesagt, dass der dich mag.«
»Das ist eine Unverschämtheit!«, blökte ich. »Hicks.«
»In der Tat. Man steckt einer Frau, die in Begleitung eines Mannes ist, nicht seine
Telefonnummer zu.«
»Der Kerl trug einen Ehering. Boah – ihr Männer könnt so fies sein.« Der Wein stieg mir nun
vollends zu Kopf.
»Dann sag mir doch mal, wann ich fies zu dir war?«
»Ich ... Du ... Nein, du bist wohl eine Ausnahme, zumindest bist jetzt«, gestand ich ihm und
mir zugleich ein.
»Na, das beruhigt mich jetzt aber«, erwiderte er und reichte mir die Quittung zurück, dabei
berührten seine Finger die meinen und ich hatte das unvermeidbare Gefühl, als ob Tom
diesen Körperkontakt provoziert hatte.
»Hör zu Tom.« Ich atmete einmal tief ein, denn das was ich ihm jetzt sagen wollte, kam mir
nicht leicht über die Lippen und so senkte ich auch betreten meinen Blick gen Boden. »Du
bist ein echt netter Kerl und ich hab den Abend, zugegebenermaßen unfreiwillig, genossen.
Aber im Moment möchte ich keine Beziehung. Mehr als eine Freundschaft kann ich dir nicht
bieten. Ich stehe mit Männern auf Kriegsfuß und hab gar kein Interesse an ihnen …«
»Perfekt!«, unterbrach er mich laut.
Erschrocken fuhr ich zusammen.
»Weißt du. Ich bin momentan auch nicht auf eine Beziehung aus. Vielmehr würde es mich
freuen, wenn ich mit dir ein paar Stunden als Freundin im Sinne von Kumpel verbringen
könnte. Meine Heimat ist weit entfernt und die wenigen Freunde, die ich hier noch habe,
sind überall im Land verstreut und auch berufstätig. Du und dein Dad, ihr erinnert mich ein
Stück weit an meine Ohana, und es wäre wirklich toll, wenn ich jemanden in der Nähe hätte,
mit dem ich auch mal etwas unternehmen könnte.«
»Welche Art von Unternehmungen meinst du?«, fragte ich, während sich die Unruhe in mir
wieder mal zu Wort meldete.
»Theater, Kino, Musical, bowlen, was auch immer du bevorzugst. Hauptsache ich komme
mal aus meiner Wohnung heraus. In drei Wochen endet das Sommersemester und ich hab
dann ne lange Zeit nicht wirklich was zu tun.«
»Fliegst du denn nicht heim?«, versuchte ich das Thema wieder auf Hawaii zu lenken.
»Nein!«, erwiderte er in einem für mich eindeutig zu entschlossenem Ton. »Dafür habe ich
wiederum zu viel zu tun«, setzte er leiser nach.
Meine Sinne jedoch schrillten nahezu ohrenbetäubend. Und in diesem Moment war ich mir
sicher, was auch immer es war, was ich lösen sollte, es hatte mit Tom und Hawaii oder
besser gesagt, mit seiner Familie zu tun. Damit konnte ich die erste Karte im Geiste getrost
wieder umdrehen.
Tom startete den Wagen und wenige Minuten später hielt er auf der Einfahrt zu unserem
Haus.
»Also, was sagst du?« Er stellte den Motor ab.
»Wie meinen?«
»Könntest du dir vorstellen ein wenig Zeit für einen armen gestrandeten Hawaiianboy zu
erübrigen?«
»Klar, wieso nicht. Solange du mir nicht an die Wäsche gehst.«
»Werde ich nicht. Ich wage zu behaupten, dass ich ein toleranter Mann bin, der auch allem
Neuem gegenüber aufgeschlossen ist, also werde ich auch deine Neigung zu deinem
Geschlecht nicht in Frage stellen.
Perplex blickte ich ihn an und war froh, dass er gerade zur Haustür sah, aus der meine
Mutter lugte. »Das ist sehr zuvorkommend von dir«, sagte ich so ernst ich konnte, während
ich innerlich laut kicherte. »Kommst du morgen zum Kaffee?«
»Gerne. Aber nur, wenn ich meinen eigenen mitbringen darf.«
Wieder sah ich ihn verdutzt an, doch diesmal sah er es.
»Oh, ich hab dir wohl noch gar nicht erzählt, dass auf Onkel Erics Plantage Ananas,
Zuckerrohr und auch Kaffee angebaut wird, oder?«
»Nein haste nicht. Aber kann man damit denn soviel Kohle machen?«
»Ja, es ist Kaffee der Spitzenklasse, das bringt schon einiges ein, und seitdem Ben die Firma
übernommen hat, sind noch ein paar andere Geschäftszweige hinzugekommen.«
»Ben? Ist das der vom Internat?«
»Mhmh.« Er nickte leicht und dennoch bemerkte ich, dass er sich ein wenig versteifte. »Der
Große und ich waren bis zu unserem Bachelor ständig zusammen. Danach trennten sich
unsere Wege. Er gründete IT-International, eine Firma mit der er sehr erfolgreich Hard- und
Softwareprodukte produziert und vertreibt. Ich hingegen sah mir ein wenig die Welt an.
Heute treffen wir uns nur ab und an mal, um gemeinsam neue Programme zu entwickeln,
was mir dann wiederum eine Menge Kohle«, er zog das Wort mit einem Grinsen in die
Länge, »einbringt.«
Toms Handy spielte eine fremdartige Melodie. Er zog es aus seiner Anzugtasche. »Oh, das
ist meine Cousine Sunny.« Ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Ähm … ich müsste da
ran…«
»Schon okay. Wir sehen uns morgen um drei«, sagte ich und verließ das Auto mit einem
merkwürdigen Gefühl.
Kurz bevor ich ins Haus trat, drehte ich mich noch einmal um.
Er winkte mir zu, während er offensichtlich in eine Freisprecheinrichtung sprach.
Auch ich winkte und schloss dann die Tür hinter mir.
»Na wie war´s?« Mein Vater stand urplötzlich hinter mir und ich schreckte völlig
zusammen.
»Gott Papa! Musst du dich so anschleichen?« Wieder einmal kniff ich meine Lippen
zusammen.
»Mach´s nicht so spannend …«, drängte er auf eine Antwort und hibbelte dabei wie ein
kleines Kind herum.
»Er kommt morgen zum Kaffee, den er mitbringt.« Damit schritt ich geradewegs durch die
Stube in mein Zimmer hinein.
Natürlich konnte ich kurz darauf die Unterhaltung zwischen meinen Eltern mitverfolgen, in
der mein Vater Partei für Tom ergriff, während meine Mutter versuchte seinen
Enthusiasmus in Grenzen zu halten.
Erst eine Stunde später verstummten die beiden und ich konnte in den Schlaf finden, aus
dem ich wenige Stunden später keuchend aufwachte, weil die Kartenlegerin mich erneut
ermahnte, dem Geheimnis um Tom auf den Grund zu gehen.
Die nächsten vier Wochen rauschten nur so an mir vorbei. Wie selbstverständlich ging Tom
inzwischen bei uns ein und aus. Er hatte mittlerweile auch Semesterferien und wir gingen
tatsächlich mehrmals ins Kino, besuchten eine Aufführung im Oldenburger Theater und
erlebten die Prämiere eines Musicals am ortsansässigen Gymnasium.
Ohne dass ich es wirklich wahrgenommen hatte, schaffte er es sogar mit seiner humorvollen
freundlichen Art ein klein wenig, die Wut, die ständig in mir loderte, zu mildern. Doch die
Unruhe in mir nahm ständig zu. Ich schaffte es einfach nicht, etwas von ihm zu erfahren,
was mich auch nur ein kleines Stückchen der Lösung des Rätsels näherbrachte. Aber
genauso wenig, wie ich meinen Auftrag erledigen konnte, versuchte Tom mir körperlich
näher zu kommen. Die einzige Vertrautheit, die er sich mir gegenüber erlaubte war, mich
Engel zu nennen, ansonsten blieb er auf Abstand und hielt die von mir errichteten Grenzen
ein. Warum er mich jedoch Engel nannte, wollte er mir nicht sagen. Stattdessen schenkte er
mir dann immer eins von seinen Grübchen behafteten Lächeln.
Am 25. Juli fuhr Tom bereits um sieben Uhr morgens bei uns vor. Mit einer Tüte Brötchen
und einem großen bunten Blumenstrauß bewaffnet stieg er aus und schlenderte geradewegs
zur Haustür, die meine Mutter ihm öffnete.
Als er sie erblickte blieb er abrupt stehen und zog ein betretenes Gesicht. Sekunden später
lächelte er, als hätte er gerade eine Eingebung gehabt und zog eine einzelne weiße Rose aus
dem Bukett. Diese überreichte er mir mit den Worten: »Happy Birthday, Engel.«
Das restliche Gebinde übergab er meiner Mutter, welche ihm daraufhin endlich mal ein
Lächeln schenkte.
Eine viertel Stunde später saßen wir zu viert auf der Terrasse und genossen ein reichhaltiges
Frühstück, während die ersten Sonnenstrahlen Wärme verbreiteten.
»Kleines«, sagte meine Mutter plötzlich. »Dein Vater und ich wollten gleich ins Reisebüro,
um den Flug und das Hotel für Lars Hochzeitsgeschenk zu buchen. Ich weiß, dass das jetzt
wieder mal nicht der passende Zeitpunkt ist, aber ich muss jetzt endlich wissen, wie viel du
beisteuern willst, damit wir dementsprechend das Hotel buchen können.«
»Mist!«, fluchte ich. »Das hab ich ja total vergessen! Entschuldige Mama. Buche was du
meinst, ich übernehme, das, was ihr nicht könnt. So teuer wird ein Hotel am Waikiki Beach
ja wohl nicht sein, oder?«
»Oh, es gibt da schon Unterschiede«, griff Tom jetzt in die Unterhaltung ein. »Und vor allem
wimmelt es dort vor Touristen. Wenn man wirklich das Hawaiian Feeling erleben will, sollte
man sich ein Hotel auf einer der kleineren Inseln nehmen.«
»Das ist gut zu wissen. Aber wir schenken Lars diese Reise, weil er etwas über seinen
Großvater in Erfahrung bringen will und das wird er wohl am ehesten auf Oahu schaffen«,
erklärte meine Mutter ihm.
»Er will ins Archiv von Pearl Harbor?«
Zustimmend nickten wir drei.
»Na das ist was anderes.« Tom verstummte für einen kurzen Augenblick und begann zu
grinsen. »Ich hab da eine Idee. Dafür muss ich aber erst noch ein paar Telefonate führen,
doch den einen kann ich um diese Uhrzeit nicht machen, also wartet bis morgen, dann
erzähle ich euch mehr.«
»Wir möchten Ihnen aber keine Umstände machen, Herr McAllister«, antwortete meine
Mutter ihm.
»Ach Quatsch, Anna«, mischte sich nun auch mein Vater ins Gespräch mit ein. »Lass den
Jungen doch ein wenig telefonieren. Der kennt sich doch bestens auf den Inseln aus und wir
wollen Lars doch was Gutes mit der Reise tun, oder?
»Ja, aber …«
»Kein Aber! Tom sagt uns morgen, was er geplant hat.«
»Johannes … die Hochzeit ist schon in einer Woche.«
»Eben! Also noch genug Zeit fürs Reisebüro, und jetzt hätte ich gerne mal die Wurst.«
»Oh verflixt! Ich hab das Kleid vergessen«, stieß ich aus. »Ich muss nächste Woche
unbedingt noch mal nach Bremen düsen und mir das Kleid holen.«
»Mach das Kleine«, sagte mein Vater, stopfte sich eine Wurstscheibe in den Mund und stand
dann auf. Er bedeutete auch meiner Mutter, den Tisch nun zu verlassen.
Kaum, dass die beiden weg waren, erhob sich Tom ebenfalls und stellte sich hinter mich.
»Engel ... schließ bitte deine Augen.«
Wie selbstverständlich hob er mir die Haare von den Schultern, ohne meine Haut jedoch
dabei zu berühren, und ließ sie locker an meinem Rücken herabsinken. Dann fühlte ich eine
Kette auf meiner Brust. Meine Hand griff nach dem kühlen Metall und erfühlte dabei einen
Anhänger.
Tom flüsterte in mein Ohr: »Du kannst die Augen wieder öffnen, Engel.«
Doch ich konnte nicht! Bilder schossen wie Blitze durch meinen Kopf:
Eine in blau leuchtendes Licht gehüllte Eule stieß kreischend vom Himmel hinab auf eine Gruppe
Menschen. Ich hörte das Gekreische des Vogels und das schmerzverzerrte Stöhnen eines Mannes. Ich
fühlte die aufkeimende Angst in mir. Vor meinem geistigen Auge sah ich golden schimmernde Augen
aufflackern, die sich in schwarzer Dunkelheit verloren. Ich nahm den Duft von Sandelholz wahr und
spürte, wie die Angst in mir überhandnahm. Mein Herz krampfte sich zusammen. Ich wusste, dass
jemand der mir wichtig war, an der Grenze zum Tode stand und ich hatte nur noch den einen
Wunsch: Ich wollte zu ihm.
Die Bilder verschwanden im Nichts und ein starker Kopfschmerz füllte die Leere aus.
Durch eine Nebelwand hindurch hörte ich eine mir unbekannte Singstimme flüstern: »Sein
Leben weilt in deinen Händen.«
Toms Stimme drang zu mir durch: »Nina, Engel. Ich sagte, du kannst deine hübschen Augen
jetzt wieder öffnen.«
Meine Augenlieder zitterten, wollten sich aber nicht öffnen lassen. Zu stark war der Schmerz
in meinem Kopf.
»Nina!« Toms Stimme wurde ungeduldiger. Er legte seine Hand auf meine Schulter und
rüttelte sanft an ihr. »Open your Eyes ...«
Ich kämpfte gegen den Schmerz an und riss meine Augen auf. Das helle Tageslicht blendete
mich und mit jedem Blinzeln verschwand die Erinnerung an die Vision mehr und mehr.
»Hey, du hast mir gerade schon wieder einen ganz schönen Schrecken eingejagt«, sagte Tom
vorwurfsvoll.
»Ich ... entschuldige. Ich habe Kopfschmerzen ... wegen gestern«, stammelte ich leise.
Tom sah mich mitleidsvoll an. »Vielleicht solltest du doch noch mal zu einem Arzt.«
Vehement schüttelte ich den Kopf. »Nein! Ich nehme gleich ein Aspirin und dann geht es
bestimmt bald wieder.«
Nervös spielte ich mit dem Kleinod in meiner Hand. »Finde ihn!«, befahl die Singstimme.
»Willst du dein Geschenk nicht wenigstens mal ansehen?«, fragte Tom ungeduldig.
Zaghaft schaute ich auf das Schmuckstück hinab. Es war eine goldene Kette mit einem
Anhänger: zwei fein gearbeitete Hände, die einen kleinen, blauen Stein umschlossen.
»Wunderschön«, hauchte ich, »wie teuer ...«
Ȇber Preise spricht man in meinen Kreisen nicht. Es ist dein Geburtstagsgeschenk, nimm es
bitte als dieses an.«
Beschämt nickte ich. »Danke, sie ist wirklich wunderschön«
Tom lächelte mich zufrieden an. »Komm, wir haben heute noch eine Menge vor. Es ist dein
Geburtstag, er soll etwas Besonderes werden.«
Und es wurde ein besonders schöner Tag. Tom hatte für alles gesorgt: Das Essen, das
Ambiente und selbst an die passende Kleidung hatte er gedacht. Zum Mittagessen waren
wir auf Sylt und zum Abendessen in Hamburg.
Zum ersten Mal in meinen Leben besuchte ich ein richtiges Musical und war fasziniert - von
der Musik, dem Tanz und sogar von Tom. Ich konnte zwar immer noch nicht über meinen
eigenen Schatten springen, aber dennoch vertraute ich ihm mehr als sonst einem Mann, mit
dem ich nicht blutsverwandt war.
Erst gegen Mitternacht waren wir wieder bei mir zu Hause angekommen. Tom brachte mich
bis zur Haustür, legte seine Hände an meine Schulter und blickte mir tief in die Augen.
Jetzt erwartete ich sogar schon fast, dass er mich küsste. Für einen Moment senkte ich die
Lider, nicht um meine Augen vor ihm zu verbergen, sondern vielmehr um mich selbst zu
beruhigen, denn der Letzte, der es wagte mich zu küssen, bekam dafür eine Ohrfeige
verpasst.
Daniel hatte es nicht anders verdient, versuchte ich mir einzureden, dennoch konnte ich nicht
verhindern, dass ein Hauch von Wehmut mich erfasste. Auch heute noch fühlte ich seinen
Kuss. Es war so, als ob er sich für immer auf meinen Lippen eingebrannt hatte. Und obwohl
sein Verschwinden bereits fünf Jahre zurücklag, sah ich ihn immer noch ganz deutlich vor
mir. Wie hätte ich auch jemals diese stahlblauen Augen vergessen können, in denen Liebe,
Glück und sogar der Tod hervorblitzten?
Reiß dich zusammen. Tom ist nicht wie Daniel und schon gar nicht wie Markus ...
Leicht spitzte ich meinen Mund, doch das Einzige, was geschah war, dass Tom mich sanft
auf die Stirn küsste. »Nochmals herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Engel.«
»Danke sehr«, hauchte ich nur, denn innerlich kämpfte ich noch immer gegen die in mir
aufsteigenden Gefühle an..
»In den nächsten Tagen habe ich etwas zu tun. Was hältst du davon, wenn du am Mittwoch
zu mir kommst und wir ins Museum gehen?«
»Hört sich gut an. Bis dahin kann ich noch bei den Hochzeitsvorbereitungen helfen.«
»Eine gute Idee. Ich maile dir meine Adresse.«
Ich gähnte und Tom grinste ob dessen.
»Ich fahr jetzt nach Haus und dir wünsche ich noch eine gute Nacht.« Er drehte sich um und
ging in Richtung seines Wagens.
Die Unruhe in mir nahm wieder zu und sobald ich die Augen schloss, sah ich die Greisin
wieder vor mir. Es war wie eine Ermahnung mich nicht zu weit von ihm zu entfernen.
»Tom!?«, flüsterte ich.
Er hielt in seiner Bewegung inne.
»Begleitest du mich auf Lars Hochzeit?«
Ohne sich umzudrehen antwortete er mit einem kräftigen »Yes.«
Nun legte er auch das letzte Stück bis zu seinem Auto zurück. »Ich warte, bis du im Haus
bist. Wir sehen uns am Mittwoch zum Lunch, Engel.« Dann stieg er ein.
Ich schloss die Haustür auf und ging hinein. Im Flur drehte ich mich nochmals um und hob
die Hand zu einem Gruß.
Er erwiderte den Gruß mit seinem umwerfenden Lächeln.
Als ich die Tür schloss, hörte ich seinen Motor aufheulen und schon fuhr er mit sehr
schnellem Tempo davon.
Ein Schneewalzer lässt Gefühle tanzen
Es waren nur noch vier Tage bis zur Hochzeit von Lars und ich fuhr bereits am Mittwoch
Vormittag nach Bremen, um mir noch das Kleid zu kaufen, welches ich vor dem
Nachtblauen anprobiert hatte.
Auf meine Frage hin teilte mir die Verkäuferin jedoch mit, dass ein junger Mann es einen
Tag zuvor gekauft habe, und bot mir stattdessen weitere Kleider an. Keines passte. Und auch
die nächsten Anproben in anderen Geschäften waren nicht von Erfolg gekrönt.
Da ich gegen Mittag mit Tom verabredet war und ihn nicht auf dem Handy erreichen
konnte, fuhr ich unverrichteter Dinge zu ihm.
Hinter der von ihm genannten Adresse verbarg sich ein größerer, neumoderner
Apartmentkomplex, wie man ihn aus amerikanischen Filmen kennt. Neugierig klingelte ich
und einen Moment später summte es. Ich öffnete die große Glastür und trat ein.
Ein Pförtner kam auf mich zugeeilt. »Was wünschen Sie?«
»Ich möchte zu Tom McAllister. Er erwartet mich.«
»Das Kennwort bitte.«
»Kennwort? Welches Kennwort?«
»Da ich Sie nicht kenne und Sie das Passwort offenbar nicht kennen, kann ich Sie auch nicht
hereinlassen«, sagte der Concierge entschlossen.
»Hören Sie ... Ich kann Herrn McAllister nicht erreichen. Sie haben doch bestimmt eine
Hausrufanlage. Bitte rufen sie ihn an ... Wir sind wirklich verabredet.«
Der Pförtner musterte mich von oben bis unten. »Gut, ich rufe an. Bitte warten sie einen
Moment vor der Tür.«
Brav trat ich auf den Bürgersteig zurück.
Keine zwei Minuten später kam Tom aus dem Fahrstuhl geeilt. Ich konnte ihn durch das
Glas rufen hören: »Thank you, Felix. Miss Lorenz ist mein Gast. Öffnen Sie bitte die Tür.«
Es summte und ich trat erneut hinein.
»Sorry ... ich hatte vergessen, dir das Kennwort für meine Gäste zu sagen ... Kommst du mit
hoch?«
»Nein. Ich bin nur hier, um dir abzusagen. Ich hatte versucht, dich auf dem Handy
anzurufen. Doch ich kam nicht durch.«
»Ähm ja. Ich habe ein Update draufgespielt, das hat etwas länger gedauert. Aber ich konnte
dich gestern Abend auch nicht erreichen. Bei dir ging nur die Mailbox an.«
»Schwacher Akku. Passiert öfter mal, dass der ausfällt.«
»Vielleicht solltest du dir mal ein neues Handy zulegen …«
»Ja, aber nicht jetzt. Im Moment habe ich ein viel größeres Problem. Leider habe ich das rote
Kleid nicht mehr bekommen und muss nun sehen, wo ich noch ein anderes herkriege.« Ich
musterte ihn. »Du warst nicht zufällig gestern unterwegs und hast es mir gekauft?«
»Welches rote Kleid?«, fragte er mit einem Grübchen über den Mundwinkeln.
»Das, welches ich bei unserer ersten Begegnung anprobiert hatte.«
»Du meinst das Biedermeierkleid?«
»Ja, genau das!«
»No. Ich hab dir das Kleid nicht gekauft.«
»Na gut … Ich muss jetzt los, mir ein anderes besorgen.«
»Okay, ich komme mit. Für heute habe ich genug gearbeitet.«
Er nahm mich bei der Hand und führte mich, ohne auf meinen Protest zu achten, in den
Fahrstuhl. Dort drückte er den Knopf für die Tiefgarage.
Tom ließ mich ans Steuer seines Audis. Er dirigierte mich durch den Stadtverkehr auf die
Autobahn in Richtung Osten.
Drei Stunden später waren wir in Berlin und Tom führte mich innerhalb von vier Stunden
durch sechs Boutiquen. Allerdings waren die Kleider, die Tom für mich aussuchte, für
meinen Geschmack zu offenherzig und die Kleider, die ich raussuchte, waren in seinen
Augen zu trist.
Gegen Abend machten wir einen kleinen Abstecher in den Friseursalon seiner Tante
Caroline. Leider war sie selbst nicht zugegen.
Ihr Geschäftsführer Jan, der mit Tom gut befreundet war, gab uns netterweise die Adresse
von einem neuen, aufstrebenden Designer, der sein Atelier jedoch auf der anderen Seite der
Stadt hatte.
Auf dem Weg dorthin kehrten wir im Adlon ein, wo wir ein kleines, aber erlesenes
Abendessen zu uns nahmen.
Drei weitere Stunden später waren wir wieder auf dem Heimweg. Im Kofferraum lag ein
prachtvolles, dunkelblaues Abendkleid mit Korsagenoberteil und am Po aufgerafftem Rock
aus Satin. Der Rock, wie auch das Mieder, war mit prächtigen Stickereien kunstvoll verziert.
Nach vorne endete der Rock in der Höhe des Knies und ließ einen bis zum Knöchel
gehenden Unterrock aus schwarzblauem Chiffon hervorschauen. Nach hinten hin fiel, der
Satinrock in einer kleinen Schleppe auf den Boden. Mitunter war das Beste an dem
Duchessekleid jedoch, dass die blauen Pumps dazu passten.
Auf Toms Bitten hin fuhr ich mit ihm in sein Apartment rauf.
Der Fahrstuhl hielt auf der letzten Etage. Nach dem Aussteigen durchquerten wir einen
kurzen glasüberdachten Hausflur. Es ging lediglich eine Tür von hier ab. Diese öffnete Tom
mit einer elektronischen Karte.
Das Glasdach zog sich bis weit in seine Wohnung hinein. Nach vier Metern standen wir
inmitten eines riesigen Wohnzimmers und dennoch war über uns der klare Sternenhimmel
zu sehen.
»Aha. Mehr hast du nicht zu bieten?«, gab ich betont gelangweilt von mir, während ich
durch das Glasdach auf den Mond blickte. Hier könnt ich mich wohlfühlen, dachte ich.
»Oh ... gewiss doch Gnädigste«, er griff nach meiner Hand und führte mich in den hinteren
Teil der Wohnung zu einem kleinen Treppenaufgang.
Während wir die Treppe hochgingen, sagte er zu mir: »Am liebsten wäre es mir zwar
gewesen, wenn der ganze Komplex einen Blick auf die Sterne freigegeben hätte, allerdings
hätte ich dann das Schwimmbecken im Keller einbauen lassen müssen.«
Oben angekommen war ich absolut sprachlos. Er lachte, als er mein verdutztes Gesicht sah.
»Siehst du. Ich wusste, dass es dir gefallen wird.«
Wir standen auf dem Dach des Gebäudes in einem Glashaus, in dem ein riesiges
Schwimmbecken eingelassen war. In dem gesamten Raum waren unzählige Pflanzen und
sogar große Palmen drapiert. Zur Südseite hin lud eine große Holzterrasse mit sechs
Liegestühlen zum Sonnenbaden ein.
»An dieser Seite lässt sich die Glaswand größtenteils aufschieben«, erklärte Tom mir.
»Und der Pool geht über deine halbe Wohnung?«
»Eher ein Drittel.«
»Wie viele Zimmer hast du denn?«
»Einen Hauswirtschaftsraum, ein Gäste-WC, eine Küche, drei Gästezimmer, zwei
Badezimmer, ein Wohnzimmer, ein Arbeitszimmer und mein Schlafzimmer.«
Mir fiel nichts mehr dazu ein, also stellte ich die langweiligste Frage der Welt: »Und du
brauchst so viele Zimmer?«
»Ja, wenn meine Ohana kommt, wird es so schon ganz schön eng. Und wer weiß, vielleicht
habe ich ja mal genug Kids, um die Zimmer zu füllen.« Er lächelte wieder dieses
unverschämte Grinsen mit dem Grübchen über dem Mundwinkel.
Betreten schaute ich weg und ging wieder hinunter ins Wohnzimmer.
Tom folgte mir. »Engel, was ist los? Habe ich was Falsches gesagt?«, fragte er besorgt.
Mühsam lächelte ich ihn an. »Nein Tom, hast du nicht. Ich für meinen Teil bin nur weit
davon entfernt, Kinder zu bekommen.« Ich holte tief Luft. »Für mich zählt im Moment nur
die Karriere, wenn sie denn mal endlich ins Rollen kommt.«
Während sich der Horizont verdunkelte und den Raum in eine unnatürliche Dunkelheit
ertränkte, kroch die Traurigkeit meine Kehle hoch. Bevor sie jedoch die Augen erreichte,
schnappte ich mir meine Tasche, verabschiedete mich knapp und ließ einen verdutzten Tom
allein zurück.
Erst auf dem Bürgersteig ließ ich meinen Tränen freien Lauf, doch durch den strömenden
Regen, der auf mich niederprasselte, fühlte ich sie nicht. Pitschnass und verheult setzte ich
mich ins Auto und dann kamen sie: die Schmerzen.
Mein Unterleib brannte wie Feuer. So wie er es immer tat, wenn ich meine Tage hatte. Mit
Müh und Not schaffte ich es noch bis nach Hause zu kommen, wo ich mich dann für die
nächsten zwei Tage mit einer Wärmflasche und einer Packung Schmerztabletten ins Bett
verzog.
Am Abend vor der Hochzeit klingelte das Haustelefon und mein Vater ging ran.
»Ich schau mal, ob sie da ist«, sagte er, blickte mich an und flüsterte: »Es ist Tom. Er fragt, ob
du mit ihm reden möchtest.«
»Natürlich will ich«, antwortete ich irritiert.
Er reichte mir den Hörer.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Tom aufgebracht.
»Ja. Wieso?«, antwortete ich misstrauisch.
»Weil ich bereits seit zwei Tagen versuche, dich zu erreichen.«
»Mein Handy war die ganze Zeit an.« Ich zog den alten Knochen aus meiner Tasche. »Sorry,
der Akku ist wieder ausgefallen.«
»Damn Nina! Kauf dir doch bitte mal ein Neues. Ich hab mir echt schon Sorgen gemacht,
dass du mich gar nicht mehr sehen willst. Du bist vorgestern Hals über Kopf abgehauen.
Was war denn los mit dir?« Toms Stimmlage entnahm ich, wie besorgt er war.
»Nichts schlimmes.« Ich hab meine Regel bekommen und hatte nichts dabei.«
»Wir hätten etwas aus dem Drugstore holen können.«
»Entschuldige, daran habe ich gar nicht gedacht und außerdem hatte ich Bauchschmerzen«,
sagte ich betreten.
»Oh, das tut mir leid.«
»Ist schon gut, so ist das nun mal.«
»Sehen wir uns morgen?«, fragte Tom hörbar angespannt.
»Klar. Morgen ist die Hochzeit von Lars. Du kommst doch noch mit, oder?«
»Natürlich. Mich kann keiner davon abhalten, dich in dem Kleid zu sehen. Es ist zwar nicht
gerade sexy, aber es hat Stil. Mit der richtigen Frisur siehst du bestimmt aus wie eine
Prinzessin.«
»Nun übertreibe nicht wieder so. Mama macht mir die Haare, also erwarte lieber nicht zu
viel.«
»Mmh. ... Was hältst du davon, wenn ich gegen sieben Uhr da bin? Dann können wir noch
zusammen frühstücken ... Ist das Okay?«
»Ja, ich freu mich.«
Am nächsten Morgen um Punkt Sieben stand Tom vor der Tür. Er hatte eine Tüte Brötchen
und seinen Freund aus Berlin mitgebracht.
»Das ist Jan. Er ist ein wahrer Frisurenkünstler. Er wird euch noch hübscher machen, als ihr
es sowieso schon seid«, stellte er ihn meiner Mutter vor.
»Jan, Sie sind jetzt aber nicht extra wegen uns von Berlin hierhergekommen, oder?«, fragte
ich.
»Nein, nicht nur. Ich wollte sowieso mal wieder alte Freunde von Tom und mir besuchen.
Da kam mir die Einladung gestern Abend gerade recht.«
Dreieinhalb Stunden später hatte meine Mutter eine kunstvolle Hochsteckfrisur und meine
Haare waren à la Sissi im Nacken verknotet und mit bläulich schimmerndem Perlen bestickt.
In Toms R8 fuhren wir bei der Kirche vor und ich kam nicht umhin, das erfolgsverwöhnte
Grinsen in seinem Gesicht zu sehen, als meine Verwandten uns voller Bewunderung
anstarrten. Ich konnte mir ebenfalls ein Lächeln nicht verkneifen.
Wie immer kam er um den Wagen herum und half mir beim Aussteigen. Auch diesmal
erwartete ich eigentlich, dass er mir wieder den Arm reichte, so wie er es bisher immer getan
hatte, stattdessen hob er jedoch mein Kinn mit zwei Fingern an und schaute mir tief in die
Augen. Er senkte seinen Kopf ...
»Mann ist das ein scharfer Wagen!« Meine Cousine Simone kam geradewegs auf uns zu.
»Geil! Und dieser Mann erst dazu ... Wo hast du den denn aufgegabelt? Vielleicht gibt es
dort noch mehr davon.«
Tom lachte. »Ich muss Sie enttäuschen: Ich bin einzigartig. Mich gibt es nicht zweimal.«
»Das glaube ich gern«, sagte sie und sah Tom geradezu schmachtend an. »Sag mal, wie hast
du es bloß geschafft aus unserem Mauerblümchen eine solche Schönheit zu machen? Du hast
sie nicht zufällig unter Drogen gesetzt?«
»Hör auf!«, keifte ich sie an. Sowohl Tom als auch Simone schauten mich entsetzt an. »Du
kannst es nicht lassen. Du musst nach all den Jahren immer noch drauf rumtrampeln,
oder?«, wetterte ich weiter.
»Du vergisst deine guten Manieren«, sagte Tom tonlos.
Diesmal war ich es, in deren Augen sich das Entsetzen widerspiegelte. Ich atmete tief ein.
»Du hast recht. Es tut mir leid.« Ich wandte mich an Simone: »Entschuldige bitte.«
»Schon gut, mein Fehler. Ich hätte wissen müssen, wie du reagierst. Wahrscheinlich habe ich
der Anwesenheit von ...«, Simone stutzte, »Wie war noch mal dein Name?«
»Thomas Jefferson McAllister«, antwortete Tom freundlich.
»Ein schöner Name. Er klingt so ... gewichtig.«
»Da wo ich herkomme, bedeutet der Name McAllister auch schon einiges. Hier ist er jedoch
nur einer unter vielen.«
»Du hast ´nen tollen Akzent. Wo kommst du genau her?«
»I’m from Hawai’i«, antwortete er in fließendem Amerikanisch.
»Ist das ein echter Armani?«, fragte sie mit großen Augen, zupfte an seinem Jackett und
sprach weiter, ohne großartig Luft zu holen: »Klar ist das Armani und die Schuhe sind von
Hugo Boss. Ich erkenne so was sofort. Mein Ex-Freund hat auch immer nur
Markenklamotten getragen. Er konnte sich so was ja auch leisten, schließlich ist er ein
Schauspieler.«
»Meinst du den Letzten oder den davor?«, fragte ich mehr oder minder interessiert.
»Nein, den Letzten. Der davor war ja nur ein Sänger.«
»Der immerhin eine Goldene Schallplatte bekommen hat«, ergänzte ich trocken.
Die Kirchenglocke läutete zum Glück und wir machten uns auf den Weg hinein.
»Der Anzug ist von Hugo Boss und die Schuhe von Lloyds«, flüsterte Tom mir zu, bevor wir
die Kirche betraten.
Ich hörte wie die Anwesenden hinter vorgehaltener Hand über mein festliches Kleid und
insbesondere über Tom redeten. Es machte mir nichts aus. Ich war insgeheim sogar ein
bisschen stolz darauf, nach so vielen Jahren noch solch ein Aufsehen erregen zu können.
Als Schwester des Bräutigams hatte ich den Vorteil, mit in der ersten Reihe sitzen zu dürfen,
fernab von Simone.
Tom nahm den Platz zwischen mir und meiner Großmutter ein, was ein weiteres lautes
Getuschel der Anwesenden verursachte.
Es wurde ein wahrlich schöner Gottesdienst und nach der Trauung sollte es in den örtlichen
Tanzsaal gehen.
Tom nahm meinem Vater bereitwillig den Rollstuhl von Großmutter Elisabeth ab: Sie litt seit
einigen Wochen unter ihrem Rheuma und ihr Zustand verschlechterte sich von Tag zu Tag.
Für nichts auf der Welt hätte sie jedoch die Hochzeit ihres einzigen Enkelsohnes verpasst
und hatte sich deshalb einen Rollstuhl gekauft.
Auf dem Weg zum Gasthof kam Simone mir erneut in die Quere. Sie hielt mich am Arm fest
und so blieb mir nichts anderes übrig, als stehen zu bleiben und mit ihr zu reden.
»Ich wollte mich noch mal für vorhin entschuldigen.«
»Schon gut«, antwortete ich brav.
»Es ist nur ... Ich war nur so überrascht, dass ausgerechnet du mit so einem Dressman
auftauchst. Vor Jahren wäre er dir ebenbürtig gewesen, aber heute nicht mehr«, sagte sie
nahezu herablassend.
»Was soll das Simone? Auch, wenn ich ein paar Narben davongetragen habe, so sieht man
sie mir dennoch nicht an.« In mir machte sich Enttäuschung darüber breit, dass meine
Cousine, die einst meine beste Freundin war, mich nun für unattraktiv hielt.
»Nein, so meinte ich das nicht.« Sie sah mich forschend an. »Bist du dir sicher, dass er der
Richtige für dich ist? Nina, du solltest dir lieber nicht zu viel Hoffnung auf eine feste
Bindung machen. Ich kenne solche Typen, sie wollen nur ihren Spaß mit dir und dann lassen
sie dich fallen, wie eine heiße Kartoffel.«
»Du redest jetzt sicher von dir und deinen Freunden. Tom ist nicht so einer und außerdem
sind wir nur gute Freunde.«
»Freunde, dass ich nicht lache. So wie der dich anstarrt, will der was von dir. Aber bitte,
wenn du ihn nicht haben willst. Ich könnt ja mal mein Glück versuchen. Du weißt ja, für ein
bisschen Spaß bin ich immer zu haben.«
»Tu, was du nicht lassen kannst«, sagte ich tonlos, doch in meinem Innern machte sich auch
Wehmut breit. Was wenn sie Recht hatte? Konnte ich wirklich damit leben, wenn Tom mich nicht
nur als seine Kumpelfreundin ansieht? Oder noch schlimmer … hoffte ich es sogar? Auf dem Absatz
drehte ich mich um und eilte ihm und Großmutter Elisabeth hinterher.
»Sie sollten mal den Tee von meinem Großvater ausprobieren, der kann Wunder bewirken«,
bot Tom ihr an.
»Ja, die Wirkung von Heilpflanzen sollte man nicht unterschätzen. Schon die alten
Hexenmeister wussten um deren Geheimnisse.«
Wovon reden die da bloß? Doch bevor ich weiter zuhören konnte, wandte Tom sich mir zu.
»Na alles geklärt?«, fragte er amüsiert.
»Ja! Sie wird ihr Glück bei dir versuchen«, bemerkte ich lapidar.
Tom lachte, doch das Lachen erklomm nicht seine Augen.
Vor dem Essen fügten unsere Nachbarn eine kleine Unterhaltungsrunde ein, indem sie ein
Gedicht aufsagten und passend dazu ein paar Geschenke an das Brautpaar übergaben.
Das Essen selbst war sehr lecker, kam aber geschmacklich nicht an die Gerichte ran, die ich
in den vergangenen Wochen mit Tom genossen hatte. Der Wein hingegen mundete mir sehr.
Selbst Tom nahm sich noch ein Gläschen, obgleich er noch nach Hause fahren wollte.
Kurz nach dem Dessert eröffneten Lars und seine frischangetraute Frau Miriam den Tanz
mit dem obligatorischen Schneewalzer.
Unsere Eltern, ihre Eltern, sowie die Trauzeugen wurden als Nächstes aufs Parkett geholt,
dann wurden die Geschwister auf die Tanzfläche gerufen.
Wie abgesprochen kam der Nachbarssohn Moritz sofort auf mich zugelaufen, um mich auf
die Tanzfläche zu führen.
Tom, der inzwischen schon parat stand, schien äußerst irritiert, als ich die Einladung
annahm.
»Entschuldige, das war bereits seit Monaten abgesprochen«, konnte ich ihm gerade noch
zuflüstern, da waren Moritz und ich auch schon aus seiner Sichtweite geschwebt.
Als der Walzer zu Ende war, machte ich mich gleich auf die Suche nach ihm, doch zunächst
fand ich nur Simone. »Hast du meinen Begleiter gesehen?«, fragte ich sie.
Sie hob ihren Kopf an und deutete hinter mich.
Als ich mich umdrehte, sah ich direkt in Toms Augen. Das traurige Aufflackern in ihnen war
nicht zu übersehen und in mir machte sich ein mulmiges Gefühl breit.
»Entschuldige. Lange bevor ich dich kannte, hatte ich Moritz schon den Schneewalzer
versprochen. Ich hatte es nur vergessen, er aber leider nicht.«
»Dafür schuldest du mir einen Tanz im Nachtblauen.«
»Das ist nicht dein Ernst?!« Allein die Vorstellung mich in diesem Hauch von Nichts aufs
Parkett zu begeben, verursachte mir Magengrummeln.
»Doch ist es.« Sein Gesichtsausdruck unterstrich wie ernst er es meinte.
»Okay. Ich geh mit dir tanzen, aber nicht in diesem Kleid.«
»Bitte Nina. Ich möchte nächsten Mittwoch mit dir tanzen gehen und ich wünsche mir, dass
du das blaue Chiffonkleid anziehst.«
»Warum kein anderes?«
»Weil ich sehen möchte, wie du in dem Kleid aussiehst, wenn du nicht kreidebleich am
Boden liegst.« Er zwinkerte mir zu, doch sein Ton ließ mich wissen, wie sehr er es sich
wünschte.
Durch die vielen Weine ermutigt, nickte ich schließlich zustimmend, obwohl mir immer
noch flau im Magen war.
Moritz tauchte wieder auf und bat mich zum Tanz.
Bevor ich jedoch etwas sagen konnte, fauchte Tom leise: »Douche Bag … Get lost!«
Moritz zuckte genauso erschrocken zusammen, wie ich.
In einem überaus freundlichen Ton fuhr Tom dann jedoch fort. »Entschuldige, aber Nina ist
mit mir hier und ich würde auch gerne einmal mit ihr tanzen, wenn das in Ordnung geht.«
Geknickt verschwand Moritz aus unserem Blickfeld.
»Musste das sein?«, fragte ich ihn, immer noch ganz entsetzt.
Tom schüttelte kaum merklich den Kopf. »Nein, wohl kaum.« Er grinste, doch das Lächeln
erreichte auch diesmal nicht seine Augen. »Jetzt habe ich mich wohl im Ton vergriffen,
was?«
»So kann man es auch nennen.«
»Dann sind wir wohl quitt …«
Meine Mutter kam und unterbrach unseren Zwist. »Nina, Tom! Wir wollen jetzt unser
Geschenk überreichen. Kommt ihr?«
Gemeinsam übergaben wir Lars einen Umschlag mit zwei Flugtickets nach Oahu, Hawaii.
»Aber der Flug ist so teuer ... Vielen, vielen Dank.« Lars war sichtlich gerührt. »Nina hast du
etwa ...?«
Mein Vater unterbrach ihn. »Keine Sorge. So teuer war der Flug nicht. Tom hat da seine
Beziehungen spielen lassen und für die Unterkunft hat er auch gesorgt.«
»Mein Cousin Ben stellt euch für drei Wochen die Stadtwohnung in Honolulu zur
Verfügung. Sie steht sowieso die meiste Zeit leer …«, klinkte Tom sich jetzt ins Gespräch ein.
»Dann muss ich ja in meinen Flitterwochen kochen«, murmelte Miriam leise dazwischen.
»Nein, musst du nicht«, wandte er sich jetzt ihr zu. »Ben sagt, dass das gesamte Personal,
inklusive der Köchin, euch selbstverständlich auch zur Verfügung steht. Ihr dürft euch quasi
wie zu Hause fühlen und auch den Pool und alle anderen Gemeinschaftsanlagen des
Wohnkomplexes benutzen.«
»Cool«, erwiderte sie mit einem strahlenden Lächeln..
Dann drehte er sich zu Lars: »Und dir lässt Ben ausrichten, dass du ihn anrufen sollst, wenn
du Hilfe bei deinen Recherchen brauchst. Er hat gute Kontakte zu den wichtigen Leuten auf
Oahu und ist gerne bereit sich ein wenig Zeit für dich zu nehmen. Die Nummer ist im
Haustelefon gespeichert.«
»Nochmals, vielen, vielen Dank.« Lars war jetzt den Tränen nahe. Ich sah ihm an, wie
unendlich glücklich er war, dass er die Chance erhielt Großvater zu finden, bevor Elisabeth
von uns geht, was aufgrund ihres derzeitigen Gesundheitszustandes leider nur noch eine
Frage der Zeit war.
Miriam indes umarmte Tom stürmisch. »Supi! Ich flieg nach Hawaii! Wow ist das toll!!!«
»Naja, ich hab ja nur ein paar Telefonate geführt, mehr nicht.« Zum ersten Mal, seit ich ihn
kannte, lächelte Tom verlegen und für einen Augenblick hatte ich das Gefühl den wahren
Thomas Jefferson McAllister zu sehen.
Doch der Zauber der Situation verflog, als Moritz mich tatsächlich erneut zum Tanz
aufforderte. Wo eben noch eine Träne der Rührung aufblitzte, durchzog nun ein Schatten
seine Augen.
Tom fand ich später an der Theke wieder. Er war gerade dabei, sich einen doppelten
Weinbrand zu genehmigen. Und gleich darauf stieß er mit meiner Cousine Simone auf
Brüderschaft an. Sie umschlang Tom mit ihren Armen, küsste ihn wild und innig. Er
erwiderte diesen Kuss zwar nicht, doch ließ er es, mit geschlossenen Augen, widerstandslos
zu.
Unsicher, was ich davon halten sollte, blieb ich in einiger Entfernung stehen.
Von hinten fasste mich Moritz um die Taille – für einen Moment war ich steif vor Schreck:
Jeder andere hätte dafür meinen Ellbogen zu spüren bekommen, nur Moritz nicht. Wir
waren schon seit dem Kindergarten Freunde und er war einer der wenigen, die mich nicht
dafür verurteilten, was mir als Jugendliche zugestoßen war. Er hielt zu mir, auch wenn
andere mit dem Finger auf mich zeigten. Ja, Moritz, war einer der wenigen Männer, die mich
heute noch berühren durften, ohne dass ich ihm Schaden zufügte.
»Möchtest du noch mal mit mir tanzen?«, fragte er mich freundlich.
Mit einem Blick auf Tom, der sich inzwischen aus Simones Umarmung gepellt hatte, sagte
ich: »Gern!«
Als ich nach drei weiteren Tänzen zurückkehrte, war Tom gerade dabei mit meinem Onkel
Klaus über die neuesten technischen Fortschritte zu lamentieren.
Simone schmiegte sich von hinten an Tom heran und legte wie selbstverständlich die Arme
um seinen Bauch.
Dieser verzog seinen Mund zu einer schmalen Linie, nahm ihre Hände und schob sie nach
hinten weg. »Sorry, aber ich bin nicht an dir interessiert.«
»Aber an Nina … diesem Mauerblümchen?«, presste sie zwischen ihren Zähnen hervor.
Tom drehte sich halbwegs zu ihr um. »Auch, wenn es dich nichts angeht: Ja, bin ich! Also
geb dir keine Mühe. Zwischen uns wird nichts laufen.«
»Na dann viel Glück. Bei der beißt du dir die Zähne aus. Mit mir hättest du wenigstens ein
wenig Spaß haben können, aber bitte …« Sie zuckte mit der Schulter, drehte sich auf dem
Absatz um und ging schleunigst davon.
»Nina. Komm her«, mein Onkel Klaus winkte mich heran.
Tom wirbelte herum und sah mich mit großen Augen an.
Wie konnte ich nur so blind sein? Simone hatte recht: Er will mich ins Bett kriegen. Mit
zusammengekniffenen Augen schüttelte ich den Kopf und ging davon.
Es dauerte keine zwei Minuten, bis Tom mich im Garten der Gaststätte fand. »Engel …?!«
Ohne etwas zu sagen, wollte ich an ihm vorbei wieder reingehen, aber er hielt mich am Arm
fest. Instinktiv drehte ich mich um und verpasste ihm eine Ohrfeige, deren Knall in einem
Donner unterging.
Sofort ließ er mich los. »War das nötig?«
»Ja!«, erwiderte ich böse. »Du hast mich die ganze Zeit belogen. Du sagtest du willst mein
Freund sein, doch in Wirklichkeit willst du mich nur flach legen!«
»Nein so ist das nicht … Ich will dein Freund sein, aber ich wünsche mir auch mehr Nähe zu
dir.«
»Das kannst du vergessen …«, zischte ich und eine kalte Windbö zog durch die
Gartenanlage. »Nicht, nachdem du uns alle so getäuscht hast«, keifte ich, während ein Blitz
den nächtlichen Himmel erleuchtete.
»Das habe ich gar nicht …«, murmelte er dazwischen, doch ich war so wütend, dass ich es
nicht hören wollte.
»Selbst meine Eltern haben dir vertraut.« Ein weiterer Donner dröhnte in nicht allzu großer
Entfernung. »Wie konntest du uns das antun?« Ich fühlte eine Träne meine Wange
hinunterrollen, während ein paar Regentropfen auf das Pflaster plätscherten.
»Engel bitte … das siehst du völlig falsch. Johannes weiß um meine Gefühle für dich. Er war
es sogar, der mir dazu riet, erst deine Freundschaft zu suchen. Er sagte, ich soll dich mit
Samthandschuhen anfassen, wenn ich überhaupt nur den Hauch einer Chance erhalten
will.«
Ich fühlte wie seine Worte sämtliche Farbe aus meinem Gesicht weichen ließ und meine Wut
wandelte sich in Furcht »Was hat er dir erzählt?«
»Nicht viel. Nur, dass du schlechte Erfahrungen gemacht hast.«
»Mehr weißt du nicht?«, während ich das sagte, rieb ich mir meine nackten Arme, auf deren
Haut sich vor Kälte eine Gänsehaut gebildet hatte.
»Ich weiß nur, dass dein letzter Freund dich sitzen ließ, nachdem der davor dir schon übel
mitgespielt hat.« Er schüttelte energisch den Kopf: »Es tut mir leid. Ich weiß jetzt, dass es der
falsche Weg war. Ich wollte dir doch nur zeigen, dass ich kein übler Kerl bin … jedenfalls
nicht so, wie die anderen beiden.« Tom legte seine flache Hand auf meine Wange und ich
wich instinktiv zwei Schritte zurück. »Okay … das war´s dann wohl. Ich … « Er lächelte
mich gequält an. »Vielleicht kannst du mir irgendwann verzeihen.« Er drehte sich um und
ging in Richtung Gartentor.
Mit offenem Mund starrte ich ihm nach, während ich innerlich mit mir selbst rang. »Warte!«,
rief ich gerade noch bevor er in der Dunkelheit gänzlich verschwand. Schnell lief ich hinter
ihm her. »Es tut mir leid. Ich mag nur ... Ich meine ... Was ich ...«
Tom unterbrach mein Gestammel: »Nina, ich will jetzt keine Erklärungen von dir.
Irgendwann bist du so weit mir zu sagen, was dich so sehr verletzt hat, dann sagst du es mir
von dir aus. Doch tu mir den Gefallen und versuch auch du mich nicht weiter an der Nase
herumzuführen. Bisher habe ich akzeptiert, dass du mir gegenüber quasi behauptet hast,
lesbisch zu sein, aber ich weiß, dass dem nicht so ist. Und, wenn dir irgendwas an mir liegt,
dann bitte ich dich, mir ein wenig Vertrauen zu schenken.«
»Wie kann ich dir vertrauen? Simone hat dich geküsst und du … du hast dich nicht dagegen
gewehrt.«
Tom verzog seinen Mund zu einem schiefen Grinsen. »Wohl wahr und weißt du auch
warum? … Als ich ihre Lippen auf meinen fühlte, stellte ich mir vor, dass du es seist, doch
ich konnte mich nicht selbst belügen.« Tom atmete hörbar aus. »Damn! Wenn ich es gewollt
hätte, wären Simone und ein halbes Dutzend anderer Frauen heute Nacht in meinem Bett
gelandet, doch seitdem ich dich kenne, kreisen meine Gedanken nur noch um dich.« Seine
Fäuste waren nun geballt, sein Körper war vollkommen angespannt »Alle anderen Frauen
sind für mich nicht mehr existent. Jede Faser meines Körpers sehnt sich nach dir und ich
kann nichts machen, als abwarten, ob du mir irgendwann mal ein Zeichen gibst, dass eine
Berührung von mir okay ist.«
»Tom … ich …« Tränen sammelten sich in meinen Augen. Ihn so leiden zu sehen, tat mir in
der Tiefe meines Herzens weh, doch mein Verstand weigerte sich noch immer, alles
Geschehene einfach zu vergessen.
»Engel es ist okay. Ich musste es nur mal loswerden. Ich verspreche dir, nichts zu tun, was
du nicht willst und ich werde auf dich warten, sofern du es möchtest. Und solltest du keine
Gefühle für mich hegen, dann möchte ich wenigstens weiterhin dein Freund sein.«
Diesmal war es an mir die Hand an seine Wange zu legen. »Ich würde dir gerne nah sein,
aber ich habe große Angst …«
Tom blickte mir tief in die Augen und flüsterte: »Ich weiß. Aber willst du ewig mit dieser
Furcht leben?«
»Nein«, hauchte ich ganz leise.
»Vertraust du mir genug, um dich von mir küssen zu lassen?«
Ich nickte kaum merklich.
Es war ein sanfter leiser Kuss, fast wie ein Flüstern und dennoch reichte er, um in meinem
Innern einen gewaltigen Sturm auszulösen.
Wie konnte ich nur so lange darauf verzichten?, fragte ich mich. Nein, ich darf es nicht zulassen, er
wird mich verführen und dann verlassen, wie Daniel. Oder noch schlimmer: Er wird mich demütigen
und verletzen, wie Markus. Selbst Simone sagt, dass er nicht gut für mich ist. In mir war ein Hin
und Her der Gefühle ausgebrochen. Tom nicht! Er wird mich nicht benutzen, erniedrigen oder
mir sonst irgendwie wehtun. Nein, wenn er es gewollt hätte, dann ...
Als ich meine Augen wieder öffnete, sah er mich verwirrt an. »So schlimm?«
Ich wiegte leicht den Kopf hin und her.
Einen Bruchteil einer Sekunde später lagen seine Lippen wieder auf den meinen. Dieser Kuss
war schon fordernder und doch genauso sanft, wie der vorherige. Langsam spielte seine
Zunge mit meinen Lippen. Ich wagte es meinen Mund einen Spalt weit zu öffnen und ließ
sie hinein. Das Gefühl, welches sich in mir ausweitete, war mir bekannt, allerdings hatte ich
vergessen, wie schön es war.
Er löste sich von mir.
Ich zitterte, doch diesmal nicht mehr vor Kälte.
»Auch wenn das Unwetter vorbeigezogen ist, sollten wir besser wieder rein gehen, Engel.«
Tom nahm mich bei der Hand und führte mich schnurstracks aufs Parkett. Ein langsamer
enger Tanz wurde gespielt. Sanft drückte er mich an sich.
»Es bedeutet mir sehr viel, dass du mir erlaubt hast, dich zu küssen«, hauchte er in mein
Ohr.
»Versprich dir nicht zu viel davon«, flüsterte ich ihm zu. »Es war nur ein Kuss.«
»Zwei Küsse«, murmelte er und liebkoste sanft mein Haar, während er mich noch enger an
sich zog.
Von da an ließen Tom und ich keinen Tanz mehr ausfallen. Selbst als die ersten Stühle auf
die Tische geschoben wurden, wiegten wir uns noch zu einem Slowfox.
Erst als Lars zu uns kam und mitteilte, dass der Gastwirt gerne Feierabend machen wollte,
rafften wir uns auf und verließen den Saal.
Tom wankte schnurstracks in Richtung Kirche.
Es dauerte einen Moment, dann begriff ich, dass er vorhatte, sich zu seinem Auto zu
begeben. »Du kannst doch jetzt nicht mehr fahren«, entrüstete ich mich.
Er hielt sofort in seinem Schritt inne. »Das habe ich auch nicht vor. Ich wollte uns nur eine
Jacke holen. Bis zu dir nach Hause sind es zwar nur ein paar Straßen, aber trotzdem müssen
wir ja nicht frieren.«
Ich sah ihn skeptisch an.
Tom wiegte seinen Kopf hin und her: »Keine Sorge, Engel. Ich bringe dich nur bis zu deiner
Haustür, dann rufe ich mir ein Taxi.«
»Quatsch! Du kannst bei uns auf dem Sofa schlafen«, bot ich ihn an.
Auf seinem Gesicht machte sich ein Lächeln breit.
Diesmal war es an mir mit dem Kopf zu schwenken: »Ich sagte auf der Couch.«
»Ich weiß!«, sagte er nur knapp.
Als wir bei mir zu Hause ankamen und das Wohnzimmer betraten, musste ich feststellen,
dass mein Vater bereits auf dem Dreisitzer lag und leise schnarchte. Peinlich berührt gab ich
kleinlaut zu, dass meine Mutter ihn immer auf dem Sofa schlafen ließ, wenn er etwas
getrunken hatte, was natürlich nur selten der Fall war.
Ich versuchte mein Glück in Lars altem Zimmer, jedoch lag bereits Onkel Klaus im Bett und
sägte lauthals einen Wald nieder. Und auch die Besenkammer - unser Raum für alles - war
bereits besetzt.
Tom versicherte mir, dass dies kein Problem darstellen würde und versuchte ein Taxi
anzurufen. Es war halb vier in der Früh und er erreichte niemanden in der Taxizentrale. »Ich
kann gerne draußen auf der Sonnenliege schlafen. Das habe ich früher auf Oahu auch öfter
gemacht. Hier rauscht zwar nicht das Meer, doch es macht mir nichts aus«, lachte er.
»Hauptsache ich finde einen Platz zum Schlafen.«
Der Alkohol zeigte seine Wirkung. »Du schläfst bei mir im Bett!«, entschied ich. »Es ist groß
genug für zwei.«
»Okay. Aber du gehst zuerst ins Bad. Und nimm dir was Nettes für die Nacht mit. Du willst
bestimmt nicht, dass ich dich nackt sehe, oder?«, er versuchte amüsiert zu klingen, doch sein
Unterton war auffordernd.
Als ich zehn Minuten später in mein Zimmer kam, hatte ich ein altes schlabbriges T-Shirt
von Lars und meine verknitterte Schlafanzughose an.
»Unter nett versteh ich was anderes«, lachte Tom. »Ich glaube, ich muss mal deinen
Kleiderschrank ausmisten.« Er entledigte sich seines Hemdes.
»Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich in Spitzenwäsche zu dir ins Bett krieche,
oder?«, blaffte ich ihn an.
»So meinte ich das natürlich nicht! Mir ist schon klar, dass du heute Nacht nicht mit mir
schlafen wirst. Aber wer weiß ...«, Tom zog seine Hose aus und stand nur noch in einem
engen, dunkelblauen Slip vor mir.
Meine Augen verengten sich. »Träum weiter.«
»Mit dir an meiner Seite habe ich bestimmt süße Träume«, grinste er. Über seinem
Mundwinkel bildete sich wieder mal ein kleines Grübchen.
Ich verschränkte indes meine Arme und biss mir auf die Unterlippe.
»Ach komm, Nina. Ich bin schon froh, dass ich dich endlich küssen darf. Meinst du wirklich,
ich werde das aufs Spiel setzen?« Er kam auf mich zu und streichelte mir sanft über die
Wange. Dann nahm er mich bei der Hand und führte mich rüber zu meinem Bett. Zuerst
warf er sich auf die linke Seite des Bettes. Mit seiner flachen Hand tippte er auf den freien
Platz neben sich.
Schnell legte ich mich auf die mir zugewiesene Stelle, drehte mich von ihm ab und
murmelte: »Gute Nacht.«
Tom nahm meine rote Leinendecke und legte sie vorsichtig über meinen Körper, dann
küsste er mich aufs Haar. »Good Night«, flüsterte er und rollte sich bis an den anderen
Bettrand.
Mit einem seligen Lächeln auf den Lippen, schloss ich meine Augen. Schon kurze Zeit später
befand ich mich in einem Traum:
Ich stand im weichen weißen Sand und sah dem tosenden Meer bei seinem Spiel zu. Plötzlich schoss
ein Adler, nur Millimeter von meinem Gesicht entfernt, an mir vorbei. Für ein paar Sekunden konnte
ich dem Tier in die Augen sehen und fand nur dunkle Leere. Mein Blick folgte dem Jagdvogel auf
seinem Flug. Ein hellblau leuchtender Schatten tauchte am Horizont auf und der Adler jagte
hinterher.
Schweißgebadet erwachte ich aus diesem Traum.
Tom musste meine Unruhe gespürt haben, denn er legte seinen Arm um meine Hüfte und
zog mich nah an sich heran.
Eingehüllt in seine sanften Arme, berauscht von seinem Duft nach Iris, fiel ich in einen
traumlosen Schlaf.
Erinnerungen werfen ihre Schatten
Die Sonne stand schon im Zenit, also musste es gegen Mittag sein. Für einen Moment wusste
ich nicht, wo ich war. Nur mit einem Herrenhemd bekleidet lag ich in einem fremden Bett
und über mir war der wolkenfreie Himmel zu sehen. Die Wärme der Sonne kam jedoch
nicht bei mir an. Ob es an der Isolierung des Glases lag oder am Alkohol vom Vorabend,
konnte ich nicht sagen, ich fröstelte und zog die Decke über meinen Kopf. Ein Hauch von Iris
umhüllte mich.
So sehr ich mich auch bemühte, ich konnte mich an die letzte Nacht nur in Bruchstücken
erinnern. Immer wieder flimmerten mir Bilder von Tom durch den Kopf, wie er mich küsste
oder umarmte. Doch ob es Fragmente aus einem Traum oder der Wirklichkeit waren wusste
ich nicht. Das Einzige, dessen ich mir sicher war, war dass ich am vorherigen Abend mein
Versprechen Tom gegenüber eingelöst hatte und ich mit ihm im blauen Kleid ausgegangen
war.
Ein Geräusch riss mich aus meinen Gedanken, jemand flüsterte leise. Ich schlug die braune
Seidendecke zur Seite und setzte mich auf.
Tom saß am Ende des Bettes, mit dem blanken Rücken zu mir und telefonierte. Er trug
lediglich eine schwarze Boxershorts.
Mein forschender Blick durchs Zimmer ließ Schlimmes ahnen: Überall lagen Sachen von mir
und ihm herum. Das nachtblaue Chiffonkleid lag auf einer Chaiselongue – der Rock war
eingerissen.
»Mom bitte ... Ich leg jetzt wirklich auf. Es war eine sehr lange Nacht und ich hatte kaum
Schlaf«, flüsterte Tom leise.
Der Himmel über mir verdunkelte sich zusehends und so konnte ich nur noch schemenhaft
erkennen, dass Toms Jackett verknüllt über einem Stuhl hing und mein Slip davor auf dem
Boden lag.
»Also bis dann«, hörte ich ihn sagen und dann piepste sein Telefon kurz auf.
Auch körperlich hatte der Abend seine Spuren hinterlassen: Meine Lippen fühlten sich heiß
und spröde an. Meine Haare waren wild verknotet und meine Oberschenkel schmerzten.
Meine Beine tun weh, hämmerte es in meinem Kopf. »Was hast Du mir angetan«, schrie ich
ihn an.
Er sprang vom Bettrand und drehte sich postwendend zu mir um.
Doch ich war mindestens genauso schnell auf den Füßen. Trotz schmerzender Schenkel
stand ich jetzt mitten auf dem Bett in Angriffsposition. Meine Hände waren zu Fäusten
geballt und meine Knie zum Sprung angewinkelt.
»Mach mal halblang«, bemerkte er überrascht und hob seine Hände abwehrend in die Höhe.
»Ich hab wirklich nichts gemacht, was du nicht auch wolltest.«
Das war zu viel! Genauso schnell, wie der Blitz am Firmament über uns hinwegjagte, sprang
ich vom Bett und verfehlte sein Kinn nur aufgrund seiner geschickten Reaktion.
Bevor ich mich versah, hatte er mich im Schwitzkasten. Er umklammerte mich fest, aber er
tat mir nicht weh und schnürte mir auch nicht die Luft ab. »Kannst du dich bitte mal
beruhigen?«, fragte er mit einem leicht amüsierten Unterton in der Stimme, der mich jedoch
erst recht auf die Palme brachte.
Meine Hände griffen nach seinen Armen, um mich zu befreien. Ich stöhnte und, wie erhofft,
lockerte er sofort seinen Griff. Die Gelegenheit ließ ich mir nicht entgehen und stieß ihm mit
meinem Ellenbogen in die Seite.
»Damn, Engel, das hat jetzt wirklich wehgetan«, fluchte er und krümmte sich vor
Schmerzen, dabei ließ er mich los.
Sofort nahm ich meine Angriffsposition wieder ein. Diesmal war ich gewappnet: Ich würde
treffen. In Gedanken sah ich bereits mein Knie unterhalb seines Magens und meine Faust in
seinem Gesicht, doch er kam nicht wieder hoch.
Tom ließ sich auf den Boden sinken.
Ich zuckte: Was habe ich getan? Nein, was hatte er mir angetan? Wie schlimm ist er verletzt? Wie
weit hat er mich verletzt? Meine Gefühle schwankten unmittelbar zwischen Sorge und
Verachtung hin und her.
Tom nutze meine Verwirrung aus und stieß mich mit einer schnellen Bewegung aufs Bett.
Meine Arme hatte er dabei geschickt unter meinen Rücken geklemmt. Überlegen grinste er
mich an und über seinem Mundwinkel bildete sich eine Kerbe. »Beruhig dich Engel. Nicht,
dass sich einer von uns noch weh tut«, sagte er leise.
Doch seine Worte drangen gar nicht mehr zu mir durch: Die Angst übermannte mich
förmlich und der Raum um uns herum hüllte sich in tiefste Dunkelheit. Meine Gedanken
wurden neun Jahre zurückgeworfen: Es war nicht mehr Tom, der auf mir saß. »Markus«,
flüsterte ich heiser. Meine Überlebensinstinkte wurden geweckt. »Du Schwein! Du wirst mir
nie wieder wehtun!« Auf diese Situation hatte ich mich acht Jahre vorbereitet. Immer und
immer wieder musste Lars diese Übung mit mir durchgehen, bis ich sie im Schlaf
beherrschte.
Mit einer schnellen Bewegung schmiss ich ihm meine Beine über Kreuz an den Hals und
drückte ihn nach hinten weg.
Tom stöhnte und versuchte sich aus meinem Klammergriff zu befreien.
Ich ließ jedoch nicht locker und drückte ihm mehr und mehr die Luftzufuhr ab. Doch dann
passierte etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte - etwas was ich noch nie trainiert hatte was ich noch nie trainieren konnte: Tom fiel nach hinten vom Bett.
Sofort sprang ich hinterher und stand nun breitbeinig über ihm. Meine Fäuste waren immer
noch geballt. Ich holte zum Schlag aus.
»Stopp«, rief er. »Du gehst zu weit!« Seine weit aufgerissenen Augen starrten mich kurz an,
dann bildete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Und außerdem bietest du mir gerade eine
schöne Aussicht.«
Erst jetzt wurde ich mir meiner Blöße bewusst. Von einem Augenblick zum nächsten war ich
wieder in der Wirklichkeit. Ich wankte und verlor das Gleichgewicht, dadurch fiel ich
rücklings und knallte mit dem Kreuz gegen das Bett. »Aaah«, entfleuchte es mir.
Tom sprang mit einem Satz vor mir in die Hocke. Doch anstatt, mich anzuschreien oder mich
erneut anzugreifen, fragte er besorgt: »Hast du dich verletzt?«
»Ja«, keuchte ich. Der Schmerz durchbohrte mich, er brannte sich von meinen Rücken quer
durch meinen Körper. Ich krümmte mein Rückgrat durch.
»Ich ruf einen Krankenwagen«, sagte er besorgt.
»Nein«, schnaufte ich und kniff die Augen zusammen. »Keinen Arzt! Es geht schon wieder«,
ich holte tief Luft und hielt sie an, dadurch flachte der Schmerz tatsächlich ab.
Als ich meine Augen wieder öffnete, hockte Tom immer noch neben mir und beobachtete
mich genau. Der Schmerz war jetzt erträglich und ich setzte mich auf.
»Du bist tatsächlich eine ebenbürtige Gegnerin. Bin mal gespannt, mit was du mich als
Nächstes überrascht.« Langsam bildete sich wieder das Grübchen über seinem Mundwinkel.
»Kannst du Tango tanzen?«, fragte er mich.
Schlagartig wurde es wieder hell im Raum. Ich schüttelte den Kopf. Das kann nicht wahr sein.
Ich hab ihm in den Magen geboxt, ihn fast erwürgt, vom Bett geschmissen und um mein Leben
gekämpft und er tut so, als ob das alles nur ein Spiel ist. Ich schubste ihn um.
Er blieb einfach auf dem Hosenboden sitzen und hakte nach: »Du kannst keinen Tango? Das
enttäuscht mich jetzt aber sehr. Ich dachte nach dem Salsa gestern, dass du auch den Tango
beherrscht.«
»Salsa?«, keuchte ich.
»Du hast kaum noch eine Erinnerung an gestern Abend, oder?«
Ich nickte. Ich erinnerte mich nur dunkel: Da ich vor neun Jahren das letzte Mal ein so
knappes Kleid in einer Disco getragen hatte, genehmigte ich mir zur Beruhigung meiner
Nerven bereits zu Hause zwei oder drei Kurze, bevor Tom mich abholte. Meine Angst war
jedoch völlig unbegründet: Tom hatte für uns das Kaminzimmer eines Restaurants
reserviert, sodass nur das Personal uns sehen konnte.
Es war wieder einmal ein tolles Essen: Tom bestellte sich ein Rinderfilet mit Gamba,
Champignons und Cognac, während ich mich für Kalbfleisch mit Parmaschinken und
Weißweinsoße entschieden hatte. Zusammen mit dem trockenen Rotwein war das Essen die
reinste Gaumenfreude.
»Der Bordeaux beim Essen hat dir schon ganz schön zugesetzt. Du hättest eigentlich nichts
mehr trinken dürfen. Aber du hast nicht auf mich gehört und dir sogar eine Flasche
mitgeben lassen. Die Marie-Jeanne hast du dann im Stadtpark leer getrunken«, drang seine
Stimme in meine Gedanken ein.
Meine Erinnerungen kamen wieder: Wir verließen das Restaurant und schlenderten Arm in Arm
durch die Straßen. Der Wein schmeckte köstlich und Toms Küsse waren sinnlich. Zuletzt lagen wir
am See im Stadtpark oder war es in einem privaten Garten? Ich konnte mich nicht genau erinnern.
Jedenfalls leuchtete über uns der Sternenhimmel, während wir uns immer wieder küssten. Ich schloss
die Augen, als ob ich die Erinnerung so für immer festhalten könnte.
»Später in der Lounge haben wir getanzt. Den Salsa konntest du perfekt.«
Wieder schwirrten mir Bilder vom Vorabend durch den Kopf. Ich sah mich tatsächlich Salsa
mit ihm tanzen. Eine Gänsehaut lief mir über den Rücken. In meinem Magen fing es an zu
kribbeln und mein Herz pochte ganz unruhig.
»Nach dem dritten Cocktail in der Lounge konntest du gar nicht mehr richtig laufen. In
diesem Zustand konnte ich dich nicht nach Hause lassen, deswegen bist du hier bei mir.
Deine Eltern habe ich gestern Nacht noch angerufen.«
Trotz intensivster Anstrengungen konnte ich mich nicht mehr daran erinnern, wie ich
herkam und was dann geschah.
»Hast du …«, ich schaute an mir runter und dann blickte ich ihn wieder an. »Ich meine,
haben wir ...?«
»Nein! Wir haben nicht miteinander geschlafen«, die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht
geschrieben.
»Warum nicht?«, die Neugierde war, größer, als die Scham.
»Sorry, aber ich schlafe nicht mit Frauen, die unter Alkoholeinfluss stehen. Das gibt
hinterher nur ...«
»... Ärger«, beendete ich seinen Satz.
Er nickte. »Ich muss gestehen, ich war noch nie so nah dran, es trotzdem zu versuchen. Du
kannst ganz schön verführerisch sein«, er lächelte mich verschmitzt an.
»Aber, wenn du es nicht mal versucht hast, wie komme ich dann in dein Hemd und wieso
tun mir die Schenkel so weh?«
»Nun die Beine tun dir so weh, weil du unfreiwillig einen Spagat gemacht hast: Unten im
Foyer bist du ausgerutscht. Und mein Hemd lag gestern Abend noch am Fußende des Bettes.
Vermutlich hat Denise es dir heute Nacht angezogen. Ich kann es aber nicht genau sagen, da
ich nur dabei geholfen habe, dich hier hereinzubringen. Da René, Denise und Jan die
Gästezimmer besetzt haben und ich nicht Sunnys Zimmer benutzen wollte, schlief ich im
Wohnzimmer auf dem Sofa«, er lächelte freundlich. »Ich bin nur hier rein gekommen, weil
ich mein Handy suchte. Es war noch im Jackett.« Sein Ton ließ mich eine gewisse
Anspannung erkennen.
Merkwürdig. Tom ist immer so spendabel. Ich durfte sein Hemd tragen, in seinem Bett schlafen und
sogar seinen teuren Sportwagen fahren, aber, wenn es um sein Handy geht, ist er wie verwandelt.
Plötzlich fiel mir etwas anderes ein.
»René und Denise ... sollte ich die beide kennen?«, fragte ich ganz erstaunt.
»Eigentlich schon. Schließlich hast du mit Jan und René zusammen Karaoke gesungen und
mit Denise ausführlich über Männer und ihre Eigenarten philosophiert.«
»Ohje, es tut mir leid. Ich hoffe, du bist nicht zu mies dabei weggekommen.«
»Keine Sorge … bin ich nicht.« Er grinste bis über beide Ohren. »Im Gegenteil: Du hast mir
gesagt, dass du dich in mich verknallt hast.«
»Was? ... Ich soll ... es tut mir leid. Ich weiß nicht mehr, was ich gestern gesagt oder getan
habe«, stammelte ich.
»Also bist du nicht in mich verliebt?«, hakte Tom nach. Die Enttäuschung schwang ein klein
wenig in dieser Frage mit.
»Tom, ich mag dich ... Ich mag dich sogar sehr. Das kannst du mir glauben! Wirklich!«
Flehend sah ich ihn an. Ich wollte ihm nicht wehtun, aber es musste sein. Meinen Gefühlen
durfte ich nicht endgültig nachgeben. Es gab keine Wahl. Wenn ich ihm oder mir erst mal
gestand, dass ich etwas für ihn empfand, gab es für mich auch kein Zurück mehr. Doch diese
Option konnte und wollte ich noch nicht aufgeben.
»Und was ist, wenn ich dir sage, dass es bei mir ein bisschen mehr ist, als nur mögen?« Er
sah mich forschend an.
Betreten senkte ich meinen Blick. Ich durfte zwar nie mehr einem Mann die Gelegenheit
geben, mir wehzutun, dass ich aber mal einen verletzen könnte, dem ich vielleicht etwas
bedeutete, war das Letzte, womit ich jemals gerechnet hatte. Ich war ratlos und beschämt
zugleich.
»Engel, ich hab mich in dich verliebt.« Er hob mein Kinn mit zwei Fingern an. Eindringlich
sah er mir in die Augen. »Kannst oder willst du meine Gefühle nicht erwidern?«
»Ich ... ich will nicht!« Ich stand auf, verschränkte meine Arme und biss mir auf die
Unterlippe.
Tom stellte sich vor mich. »Why not? Ich verstehe es nicht. Gestern Nacht warst du mir noch
zugetan und jetzt tust du so, als würde ich dich auffressen wollen.«
»Gestern Nacht war ich nicht ich selbst ... Ich war betrunken«, flüsterte ich.
»Ja, du warst betrunken. Doch du warst auch du selbst ... nicht diese Maske, die du mit dir
trägst. Nein, gestern Nacht hast du mir dein wahres Wesen offenbart.«
»Das war mein Alter Ego. Heute bin ich ein anderer Mensch«, antwortete ich bissig, doch
mein Widerstand bröckelte bereits zunehmend bei seinem Anblick.
»Ein Mensch bleibt immer derselbe. Du kannst dich weiterhin verstellen, doch ich kenne jetzt
dein wahres Wesen. Mich kannst du nicht mehr blenden. Ich habe deine Nähe ... dein
Verlangen gespürt. Gestern Nacht hättest du dich mir hingegeben, wenn ich es gewollt
hätte.« Er zog mich an sich und küsste mich leidenschaftlich.
»Ich würde dir so gern vertrauen …«, nuschelte ich unter seinen Küssen.
Tom hielt für einen Moment inne. »Das kannst du. Sag einfach nur Stopp und ich höre auf«,
flüsterte er mir zu. Sein Atem bewirkte bei mir eine kleine Gänsehaut und kurz darauf
berührten meine Lippen die seinen.
Toms linke Hand glitt über meinen Rücken hoch zu meinem Nacken und dann in meine
Haare. Die Rechte senkte sich hinunter und mit einer leichten Umdrehung lag ich in seinen
Armen. Ohne die Lippen von meinen zu nehmen, legte er mich aufs Bett. Seine Linke wühlte
mir immer noch durchs Haar, während er mit der rechten Hand den obersten Knopf meines
Hemdes öffnete. Gleichzeitig glitten seine Lippen über meine Wange an mein Ohr. »Nur ein
Wort von dir …«, hauchte er. Sein Mund glitt weiter an meinen Hals hinunter bis zu meiner
linken Schulter. Dort küsste er mich noch einmal und sah mich dann erwartungsvoll und
wiederum fragend an, als ob er von mir die Erlaubnis einholen wollte, weitermachen zu
dürfen.
Ich lächelte mit der Sonne um die Wette. Ja, ich will, dass du weiter machst. Meine Furcht
ignorierte ich.
Seine Lippen legten sich wieder an meinen Hals und langsam sanken sie Richtung Kehlkopf
und von dort in Richtung Brustbein. Vorsichtig öffnete er einen weiteren Knopf des Hemdes.
Ich weiß nicht mehr, ob es diese Bewegung war, oder weil seine rechte Hand von meiner
Kniekehle aufwärts rutschte, jedenfalls drehte ich mich fluchtartig aus seiner Umarmung
heraus und setzte mich mit angezogenen Beinen auf den Bettrand. Meine zittrigen Hände
hielt ich schützend vor mein Gesicht, während das Zimmer sich erneut in Dunkelheit hüllte.
Er keuchte. »Damn! Was hat er dir bloß angetan? I could beat him!«
Einen Augenblick später fühlte ich seine Finger an meiner Schulter und ich zuckte ein wenig
zurück. Tom hielt für einen Moment inne und legte dann die ganze Hand auf meinen
Rücken.
Mein Körper zitterte unter dieser Berührung, doch seine Hand blieb ganz ruhig liegen, als
wenn er mir die Gelegenheit geben wollte, mich gegen sie zu wehren: Ich tat es nicht.
Während er sich neben mich setzte, rutschte sein linker Arm um meine Schulter. Ich konnte
mich in diesem Moment nicht mehr länger zurückhalten: Ich warf mein Gesicht an seine
Brust und weinte. Mein Körper bebte und meine Hände krallten sich in seinem nackten
Rücken fest, während die ersten Regentropfen auf das Glasdach prallten.
Tom richtete sich kurz auf und atmete tief ein. Eine Sekunde später saß er wieder still neben
mir und hielt mich einfach nur in seinen Armen: Jede Träne brachte mich dem Ende eines
sehr sehr langen Tunnels näher.
Nach einer Ewigkeit schluchzte ich: »Du brauchst ihn nicht zu verprügeln. Papa und Lars
haben das bereits erledigt: Jetzt hinkt der Dreckskerl und seine Nase sitzt schief.«
»Und du meinst, das reicht aus?«, fragte Tom ungläubig.
Ich nickte nur leicht: Ich wollte, nein, ich konnte ihm nicht alles erzählen. Jetzt jedenfalls
noch nicht!
»Er hat dich geschändet und wurde dafür lediglich verprügelt?«, schlussfolgerte Tom.
Vehement schüttelte ich den Kopf. »Nein, bevor er mich vergewaltigen konnte, kamen Papa
und Lars mir zur Hilfe.« Ich schluckte. »Allein die Erinnerung daran ...«, ich wischte mir ein
paar Tränen aus dem Gesicht, »macht mir heute noch riesige Angst. Oh, ich war so dumm
und einfältig damals. Wie konnte ich ihm nur so vertrauen.«
»Du gibst doch wohl nicht etwa dir die Schuld? Dich trifft bestimmt keine Schuld. Du musst
dir vergeben, was es nicht zu vergeben gibt.«
»Aber ich habe ihn damals eingeladen und in mein Zimmer gelassen. Ich war es, die ihn
zuerst geküsst und ihn sogar auf mein Bett gezogen hat.«
»Aber du warst auch diejenige, die Nein gesagt hat, stimmt´s?«
Ich nickte.
»Also trifft dich keine Schuld.«
»Wenn ich das nur glauben könnte, wäre vieles so viel einfacher.«
»Schau mich an, Engel«, er hob abermals mein Kinn an. »Dich trifft keine Schuld, das kannst
du mir glauben. Im Grunde bin ich noch immer ein Fremder für dich und dennoch mache
ich nichts mit dir, was du nicht auch willst.«
»Du magst ja recht haben, aber es fällt mir nur so verdammt schwer, damit klarzukommen.
Ich kann das alles nicht einfach vergessen und so tun, als ob es nie geschehen wäre. Dieser
Vorfall hat mich verändert. Mein ganzes Leben wurde in einer Nacht komplett aus der Bahn
geworfen und seitdem ...«, ich stockte. »Es tut mir leid, ich kann nicht weiter darüber
sprechen.«
Tom zog mich an sich heran. »Es ist okay. Einen Teil deiner Geheimnisse kenne ich jetzt.
Und wenn du dazu bereit bist, wirst du mir mehr erzählen. Du hast etwas an dir, was mich
magisch anzieht und allein deswegen werde ich warten.« Er streichelte mir sanft über den
Arm. »Weißt du, ich habe noch nie eine Frau so umwerben müssen, wie dich! Aber ich bin
mir sicher, dass sich das Warten lohnen wird.«
»Und weißt du eigentlich, dass du der Erste bist, der mir seit fünf Jahren so nah sein darf,
ohne sich gleich eine Ohrfeige einzuhandeln?«
Tom lachte. »Stimmt nicht! Eine Backpfeife habe ich bereits bekommen und dein Rippenstoß
war auch nicht gerade eine Liebkosung.«
»Sorry«, flüsterte ich verlegen.
»Ich verzeihe dir, wenn du mir versprichst, das Geschehen zu vergessen und anfängst ein
normales Leben zu leben.« Die Strenge in seiner Stimme gab mir zu verstehen, dass es keine
Bitte, sondern vielmehr eine Aufforderung war, der ich nur zu gern Folge leisten würde,
wenn ich dazu in der Lage wäre.
Ich hob meinen Kopf hoch und blickte ihm in die Augen. »Das Einzige, was ich dir
versprechen kann, ist, dass ich es versuchen werde.«
Er nickte nur leicht und so legte ich meinen Kopf wieder zurück an seine Brust und harrte
der Dinge, die noch folgen würden. Wie auf Kommando fing mein Magen an zu knurren.
Tom lachte laut auf. »Jetzt weiß ich auch, wie wir anfangen. Wir gehen zum Italiener um die
Ecke und lassen es uns richtig gut schmecken.«
Immer noch leicht betrübt sagte ich: »Geht nicht. Ich habe nichts anzuziehen« und deutete
auf das kaputte Chiffonkleid.
»Das ist das kleinste Problem. Während du duschen gehst, suche ich dir etwas aus Sunnys
Schrank raus. Meine Cousine Samantha kommt alle paar Wochen her, um ihre Einkäufe hier
in Europa zu erledigen und was ihr nach dem Kaufrausch nicht gefällt, bleibt einfach hier.«
Ich glaubte, einen seltsamen Unterton in seiner Stimme zu vernehmen, doch bevor ich weiter
nachhaken konnte, klopfte es und Tom rief: »Come in.«
Langsam trat Denise ins Zimmer. »Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber wir wollten gerne
etwas essen gehen.«
»Den Gedanken hatten wir auch gerade«, antwortete Tom, diesmal nahezu tonlos.
»Vielleicht könntest du mir gleich René herschicken, damit er mich verarztet.«
»Der ist gerade unter die Dusche gehüpft. Kann ich dir vielleicht helfen?«
»Nein ich brauche was von der Paste, die ich ihm von meinem Großvater gab.« Tom drehte
sich leicht zu Denise um.
Erst da bemerkte ich, dass ich ihm den Rücken und die Arme zerkratzt hatte.
Denise kicherte. »Na Tom, da hast du dir ja mal eine Wildkatze eingefangen.«
Gezielt schnappte er sich ein Kissen und warf es gegen die Tür. »Ich hab euch die ganze
Nacht gehört und jetzt verschwinde!« Als er sich mir wieder zugewandt hatte, grinste er
immer noch. »Wo sie recht hat, hat sie recht!«
Mit einem herzerfrischenden Lachen ließ er sich aufs Bett zurückfallen und riss mich mit. Er
beugte sich über mich und küsste sanft meine Stirn.
»Es tut mir leid«, sagte ich.
»Braucht es nicht, es ist ja nicht deine Schuld.« Ein leichtes Grinsen breitete sich auf seinem
Gesicht aus. »Darf ich ihm noch mal die Nase brechen, wenn ich ihn mal treffe?«
»Ja, darfst du«, schmunzelte ich und kroch weiter aufs Bett.
Tom robbte sich hinterher. »Ich weiß da etwas viel Besseres: Ich entblöße ihn, schmiere
Honig über seinen Leib und binde ihn auf einer Kuhweide an einen Baum.«
Trotz der Ernsthaftigkeit in seinem Gesicht, oder gerade wegen dieser, verfiel ich in ein
schallendes Gelächter. Vor meinem geistigen Auge sah ich Markus splitterfasernackt an
einen Baum gebunden, umringt von kleinen Kälbchen, die ihm genüsslich den Honig vom
Körper schleckten.
Ob dieses amüsanten Anblicks konnte ich mich nicht mehr beherrschen und zog Tom zu
meinen Lippen und küsste ihn wild und leidenschaftlich, wie ich seit Ewigkeiten keinen
Mann mehr geküsst hatte. Im Eifer des Gefechts zerrte ich ihn so nah an mich heran, dass er
mit nackter Brust auf meiner lag. Da mein Hemd inzwischen schon halb aufgeknöpft war,
konnte ich seine Haut an meiner spüren. Die Lust überkam mich wie ein Sturm und ich
wagte es, weiter unter ihn zu rutschen und meine Finger über seinen samtweichen Rücken
bis zu seinem Gesäß und dann nach vorne gleiten zu lassen.
Tom stöhnte. Seine Hände rutschten schnell zu meinem Hemd und er bemühte sich, die
letzten Knöpfe zu öffnen.
Meine Lippen glitten derweil über seine Brust und meine Hände streichelten erneut über
seinen Rücken. Ich atmete einen Hauch von Iris ein, während ich seine Haut liebkoste.
Tom stöhnte erneut. Seine linke Hand wühlte sich jetzt durch mein Haar, seine rechte lag auf
meiner Brust und streichelte sie zärtlich. Sanft küsste er mich auf den Mund.
Sein heißer Atem war kurzerhand nah an meinem Ohr. »Vertrau mir«, hauchte er mir zu
und glitt hinunter zu meiner Brust, um diese zu liebkosen.
Lediglich ein Wispern entfuhr mir. Ich war gefangen in diesem Schwall von Gefühlen und
doch wusste ich nicht, ob ich bereit dazu war, mich ganz darauf einzulassen.
Er hob den Kopf: »Du zitterst ja wie Espenlaub.« Tom senkte sich wieder zu mir hinab und
flüsterte: »Sag´s mir bitte, wenn ich zu weit gehe.«
Statt einer Antwort zu geben, lehnte ich meinen Kopf an seine Brust und sog abermals den
Duft nach Iris ein.
Erneut fühlte ich seinen Mund an meinem Hals. Von dort wanderte er weiter abwärts bis zu
meinem Bauchnabel, wobei seine Hände mit ihm hinunterrutschten und jetzt die Stelle
berührten, wo eben noch sein Mund war.
Das Ziehen in meinem Unterleib wurde stärker. Erregt bäumte ich mich auf. Meine Hände
krallten sich in seinen Haaren fest, um ihn noch dichter an mich zu drücken.
»Langsam, Engel. Du bekommst gleich, was du begehrst«, lachte Tom heiser und rutschte
wieder hoch zu meinem Gesicht, um mich erneut zu küssen. »Ich muss nur an die Schublade
mit den Kondomen«, sagte er leise. »Schließlich ist es für eine Familienplanung noch zu
früh.«
»Ich ... ich kann … das noch nicht«, flüsterte ich und mit einem Mal verschwand der Zauber
der letzten Minuten im Nichts. Ich löste mich von ihm und kletterte aus dem Bett.
»Nina, Engel. Wir müssen auch nicht …« Tom streckte die Hand nach mir aus, doch ich
wehrte ihn mit einem Blick ab und knöpfte das Hemd wieder zu.
»Ich würde gerne duschen«, sagte ich tonlos.
Tom setzte sich auf und in seinen Augen konnte ich die Wut und Enttäuschung über sich
selbst erkennen. »Die Tür da«, sagte er und deutete auf eine Schiebetür in der Wand, die
einen Spalt weit offen stand.
Ohne ein weiteres Wort ging ich hindurch und schlüpfte umgehend unter die Dusche.
Ein Anruf führt zum Aufbruch
Eine halbe Stunde später saßen wir in einem italienischen Restaurant in der Nähe von Toms
Wohnung und aßen zu Mittag Pasta.
Kurz nach dem Essen verabschiedeten sich Toms Freunde und ich nutzte die Gelegenheit,
um mehr über ihn und seine Familie zu erfahren.
»Sag mal … das vorhin am Telefon, war das deine Mutter?«
»Yes!« Tom strahlte über das ganze Gesicht. »Meine Mom hofft, dass ich eines Tages nach
Noelani zurückkehre.« Für einen Moment blickte er sehnsüchtig ins Leere. »Deswegen ruft
sie mich jeden Sonntag an und erzählt mir das Neueste vom Neuesten.«
»Moment mal!«, unterbrach ich seinen Redefluss. »Zeittechnisch gesehen, hinken die uns auf
Hawaii aber nur einen halben Tag hinterher.« Ich blickte auf meine Uhr. Es war 1 Uhr 30
Mittags. »Dort ist es jetzt halb 2 Uhr nachts und zwar Donnerstag, genauso wie hier. Also ist
es auf keinen Fall Sonntag … «
»Kluges Kind«, unterbrach Tom mich und zwinkerte mir zu. »Seit ein paar Wochen, ruft sie
täglich an, um nicht nur mir alles von Hawaii zu erzählen, sondern um sich vielmehr nach
dir zu erkundigen.«
»Nach mir?!«, ich war ich wahrlich überrascht.
»Yes. Ich war so frei und habe ihr von dir erzählt und nun quetscht sie mich täglich über
dich und mich aus.« Tom nahm meine Finger in seine Hand und streichelte über meine
Knöchelchen. »Mom kommt in einer Woche, um hier etwas Geschäftliches zu erledigen und
sie würde dich gerne kennenlernen.«
»Findest du das nicht noch ein wenig zu früh?«, fragte ich ihn verunsichert. In mir kämpfte
die Nervosität gegen die Neugier und, als ob das nicht schon genug Aufruhr in mir
verursachte, meldete sich auch noch die Stimme der Kartenlegerin zu Wort: »Makuahine.«,
flüsterte sie mir zu.
»Mutter«, sprach ich es laut – zu laut - aus.
»Wie bitte?«, fragte Tom überrascht.
»Deine Mutter ist doch wohl nicht so ein Schwiegermonster, oder?« Was Besseres fiel mir
grade nicht ein.
Tom lachte aus der Tiefe seines Herzens. »Ein Schwiegermonster?!« Erneut lachte er. »Meine
Mom ist der gütigste Mensch, den ich kenne. Ein Schwiegermonster …« Er kriegte sich bald
gar nicht wieder ein und es vergingen noch einige Momente, bis er mich wieder ernsthaft
ansah. »Du brauchst vor ihr keine Furcht haben.«
»Hab ich auch nicht«, antwortete ich ihm ehrlich. »Nur wir … ich meine unsere Beziehung
…«
Der Kellner stand plötzlich neben unserem Tisch und Tom bestellte zwei Gläser
Champagner.
»Unsere Beziehung«, übernahm er jetzt das Wort, »ist noch recht frisch. Ich weiß. Deswegen
habe ich sie ja auch gebeten, ihre Reise ein wenig zu verschieben, sonst wäre sie ja schon vor
einer Woche hier gewesen. Aber ich wollte erst das mit dir in trockenen Tüchern wissen,
bevor ich dich meiner Mom vorstelle.«
Mich überkam plötzlich ein ganz merkwürdiges Gefühl, welches sich noch mehr verstärkte,
als der Champagner auf den Tisch gestellt wurde und Tom eine kleine Schachtel aus seinem
Jackett zog.
»Du wirst ja wohl jetzt nicht um meine Hand anhalten?!«, fragte ich ihn, noch bevor der
Ober aus unserer Hörweite war.
Tom lachte laut auf, schob mir aber zugleich das samtumhüllte Kästchen zu.
»Was ist das?«, fragte ich leise. Gänsehaut bildete sich trotz der Hitze im Raum und ich
konnte ein leichtes Zittern nicht unterdrücken, als meine Finger über den Samt strichen.
»Das ist ein kleines Geschenk und es wäre mir eine Freude und eine Ehre, wenn du es
annehmen würdest.«
Seine Worte machten mich noch nervöser. Langsam hob ich den Deckel ab. Gott sei Dank,
durchfuhr es mich, denn ich hätte wirklich nicht gewusst, welche Antwort ich ihm gegeben
hätte. Denn eins war für mich glasklar: Dieser Mann, mit dem hinreißenden Lächeln hatte
mehr Einfluss auf mich, als jeder andere Mensch auf der Welt, und wenn er etwas von mir
wünschte, so war ich gewillt, es ihm zu erfüllen. Fast so, als wenn mein Seelenfrieden von
ihm abhing.
In der Schachtel lag ein Armband. Es war genauso geschmiedet wie die Halskette, doch es
hatte keinerlei Anhänger. Während ich es umlegte, hauchte ich: »Danke!«
»Eigentlich wollte ich es dir übermorgen, zu unserem einwöchigen Zusammensein geben«,
spitzbübisch lächelte er mich an. »Aber ich finde, jetzt ist der richtige Zeitpunkt dafür
gekommen. Jetzt, wo du dich mir endlich ein wenig geöffnet hast.«
Ich stützte mich auf und gab ihm einen zärtlichen Kuss. »Das vorhin tut mir leid. Ich bemühe
mich ja, aber …«
Tom legte seinen Zeigefinger auf meinen Mund. »Lass uns einfach den Tag genießen, so wie
er kommt, okay?«
Zustimmend nickte ich.
Fünf Minuten später gingen wir aus der Trattoria. Tom hatte mir zwar, passend zum
inzwischen wieder wolkenlosen Himmel, ein luftiges weißes Sommerkleid mit riesigem
Blütendruck gegeben, dennoch konnte ich vor Hitze kaum atmen und so gingen wir ins
nächste Gebäude, welches sich als eine Galerie entpuppte.
Obgleich der Laden nicht gerade überlaufen war, bekam ich von der Ausstellung nicht viel
mit, meine Gedanken waren in Toms Apartment zurückgewandert.
Liebe ich ihn?, fragte ich mich. - Ich wusste es wirklich nicht. Ja, ich mag ihn. Ich mag ihn sogar
sehr, aber lieben? In Gedanken fasste ich nach dem Anhänger an meiner Kette und erneut
schossen mir Bilder durch den Kopf:
Vor meinem inneren Auge erschienen wieder die Eule und der Adler. Beide jagten an mir vorbei. Und
auch diesmal griff der Adler zu. Ein schmerzerfülltes Kreischen hallte in meinen Ohren und der blaue
Schimmer der Eule verwandelte sich in einen blutroten Schein. Der Adler kam mit seinem Fang auf
mich zugeflogen und ließ seine Beute vor meine Füße fallen. Ich kniete mich nieder und wollte gerade
die weiße Eule hochheben, als diese im Nichts verschwand. Zurück blieb nur ein hellrotes B im Sand.
»Gefällt dir die Kunstsammlung?«, hörte ich Tom wie durch eine Nebelwand fragen. Dabei
legte er eine Hand auf meine Schulter, wodurch er mich endgültig in die Realität
zurückholte.
Das letzte Bild verschwand im Nichts und nach einigen Sekunden, in denen mich ein
schwerer Kopfschmerz durchzog, ließ ich meinen Blick durch den Raum streifen und nahm
zum ersten Mal die verschiedenen Gegenstände wirklich wahr. Als ich das ausgestellte
Skelett mit dem rosa Tutu sah, brach ich in schallendem Gelächter aus. Ehrlich antwortete
ich: »Nein. Es gleicht mehr einem Zirkus, als einer Kunstausstellung.«
Er lachte. »Bin ganz deiner Meinung. Lass uns gehen ... es sind nur zehn Minuten bis zu
meiner Wohnung.«
Wir brauchten nur Acht.
Mit seiner Keycard öffnete Tom die Tür zum Gebäude. Galant, wie er war, hielt er auch diese
Tür für mich auf, dabei fiel ihm seine Kartensammlung herunter.
Ich rauschte förmlich an ihm vorbei und schwebte in Richtung des Fahrstuhls davon.
»Hallo, Sie ... junges Fräulein.«
Ich drehte mich um.
»Ja, Sie meine ich«, sagte der mir noch unbekannte Pförtner, der aus dem Seitenflügel des
Gebäudes hervorkam und auf mich wies. »Sie können hier nicht einfach so reinspazieren.
Das sind alles Privatwohnungen von erlesener Kundschaft.«
Tom brachte sich unbemerkt hinter dem Hauswart in Stellung. »Gibt es ein Problem,
Anton?«, fragte er.
Der Hausangestellte wirbelte herum. »Guten Tag Herr McAllister. Es ... es tut mir leid, aber
diese Frau«, er zeigte auf mich, »wollte sich unerlaubt Zutritt verschaffen.«
»Die junge Dame, Anton, gehört zu mir. Felix hat sie bereits in die Gästeliste aufgenommen«,
antwortete Tom freundlich, aber bestimmend.
»Sie meinen das Fräulein war schon mal Ihr Gast?«, fragte der Concierge ungläubig.
»Es geht Sie zwar nichts an, aber ja, Miss Lorenz war bereits zweimal zu Besuch und wird es
wohl noch öfter sein. Es wäre also von Vorteil, wenn sie mir eine dritte Keycard besorgen
könnten, damit Miss Lorenz jederzeit in mein Apartment kann«, forderte Tom ihn auf.
Der Pförtner sah mich verdutzt an und mir stieg die Röte in die Wangen.
Tom verdrehte die Augen und räusperte sich.
Anton wandte sich spontan wieder Tom zu. »Selbstverständlich. Ich werde mich gleich
darum kümmern. Wäre es Ihnen in zehn Minuten recht?«
Jetzt sah Tom zu mir herüber und ließ sein Grübchen über den Mundwinkeln aufblitzen: »In
zwei Stunden würde es uns besser passen.«
Die Röte steigerte sich zu einem Rot. Ich drehte mich um und ging in Richtung Fahrstuhl. Ich
wollte mich nicht so präsentieren.
»Ach, und bevor ich es vergesse: Miss Lorenz ist gestern Nacht hier ausgerutscht. Sie sollten
den Boden noch mal mit einem lösungsmittelhaltigen Reiniger polieren«, es war eine
Aufforderung, die keinen Widerspruch duldete. »Und so glatt, wie der Boden ist, wohl
zweimal.«
»Jawohl Sir«, antwortete Anton kleinlaut.
Mit schnellen Schritten kam Tom hinter mir her und fasste mich am Arm. »Lass uns gehen.
Ich kann solche Opportunisten nicht leiden«, raunte er mir zu und schob mich sanft in den
Fahrstuhl.
Anton warf uns noch einen finsteren Blick zu, bevor die Tür sich schloss.
Tom knurrte: »Wenn der dich noch mal erniedrigt, werfe ich ihn raus!«
»Hey, komm wieder runter!«, bat ich ihn. »Er wusste doch nicht, dass ich dein Gast bin.«
»Du verstehst es nicht, oder?«, raunte Tom mich an. »Niemand darf dich so behandeln.«
Ohne ein weiteres Wort, zog er mich an sich, küsste mich geradezu besitzeinnehmend und
entblößte meine Schulter, was angesichts des schmalen Trägers nicht sehr schwer war. Er
küsste meine Wange und glitt hinab zu meinem Hals. »Nobody!«, murmelte er in meine
Halsbeuge hinein, woraufhin ich eine Gänsehaut bekam.
Ich schloss meine Augen und hob den Kopf an. Als ich die Lider öffnete, schaute ich direkt
in die Kamera. Sofort stieß ich Tom von mir weg.
»Was ist Engel? Bin ich zu grob gewesen?«, fragte er wahrlich überrascht.
»Nein ... ich mag nur keine Zuschauer«, bemerkte ich trotzig und schaute nach oben. Sein
Blick verriet mir, dass er von der Kamera wusste. »Was glaubst du eigentlich, wer du bist?
Ich bin nicht dein Spielzeug!«, fauchte ich ihn an.
»Sorry ... ich wollte dem Spießbürger nur mal zeigen, wer du bist«, sagte er betreten. »Es hat
mich einfach aufgeregt, wie herablassend er dich behandelt hat.«
»Ach und du meinst, seine Einstellung zu mir wird sich ändern, wenn er mich halb nackt
sieht?«
»Nein, aber wenn er sieht, wie du dich gegen meine Aufdringlichkeit wehrst.« Er grinste
mich an und meine aufkeimende Wut verrauchte sofort.
»Du bist ein ganz schön verschlagener Hund ... Tom McAllister.«
»Ich weiß, aber gerade das magst du doch so an mir. Gib es ruhig zu.«
»Ein wenig vielleicht.«
Wieder küsste Tom mich, doch diesmal war es ein zärtlicher warmer Kuss.
Der Fahrstuhl hielt im vierten Stock. Langsam drängte ich ihn heraus, ohne jedoch seine
Lippen von meinen zu lassen.
Während wir uns weiter liebkosten, schob Tom die Keycard unbeholfen durch das Lesegerät
seiner Haustür. Küssend betraten wir seine Wohnung und, noch bevor wir im Wohnzimmer
waren, hatte er mir das Oberteil des Kleides vollends abgestreift. Nun hatte er einen direkten
Blick auf den spitzenbesetzten BH, den ich trug. Wider Erwarten fühlte ich mich nicht
einmal unwohl in meiner Haut. Im Gegenteil: Toms Nähe sorgte dafür, dass es mir gut ging
und die Gänsehaut, die mir jetzt den Rücken hinunterlief, einer anderen Quelle als Furcht
entsprang.
Er ging einen Schritt zurück, betrachtete mich und pfiff leise. »Von einer grauen Maus zu
einer verführerischen ...« Bevor er den Satz vollenden konnte, spielte sein Handy eine sanfte
Melodie. »Sorry, ich muss drangehen! Wenn Hawai’i Ponoʹi ertönt, ist es jemand von meiner
Ohana und die rufen um diese Uhrzeit nicht einfach so an. Es ist auf Oahu jetzt 2.30 Uhr in
der Nacht.«
Er berührte den grünen Icon und sagte: »Aloha« Einen Moment später wurde er ganz blass
und stammelte ins Telefon. »Accident ... Nicht Sophie, nicht Bens Wahine ... Ala, Pali, Moana
... probably death. Yes. … Charles okay … Aloha« Tom legte auf, fuhr sich mit seiner Hand
übers Gesicht und durch seine Haare. An seinem Hinterkopf ließ er seine Finger innehalten.
»Ich muss nach Hause fliegen.« Er atmete tief aus. »Bens Frau Sophie, ist heute Nacht von
der Straße abgekommen und über die Klippen ins Meer gestürzt. Ob sie überlebt hat, weiß
man noch nicht. Bisher konnten sie nur den Wagen bergen ... er war leer.« Er nahm seine
Hand vom Kopf und seine Haare standen nun wild nach allen Seiten ab.
Wenn es nicht eine so ernste Situation gewesen wäre, hätte ich mir einen dummen Spruch
wohl nicht verkneifen können, doch so stand ich nur rat- und hilflos da und blickte ihn
mitleidsvoll an.
»Tu mir bitte den Gefallen und achte aufs Handy.« Er übergab mir sein IPhone und ich
spürte in diesem Moment, dass ihm dieses Ding zum ersten Mal unwichtiger war als alles
andere. »Mom versucht gerade ihren Schwager Charles zu erreichen, damit ich bald
abfliegen kann. Ich geh derweil duschen und mich reisefertig machen.«
»Ist gut.«
Tom schenkte mir noch ein leichtes Lächeln und verschwand dann in sein Badezimmer.
Es dauerte keine zwei Minuten, da ertönte wieder Hawai’i Ponoʹi. »Aloha. This is Nina
Lorenz speaking.«
Eine freundliche Stimme antwortete auf Deutsch: »Hallo Nina, hier ist Christine McAllister,
Toms Mutter. Wie geht es Ihnen?«
»Gut. Danke der Nachfrage. Tom ist gerade duschen. Ich soll die Flugdaten
entgegennehmen.«
»Ja richtig. Ich habe Charles angerufen. Er versucht gerade einen Flug von Bremen aus zu
organisieren. Das dauert leider noch ein wenig und er schickt die Daten via Mail.
»Okay, ich werde es Tom ausrichten.«
»Nina?«, Christine Stimme klang ein wenig nervös.
»Ja«, antwortete ich unsicher, weil ich nicht wusste, was ich von ihrem Ton halten sollte.
»Nach allem, was Tom mir von Ihnen erzählt hat, glaube ich, dass er sich wünscht, dass Sie
ihn begleiten.« Die Neugier in ihrer Stimme ließ sich nicht verhehlen.
»Entschuldigen Sie meine Direktheit, aber ist es nicht eher Ihr Wunsch als seiner?«, fragte ich
ohne Umschweife.
Ein glockenhelles Lachen ertönte am anderen Ende der Leitung. »Sie haben mich ertappt.
Wobei ich mir allerdings auch sicher bin, dass es in seinem Sinne ist.«
»Aber ich kann mich doch nicht einfach bei ihm unterhaken …« In mir kämpfte die Vernunft
gegen den Wagemut. Wenn ich jetzt nachgeben würde, bedeutete es für mich, dass diese
Romanze zu etwas Ernstem geworden ist. Andererseits machte sich die Unruhe in mir
wieder breit.
»Bitte Nina. Kommen Sie mit. Er braucht Sie jetzt an seiner Seite. Ich kenne meinen Sohn und
weiß, dass er Ihre Unterstützung nötig hat. Wissen Sie, es fällt ihm unheimlich schwer nach
Noelani zurückzukehren und die Umstände seiner Heimkehr sind alles andere als glück…«
»Warum? Was ist so Schreckliches passiert, dass er nicht nach Hause will?« Die Unruhe
ergriff mich nun von der Haarwurzel bis zur Zehenspitze und ich fühlte die Antwort auf das
Rätsel greifbar nahe.
Christine sog hörbar Luft ein. »Das ist etwas, das er Ihnen selber erzählen muss. Aber
glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass es ihm hilft, wenn Sie mitkommen.« Für einen
Moment herrschte Stille. »Bitte Nina, bringen Sie mir meinen Sohn zurück.«
»Ich … ich weiß nicht …« Ihre Worte klangen so herzzerreißend ehrlich und Hilfe suchend
und ließen mich noch mehr wanken.
Tom stand plötzlich hinter mir und streichelte mir über meine nackten Arme. Er hauchte mir
einen Kuss auf meinen Hinterkopf. »Was will meine Mutter von dir?«, flüsterte er in mein
Haar.
»Bitte Nina …«, hörten wir sie aus weiter Ferne sagen, als ich ihm das Telefon übergab.
»Hier frag sie selbst«, antwortete ich ihm und ging gedankenversunken zu seiner Bar. Auf
der einen Seite freute ich mich: Tom ist auch immer für mich da. Er hat mich aus meiner Lethargie
gerissen. Jetzt kann ich wohl auch mal für ihn da sein. Doch auf der anderen Seite hatte ich ein
schlechtes Gewissen: Tom und Christine wissen nichts von meiner Aufgabe. Wie sollen sie auch
ahnen, dass ich seine Freundschaft nur zugelassen habe, weil eine Kartenlegerin, die mich in meinen
Träumen verfolgt, dazu zwingt. Ich wusste, dass ich der Lösung des Rätsels nie wieder so nah
kommen würde, wie auf Oahu. Die innere Unruhe machte sich weiterhin in mir breit und
vertrieb ein wenig die Gefühle, die ich inzwischen für ihn hegte.
Immer noch in einem Hin- und Her von Gedanken versunken, nahm ich die nächstbeste
Flasche, die mir nach einem Weinbrand aussah, aus dem Regal. Ich ging mit der Flasche und
zwei Gläsern zu Tom hinüber, der inzwischen auf dem Sofa saß und mit seiner Mutter auf
Hawaiianisch telefonierte.
Bei ihm angekommen, öffnete ich die Pulle und goss jeweils einen großzügigen Schluck in
die Stielgläser. Eins davon reichte ich Tom, der gerade sein IPhone zur Seite legte.
»So … so, Mom hat also versucht dich zu überreden, mitzufliegen.«
Zur Bestätigung nickte ich nur und nippte kurz an meinem Glas, was sofort einen starken
Hustenanfall bei mir auslöste.
Tom klopfte mir sanft auf den Rücken, bis der Hustenreiz nachließ. »Geht´s wieder?«, fragte
er und grinste mich an. Er leerte sein Glas in einem Zug, doch als er die Flasche sah, musste
auch er husten und bekam große Augen.
»Was habe ich nun schon wieder angestellt?«, fragte ich entsetzt.
Er zog mich auf seinen Schoss, sah mir tief in die Augen und sagte, mit immer noch kratziger
Stimme: »Nichts wirklich Schlimmes, Engel. Du hast mich nur gerade ein paar Hundert
Dollar gekostet.« Er zeigte auf die Flasche, auf dessen dunklem Etikett in überwiegend rotgoldener Schrift ´Speymalt from Macallan Distillery Single Speyside malt scotch whisky
1950´ stand. »Dies ist die Spitzenabfüllung von Gordon & MacPhail. Ein erstbefülltes
Sherryfass! Aromatischer Rauch und viel seidige europäische Eiche und Sherry verbinden
sich zu einem der besten erhältlichen Macallan Whiskeys.« Er goss sich noch einen Schluck
ein und kippte ihn hinunter. »Eigentlich wollte ich ihn ja erst zu meiner Hochzeit öffnen.«
Bestürzt wollte ich aufspringen, er hielt mich jedoch mit sanftem Druck fest und nuschelte
mir zu: »Jetzt musst Du mich wohl oder übel heiraten.«
Bevor ich darauf eingehen konnte, schrillte sein Handy. »Das müssen die Flugdaten sein«,
kreischte ich heiser.
»Lies du bitte die Mail ... ich brauch noch einen Moment, um wieder klar zu werden.«
Zumindest weiß er, dass er übergeschnappt ist, dachte ich und öffnete die Nachricht. »Wir sollen
um 16.00 Uhr beim General Aviation Terminal sein.«
»Hast du gerade, WIR gesagt?«, fragte er ungläubig.
»Ja, hab ich«, wobei mir das jetzt selbst erst bewusst wurde. »Deine Mom bat mich
mitzukommen und ich möchte dich gerne begleiten. Es sei denn, du willst mich nicht
mitnehmen.«
»Doch, doch natürlich. Ich würde mich sehr freuen. Glaubst du etwa, du würdest eine
Keycard von mir bekommen, wenn ich dich nicht ständig bei mir haben wollte?«, fragte er
mich. »Ich bin nur überrascht, dass du meine Familie doch so schnell kennenlernen willst.«
»Ich auch! Aber da deine Mom mich so lieb eingeladen hat und ich gerne mal nach Hawaii
…«
»Engel! Keine Erklärungen bitte. Wir wollten doch den Tag genießen, so wie er kommt ...«
»Stimmt!« Nach einem kurzen Blick auf die Handyuhr sagte ich: »Mist! Es ist gleich 14.30
Uhr. Nach Hause schaffe ich es nicht mehr. Am besten geh ich sofort los, um mir das
Nötigste zu kaufen.«
»Nicht so eilig. Du kannst dir Kleidung von Sunny nehmen. Wie schon gesagt, Samantha
braucht sie nicht und es wäre doch schade, wenn die Sachen weiterhin im Schrank
verstauben. Die Größe passt ja und stehen tun sie dir bestimmt auch. Eine Zahnbürste hab
ich auch noch auf Vorrat. Doch zu allererst solltest du deine Eltern anrufen und dann etwas
Bequemeres anziehen. Es wird ein sehr langer Flug. Wir werden ungefähr 24 Stunden
unterwegs sein«, sagte er freundlich.
Selbstredend benutzte ich für den Anruf sein Handy. Tom schaute wieder ein wenig
missbilligend drein, sagte aber keinen Ton dazu. Meine Mutter war zwar nicht wirklich
begeistert, aber was sollte sie schon machen? Ich war schließlich schon 26 Jahre alt.
Nachdem Tom ihr dann alle relevanten Adressen und Telefonnummern von seiner Familie
und auch die vom FBI genannt hatte, gab sie den Hörer wohl an meinen Dad weiter, denn
Tom sagte: »Aloha Mister Lorenz ... Sorry, Johannes ... Oh, ich glaube, die Warnung kommt
zu spät, aber trotzdem Danke. Goodbye.« Tom steckte das Handy in seine Tasche.
»Was hat Paps nun schon wieder für einen Blödsinn geredet?«
»Dein Dad hat mir Folgendes gesagt: ‘Ich weiß, dass du gut auf meine Kleine aufpasst. Pass
aber auch auf dich auf. Nina kann ganz schön grob werden‘.« Tom brummte, als würde er
versuchen, die tiefe Stimme meines Vaters, nachzuahmen.
»Männer! Man kann nicht mit, aber auch nicht ohne sie leben«, schimpfte ich leise vor mir
hin und drehte mich auf dem Absatz um.
»Wo willst du hin?«, fragte Tom mich.
»Ich mach mich auf die Suche nach Sunnys Zimmer.«
»Warte, ich zeige dir den Weg. Du brauchst dafür die Keycard. Der Raum ist im
abgesicherten Teil der Wohnung, direkt neben meinem Arbeitszimmer.« Tom nahm mich bei
der Hand und zog mich ins Gäste-WC, an dessen Tür ein großes Schild hing, auf dem
‘Betreten auf eigene Gefahr’ stand. An der linken Seite schob er die Karte in einen Schlitz.
Sofort öffnete sich die Wand und Tom führte mich vor die Tür von Sunnys Zimmer.
»Nimm dir alles, was du brauchst und was dein Herz begehrt. Ich geh inzwischen noch was
in meine Tasche packen. Wer weiß, wie lange wir zwei auf Noelani bleiben.«
Allein ging ich ins Zimmer, um meine, oder besser gesagt, Sunnys Sachen zu packen.
In der Ecke des Raumes waren drei rote Koffer verschiedenster Größe und ein dazu
passendes Beautycase aufgereiht. Sofort entschied ich mich für den mittleren Trolley und
legte ihn geöffnet auf das Bett. Dann stand ich jedoch eine geschlagene Viertelstunde vor
diesem riesigen Kleiderschrank und konnte mich nicht entscheiden, welche Sachen ich für
die Reise einpacken sollte. Ich konnte nicht anders: Ich rief Tom zu Hilfe.
»Was ist los, was ist passiert?«, kam er besorgt ins Zimmer gestürmt.
Diesmal konnte ich mir das Grinsen nicht verkneifen. »Ich hab keine Ahnung, was ich
mitnehmen soll. Hat Sunny denn nicht irgendwo ein paar normale Jeans, einfache Pullover
und T-Shirts? Normalerweise trage ich schlichte Kleidung. Außerdem befürchte ich auch,
dass deine Familie einen falschen Eindruck von mir bekommt, wenn ich mit so einem
Glitzerzeug behängt dort auftauche«, dabei zeigte ich auf ein funkelndes Neckholdertop.
Tom schmunzelte: »Du machst dir doch nicht wirklich Sorgen, dass du in einem Haus voller
Millionäre einen schlechten Eindruck in einem diamantenbesetzten Designer Top
hinterlassen könntest? Also mir macht vielmehr Sorgen, dass du ein wertvolles
Kleidungsstück zu einem Lumpen degradierst. Du solltest wirklich anfangen dich mit dem
Gedanken anzufreunden, dass Kleider nicht nur vor Kälte, Hitze oder fremden Blicken
schützen sollen, sondern viel mehr sind. Die richtige Kleidung öffnet dir alle Türen dieser
Welt.«
Ich schluckte. »Diamanten?«
Jetzt verzog er seine Mundwinkel nach unten. »Ist doch egal, was dran hängt. Hauptsache es
sieht gut aus. Und bis jetzt haben alle Kleider, die wir zusammengekauft haben, umwerfend
an dir ausgesehen.« Er ging zum Kleiderschrank und nahm Pullis, T-Shirts, Jeanshosen,
kurze Hosen, Strickjacken, ein paar luftige Kleider und sogar zwei Abendkleider aus dem
Schrank. Jedes Kleidungsstück hatte einen besonderen Touch: Sie waren in prächtigen
Farben bedruckt, mit auffälligen Stickereien versehen oder einfach nur extravagant
geschnitten. Und, als wenn das noch nicht genug wäre, ging Tom auch noch an die im
Schrank eingebauten Schubladen und nahm mindestens ein Duzend verschiedenfarbige
Dessous aus den unterschiedlichsten Stoffen und Farben und mehrere verschiedenfarbige
Negligés heraus. Zum Schluss legte er noch etliche Paar Schuhe, die optimal zu den zuvor
ausgesuchten Kleidungsstücken passten und Strümpfe dazu. Dann nahm er zusätzlich den
großen und den kleinen Trolley und verstaute die Kleidung sorgsam in allen drei Koffern.
Als er damit fertig war, ging er mit dem Beautycase an die Kommode und füllte sie mit
allerlei Schminksachen und Schmuckstücken, indem er seinen Arm dazu benutzte, alles was
auf dem Tisch stand und lag, ins Case zu befördern. Anschließend befestigte er es an dem
kleinsten Rollkoffer.
Letztendlich gab er mir noch eine Caprihose aus leichtem Stoff und ein dazu passendes
Trägertop. »Am besten du ziehst das für die Reise an«, sagte er freundlich. »Es sieht recht
bequem aus. Für den Flug habe ich das Nötigste, wie ein Nachthemd und Unterwäsche in
den kleinen Trolley gepackt, wie du sicherlich gesehen hast«, er küsste mich sanft auf die
Stirn. »Entschuldige. Ich wollte dich nicht anpflaumen ... Es setzt mir nur noch immer zu,
nicht zu wissen, was mit Sophie passiert ist.«
Ich nahm ihn in den Arm und drückte meinen Kopf ganz fest an seine Schulter. Ein warmes
Gefühl der Sicherheit durchflutete mich.
Mein Blick fiel auf einen dunkelroten Stoff im Schrank. Abrupt ging ich hinüber und holte
das Kleid aus der hintersten Ecke des Schrankes hervor. »Hast du nicht gesagt, du hättest
mir das Kleid nicht gekauft?«,
»Hab ich auch nicht. Im Gegenteil: Ich habe es gekauft, damit du es nicht anziehen kannst.«
»Wieso?«
»Ganz einfach: Ich wollte nicht mit einem Mauerblümchen zur Hochzeit gehen. Oder willst
du etwa behaupten, dass dir das Duchessekleid, nicht auch besser gefallen hat.«
»Darum geht es nicht!«
»Doch, genau darum geht es, Nina. Vermutlich ist es für dich nicht leicht zu verstehen, aber
da wo ich herkomme, ist es wichtig, einen guten Eindruck zu hinterlassen.«
»Wir sind hier aber nicht in Honolulu!«
»Gut, damit hast du recht. Zumindest noch …« Er lächelte mich an. »Kannst du trotzdem
versuchen, mich ein bisschen zu verstehen. Du bist meine Freundin und, wenn du ehrlich
bist, hast du es ebenfalls genossen, bewundert zu werden. Ich für meinen Teil war jedenfalls
sehr stolz, dich in dem Designerkleid begleiten zu dürfen.«
Statt ihm zu antworten, nahm ich die zwei kleineren Koffer und verließ Sunnys Zimmer.
Freundin - dieses Wort erfüllte mich mit einer wohligen Wärme und zauberte mir ein Lächeln
ins Gesicht.
Tom indes nahm sich das restliche Gepäck und folgte mir in die Tiefgarage.
Nachdem alles verstaut war, fuhren wir schweigend, im offenen Cabrio, zum Flughafen.
Dort hielten wir vor einem kleinen Nebengebäude am Gate 8.
Als wir gerade dabei waren, mein Gepäck und seine schwarze Reisetasche, sowie den dazu
passenden Rucksack zu entladen, kam ein großer, hellhäutiger Mann mit grau melierten
Haaren auf uns zu. Er trug eine schwarze Anzughose und ein hellblaues kurzärmeliges
Hemd. »Tom, mein Junge, unter anderen Umständen hätte ich mich sicher mehr gefreut,
dich mal wiederzusehen. Hast du schon Neuigkeiten?«, fragte er und umarmte ihn
freundlich.
»Nein ... nichts.«
Dann fiel der Blick des Mannes auf mich. »Verzeihen Sie mir meine Unachtsamkeit, Teuerste.
Zu meiner Entschuldigung kann ich nur vorbringen, dass diese Katastrophe mich persönlich
ebenfalls sehr belastet. Ich bin Charles. Meine Frau Caroline ist die Schwester von Toms
Mutter. Mit wem habe ich die Ehre?«
»Nina ... ich werde Tom begleiten.«
Charles zog seine linke Augenbraue hoch, nahm jedoch, ohne etwas zu sagen, meinen
großen Trolley und ging auf eine graue Stahltür mit Sicherheitsschloss zu.
»Wenn du es genau wissen willst: Sie ist meine Freundin und deswegen begleitet sie mich«,
beantwortete Tom diese unausgesprochene Frage, während Charles die Tür mit einer
Codekarte öffnete.
Freundin - da war es wieder, dieses süße kleine Wort, welches mich lächeln ließ.
»Das ist ja mal eine gute Nachricht. Wenn ich die Zeit hätte, würde ich euch glatt begleiten,
nur um herauszufinden, wie sie es geschafft hat, dich um den Finger zu wickeln.«
Jetzt wandte Charles sich mir zu. »Ich habe noch nie erlebt, dass er eine Frau als seine
Freundin bezeichnet hat und ich kenne ihn schließlich schon seit seiner Geburt.« Er legte
meinen Koffer auf den Scanner.
»Schon gut, schon gut. Ich denke unser Flieger wartet«, sagte Tom mit gradlinigen Lippen.
Nach einem kurzen Blick auf seine Rolex trieb Charles uns an. »Tatsächlich mein Goldstück
muss innerhalb der nächsten 15 Minuten auf dem Rollfeld sein, sonst krieg ich nie wieder
eine Sondergenehmigung.«
»Goldstück? Dein Privatflugzeug! Du hast mindestens 30 andere Businessflieger. War denn
keine andere Maschine frei?«, fragte Tom überaus erstaunt.
»32 plus mein Goldstück! Klar bin ich nicht völlig ausgebucht, aber für meinen Neffen gebe
ich auch schon mal mein letztes Hemd. Ich dachte mir jedenfalls, dass es dir recht wäre,
schon in 18 Stunden in Honolulu zu landen und das sogar inklusive eines Tankstopps in San
Francisco.«
»Charles, ich danke dir. Du bist wirklich ein wahrer Helfer in der Not. Entschuldige bitte
mein Benehmen, das Ganze nimmt mich doch sehr mit.«
»Ja, kann ich verstehen. Du und Sophie, Ihr hattet immer schon einen besonderen Draht
zueinander.«
Toms Antlitz verdüsterte sich leicht. »Yes. Auch, wenn die anderen sie nicht sonderlich
mögen. Ich mag sie und ich hoffe doch sehr, dass es ihr gut geht.«
Inzwischen waren alle Gepäckstücke durchleuchtet worden und Charles führte uns direkt
auf das Rollfeld.
Vor uns stand das Goldstück: eine golden lackierte Dassault Falcon 7x. Auf ihr prangten in
tiefem Weinrot die Worte: 'Noelani Air'.
Dieses Flugzeug von außen zu sehen, war schon sehr imposant, aber das Innenleben glich
einem Apartment: In dem großen hell gehaltenen Raum ging linksseitig eine Tür ab. Tom
erklärte mir, dass dahinter der Bereich für die Besatzung eingebaut sei.
Direkt gegenüber der Bordtür war eine Garderobe. Ich tat es Tom gleich, zog meine Schuhe
aus und stellte sie in das Schuhregal und Charles nickte zufrieden.
Neugierig sah ich mich weiter um: Rechts von der Garderobe war eine Kochnische
eingebaut. Ihr gegenüber war eine kleine Sitzgarnitur, bestehend aus vier einzelnen
cremefarbenen Ledersitzen mit integrierten Sicherheitsgurten. Der Tisch selbst war, wie alle
Schränke in der Kabine, aus Mahagoni und bot Platz für vier gegenüberstehende Gedecke.
Etwas weiter in den Raum stand eine Sofainsel, ebenfalls aus hellem Leder. Das Ende der
Kabine wurde durch ein Regal markiert, in dem sich ein großer Fernseher befand. Doch das
Regal ging nur zu zwei Dritteln in den Raum hinein: Das letzte Drittel bildete einen
Durchgang in einen weiteren Bereich.
Charles folgte meiner Blickrichtung. »Hinter der Regalwand befinden sich ein Badezimmer
und das Schlafzimmer. Beides steht euch ebenfalls zur Verfügung. Fühlt euch wie zu Hause.
Ihr könnt alles machen, was euer Herz begehrt. Die Piloten werden euch nur im Notfall
stören.« Er zwinkerte mir zu und ich konnte mir ein beschämtes Grinsen nicht verkneifen.
»Allerdings ist das Rauchen hier strengstens verboten«, fügte Charles noch hinzu.
Dann wandte er sich an Tom. »Wenn ihr Hunger bekommt: Caroline hat euch ein paar von
ihren köstlichen Rouladen in den Kühlschrank gestellt. Sie wäre gerne mitgekommen, doch
in Berlin tobt zurzeit der Wahlkampf und sie muss wichtigen Leuten heute noch in den
Haaren rupfen«, beide lachten kurz auf. Charles wurde für einen Moment sehr
nachdenklich. »Sag Keanu und deiner Mutter, dass sie uns fehlen. Sie sollen uns mal wieder
besuchen kommen.«
Er wandte sich der Bordtür zu. Kurz vorher blieb er stehen und drehte sich nochmals zu
Tom um. »Ach, noch was: Sag deiner Mutter, der Flug geht aufs Haus.« Er ging noch mal auf
Tom zu und umarmte ihn herzlich.
Hinterher küsste er mich auf die Wange. »Ich hoffe doch sehr, dass wir uns bald wieder
sehen«, sein Blick glitt fragend zu Tom hinüber.
Der erwiderte freundlich: »Ich denke, das können wir einrichten.«
Charles sah man die Verwunderung buchstäblich an. Doch er verbiss sich jeglichen weiteren
Kommentar und ging hinaus.
Tom zog die Bordtür hinter ihm zu.
Das Leben im schönen Himmel
Nur einen kurzen Moment später rollten wir auch schon auf die Startbahn. Schnell setzten
wir uns auf die beiden Einzelsessel und gurteten uns an.
Als wir in der Luft waren, wechselte ich auf das riesige Sofa, während Tom an einen Schrank
ging, der sich als Bar entpuppte und sich einen Scotch eingoss. Dann kam er zu mir herüber.
Er nippte am Glas, stellte es auf dem Couchtisch ab und gab mir dann einen kurzen sanften
Kuss. Der Scotch schmeckte leicht rauchig, ähnlich dem Macallan Whiskey. »Es tut mir leid,
dass mir gerade nicht der Sinn nach mehr steht, aber ich mache mir wirklich Sorgen um
Sophie.«
»Ist schon gut.« Für einen Moment sah ich ihn nachdenklich an. »Tom ... Ich weiß fast nichts
über deine Familie. Was hältst du davon, wenn du mir ein bisschen über sie erzählst?«
Wider Erwarten fröhlich antwortete er: »Das ist eine sehr gute Idee. Aber zuerst machen wir
uns etwas zu essen und ziehen uns dann fürs Bett um. Es wird ein sehr langer Flug, und
wenn wir ankommen, ist es in Deutschland zwar später Vormittag, doch in Honolulu ist es
später Abend. Mit viel Glück kommen wir noch vor Sonnenuntergang auf Oahu an. Wir
sollten also auch nicht zu lange schlafen.« Er stand auf und zog auch mich hoch.
Aus dem Kühlschrank nahm ich uns die Teller mit den Rouladen heraus. Als ich die Deckel
abnahm, stieg mir ein verführerischer Duft nach Rindfleisch, Gurke, Zwiebel und sogar
Rotkohl in die Nase. Sofort lief mir das Wasser im Mund zusammen. »Gott sei Dank ... nicht
wieder mediterran«, entwich es mir.
Tom blinzelte mich an. »Ich dachte, du isst gerne italienisch.«
»Schon, aber zu viel davon, mag ich auch nicht. Ab und zu bevorzuge ich auch mal die gute
alte deutsche Küche oder einfach nur eine Currywust mit Pommes Mayo.«
»Hättest du mir das mal eher gesagt. Ich kenne noch genügend andere Restaurants und
Caterings.«
»Und ich ein paar gute Rezepte von meiner Mutter. Vielleicht könnte ich uns ja mal was
kochen«, bot ich ihm an.
Tom lachte. »Dafür musst du aber erst meinen Küchenbestand auffüllen. Außer einer Pfanne
für Speck und einem Topf für eine Dosensuppe habe ich kein Kochgeschirr.«
»Du kannst nicht kochen?«
»Nein, kann ich nicht. Seitdem ich denken kann, kocht auf Noelani meine Großtante Tutu
Maylea.«
Gespielt fassungslos schüttelte ich den Kopf. »Ich dachte schon, du wärst makellos.«
Tom wurde blass und wandte sich ab. »Ich bin nicht makellos, auch ich begehe Fehler.« Sein
Ton ließ mich ahnen, dass ich lieber nicht nachhaken sollte.
Er nahm den kleinen roten Trolley, sowie seinen Rucksack und ging in Richtung des
Schlafzimmers.
Als er ein paar Minuten später wieder zurückkam, hatte ich das Essen bereits in der
Mikrowelle warm gemacht und es auf den Tisch gestellt. Wortlos nahm ich Platz.
Tom kam direkt zu mir herüber und kniete sich vor mich hin. »Es tut mir leid, sei nicht böse
auf mich. Es ist nur ...« Tom hielt kurz den Atem an. »Auch ich habe Fehler begangen, die ich
heute zwar schwer bereue, aber nicht wiedergutmachen kann.«
Ich legte meine Hand an seine rechte Wange. »Es kann gar nicht so schlimm sein. Solange du
niemandem gegenüber Gewalt angewandt oder gar jemanden umgebracht hast, ist es
verzeihlich.«
Ein gequältes Lächeln huschte über seine Lippen. »Nein, so schlimm war es dann doch
nicht.«
Mein Kuss auf seine Stirn war warm und weich, es war eine Geste der Vergebung. Ich
vergab ihm, obwohl ich nicht mal wusste, was es zu vergeben gab. Oh, wie hat sich meine
Lebenseinstellung in den letzten sechs Wochen so verändern können. Er muss ein Magier sein, dass er
es geschafft hat, mich aus meinem Schneckenhaus zu ziehen.
»Wir sollten jetzt essen, bevor es wieder kalt ist«, holte er mich aus meinen Gedanken zurück
und setzte sich mir gegenüber hin.
Die Rouladen waren schön weich, so wie ich gerne mein Fleisch aß und der Rotkohl hatte
eine schöne prickelnde Säure. Kurzum: Es war einfach lecker. Wenn es frisch gekocht und
nicht in der Mikrowelle erwärmt worden wäre, hätte das Essen sogar das Mahl im Adlon um
Längen geschlagen.
Nachdem wir zu Ende gegessen und aufgeräumt hatten, gingen wir ins Schlafzimmer.
Aus seinem Rucksack zog Tom sich bequem aussehende Boxershorts heraus und ich nahm
den kleinen Trolley mit ins Bad. Dort putzte ich mir die Zähne und entledigte mich meiner
Caprihose. Ich wollte schließlich nicht, dass dieser feine Seidenstoff morgen früh zerknittert
war. Mein Blick in den Koffer verriet mir, dass es ein recht durchsichtiges Negligé war,
welches Tom eingepackt hatte. Auch die Unterwäsche war nicht besser. Im Gegenteil: Der
weiße String, den ich anhatte, war dagegen sogar noch human. »Verdammt«, fluchte ich
leise. »Hätte ich mal selbst die Koffer gepackt!«
Dann ging ich zurück ins Schlafzimmer.
Tom saß bereits umgezogen auf dem riesengroßen Bett. Der Blick, den er mir
entgegenbrachte, ließ mir die Röte in die Wangen steigen: Genau das wollte ich vermieden
haben.
»Wow, vorhin sah dieses Etwas an dir ja schon heiß aus, aber jetzt mit dem Shirt, ist es erst
richtig verrucht«, säuselte er und zeigte auf meinen immerhin blickdichten Slip.
»Es tut mir leid, aber die Wäsche, die du mir eingepackt hast, war noch schlimmer.«
»Mir gefällt es.« Er hob die Decke an und ich huschte schnell drunter.
»Jetzt geh ich kurz ins Bad.« Dabei zwinkerte er mir leicht zu.
Kaum war er raus, sprang ich aus dem Bett und begann die anderen Koffer zu durchwühlen,
aber ich fand nichts, was ich für die Nacht hätte anziehen können. Alle anderen Slips waren
nicht weniger sexy und auch die Negligés versprachen mehr, als ich vielleicht zu geben
bereit war.
Nur Sekunden, bevor Tom wiederkam, kroch ich zurück unter die Decke.
Tom indes legte sich neben mich auf die Decke. »Und? Hast du was anderes zum Anziehen
gefunden?«
»Nein«, erwiderte ich und schwenkte meinen Kopf.
Er lächelte mich an. »Sorry Sunny hat wohl wirklich keine normalen Sachen. Wenn du
möchtest, werden wir morgen nach Honolulu fahren und dir noch was anderes zum
Anziehen holen.«
»Ja, bitte.«
Tom lachte kurz auf. »Also gut, dann machen wir das. Und nun erzähl ich dir etwas über
meine Ohana, okay?«
Ich nickte.
»Das Oberhaupt der Familie ist mein Onkel Eric. Ein Jahr nach seiner Hochzeit bekam er die
Firma von seinem Vater William überschrieben, und weil die Plantage damals viel Zeit in
Anspruch nahm, schickte er Ben und mich auf ein deutsches Internat.«
»Aber wieso Deutschland und nicht in den USA oder Kanada?«, fragte ich neugierig nach.
»Nun, das kommt daher, weil Erics Mutter und auch meine Großmutter deutschstämmig
sind. Die Verbindung zu good old Germany ist in meiner Familie nie ganz verloren
gegangen. Die McAllisters, sowie mein Großvater Keanu, sprechen auch heute noch
hauptsächlich deutsch untereinander. Vor allem dann, wenn es um persönliche Sachen geht,
von denen die Noelanis nichts erfahren sollen. Und anders herum, haben die ihren
Stammesdialekt, den Eric nicht versteht.«
Mich schauderte es. Vor meinem geistigen Auge sah ich erneut die Lehmhütte mit der
Kartenleserin davor. Ich schüttelte mich kurz, um die Gedanken fortzuwischen und stellte
die nächste Frage: »Dein Onkel hat dich aufs Internat geschickt?«
Für einen Moment stutzte Tom. »Ähm ja, obgleich meine Mutter Christine finanziell dazu
auch in der Lage gewesen wäre, hat Eric meine Ausbildung bestritten. Er begründet das
immer damit, dass ich ja nichts dafür kann, dass sein Vater ihm und nicht Sam die Firma
übertragen hat und Sam sich nicht um die Familie kümmert.«
»Ist Sam dein Vater?«
»Yes, ... zumindest auf dem Papier.« Tom schluckte schwer. »Über ihn weiß ich eigentlich
nicht sehr viel. Er hat eine Ranch in Texas und kommt immer nur alle paar Jahre zu Besuch.
Aber so schnell wie er kommt, verschwindet er auch schon wieder.« In seiner Stimme klang
ein wenig Traurigkeit mit, doch er erzählte ungehindert weiter: »Vor fünf Jahren hat Eric
sich offiziell aus der Firma zurückgezogen und Ben als Geschäftsführer eingesetzt. Ab und
an mischt er sich dennoch in die Geschäfte der Plantage ein, was Ben wiederum auf die
Palme bringt.« Tom schüttelte leicht den Kopf. »Die beiden sind einfach nur sture
Holzböcke. Keiner von beiden würde je zugeben, dass er auf die Hilfe des anderen
angewiesen ist.«
»Das kenn ich. Papa würde auch nie zugeben, dass er ohne Mama nicht zurecht kommt. Sie
ist die Anführerin in unserer Familie, doch alle glauben, dass Papa der Boss ist.«
Er lächelte leicht in sich hinein und fuhr fort: »Mom ließ sich von Sam scheiden, als ich
ungefähr ein Jahr alt war. Heute lebt sie ebenfalls im Center von Noelani, aber ihre Kindheit
hat sie zusammen mit ihren Eltern auch in Deutschland verbracht. Mein Großvater quälte
das Heimweh jedoch so sehr, dass sie wieder nach Noelani zurückgekehrt sind. Und ein
wenig kann ich ihn auch verstehen. Noelani zu verlassen ist wie den Himmel aufzugeben.«
»Und doch bist du freiwillig gegangen.«
Tom antwortete nicht, sondern hing seinen Gedanken nach.
»Erzähl mir mehr von den Menschen, das Land werde ich selbst erkunden«, forderte ich ihn
auf, um ihm abzulenken.
»Mmh …«, schreckte er auf. »Okay: Da ist als nächstes Leanne. Sie ist ebenfalls eine geborene
Noelani. Wenn ich mich nicht irre, ist sie die Nichte von Großvater Keanu, also müsste sie
nicht nur meine Tante, sondern zudem auch meine Großtante sein. Wie auch immer: Leanne
ist mit Eric verheiratet und sie ist die Mutter von Ben und Sunny. Meine Tante ist sehr
hübsch, doch ihre braunen Augen wirken noch trauriger als deine.«
»Ich hab traurige Augen?«, fragte ich ihn, obwohl ich die Antwort kannte. Ich sah sie
schließlich jeden Tag im Spiegel.
Früher einmal haben sie aus Freude und Spaß geglänzt, doch heute sind sie matt und trüb. Obwohl,
wenn ich es mir recht überlege, ist in den letzten Wochen ein wenig Glanz zurückgekehrt. Verträumt
schaute ich Tom an. Ob er wohl ahnt, welchen Gefallen er mir getan hat, indem er sich nicht davon
abhalten ließ, mich zu erobern?
Seine Stimme holte mich aus meinen Gedanken zurück. »Ja, dein Blick ist immer ein wenig
melancholisch. Wenngleich nicht mehr so schlimm wie im Juni, aber von Fröhlichkeit ist er
noch weit entfernt. Das Gute ist: Bei dir ist mir der überwiegende Grund dafür bekannt, bei
Leanne jedoch kenne ich ihn nicht. Sie scheint stets von einem inneren Kummer erfüllt zu
sein. Nur Bens Kinder Cassie und Justin, sowie Sunnys Tochter Lucy ...«, Tom atmete tief ein,
»schaffen es ab und an, sie aus dieser trüben Stimmung herauszuholen.«
Man sah Tom in diesem Moment an, wie sehr Leanne ihm leidtat: Sein Gesicht war von
Schmerz und Leid gezeichnet. Ich konnte nicht anders: Ich beugte mich vor und gab ihm
abermals einen Kuss auf die Stirn.
Mit einem schmalen Lächeln zwinkerte er mir zu, fast so, als wolle er sich für die kleine
Geste bedanken. Er räusperte sich und begann wieder zu erzählen. »Von Benjamin habe ich
dir ja schon einiges erzählt. Nächsten Jahr am 25. April wird er 30 Jahre alt. Wobei mir
gerade einfällt, dass ich vielleicht mit ihm zusammen feiern sollte. Eine 60´er Jahre Party:
Das wäre doch mal ein Spaß, oder?« In Gedanken arbeitete er wohl schon den Plan dafür
aus. Seine Augen leuchteten und das Grübchen war deutlich zu sehen.
Ich hingegen konnte mich des mulmigen Gefühls nicht erwehren, welches dieses Datum in
mir auslöste. Der 25. April war der Tag, an dem ein Teil von mir starb. Mich schauderte es
bei den Gedanken.
Aufmerksam, wie Tom war, entging ihm auch diesmal nicht, dass ich mich nicht wohlfühlte.
»Ist irgendwas nicht in Ordnung? Findest du die Idee nicht gut?«
»Die Idee ist nicht schlecht. Aber vielleicht solltest du mit Ben darüber reden, bevor du das
Catering buchst.« Ich musste mich irgendwie ablenken. Nur womit? Das Letzte, was ich will ist,
an diesen Tag erinnert zu werden oder vielleicht sogar noch eine Party an ihm zu feiern. »Wann hast
du eigentlich Geburtstag? Du hast mir noch gar nicht das Datum genannt.« Etwas Besseres
fiel mir in diesem Moment nicht ein.
»Hab ich nicht?«, das Erstaunen stand ihm auf die Stirn geschrieben.
Ich schüttelte den Kopf.
»Aber du ... Sorry, ich dachte, du wüsstest es noch von meinem Ausweis. Ich habe am 15.
Mai Geburtstag. Wie du dir vielleicht schon denken kannst, werde ich ebenfalls 30. So
langsam sollte ich mich wohl wirklich auf die Suche nach einer geeigneten Ehefrau und
Mutter meiner Kinder machen ... Meinst du nicht auch?«, Tom blickte mich neugierig an und
versuchte in meinem Gesicht eine passende Reaktion zu erkennen.
Ich jedoch vermied es weitgehend, meine Gefühle zum Ausdruck zu bringen und versuchte
es mit einer diplomatischen Antwort: »Man muss nicht heiraten und Kinder kriegen, wenn
man es im Grunde nicht möchte. Heutzutage ist es durchaus gesellschaftsfähig, kinderlos zu
bleiben.« Autsch! - Meine eigenen Worte schmerzten mich im tiefsten Inneren.
»Vielleicht hast du recht. Man sollte sein Glück nicht erzwingen. Manchmal ist es besser,
einfach abzuwarten, einiges ergibt sich dann von selbst.« Tom klang traurig und erleichtert
zugleich.
»Ich glaube, du wolltest mir noch etwas über Ben erzählen.« Ich musste einfach das Thema
wechseln. Der Schmerz in meinem Inneren brannte heiß und innig. Ich musste ihn
schnellstmöglich unter Kontrolle bringen, bevor er mich auffraß.
Tom sah meinen gequälten Gesichtsausdruck, und obgleich ich wusste, dass er ihn nicht
einordnen konnte, unterließ er es diesmal, bewusst nachzuhaken. »Du hast schon wieder
recht: Ich wollte dir noch etwas über den Großen erzählen.« Doch in seinen Augen standen
die unausgesprochenen Fragen: Wirst du mir jemals wirklich vertrauen und mich aus
tiefstem Herzen lieben oder wirst du ewig versuchen, dein Innerstes vor mir zu verbergen?
Ich kann die Fragen nicht beantworten: Die Antworten kennt nur die Zeit. Wenn mir jemand vor
zwei Monaten gesagt hätte, dass ich einen Freund haben würde, hätte ich demjenigen die Augen
ausgekratzt. Aber heute wurde ich eines Besseren belehrt: Ich habe einen Freund, zumindest wenn es
nach ihm geht.
Ich schob meine Gedanken beiseite und lauschte wieder Toms wohlklingender Stimme. »Der
Große ist, im Gegensatz zu mir, ein sehr verantwortungsbewusster, ernsthafter Mann. Bis
auf eine Ausnahme hat er in seinem Leben nie etwas dem Schicksal überlassen. Dieses eine
Mal hat sein Leben auch von Grund auf verändert. Es war vor fünf Jahren: Ben war damals
mit Rachel, seiner Assistentin liiert und wir rechneten schon bald damit, dass er sie heiratet.
Doch dann flogen wir nach Las Vegas, um den Junggesellenabschied eines Freundes zu
feiern. Während ich mit der Frau des Hoteliers flirtete, lernte Ben Sophie kennen.« Tom
machte eine kurze Pause und fuhr kurz darauf im gewohnten Ton fort: »Er musste mehr
getrunken haben, als ich mitbekommen hatte, denn plötzlich waren sie verschwunden«, Tom
lächelte verschmitzt. »Wobei ich es ihm auch noch nicht mal verdenken kann: Sophie ist ...«,
er schluckte, »war ja auch eine wunderschöne, begehrenswerte und mit einem französischen
Charme gesegnete Frau. Mit ihren feuerroten Haaren und den katzengleichen grünen Augen
sah sie atemberaubend aus. Es gab keinen Mann, der ihr nicht verfallen war«, jetzt sah er ein
bisschen beschämt aus, als ob ...
Klar, warum auch nicht? Er hatte ja selbst gesagt, dass jeder ihr verfallen war, also warum nicht er
auch? Doch jetzt liebt er mich, nur das zählt. Wieder ließ ich meinem Gedankengang keinen
weiteren Spielraum und hörte gespannt weiter zu.
»Na ja, wie auch immer ... Am nächsten Morgen jedenfalls lief mir ein völlig verstörter Ben
über den Weg. Er stotterte irgendwas davon, dass er auch nicht wüsste, was in der Nacht
zuvor in ihn gefahren sei. Ich versuchte ihn zu beruhigen, indem ich ihm sagte, dass er nicht
der erste Mann sei, der auf einer Junggesellenparty fremdging, doch Ben ignorierte meine
Einwände eingehend. Es dauerte eine Weile bis ich begriff, dass er Sophie in der Nacht
geheiratet hatte. Natürlich versuchte ich ihn davon zu überzeugen, die Ehe umgehend
annullieren zu lassen und so ging er sofort zu ihr, um ihr seine Entscheidung mitzuteilen.
Aber er konnte wohl doch nicht einfach über seinen eigenen Schatten springen, schließlich
hatte er ihr gegenüber ja ein Ehegelöbnis abgelegt und so blieben sie bis heute verheiratet
und haben sogar zwei Kinder.« Tom sah ein wenig betrübt aus. »Fuck!«, fluchte er plötzlich.
Über seine Wortwahl irritiert, blickte ich ihn nur fragend an.
»Mir kam da ein Gedanke … Von Mom weiß ich, dass Sophie Ben darum bat, ihr eine
Anstellung in der Führungsebene von IT-international zu geben, doch er ist der Meinung,
dass sie sich in erster Linie um Cassie und Justin kümmern soll. Er will einfach nicht
verstehen, wie sehr sie es verabscheut, finanziell von ihm abhängig zu sein.« Tom verdrehte
die Augen »Im Geschäftsleben ist er ein Ass, aber wenn es um Frauen geht, kann der Große
ein richtiger Idiot sein und ich hoffe inständig, dass die beiden deswegen heute Nacht nicht
schon wieder gestritten haben. Ben würde sich das nie verzeihen, wenn sie wegen ihm
diesen Unfall hatte.« Wieder war da diese Traurigkeit in seinem schönen Gesicht.
Ich zog seine Hand zu meinem Mund und küsste jeden einzelnen Finger.
Er seufzte. »Ich werde dir jetzt noch was von Sunny und ihrer Tochter Lucy erzählen. Ihre
Vorliebe für schöne Kleider kennst du ja bereits. Obgleich sie auch ohne Designerklamotten
klasse aussieht. Sie ist wirklich umwerfend hübsch und die kleine Lucy sieht ihrer Mutter
zum Verwechseln ähnlich. Beide haben brünettes Haar und im richtigen Licht schimmert es
rötlich. Die Augen der beiden sind strahlend blaugrün, so wie das Meer vor Kailua Beach.«
Als er von Sunny und Lucy erzählte, geriet er richtig ins Schwärmen und ich merkte, wie es
mir einen kleinen Stich versetzte.
Er musste wohl erneut die kleine Veränderung in meinem Gemütszustand bemerkt haben,
denn er sagte: »Du siehst müde aus, wir sollten jetzt versuchen zu schlafen.«
Zustimmend gähnte ich. »Ja, das sollten wir. Es wird morgen bestimmt ein anstrengender
Tag werden.« Ich drehte mich auf die Seite, während er ins Bad verschwand.
Nur Minuten später kroch er zu mir unter die Decke, um sich dann mit nacktem Oberkörper
ganz nah an mich zu kuscheln.
Ich suchte den Nachttisch und die Wand vergebens nach einem Lichtschalter ab.
Tom griff derweil nach der Fernbedienung, die auf seinem Nachttisch lag und das Licht
erlosch.
Ich kicherte. »Technik, die begeistert«
»Du bist so erfrischend naiv.« Das Nächste, was er sagte, war: »Autsch.« Ich hatte ihn mit
meinem Ellenbogen leicht in die Rippe gestoßen, doch statt mir böse zu sein, küsste er mich
sanft auf die Wange und murmelte. »Träum schön mein Engel. Morgen wirst du die Sonne
über Oahu aufgehen sehen.«
Dann schlief ich auch schon ein.
Sturmfront über den Wolken
Drei Stunden später erwachte ich durch das Scheppern eines heruntergefallenen Handys.
Tom fluchte leise und dann war es auch schon wieder still.
Mein Blick glitt zu ihm hinüber: Er stand vor dem Bett und fixierte mich mit wachen grünen
Augen.
Wie wenig Schlaf braucht dieser Mann eigentlich?, kam mir in den Sinn. Dann sah ich diese
Verwirrtheit in seinen Augen glitzern. »Ist alles in Ordnung?«, fragte ich ihn.
»Mmhh, ... Ja, ich meine nein. ... Ich habe dir beim Schlafen zugesehen. Du sahst so friedlich
und zufrieden aus.«
Doch seine Aussage passte nicht zu seinem Aussehen. So habe ich Tom noch nie gesehen.
Liebestoll, verschlagen, traurig und verzweifelt. Ja, ich kenne all seine Gesichter, aber Furcht? Nein
das passt überhaupt nicht zu ihm. Was hat ihn bloß so verängstigt?
Toms Augen verdunkelten sich zunehmend und er sah mich nun durchdringend an. »Nina,
Du hast meinen Namen ein paar Mal erwähnt und die Wörter Ohana, Huna, ‘aumakua und
ho'omaluhia gesagt.« Tiefer Argwohn spiegelte sich in seinem Antlitz wieder.
Blitzschnell setzte ich mich auf und murmelte: »Es war ein Traum sonst nichts.« Ich wusste,
dass es mehr war, jedoch wollte ich ihn nicht noch mehr verwirren.
»Außerdem sprachst du von einer Kartenlegerin ...«
Tom wurde durch einen Piepton aus den Lautsprechern unterbrochen, dem eine Ansage
folgte, in der uns mitgeteilt wurde, dass wir uns am Rande eines Unwettergebietes befinden
würden und uns angurten sollten.
Kaum, dass der zweite Ton erfolgte, sprach Tom weiter: »Du hast etwas von einem Rätsel
gefaselt, welches du lüften musst.«
Auch ich ignorierte die Aufforderung zum Anschnallen und versuchte stattdessen, die
Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. »Ähm ... ja, ich hab da neulich einen Film ...«
»Lüg mich nicht an!«, brüllte er. »Du sprachst die ganze Zeit über hawaiianisch.« Er hatte die
Lautstärke seiner Stimme ein wenig reduziert, doch der Ton blieb derselbe. »Du hast den
Dialekt meines Stammes gesprochen ... was ist hier los?« Er sah mich an, als ob er mich zum
ersten Mal sehen würde.
»Es ... ich ... keine Ahnung ...«, schrie ich zurück, während ein Donnerknall durch den Raum
hallte, »es war nur ein Traum!«
Immer noch wütend verließ Tom die Kabine.
Ich nutzte die Zeit, um meine Gedanken zu sammeln: Was mache ich jetzt? Ich kann ihm doch nicht
sagen, das ich eine Gabe habe. Was ist, wenn er mich für verrückt erklärt, oder mich sogar deswegen
verlässt? Nein, das könnte ich nicht ertragen ...
Die Maschine vibrierte zunehmend.
Tom kam wieder ins Schlafzimmer, auf seinem Gesicht spiegelte sich Besorgnis wieder. »Wir
sollten uns wirklich anschnallen.«
Zustimmend nickte ich und folgte ihm in den Salon. Dabei hing ich meinen eigenen
Gedanken nach. Wie soll ich ihm nur begreifbar machen, dass mir in solchen Träumen eine Aufgabe
zuteil wird, ohne dass er mich für irre hält?
»Komm Engel, schnall dich an!« Dabei wies er mir einen der Sitze zu. »Das Unwetter macht
mich ganz nervös.«
Doch kaum, dass ich saß, begann er von Neuem: »Auch, wenn es mir leidtut, dass ich dich
angebrüllt habe, will ich dennoch wissen, was es mit dem Traum auf sich hat!«
»Was soll ich dir dazu sagen? Ich weiß doch selbst nicht, was es ist ...«, versuchte ich mich
rauszuwinden.
»Okay, Nina ... dann sag mir, was du weißt. Vielleicht hilft es darüber zu reden, was dich
beschäftigt. Hat es mit Markus zu tun?«
»Du kennst seinen Namen?« Ich war erstaunt und erschrocken zugleich. Habe ich etwa seinen
Namen im Schlaf erwähnt?
»Klar kenne ich ihn. Du hast mich schließlich so genannt, als du versucht hast, mich
umzubringen.« Er klang jetzt sogar leicht amüsiert und mir wurde klar, dass er mich nicht
ernst genommen hatte, als wir miteinander kämpften.
Sauer auf ihn und verbittert über mich selbst, verschränkte ich meine Arme und biss mir auf
die Unterlippe.
»Erzähl es mir«, forderte er mich erneut auf.
»Nein!« Ich stand auf und ging schleunigst rüber ins Bad. Die Tür schloss ich hinter mir ab.
Leise klopfte es. »Nina, bitte. Sag mir wenigstens, warum du es mir nicht sagen willst.«
»Nein, ich will nicht!«, zischte ich wütend durch die Tür hindurch. Um, ihn dazu zu bringen,
mich alleine zu lassen, ließ ich die Dusche an. In diesem Moment sank das Flugzeug jedoch
rapide ab und der Duschstrahl traf mich mitten ins Gesicht. Ich konnte mich gerade noch
festhalten und auf die Toilette setzen, als sich das Goldstück wieder steil nach oben richtete.
Mein Trick jedoch funktionierte: Ich hörte, wie Toms Schritte sich entfernten.
Nach einer Minute öffnete ich leise die Tür, schaute vorsichtig um die Ecke und blickte
direkt in Toms Gesicht.
Er wiegte amüsiert den Kopf. »So gut müsstest du mich eigentlich schon kennen, nach der
ganzen Zeit, die wir schon zusammen verbracht haben.«
Ja. Du hast verdammt noch mal recht: Wir haben schon viel Zeit zusammen verbracht und gerade
deswegen kann und will ich dir nicht sagen, dass du Teil meiner Aufgabe bist! Ich ging wieder
zurück ins Schlafzimmer, setzte mich aufs Bett und zog meine Knie bis ans Kinn hoch.
Währenddessen blieb er in der Tür stehen und sah mich eindringlich an.
Eine Weile musterten wir uns gegenseitig. »Du gibst nicht nach, oder?« Es war mehr eine
Feststellung als eine Frage.
»Ich bin ein sehr geduldiger Mensch. Ich kann warten. Früher oder später wirst du deine
Bockigkeit ablegen und es mir erzählen.« Er blickte weiterhin einfühlsam zu mir. So sahen
wir uns eine lange Zeit Auge um Auge an, bis ich irgendwann aufstand und zur Tür ging.
Tom versperrte mir jedoch den Weg.
»Ich muss auf die Toilette«, erklärte ich trotzig.
»Da warst du gerade«, entgegnete er tonlos.
»Ich will etwas trinken.« Ein weiterer Donner dröhnte.
Er drückte auf die Fernbedienung, die er in der Hand hielt und die Holzverkleidung gab
eine Bar frei. »Bitte schön bediene dich.« Ein Grinsen huschte über seine Lippen, doch seinen
Augen fehlte der Glanz dazu.
»Ich möchte ...« Erneut dröhnte ein Knall durch den Raum.
»Spar dir das! Ich möchte eine Antwort und sonst nichts!«, schnaubte er unbarmherzig.
Blitze durchzogen den nächtlichen Himmel und tauchten die Kabine in grelles Licht.
»Nein, nein, nein und nochmals nein!« Ich versuchte meinem NEIN mit einem scharfen Blick
Nachdruck zu versetzen, doch sein nun herrischer Anblick ließ mich wanken. Instinktiv
wusste ich, er würde wirklich nicht aufgeben.
Trotzdem machte ich ihn lieber sauer auf mich, als dass er mich für unzurechnungsfähig
hielt. Also setzte ich mich zurück aufs Bett und schwieg ihn einfach nur an.
»Warum nicht?«, fragte er sichtlich verärgert.
Gut wenigstens diese Antwort sollst du bekommen, vielleicht gibst du dann auf. »Weil du mich
dann für irre hältst und das könnte ich nicht ertragen.«
Sein Ausdruck wandelte sich in nur einer Sekunde von Verärgerung in Erleichterung.
»Engel, du bist verrückt. Gerade das liebe ich so an dir. Also, egal was es ist, du kannst es
mir ruhig sagen. Ich werde dich nicht dafür verurteilen oder dich verunglimpfen.« Und da
war es wieder, dieses kleine Grübchen über seinem Mundwinkel, das Grübchen, welches
mein Herz so fesselte und mich Dinge tun ließ, welche ich sonst nicht zu tun wagte.
»Ich träume ständig von einer polynesischen Kartenlegerin.« Ich stockte, weil ich sehen
wollte, wie er darauf reagiert.
Statt eines Grinsens oder Lächelns auf seinen Lippen zeichnete sich jetzt wahre Neugier in
seinen Augen ab. Er hakte nach. »Erzähl mir mehr.« Tom versuchte ruhig und
aufgeschlossen zu klingen, doch in seinem Blick sah ich Angst und Misstrauen. Aber ich sah
noch mehr: In seinen Augen lag die Erkenntnis, dass es mehr als ein Traum war ...
Ich sprach ganz leise, als wenn ich hoffte, er würde kein Wort verstehen: »In diesen
Träumen, oder vielmehr sind es Visionen, werden mir Rätsel auferlegt, die ich lösen muss. In
Neuseeland zum Beispiel konnte ich eine junge Frau davor bewahren, den Mann zu
heiraten, der sie mit ihrer besten Freundin betrog. In Südafrika fand ich mit ihrer Hilfe ein
entführtes Kind wieder.«
Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken oder eine abfällige Bemerkung fallen zu lassen,
hörte Tom mir aufmerksam zu. Es war plötzlich so einfach es ihm zu erzählen: Ich hätte ihm
auch sagen können, dass ich eine Hexe oder ein Vampir sei. Er hätte mich nicht ausgelacht.
Ja, es war so einfach.
»Oh Engel. Ich wusste ja, dass du außergewöhnlich bist.« Er setzte sich neben mich. »Um
ehrlich zu sein, hatte ich mit allem gerechnet, nur damit nicht. Nichtsdestoweniger glaube
ich dir.«
»Du glaubst mir wirklich?« Erleichterung machte sich in mir breit. Bisher hatte ich nur
Daniel von meiner Gabe erzählt, auch er glaubte mir, doch missbrauchte er mein Vertrauen
auf andere Art.
»Tja, was soll ich sagen? Wenn man eine Kahuna als Urgroßmutter hat, wächst man nun mal
mit dem Wissen auf, dass es mehr auf der Welt gibt, als das, was man sehen und fassen
kann. Jedoch solltest du das wirklich lieber für dich behalten. Insbesondere Eric ist ein
bisschen konservativer eingestellt. Verstehst du?«
»Ja.«
Der Pilot meldete sich wieder zu Wort: »Wir haben die Gewitterfront hinter uns gelassen. Sie
können Ihre Sitzplätze jetzt wieder verlassen.«
»Dein Traum von vorhin ... was bedeutet er?«
Oh je, ich hatte gehofft, dass du nicht danach fragst. »Ich hab keine Ahnung ... noch nicht.
Meistens finde ich noch weitere Hinweise, um das Rätsel dann lösen zu können. Was ich
weiß ist, dass es irgendwas mit Hawaii zu tun haben muss, sonst hätte ich wohl kaum
hawaiianisch gesprochen.« Weil ich ihm verschwieg, dass er Teil meiner Aufgabe ist, hatte
ich ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen. Und doch sagte ich ihm die Wahrheit: Meine
eigentliche Aufgabe kannte ich nicht.
»Hawaii?« Er sah mich nachdenklich an. »Vielleicht kann ich dir ja helfen. Schließlich kenne
ich das Land und die Leute besser als du.« Toms Blick glitt an mir herunter.
Jetzt erst wurde mir bewusst, dass ich nicht mehr unter, sondern auf der Decke saß.
Zwischen meiner Haut und Toms Augenspiel war nur noch das feuchte und dadurch
durchscheinende Top und der knappe Slip. In mir machte sich eine andere Art von Unruhe
breit. Ich schubste ihn um, setzte mich auf seinen Bauch und beugte mich zu ihm hinunter,
um ihn leidenschaftlich zu küssen.
Seine starken Arme umschlossen mich sofort und zogen mich noch näher an sich heran.
Ich spürte seine Hitze durch den weichen Stoff an meiner Brust, meinem Bauch und meinen
Hüften.
Seine Hände rutschten an meinen Rücken hinunter, um für einen Moment an meinem Gesäß
zu verharren.
Meine Zunge fuhr von seiner Kehle bis zu seiner Brustwarze. Zaghaft nahm ich sie zwischen
meine Lippen, um an ihr zu saugen und zu knabbern.
Tom stöhnte auf. Er ließ seine Hände an meinen Schenkeln bis zu meinen Knien
herabsinken.
Als ich zu seiner anderen Brust hinüberwanderte, krallten sich seine Finger in meinen
Oberschenkeln fest. Langsam richtete ich mich auf und sah in seinen Augen das brennende
Verlangen aufblitzen.
Tom richtete sich ebenfalls auf und schob mein Top nach oben. Während er mich
leidenschaftlich küsste, ließ er sanft seine Hände über meine Brüste gleiten.
Eine Welle der Erregung durchflutete mich, denn er begann, meine Brüste zu küssen und zu
liebkosen. Seine Hände ließ er indes erneut an meinem Hintern herunter wandern, um sich
einen kurzen Moment später seiner Shorts zu entledigen. Kurz darauf lagen seine Hände
wieder an meinem Gesäß und hoben mich an. Mit einem Schwung saß ich auf ihm. Nicht
einmal mein knappes Höschen konnte sich unserem gemeinsamen Ziel in den Weg stellen.
Bereitwillig glitt es zur Seite.
Auf seiner Hüfte angekommen, begann ich zunächst kreisende Bewegungen auszuführen.
Tom lächelte süffisant. Ich änderte abrupt meine Bewegungen von kreisend in auf und ab. Er
stöhnte auf. Nach und nach steigerte ich das Tempo. Irgendwann konnte er nicht mehr nur
stöhnen. Er begann, sich im Gleichklang zu meinen Bewegungen anzuheben und wieder
fallen zu lassen.
Unser beider Atem wurde mit jeder Senkung schneller und unsere Hände rutschten immer
unkoordinierter an dem Körper des anderen umher. Immer wieder fanden sich unsere
Lippen, um dann im nächsten Moment einen anderen Flecken unserer Haut zu berühren.
Unvorhergesehen warf Tom mich auf den Rücken. Den Bruchteil einer Sekunde später war
er schon wieder in mir. Diesmal entwich mir ein Stöhnen.
Es oblag nun ihm, die Schnelligkeit und Tiefe zu kontrollieren. Seine sicheren Bewegungen
ließen mich erkennen, wie viel Erfahrung er - im Gegensatz zu mir - schon hatte. Jeder Stoß
entlockte mir ein weiteres Jauchzen und mit gezieltem Einsatz seiner Manneskraft brachte er
uns beide immer weiter an den Höhepunkt unserer Lust.
Langsam zogen sich meine Muskeln und Nerven unterhalb meines Bauchnabels zusammen.
Wir atmeten beide sehr schnell und mein Puls fing an zu rasen. Während sich meine
Muskeln und Nerven noch einmal bis kurz vorm Zerreißen anspannten, fühlte ich, wie er
sich in mir aufbäumte und schon war die Anspannung mit einem Schlag von uns beiden
abgefallen.
Unsere Atemzüge ebbten immer weiter ab und erschöpft, aber zufrieden lagen wir still
aufeinander. Irgendwann ließ er sich sanft von mir runtergleiten, ohne dabei den
Körperkontakt ganz zu verlieren.
»Es tut mir leid, dass es dir nicht gefallen hat«, säuselte ich.
Mit einem Ruck saß er aufrecht. »Wie kommst du denn auf die Schnapsidee?«
Zögerlich antwortete ich: »Du hast mich auf den Rücken geworfen.«
Er lachte. »Du hast wirklich nicht viel Erfahrungen gesammelt, oder?«
Betrübt entgegnete ich: »Nein habe ich nicht. Ich hatte bisher nur Sex mit einem Kerl und der
hat sich als A…«
Tom verschloss meinen Mund mit seinen Lippen und unterdrückte damit, dass ich dieses
schändliche Wort aussprach.
Nachdem er sich von mir löste, funkelte ich ihn böse an. »Hör auf, mir immer über den
Mund zu fahren!«, schnaubte ich.
»Mach ich, wenn du aufhörst, unflätige Wörter zu verwenden. Nina … ich mag dich zwar so
wie du bist, aber dennoch solltest du an deiner Rhetorik arbeiten.« Er küsste mich behutsam
auf den Mund. »Und jetzt sei wieder lieb zu mir, Engel. Ich mag es nicht, wenn du böse mit
mir bist.« Er lächelte mich mit einem Augenklimpern an.
»Na gut. Ich versuch es«, sagte ich aufmüpfig zu ihm.
Er verschloss meinen Mund erneut mit seinen Lippen. Nachdem wir uns wieder
voneinander gelöst hatten, blickte er mir tief in die Augen und verzog seinen Mund zu
einem hinterhältigen kleinen Grinsen. »Wenn wir miteinander schlafen, kannst du gerne
schmutzige Wörter gebrauchen«, raunte er.
Tom berührte mit seiner Zunge meine Brustwarze und ich stöhnte auf. Mein Körper hatte
sich noch nicht mal beruhigt, da wurde das Brennen in mir erneut entfacht, indem er mit
seiner Zungenspitze ein Dreieck von meiner rechten zur linken Brust, bis hinunter zu
meinem Bauchnabel und wieder zurück zeichnete. Ich wimmerte, als er meine Knospe
zwischen seinen Lippen nahm und an ihr sog. Als sie sich spitz erhob, ließ er von ihr ab und
rutschte wieder in Richtung Bauchnabel an mir herab. Doch diesmal hielt er nicht an: Er glitt
tiefer und tiefer.
Als er die Stelle erreicht hatte, die er erreichen wollte, stöhnte ich erneut auf. Ich krallte
meine Hände in das Laken. Mein Körper fing an zu vibrieren, während seine Zunge mit mir
spielte. Mein Herz raste und vor meinen Augen erschien ein Regenbogen voller Farben. Es
schrie jemand: Ich schrie. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Er bäumte sich auf und
sank kraftlos wieder zurück. Erneut fühlte ich ihn in mir. Automatisch ging ich auf seine
Bewegungen ein, bis auch er sich stöhnend aufbäumte, um im nächsten Moment lautlos auf
mir zum Liegen zu kommen.
Ein Weilchen lagen wir wortlos da und spürten unseren Atem. Während Tom mir sanft über
meinen Arm streichelte, flüsterte er mir zu: »Jetzt weißt du, welches Vergnügen du mir
bereitest. Deine Unerfahrenheit ist für mich in zweierlei Hinsicht reizvoll. Zum einen ist es
erfrischend für mich, dir etwas Neues zu zeigen und zum anderen ist es ein besonderer Kick
für mich, dich dazu zu bringen, dich einfach mal fallen zu lassen.«
Ich streichelte über sein Haar. »Sag das nicht zu laut. Danach könnte ich süchtig werden.«
Er rutschte ein Stück runter, ich erzitterte erneut, dann legte er seinen Kopf an meine Brust
und flüsterte: »Ich bin dir gern stets zu Diensten, aber jetzt brauch ich eine kleine Pause,
Engel. Warte noch ein viertel Stündchen.«
Ich schmunzelte. »So unersättlich bin ich auch nun wieder nicht. Ich gebe dir sechzehn
Minuten.«
Tom lachte laut auf. »Ganz, wie Madam es wünschen.«
Eine Zeit lang lagen wir einfach nur so da, bis der Schlaf uns irgendwann einholte.
Ich wurde durch meinen Handywecker um fünf Uhr Mitteleuropäischer Zeit geweckt. Bevor
ich das blöde Ding ausgeschaltet hatte, war Tom ebenfalls wach geworden.
»Guten Morgen, Engel«, sagte er noch leicht verschlafen. »Ich hoffe, du hattest auch so
schöne Träume. Meine waren fantastisch. Ich träumte von einer wunderschönen kleinen
Hexe, die mich verzaubert hat. Der Traum endete damit, dass ich ihr Herz und auch ihren
Körper bezwungen habe.«
»Na dann träum schön weiter. Mich bezwingt keiner«, sagte ich gespielt ernst.
»Oh, da hatte ich vorhin aber einen ganz anderen Eindruck. Vielleicht sollte ich die Lektion
wiederholen«, erwiderte er äußerst amüsiert.
»Nein bitte nicht. Oh edler Herr, lassen Sie mir noch ein ... Mist, mir fällt nichts ein.«
Tom brach in schallendem Gelächter aus, das nur durch das Grummeln meines Magens
übertönt wurde.
»Ich denke, wir sollten die nächste Trainingseinheit ein wenig verschieben und erst mal
schauen, was Onkel Charles noch Schönes an Bord hat.« Er rutschte auf den Bettrand und
zog sich die Boxershorts über, während ich mir mein Shirt und den Slip zurechtrückte.
Gemeinsam gingen wir aus dem Schlafzimmer.
Bei der Tür zum Badezimmer verabschiedete ich mich. »Ich mach mich nur mal eben frisch.«
Damit verschwand ich im Bad.
Als ich nach einer halben Stunde in ein Handtuch gewickelt in den Salon kam, hatte Tom
schon aufgetischt. Es gab Schwarzbrot mit italienischer Salami und Schwarzwälder
Rauchschinken. Außerdem hatte Tom echten Holland-Gouda, Trauben, Erdbeeren,
Champagner, Kaviar, - den Tom ebenso verschmähte, wie ich - und frisch aufgebackene
Croissants aufgetischt.
»Wenn ich das richtig verstanden habe, hattest du schon öfter diese Träume, oder?«, fragte er
und schob sich eine Traube in den Mund.
Immer noch auf meinem Stück Gouda kauend, nickte ich nur.
»Ja, aber nur die erste Vision ähnelt sich immer.« Ich spülte den restlichen Käse mit einem
großen Schluck Kaffee hinunter. »Es ist so, dass ich beim ersten Mal in Trance verfalle und
dann sehe ich eine Greisin, die vor einer Lehmhütte sitzt und Karten mit hawaiianischen
Bildern und Wörtern vor mir auf den Tisch legt.«
Tom nahm sich die nächste Traube, doch dieses Mal schob er sie mir in den Mund. »Also
kommt in deiner Vision immer eine hawaiianische Kartenlegerin vor?«, hakte er nach.
Ich nickte mit dem Kopf und schluckte die Traube hinunter. »Ja, ... Ich meine ... Ich denke
schon, Weiß du, sie hat Ähnlichkeit mit meinem Vater, zumindest hat sie seine Augen. Ich
glaube, dass sie eine Vorfahrin von mir darstellt.
»Aber der Inhalt der Visionen ist immer ein anderer?«
»Ja, ich habe Träume, die mir völlig wirr und auf den ersten Blick zusammenhanglos
vorkommen. Aber mir ist aufgefallen, dass diese Träume an Intensität zunehmen und ich in
meinem Umfeld immer neuere Hinweise wahrnehme, bis ich das Rätsel schließlich lösen
kann.«
»Und, was ist, wenn du es nicht auflöst?«
»Das ist noch nicht geschehen. Bisher habe ich jede mir gestellte Aufgabe erfüllt.« Diesmal
steckte ich ihm ein Stück Käse in den Mund. »Weißt du, es ist wie mit unserem Liebesspiel:
Eine innere Unruhe treibt mich immer weiter vorwärts, bis ich das Rätsel gelöst habe und
erst dann kann ich mich wieder entspannen und ruhig durchatmen.«
»Na, dann erzähl mir doch gleich mal, welche Karten dir die Kahuna diesmal vorgelegt hat.
Vielleicht kann ich dir ein wenig helfen, damit du wieder ruhig schlafen kannst.«
Abermals nickte ich. »Also, die alte Frau hob acht Karten ab. Die erste bedeutete Ohana, also
Familie. Die zweite Ho'oponopono. Ihre Bedeutung kenne ich nicht genau.«
»Ho'oponopono bedeutet anderen, oder auch sich selbst zu vergeben. Es kann aber auch
einfach bedeuten, etwas richtig zu stellen«, übersetzte er.
»Die Dritte hieß Kapu«
»Verbot«, sagten wir zugleich.
»Dann folgte Makuahine für Mutter und Huna für Geheimnisse. Danach kam `eha koni für
gebrochene Herzen.«
»Eher für schmerzende Herzen«, berichtigte er mich.
»Die Siebte Kâpili.«
»Jemanden zusammenbringen«, übersetzte er ungefragt.
»... und die letzte Karte war Nokona hauoli oder so ähnlich.«
»Nohona hau `oli. Es steht für glückliches Leben.«
Ich nickte und fuhr fort. »Ich hörte ein Kreischen und schaute in den Himmel. Dort flog eine
Eule. Die alte Frau murmelte noch ‘aumakua hoʹomaluhia und dann bin ich aufgewacht.«
Tom sah mich nachdenklich an. »Eine Eule ... wie sah sie aus?«
»Wie Eulen halt aussehen.«
»Ist dir nichts ... Ungewöhnliches an ihr aufgefallen?«
»Außer, dass sie sehr groß war und ein weißes Gesicht hatte? ... Nein.«
»Bist du dir sicher, dass es eine ganz normale Eule war?« Jetzt durchbohrte sein Blick mich
nahezu.
»Jetzt, wo du´s sagst, fällt mir ein, dass sie von blauem Licht umhüllt war.«
Tom sprang vom Stuhl auf und fuhr sich fahrig über das Gesicht.
»Was ist?«, fragte ich, »habe ich etwas ...«
Tom setzte sich wieder und legte beide Hände an meine Wangen. »Engel, du hast den
Aweiku der Noelanis gesehen«, erklärte er und versuchte irgendetwas in meinen Augen
lesen zu können.
So ruhig wie möglich sah ich ihn stillschweigend an.
Er nahm jetzt meine Hände in seine. »Du weißt nicht, was das bedeutet, oder?«
Ganz leicht wiegte ich meinen Kopf hin und her.
»Nun, die Noelanis glauben noch an die alten Götter. Die Eule, die du gesehen hast,
symbolisiert bei uns Noelanis einen Aweiku ... im christlichen Glauben spricht man von
einem Engel. Die Überlieferung besagt, dass die Familiengötter den Aweiku schicken, wenn
Gefahr droht oder wenn etwas wieder ins Gleichgewicht gebracht werden muss und der
Aweiku der Noelanis ist eine in blau schimmerndes Licht gehüllte Eule.«
»Also muss ich ein Unglück verhindern, welches den Noelanis widerfährt.« Obwohl ich es
im Grunde schon längst wusste, versuchte ich so zu tun, als ob es mir gerade erst auffiel.
»Oder etwas ins Gleichgewicht zurückbringen«, flüsterte er leise. Völlig abwesend nuschelte
er, mehr zu sich selbst: »Den Familiengöttern Frieden bringen.«
Tom stand auf und ging zu der Bar hinüber. Während er sich, sehr nachdenklich wirkend,
einen Cognac eingoss, wiederholte er die Worte: »Familie, etwas richtig stellen, Verbot,
Mutter, Geheimnisse«, er entleerte das Glas in einem Zug. »Schmerzende Herzen, jemanden
zusammenbringen, glückliches Leben und den Familiengöttern Frieden bringen.« Er nahm
nochmals einen großen Schluck direkt aus der Flasche zu sich. »Familie, Geheimnisse,
Mutter, Verbot«, wiederholte er noch einmal. Er kam zu mir hinüber und stellte sich direkt
vor mir auf. Erneut nahm er einen Schluck, dann sah er mich eindringlich an. »Bist du
deshalb mitgeflogen?«
Erstaunt sah ich ihn wortlos an.
»Du meintest doch wohl nicht, dass ich keinen Zusammenhang zwischen deinem
Zusammenbruch und deinen Träumen ziehen kann, nachdem, was du mir gerade erzählt
hast.«
Ich erschrak und griff nach seiner Hand. »Nein, Tom. Du solltest so etwas nicht mal denken.
Ich bin nur deinetwegen mitgekommen. Du musst mir glauben, ich bin hier, weil ich bei DIR
sein wollte ...«
»Dann schwör es.«
»Was soll ich dir schwören?«
»Dass du den Traum nicht weiter verfolgst!«
»Das kann ich nicht. Die Visionen suchen mich heim und nicht ich sie. Was auch immer ich
aufdecken soll ... es wird ans Licht kommen, so oder so.«
Den Blick, den Tom mir zuwarf, konnte ich nicht deuten. Es war eine Mischung aus Sorge,
Bedauern und Misstrauen. »Es gibt Dinge, die sollten lieber im Verborgenen bleiben«, sagte
er leise, aber bestimmend.
»Du weißt mehr, als du zugibst«, raunte ich ihm zu.
»Vielleicht«, antwortete er und genehmigte sich noch mehr von dem Cognac.
»Und du bist auch nicht bereit, dein Wissen mit mir zu teilen. So wie ich meine Geheimnisse
habe, so hast du deine ...«
Er nickte nur.
»Gut, damit muss ich leben. Höchstwahrscheinlich hat die Aufgabe ja auch nichts mit dir zu
tun. Vielleicht geht es um ...«, ich überlegte einen kurzen Moment und setzte erneut an, »um
Sophie. Es ist ein Rätsel, wo sie ist. Die McAllisters sorgen sich um sie. Vielleicht soll der
Aweiku mir mitteilen, wo ich sie finden kann.«
»Oh Engel, das wäre wunderbar.« In seinen Augen konnte ich die Hoffnung aufkeimen
sehen, die Hoffnung, dass es um Sophie und nicht um seine Geheimnisse geht und die
Hoffnung, dass ich Sophie finden würde, und zwar lebend.
Ich spürte, dass es nicht die richtige Zeit war, um das Thema weiterzuverfolgen, also setze
ich mich auf das Sofa und schaltete den Beamer ein.
Tom ging indes ins Bad und kam zehn Minuten später frisch geduscht zurück. Er setzte sich
neben mich.
Verschmitzt lächelte ich ihn an.
»Was ist?«, fragte er immer noch misstrauisch wirkend.
»Oh, ich hab nur gerade gedacht, dass ich dir noch ein wenig Dank schuldig bin«, erwiderte
ich lächelnd und beugte mich über ihn. Da er nur ein Handtuch um seine Hüften
geschlungen hatte, war es für mich ein Leichtes an mein Ziel zu kommen.
Er erzitterte unter meinen Liebkosungen. »Du Hexe«, keuchte er leise und seine Hände
wühlten sich durch mein langes blondes Haar. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, wie er
mich beobachtete. Seine Augen forderten mich auf, nicht aufzuhören. Sie trieben mich
wortlos weiter an. Tom ließ seinen Kopf nach hinten fallen und ergab sich mir mit Haut und
Haaren.
Kurz darauf spürte ich die Anspannung, die durch seine Schenkel ging und ließ von ihm ab.
In diesem Moment entwich ihm ein lautes Stöhnen und meine Hand, die auf seinem Bein
lag, wurde feucht.
»Es tut mir leid«, raunte er.
Grinsend griff ich nach meinem Handtuch, welches inzwischen auf dem Boden lag. »Das
gehört wohl dazu.«
»Stimmt.« Er grinste, dann wurde er jedoch wieder ernst. »Damn! Nimmst du eigentlich die
Pille?«
Äußerlich tat ich gelassen, doch innerlich war ich zerrissen. »Sagen wir´s mal so: Im Moment
besteht nicht die Gefahr ...«
»Sagte sie und er wurde Vater«, lachte er auf und vertrieb damit meine aufkeimende
Melancholie ein Stück weit. Tom zog mich zu sich aufs Sofa und ich kuschelte mich in seinen
Arm hinein. »Naja, um Krankheiten müssen wir uns wohl auch keine Sorgen machen. Du
hattest lange keinen Sex mehr und ich geh regelmäßig zum Checkup. Doch in Zukunft
sollten wir darauf achten ein Kondom zu nehmen, damit du nicht doch noch ungewollt
schwanger wirst.«
Langsam nickte ich und während Tom gebannt auf den Bildschirm blickte, ließ ich einer
Träne den freien Lauf.
Ein paar Filme weiter ertönte aus den Lautsprechern erneut die Stimme des Piloten. »Wir
erreichen den Honolulu International Airport in 15 Minuten. Bitte machen Sie sich bereit für
den Landeanflug.«
Augenblicklich zogen wir uns wieder an.
Als der Flieger nur noch einen Meter über dem Boden schwebte, ließen wir uns in die Sessel
fallen und gurteten uns an. Es ruckelte und zuckelte. Dann stand die Maschine
bewegungslos und die Motoren schalteten sich aus. Gleich darauf schnallten wir uns ab.
Tom zog mich noch mal auf seinen Schoß. »Eine Frage habe ich noch«, sagte er. »Liebst du
mich?«
»Ich weiß es nicht ... aber irgendwas empfinde ich wohl für dich, ansonsten hätte ich wohl
kaum mit dir geschlafen«, flüsterte ich.
In seine Augen trat ein Hauch von Schwermut, doch sein Mund sprach eine andere Sprache:
»Na gut, es ist nicht wichtig. Hauptsache du bist bei mir.« Tom half mir wieder auf die Füße.
Jeder von uns nahm sich einen Koffer und wir gingen Hand in Hand aus dem Goldstück in
die anbrechende Dunkelheit hinaus.
Eintritt in eine neue Welt
Am unteren Ende der Rolltreppe erwartete uns schon, vor einem Phaeton stehend, ein junger
Mann.
Als wir bei ihm ankamen, sagte Tom: »Darf ich vorstellen: Das ist Keoni. Anscheinend ist er
heute unser Chauffeur und ansonsten ist er einer meiner besten und ältesten Freunde.«
Keoni hielt mir einen Lei entgegen, während er mich von oben bis unten begutachtete.
Leicht verunsichert über diese Kühnheit hob ich leicht meinen Kopf und erwiderte kurz: »Hi.
I'm Nina ... Toms girlfriend.«
Mein Gegenüber horchte auf und man konnte genau sehen, dass er mindestens so erstaunt
war wie Onkel Charles. Doch was auch immer ihm auf der Zunge brannte, er verkniff es
sich. Stattdessen legte er mir das Blumengebinde aus Orchideen um meine Schultern und
öffnete kurz darauf die hintere Autotür. »Sie können deutsch sprechen. Tom hat mir ein little
bit gezeigt«, sagte er und deutete mir an, Platz zu nehmen.
»Okay ... danke, ich meine natürlich Mahalo.« Für einen Moment blieb ich stehen und genoss
die warme weiche Luft, die mit meinen Haaren spielte, während Tom zu seinem Handy
griff.
»Aloha Joseph«, hörte ich ihn sagen. Das Dröhnen eines Jumbojets übertönte die weiteren
Worte. »Sunshine«, wehte herüber, dann drang »Kiai« durch den Lärm hindurch zu mir
hinüber. »Makana«, hörte ich ihn als Nächstes rufen und sah, wie er zustimmend nickte.
»Yes. Liliko'i a Ipu«, rief er in den Hörer, dann jedoch schüttelte er seinen Kopf und brüllte
ins Handy: »`A`ole Uku.« Erneut bejahte er, indem er den Kopf nach oben und unten
bewegte. »Hala-kahiki a Manako. Okay, that's enough. Thank you. Goodbye Joseph«, brüllte
er noch einmal gegen den andauernden Flugzeuglärm gegen an. Tom schob das Handy in
seine Hosentasche und kam auf uns zu.
Keoni wollte zum Flugzeug hochgehen, doch Tom wehrte ihn ab. »Lass gut sein. Verstau du
doch schon mal die beiden Koffer«, wies er ihn an und flitzte selbst in das Flugzeug, um
kurz darauf mit unserem restlichen Gepäck wieder beim Wagen zu erscheinen.
Der junge Hawaiianer sah ihn leicht vergrämt an. »Du weißt das sein meine Aufgabe. Wenn
Mister Eric erfährt ... ich komm in hell´s kitchen.«
»Wenn du ihm nichts sagst: Ich und mein Engel sagen ihm bestimmt nichts.«
Abermals sah man die Verwirrtheit in Keonis Gesichtszügen, auch wenn er versuchte, es sich
nicht anmerken zu lassen. Wortlos verstaute er das Gepäck im Kofferraum.
Mitunter war da wieder das Gefühl, an etwas Außergewöhnlichem teilzunehmen. Doch ich
war zu aufgeregt, um mir darüber weiter Gedanken zu machen. Ich setzte mich auf die
Rückbank des Phaetons und gleich darauf folgte Tom mir in den Wagen.
Als wenn er mir eine Erklärung schuldete, sagte er: »Ich bin mit Keoni aufgewachsen. Er ist
über Ecken sogar mit mir verwandt. Aber auch, wenn er es nicht wäre, hätte ich die Koffer
selbst getragen. Ich bin der Ansicht, dass ich meine Drecksarbeit immer noch selber
erledigen sollte, solange ich zwei gesunde Arme und Beine habe und der Angestellte nicht
gerade Anton heißt.« Er verblüffte mich immer wieder aufs Neue. Tom zog meinen Kopf an
seine Schulter und hauchte mir einen Kuss auf mein Haar. »Engel, wir sind in dreißig
Minuten zu Hause.«
Mein Magen zog sich zusammen. Zu Hause, bei ihm, bei seiner Familie. Ich wurde unruhig.
Er merkte es und zog mich noch näher an sich.
Wir fuhren zunächst auf dem H1 durch die Stadt und wechselten dann in einem Gewirr von
Autobahnstraßen auf den H3, welcher quer durch die Koolau Mountains führte. Erst auf der
anderen Seite der Insel verließen wir den Highway und fuhren eine Landstraße entlang, bis
Keoni vor einem riesigen Eisentor hielt, welches sich nach einem kurzen Blick des
Wachmannes ins Wageninnere langsam öffnete.
Auf Toms Anweisung hin fuhr Keoni auf das Grundstück und hielt an..
Tom stieg aus und bat mich ihm zu folgen.
Freundlich wurden wir vom Wachpersonal begrüßt und Tom umarmte jeden Einzelnen von
den Anwesenden, während ich jedoch erst mal still von oben bis unten gemustert wurde.
Ich wurde langsam, aber sicher nervös. Wenn diese Menschen mich schon so begutachten, wie
wird dann erst Toms Familie auf mich reagieren? Ich erschauerte bei dem Gedanken daran.
Tom bemerkte mein Unwohlsein und schloss mich wieder in seine Arme. »Engel, nur die
Ruhe, ... wenn sie dich erst mal kennengelernt haben, werden sie dich lieben.«
Seine Worte beruhigten mich, wenngleich ich mich auch wunderte, woher er wusste, was
mich beschäftigte.
Ein Wiehern ertönte und aus der Dunkelheit heraus ritt ein Junge ins Licht der Scheinwerfer.
»Hey, da ist ja mein Schatz«, frohlockte Tom und ging geradewegs auf den Schimmel zu.
Der Knabe glitt hinunter, übergab Tom die Zügel und zeigte auf die Satteltasche.
Tom nickte, machte einzelne kleine Bewegungen mit seinen Fingern und kurz darauf setzte
der Junge sich in den Phaeton. Tom indes wandte sich mir zu. »Hele mai ... komm her.
Sunshine wird dich schon nicht beißen. Sie ist gut erzogen.«
»Oh, das glaube ich gern.«
»Warum zögerst du dann?«
»Weil ich auf mein Pferd warte.«
»Du reitest auch? ... Das wusste ich nicht, sonst hätte ich Devil auch noch satteln lassen.«
Tom lachte und nachdem Keoni übersetzt hatte, schlossen er und die Wachmänner sich dem
Lachen von Tom an.
Hoch erhobenen Hauptes schoss ich an ihm vorbei und sprang förmlich auf das Pferd. »Are
you coming?« Herausfordernd hielt ich ihm meine Hand entgegen. Geschmeidig ließ er sich
hinter mir auf dem Sattel nieder. Ich griff nach den Zügeln. »Okay Cowboy ... Tell me the
way!« Diesmal waren die Lacher auf meiner Seite.
»Da lang. Wir reiten in südliche Richtung.«
Geschickt wendete ich das Pferd. Durch den Schein des Vollmondes konnte ich die Gegend
gut erkennen. Wir ritten im strengen Galopp über kleine Hügel, weite Landschaften und
auch an einer steilen Klippe entlang. Zwischen Palmen und großen Sträuchern waren
Blumenwiesen und karge Steinwüsten verteilt. Es war eine wilde, sich stetig wandelnde
Landschaft.
Als die Steilküste sich zu einem Berg verformte, bat Tom mich an diesem Felsvorsprung im
Schritt entlang zu reiten.
»Das eben, war es Gebärdensprache?«, fragte ich ihn, weil mir der Junge noch immer im
Kopf herumspukte.
»Ja, Josh ist taubstumm.«
»Aber er ist kein Noelani, oder? Er war so blass. Ist er ein McAllister?«
»Nein. Der Junge kommt nicht von hier. Niemand weiß, wo er herkommt. Ben hat ihn eines
Tages in den Stallungen erwischt. Er musste dort schon eine Zeit lang gehaust haben, denn
er war total ausgemergelt. Mom hat ihn wieder aufgepäppelt und ihn dann nach Waimanalo
Child gebracht.«
»Waimanalo Child ?«
»Ja, das ist ein Kinderdorf, ganz in der Nähe. Aber Josh hat es nicht lang dort ausgehalten.
Ich weiß nicht, wie er es genau geschafft hat, aber er ist über diesen Berg wieder hierher
zurückgekehrt und hat sich erneut im Stall versteckt. Joseph, der Stallmeister, hat ihn dann
bei sich aufgenommen, und seit er sich um die Pferde kümmern darf, ist er richtiggehend
aufgeblüht. Ich, für meinen Teil, vertraue niemand anderem Sunshine an. Er ist auch, neben
Ben, der Einzige, der an Devil herantreten darf, ohne von ihm niedergetrampelt zu werden.
Es ist fast so, als ob er mit den Pferden sprechen könnte ... Kannst du dir das vorstellen?«,
fragte er.
»Ja. Mein Vater kann das auch. Ich meine natürlich nicht richtig. Aber er braucht einem Tier
nur in die Augen zu blicken und es macht, was er will. Für seinen Beruf als Tierpfleger war
das immer sehr praktisch. Selbst in den Löwenkäfig hätte er wohl mit einem Steak gehen
können, ohne angegriffen zu werden.«
»Wir sind da«, flüsterte Tom ehrfurchtsvoll und schnalzte kurz, woraufhin das Pferd sofort
anhielt.
»Wo?«, fragte ich. Vor uns war nur eine Steinwand.
Tom glitt von Sunshine und zog mich hinunter, dann griff er nach der Satteltasche und ging
auf die Felswand zu. »Wenn du Angst bekommst, solltest du schleunigst wieder rauslaufen.
Die Kiai, also die Schutzgeister, können sehr rau werden.« Tom verschwand in einem Spalt
in der dunklen Wand und ich glitt hinterher.
Es war ein enger feuchter Tunnel, doch nach ca. drei Metern bog er rechts ab und wir
standen in einem von Fackeln hell erleuchteten Raum.
»Oh. Jemand war schon hier und hat Makana, also Geschenke, gebracht. Wir legen unsere
Früchte am besten gleich dazu.«
»Früchte?«
»Ja, als Opfergaben an die ‘aumakua ... für Sophie. Vielleicht hilft es und wenn nicht,
schaden tut es jedenfalls nicht.« Tom öffnete die Satteltasche und zog eine Ananas heraus.
»Hala-kahiki.« Dann nahm er eine Mango: »Manako« und eine Passionsfrucht: »Liliko'i« aus
der Tasche und legte sie vor sich auf den Steintisch.
Enttäuscht schaute er noch mal in den Lederbeutel. »Keine Ipu! Mmh, die Wassermelone
war wahrscheinlich zu groß, aber wenigstens hat Joseph auch darauf verzichtet, Uku
mitzugeben. Ich glaube, der Kaiserfisch hätte nach einem Tag schon ziemlich stark
gestunken.«
Ein Wind blies durch den Raum. Tom fuhr zusammen. »Wie fühlst du dich? Ist dir kalt?
Hast du Angst?«, fragte er leicht besorgt.
»Nein, gar nichts von alledem. Mir geht´s gut, mir ist richtig warm und Angst habe ich auch
nicht. Mir ist eher so, als ob mich jemand in weiche Watte gehüllt hätte.«
»Watte?«
»Ja, ich weiß nicht, wie ich es sonst beschreiben soll. Es ist, als ob mich tausend Hände
streicheln und Hunderte von Lippen küssen würden.«
Tom riss die Augen weit auf und Sunshine wieherte unruhig. »Wir sollten gehen!« Ohne
weitere Vorwarnung griff er meine Hand und zerrte mich hinter sich her. Jetzt lief mir doch
ein Schauer über den Rücken.
Draußen angekommen setzte er sich ohne Umschweife auf das Pferd und zog mich hinauf.
Diesmal nahm er die Zügel in die Hand und wir ritten im strengen Galopp in Richtung
Norden.
Was ist los? Was habe ich getan? Gedanken voller Selbstzweifel rauschten durch meinen Kopf.
Erst bei den Stallungen hielt er Sunshine an.
Josh kam gleich zu uns gelaufen und half mir abzusteigen.
Tom folgte mir mit einem graziösen Sprung. Wieder gab er Josh Anweisungen in
Gebärdensprache. Dieser nickte und verschwand mit dem Schimmel im Stall.
Tom wandte sich mir zu. »War das herrlich! Hast du auch den Wind in den Haaren
genossen, so wie ich?« Er strahlte übers ganze Gesicht. »Meine Sunshine hat ein ordentliches
Tempo drauf. Nur Devil kann sie einholen.«
Ich verstand die Welt nicht mehr: Eben noch hatte ich den Eindruck, Toms Gefühle verletzt
zu haben und jetzt strahlte er mich an.
Er kam lachend auf mich zu. »Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe, aber als du
vorhin von Küssen und Streicheln gesprochen hast, musste ich mich ganz schön
zusammenreißen, um nicht in der heiligen Grotte über dich herzufallen. Wie wär es mit
einem Abstecher ins Stroh?«
»Du bist unmöglich, Thomas Jefferson McAllister!« Meine Selbstzweifel wandelten sich in
Zorn.
»So wie du jetzt gerade schaust, ist es wohl das Beste, wenn ich dir lieber das Center als das
Strohbett zeige.« Er reichte mir die Hand.
Widerwillig nahm ich sie.
Tom führte mich erst an dem Stall und dann an einem anderen Gebäude entlang. Der Weg
endete an einem riesigen Platz, welcher vom Vollmond und den ihn umrahmenden Laternen
hell erleuchtet wurde, sodass ich die fünf vor uns stehenden Gebäude ohne Schwierigkeiten
ausmachen konnte. Die Häuser waren alle in Weiß gehalten, die Fensterläden der einzelnen
Gebäude waren jedoch in verschieden Farben abgesetzt. In der Mitte des Platzes hob sich ein
großer Brunnen hervor, in dessen Mitte sich der Mond widerspiegelte.
Tom zeigte auf das größte, uns gegenüberliegende, Gebäude mit den grauen Fensterläden.
»Das ist das Haus von Onkel Eric und Tante Leanne. Wir nennen es das Strandhaus. Dort
treffen wir uns alle zu den Mahlzeiten. Im ersten Stockwerk befinden sich die Schlafzimmer
von Eric und Leanne. Nach ihrer geplatzten Hochzeit ist Sunny zusammen mit Lucy in die
Dachgeschosswohnung eingezogen.« Etwas in Tom Stimme ließ mich aufhorchen: Er klang
auf einmal so verbittert.
Ich versuchte, in seinem Gesicht den Ursprung dieser Unzufriedenheit zu erkennen.
Wahrscheinlich denkt er gerade an Sophie. Ja, das musste es gewesen sein, denn im nächsten
Moment wandte sich Tom nach rechts, rüber zu dem größten der Nebengebäude mit den
blauen Fensterläden.
»Dort lebt Ben mit … seiner Familie.« Erneut war die Melancholie in seiner Stimme nicht zu
überhören. Er drehte sich abermals nach rechts weiter. Sein Finger zeigte auf ein kleineres
Haus mit grünen Fensterläden. »Dieses Haus wird von Clark Newton bewohnt. Er ist Bens
rechte
Hand
und
ist
auch
der
Geschäftsführer
von
Children´s
Hope,
einer
Wohltätigkeitsstiftung, die wir McAllister ...«
»Zum Schutze und Wohl von Kindern eingerichtet haben«, ergänzte ich den Satz und Tom
blickte mich erstaunt an. »Ich kenne Children´s Hope. Es war eins von ihren Dörfern,
welches ich in Südafrika besucht habe. Ich wusste nur nicht, dass deine Familie dahinter
steckt.«
Tom schmunzelte verlegen. »In Europa ist Children´s Hope ja auch nicht so bekannt. Im
Grunde ist es das Lebenswerk meiner Mom. Sie hat die Stiftung von dem Geld gegründet,
welches sie von Sam bei der Scheidung bekam. Sie wollte den größten Teil des Geldes
einfach sinnvoll anlegen.« Tom merkte man an, wie sehr er seine Mutter bewunderte, ja
sogar vergötterte.
Mich durchzog ein warmes und doch zugleich trauriges Gefühl. Er ist ein guter Sohn und er
wäre ein guter ... Vater. Ich atmete tief ein und schloss für einen Moment die Augen. Aus
weiter Ferne hörte ich kaum wahrnehmbar die Stimme von Tom, während ich gegen meinen
aufkeimende Schwermut ankämpfte.
»Am Anfang ging es auch nur um die Kinder auf den Hawaii-Inseln. Doch mit der Zeit
expandierte die Stiftung und inzwischen gibt jeder von uns zehn Prozent seines
Jahreseinkommens ab. Außerdem veranstalten wir zum Herbst hin einen Wohltätigkeitsball
und im Frühjahr ein Benefizkonzert, um Spendengelder zu sammeln.« Ihm war die
Selbstachtung ins Gesicht geschrieben, während mich immer noch die Traurigkeit berührte.
»Ich hoffe, du wirst im Herbst mit mir zum Ball zurückkehren. Sunny richtet ihn jedes Jahr
aus. Er ist einfach phänomenal. Auf jeden Fall musst du mir versprechen, bis dahin noch
Tango zu lernen. Früher habe ich ihn immer mit Sunny getanzt. Sie ist eine grandiose
Tänzerin, aber seitdem die Leute anfingen über unsere ... Freundschaft zu tuscheln,
vermeiden wir es. ... Nina?«, Tom winkte mit der Hand vor meinen Augen. »Engel?«
»Mmh, ja?«, die Niedergeschlagenheit war einer aufkeimenden Wut gewichen. Ich war
verärgert, mit welcher Inbrunst Tom wieder von Sunny erzählte. Inzwischen sollte ich mich
eigentlich daran gewöhnt haben, mit welcher Lebendigkeit er immer von ihr spricht. Doch je länger
ich ihn kannte und je mehr er mir von ihr erzählte, desto unsympathischer wurde sie mir.
Obwohl ich sie noch nicht einmal kannte, mochte ich sie nicht. Sie kostet ihr Leben in vollen
Zügen aus, während ich mich jahrelang vor der Welt versteckt halte. Ich kniff die Augen
zusammen, als wenn ich damit meinen Zorn unter Kontrolle bringen könnte.
»Ist alles ...«
»Ja, es ist alles in Ordnung. Der Jetlag macht mir nur zu schaffen«, beschwichtigte ich ihn
und auch mich selbst.
»Sollen wir ins Haus gehen?«, fragte Tom besorgt, schloss mich abermals in seine Arme ein
und küsste mich auf die Stirn. »Du siehst wirklich geschafft aus. Ich denke, den Rest zeige
ich dir morgen.«
Ich schüttelte den Kopf, meine Neugierde und die Nervosität waren einfach zu groß. »Warte!
Sag mir erst noch kurz, was das für andere Häuser sind«, forderte ich ihn auf.
Er zeigte zu dem längsten Gebäude, direkt hinter uns. Es hatte weiße Fensterläden und zwei
riesige Tore. »Das ist die Garage. Darin stehen fünf Autos.« Er drehte sich nun nach links.
»In dem Gebäude, mit den gelben Fensterläden«, er zeigte auf das erste Haus, »lebt Keoni
mit seiner Familie. Keonis Mutter, meine Großtante Maylea, wir nennen sie übrigens Tutu,
führt die Küche im Strandhaus und ihr Mann Kekoa ist für die Außenanlagen und den
Fuhrpark zuständig. Direkt daneben«, sein Blick ging zu dem Haus, welches zwischen dem
von Keoni und dem Strandhaus stand, »in dem kleinsten Haus, mit den roten Fensterläden,
lebt meine Mutter Christine. Die anderen Häuser, der Noelanis sind überall auf dem
Anwesen verteilt. So, das war´s. Kurz gehalten, wie mein Engel es gewünscht hat. Möchtest
du jetzt reingehen?«
Ich schüttelte erneut den Kopf. »Nein, ich möchte diese Ruhe noch einen Moment genießen.«
Mir war ein wenig Bange davor, Toms Familie kennenzulernen, also versuchte ich, das
Unvermeidliche noch ein wenig hinauszuzögern. Obgleich mich hier draußen das Gefühl
beschlich, beobachtet zu werden, zog ich die Dämmerung dem hellen Licht vor, welches sich
aus der geöffneten Haustür des Strandhauses auf den Hof verteilte.
»Da hab ich eine ganz tolle Idee«, sagte Tom, nahm meine Hand und zog mich über den
Platz in Richtung von Bens Haus.
Instinktiv sah ich nach oben. Bens Balkon über der Garage wurde indirekt durch das Licht
des Hofes beleuchtet. Im Halbschatten sah ich ihn: In seinem Anzug wirkte er muskulös,
athletisch und ehrerbietig. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber sein Blick brannte auf
meiner Haut und löste eine innere Zittrigkeit in mir aus. Eine paar Sekunden später
verschwand er aus meinem Sichtfeld.
Tom zog mich unaufhörlich weiter.
Wir durchquerten die breite Passage zwischen dem Strandhaus und Bens Haus und gingen
über eine grüne Wiese mit großen wuchtigen Palmen und Inseln aus Blumen.
Ich vernahm ein tosendes Geräusch. Je weiter wir gingen, desto lauter wurde es.
Der Rasen endete in einem feinen weißen Sand. Tom hielt inne und zog seine Schuhe aus.
Ich tat es ihm gleich und so gingen wir barfuß weiter über den Sand. Der Mond wurde von
einer Wolke bedeckt und der weiße Sand verwandelte sich in einen grauen Schatten.
Urplötzlich blieb Tom stehen.
Ich machte noch einen Schritt nach vorn und, wenn Tom mich nicht festgehalten hätte, wäre
ich die Sanddüne hinunter gestürzt. Der Mond kam wieder hinter der Wolke hervor und
dann sah ich das umwerfende Panorama.
»Darf ich vorstellen: Moana, der Ozean«, sagte Tom ehrfurchtsvoll.
»Er ist wunderschön«, hauchte ich und konnte den Blick von diesem Schauspiel nicht
abwenden. Auf der rauen Oberfläche des Pazifiks spiegelten sich der Mond und die Sterne
wieder. Die Wellen brachen sich am Strand, glitten leise wieder ins offene Meer zurück, um
im nächsten Augenblick erneut an den Strand geworfen zu werden. Ich folgte dem lauteren,
tosenden Geräusch. Rechts wurde der Strand durch eine Felswand abgetrennt, an dessen
Mauer sich die Kraft des Meeres entlud.
Mein Blick ging in die andere Richtung: Etwas links war ein Bootssteg und am Ende dieses
Steges war eine Motorjacht befestigt. Ich hatte zwar keine Ahnung von Booten, aber meiner
Meinung nach war es ein kleineres Modell, eher zum Vergnügen des Besitzers, als zur
Beherbergung von Gästen gedacht. Ein kurzes Stück hinter dem Boot verlief eine feine Linie
aus Bojen. Mein Blick glitt wieder zurück zum Strand. Dieser machte ein kleines Stück weiter
einen Bogen und verlief parallel zum Steg ins Meer hinaus. Im Zusammenspiel mit der
Felswand bildete der Strand eine kleine Bucht. Ein Ort zum Sterben, dachte ich.
Wir setzten uns oben auf die Düne und beobachteten das Spiel der tosenden Brandung.
»Wir müssen noch über etwas reden«, druckste Tom herum.
»Willst du mich verlassen?«, fragte ich verunsichert.
Tom lachte. »Wie kommst du denn auf so was? Nichts und niemand kann mich von dir
trennen, solange du es nicht selber möchtest.«
Erleichtert seufzte ich auf. »Entschuldige. Die Reaktionen von Charles, Keoni und den
Wachmännern haben mich nur so nervös gemacht. Sie schauen mich alle an, als wäre ich ein
Geist oder eine Fata Morgana.«
»Das liegt an mir.« Schuldbewusst schaute Tom mich an und griff nach einem Stock, der
neben ihm lag, um mit diesem zu spielen. »Ich habe noch nie eine meiner zahlreichen
Freundinnen mit nach Hause gebracht. Um ehrlich zu sein, bist du erst die zweite Frau, für
die ich wirklich Gefühle hege ...« Für einen kurzen Moment sah ich Wehmut in seinem
Gesicht aufflackern. »Jedenfalls bist du die Erste, die ich meiner Mutter vorstelle. Das ist
selbst für mich neu.«
»Und die andere, die du liebtest, hast du nie mit nach Hause genommen?«
Er stocherte mit dem Ast im Sand. »Es gab gewisse Schwierigkeiten mit ihrer Familie, also
trennten wir uns bereits nach kurzer Zeit. Aber das ist jetzt nicht das Thema. Wir müssen
über unsere Zukunft sprechen und nicht über meine Vergangenheit.«
Unsere Zukunft. Auf einmal klingt es nicht mehr so befremdlich. Es klingt wunderschön, eine
Zukunft mit einem Mann zu haben. Mir wurde warm ums Herz.
Dann fühlte ich seinen Blick auf mir haften. Er lächelte mich liebevoll an. Als würde er mich
zum ersten Mal wirklich wahrnehmen, beobachtete er jeden meiner Gesichtszüge.
»Was ist?«, fragte ich ihn belustigt.
»Ich sehe ein Leuchten in deinen schönen Augen schimmern. Es gefällt mir.«
Intuitiv küsste ich ihn.
Nach einer Ewigkeit lösten wir uns voneinander.
»Engel, ich versuch es noch mal«, er räusperte sich. »Ich habe dich auf meiner Studentenliste
für das kommende Semester entdeckt. Doch so wie die Dinge jetzt mit uns stehen, kannst du
nicht in Bremen studieren. Wenn das rauskommt, dass ich mit einer meiner Studentinnen
zusammen bin, würde ich nicht nur eine Kündigung, sondern vielmehr meinen guten Ruf
riskieren ... Verstehst du?«
»Shit, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Hätte ich das gewusst, hätte ich nie etwas mit
dir angefangen«, meinte ich amüsiert.
»Das ist nicht lustig. Ich mag meine Anstellung. Sie gibt mir eine gewisse Selbstachtung und
...«
Ich verschloss kurz seinen Mund mit meinen Lippen, bevor er weiterreden konnte. »Tom, ich
habe mir diese Gedanken bereits nach Lars Hochzeit gemacht und mich deshalb dazu
entschlossen, mich bei anderen Unis zu bewerben.«
»Hast du denn schon was von den US-Unis gehört?«
»Ja, von der UC-Davis und Oklahoma City habe ich Zusagen. Aber ich hoffe, dass die
Northwestern California University sich noch meldet. Da könnte ich die meiste Zeit von
Zuhause aus übers Internet, studieren.«
»Die melden sich bestimmt auch noch bei dir. Und ansonsten hast ja noch ein halbes Jahr
Zeit, bis du dich entscheiden musst.«
»Leider nicht. Wegen der Nachzügler von den Wartelisten muss die Entscheidung bis Mitte
Oktober fallen.«
»Na ja, das sind immerhin noch knapp 4 Monate.« Er legte den Stock zurück in den Sand.
»So, da wir das ja jetzt mit meinem Kurs geklärt haben, können wir uns wieder den schönen
Dingen des Lebens widmen.« Tom sprang auf, griff meine Hand und zog mich die Düne
hinunter. Er lief selbst noch weiter, als ich bereits das kühle Nass des Meeres an meinen
Füßen spürte. Als das Wasser bereits an meine Knie reichte, ließ er meine Hand los und
sprang mit einem Hechtsprung ins offene Meer.
Ich tat es ihm wieder mal gleich. Nach ein paar Metern kam ich wieder an die
Wasseroberfläche, doch von Tom war keine Spur zu sehen. Es vergingen einige Sekunden, in
denen ich die Wellen nach ihm absuchte, als er ein paar Meter vor mir wieder auftauchte.
Er drehte sich geschwind um und lachte mich an. »Das müssen wir aber noch üben«,
scherzte er.
Ich spritze Wasser nach ihm, wohl wissend, dass es ihn nicht erreichen würde.
Er tauchte wieder ab und kam nur ein paar Zentimeter vor mir wieder hoch. Bevor ich etwas
sagen oder machen konnte, hatte er bereits seine rechte Hand an meinen Hinterkopf gelegt
und küsste mich. Seine Lippen lösten sich nach einer Ewigkeit von den meinen.
»Willkommen auf Noelani, mein Engel«, hauchte er mir zu und küsste mich erneut.
Die Minuten verrannen, während wir im Wasser trieben und uns liebkosten. Irgendwann
hörten wir ein Rufen. Es kam vom Strand. »Tom, Nina. Wir haben uns schon Sorgen
gemacht und euch überall gesucht.«
Am Strand stand eine schöne dunkelhaarige Frau. Sie wirkte reif, aber nicht alt. Durch das
helle Mondlicht konnte ich auch die warmen Züge in ihrem Gesicht sehen, die dieselbe
Wärme und Güte ausstrahlten, wie die mir gegenüber. Am Strand stand Toms Mutter
Christine.
»Schade, man hat uns erwischt. Dabei hatte ich eigentlich noch was vor«, scherzte Tom und
küsste mich abermals, diesmal jedoch nur kurz. »Komm, bevor ich noch Hausarrest kriege«,
feixte er und schwamm mit kräftigen Zügen in Richtung Land.
Ich versuchte ihm hinterher zu schwimmen, doch irgendetwas hatte von mir Besitz ergriffen
und zog mich hinaus aufs Meer. Jeder Schwimmzug, den ich machte, sorgte lediglich dafür,
dass ich auf der Stelle blieb und nicht weiter forttrieb, aber dem Strand kam ich nicht näher.
Seine Mutter Christine fing an, mit den Armen zu gestikulieren. »Tom, die Strömung! Hol sie
schnell da raus«, schrie sie hysterisch.
Tom drehte sich um und schwamm mir sofort entgegen.
Ich kämpfe inzwischen gegen den immer stärker werdenden Sog an und verlor allmählich
an Kraft.
Die Sekunden vergingen, als wenn sie Minuten wären, dann endlich erreichte Tom meine
Hand und zog mich an sich. Gemeinsam setzten wir uns gegen die Strömung zur Wehr und
schafften es nach einiger Zeit, ihr zu entkommen.
Ich war inzwischen zu schwach, um den Rest des Weges alleine zu bewältigen, also ließ Tom
mich erst wieder los, als wir den Sand unter den Füßen spüren konnten. Kraftlos ließen wir
uns ins flache Wasser fallen.
»Merkwürdig. Normalerweise sind in der Bucht keine gefährlichen Strömungen. Die sind
erst hinter den Bojen. Deswegen schwimmt von uns keiner so weit hinaus.«
Christine war inzwischen zu uns ins Wasser gelaufen. Ihr weißer Rock war bis zu den Knien
nass. »Junge, das war sehr leichtsinnig von dir. Versetzt mir bitte nie wieder so einen
Schrecken. Ein Todesfall auf Noelani sollte für die Ewigkeit reichen.« Sie war ehrlich bestürzt
und erschrocken über das, was fast geschehen wäre.
Tom indes sah sie entsetzt an. »Todes ... fall?«, stammelte er.
Christine nickte. »Kommt erst mal ins Haus. Dort werde ich euch in Kenntnis setzen. Dies ist
nicht der richtige Ort dafür.« Sie sah - wie ich - die Tränen in Toms Augen aufblitzen, nickte
mir um Verständnis bittend zu, drehte sich um und ging die Düne hinauf.
Tom fing an zu schluchzen.
Ich nahm ihn in den Arm und hielt ihn einfach nur fest, so wie er es einst bei mir tat.
Nach einiger Zeit hatte er sich beruhigt und stand auf.
»Warum ist deine Mutter fortgegangen?«, fragte ich ihn unumwunden.
Er drehte sich in Richtung des Strandhauses weg und sagte tonlos. »Weil ich sie einmal
darum gebeten habe, als es mir noch schlechter ging, wie jetzt eben. Ich wollte nicht, dass sie
mich so sieht und das weiß sie auch.«
»Aber ich durfte bleiben?«, fragte ich irritiert. Wenn schon seine Mutter, die er so vergöttert,
nicht bei ihm sein darf, warum darf ich es dann?
Tom schaute mich eindringlich an. »Ja, du durftest meinen Schmerz mit mir teilen. Weil du
im Moment der einzige Mensch für mich bist, der mir Trost spenden kann. Vor dir schäme
ich mich auch nicht, meine wahren Gefühle zu zeigen. Du bist Teil meines Herzens und
meiner Seele.«
Ein Albtraum wirft Fragen auf
Langsam gingen wir zurück zum Strandhaus. Am Rande des Rasens sammelten wir unsere
Schuhe wieder auf und gingen rücklings durch den hell erleuchteten Garten an das Gebäude
heran.
Seine Mutter stand bereits draußen auf der Veranda. Sie trug zwei Bademäntel im Arm.
»Hier, bevor ihr euch noch eine Erkältung holt.« Sie lachte plötzlich los. »Ihr habt ja noch
eure Kleider an.«
Mir stieg ein bisschen die Röte in die Wangen.
»Am besten ihr geht schnell unter die Dusche. Wir erwarten euch dann in der Bibliothek.«
»Okay, wir nehmen das Strandbad. Wärst du so freundlich und bringst uns etwas zum
Anziehen aus den Koffern?«, bat Tom sie.
Christine nickte und drehte sich dann zum Gehen um. Mitten in der Bewegung hielt sie
jedoch inne, um sich erneut an uns zu wenden. Sie machte einen Schritt auf mich zu.
»ALOHA E Komo Mai. Sei willkommen«, sagte sie leise, nahm mich in den Arm und
drückte mich fest an sich.
Kurze Zeit später verschwand sie im Haus. »Sie kommen gleich. Sie ziehen sich nur eben
um. Die beiden waren doch tatsächlich voll bekleidet in den Moana gesprungen.« Ich hörte
eine Schar von Menschen in ihr Lachen einklinken.
Mir wurde wieder flau im Magen, doch ich ignorierte das Gefühl und ging schnell hinter
Tom her, der soeben durch eine Schiebetür das Gebäude betrat.
»Wow!«, entfleuchte mir. Ein von außen betretbares Bad!«
Tom grinste. »Ja, damit man den Sand nicht ins Haus trägt.«
Eiligst duschten wir und wickelten uns dann in die weichen Bademäntel ein.
Als es leise an der Zimmertür klopfte, ging Tom hinüber und lugte hinaus. Nur einen
Augenblick später hatte er ein paar Kleidungsstücke in der Hand und überreichte mir ein TShirt, Unterwäsche und eine kurze Stoffhose.
Nachdem wir angezogen waren, nahm Tom meine Hand, ging widererwarten in den Garten
hinaus und führte mich über die große steinerne Terrasse in ein, mit Büchern übersätes und
doch sehr geräumiges Zimmer. Dort warteten bereits Christine, Eric, Leanne und Sunny auf
uns. Tom hatte sie mir so gut beschrieben, dass ich sie sofort auseinanderhalten konnte. Sie
blickten alle in die entgegengesetzte Richtung: zur offen stehenden Zimmertür.
»Buh!«, machte Tom und die ganze Schar drehte sich erschrocken zu uns um.
Bevor irgendjemand etwas sagen konnte, war Sunny auf Tom zugestürmt und nahm ihn in
den Arm.
Sie umschlingt ihn wie eine Schlange, dachte ich.
»Es ist gut, dass du da bist, es wird Ben trösten«, hauchte sie ihm ins Ohr.
Ich versuchte ruhig und gelassen auszusehen, während sich in mir drin der Gedanke: Lass
ihn los. Er gehört mir, festfraß.
Sunny ließ jedoch erst nach einer gefühlten Ewigkeit von ihm ab. Sie sauste auf mich zu und
nahm mich mit ebendieser Inbrunst in den Arm, wie zuvor Tom. »Es ist schön, dich endlich
kennenzulernen. Tom hat mir schon viel von dir erzählt. Ich war schon richtig gespannt auf
dich und ich muss sagen, er hat nicht im Geringsten übertrieben. Du bist eine wahre
Schönheit.« Sie seufzte leicht. »Wenigstens hat einer von uns beiden sein Glück gefunden.«
Ich war baff. Eben noch hätte ich sie erwürgen können und jetzt? Ja, jetzt freute ich mich
sogar darüber, dass sie mich so herzlich begrüßte. So langsam verstand ich, warum Tom so
sehr von ihr schwärmte: Sie war ein herzensguter Mensch. Ich spürte es in meinem Inneren.
Hinter ihr räusperte sich jemand. »Samantha, ich möchte unseren Gast ebenfalls
willkommen heißen.« Sunny trat zur Seite und ihr Vater Eric schritt auf mich zu. Er legte mir
als freundschaftliche Geste seine Hand an die Schulter. »Willkommen auf Noelani. Toms
Gäste sind auch meine Gäste«, sagte er freundlich, aber nicht so überschwänglich, wie ich es
bisher von den McAllisters gewohnt war.
Als er an die Seite getreten war, kam seine Frau Leanne zu mir. Sie blickte mich nur
freundlich an. »Aloha«, flüsterte sie. »Ich hoffe, du fühlst dich wohl bei uns.« In ihrer Stimme
war die Melancholie zu hören, von der Tom mir erzählte.
Seine Mutter Christine schaffte es nach den endlosen Minuten, die seit der Begrüßung durch
Sunny vergangen waren, sich von Tom zu lösen und nahm mich erneut in den Arm. Sie war
äußerst erfreut mich zu sehen, wiegte jetzt aber den Kopf. »Du hast mir vorhin einen ganz
schönen Schrecken eingejagt. Ihr müsst da draußen vorsichtiger sein. Wir wollen doch nicht,
dass Tom seine Liebste auch noch verliert.« Damit waren wir an dem Punkt, der uns hierher
geführt hatte.
Tom sah erst seine Mutter und dann seinen Onkel Eric flehentlich an, als wenn er hoffte,
einer von beiden würde sagen, dass alles nur ein Irrtum wäre.
Eric ging auf Tom zu. »Ihr wisst die Neuigkeiten noch nicht, oder?«
»Nicht wirklich«, antwortete ich anstelle von Tom.
Dieser griff nach meiner Hand, die er sofort fest umschloss, als wenn er an ihr den Halt fand,
den er jetzt dringend benötigte.
Eric sah mich verwundert an. Die Nähe und die Zugehörigkeit einer Frau zu Tom war auch
ihm anscheinend etwas Neues.
»Setzt euch doch erst einmal.«
Diesmal antwortete Tom für mich mit. »Nein danke, wir haben 18 Stunden im Goldstück
gesessen.«
Sein Onkel nickte verständnisvoll und holte tief Luft, bevor er zu reden begann: »Sie haben
heute Abend eine Leiche in der Nähe der Klippe gefunden ... Es muss schrecklich gewesen
sein ... sie war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Ben konnte Sophie nur noch anhand ihres
Eherings identifizieren.«
Mein Magen drehte sich um und die Knie wurden weich.
»Ist alles in Ordnung?« Tom hörte sich äußerst besorgt an. Er musterte mich förmlich und
ich sah in seinen Augen die Blässe in meinem Gesicht.
Ich stammelte: »Ja ... ich ... bin nur entsetzt über das, was geschehen ist und außerdem bin
ich inzwischen sehr müde.« Allein die Vorstellung, sehen zu müssen, wie ein Mensch
verbrennt, jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Gott sei Dank, kann ich nur die
Gegenwart oder Zukunft sehen ...
Erics Stimme drang zu mir durch: »Ja, es ist schon spät. Wir sollten jetzt alle schlafen gehen.
Ich nehme an, ihr teilt euch ein Zimmer? Oder möchtest du lieber ein Eigenes für dich?«,
fragte er mich direkt.
»Nein, wir nehmen das Doppelzimmer«, antwortete ich tonlos, doch die Röte stieg mir in die
Wangen. Aus meinen Augenwinkeln heraus konnte ich sehen, wie die drei Frauen zu mir
rüber lächelten. Erics Frau Leanne lächelte, weil sie meine Röte faszinierte, Toms Mutter
Christine lächelte, weil es einfach ihre Art war, zu lächeln und seine Cousine Sunny lächelte
erfreut darüber, dass Tom jemand für sich gefunden hatte und doch sah ich in ihren Augen
eine Qual aufblitzen.
Wie schwer es für sie sein muss, ging mir durch den Kopf. Vom Verlobten verlassen worden zu
sein, ist schon grausig, aber ein Kind alleine aufziehen zu müssen … schrecklich. Wie einsam sie sich
fühlen muss, jetzt wo Tom nicht mehr alleine ist?, überlegte ich.
»Wir können auch mein altes Zimmer nehmen«, sagte Tom, als wir Eric in die Eingangshalle
folgten, wo unser Gepäck aufgereiht war.
»Das ist für zwei doch viel zu klein. Außerdem haben wir hier genügend Gästezimmer. Am
besten nehmt ihr das am Ende des rechten Flurs. Es hat auch ein eigenes Badezimmer.«
»Ich danke Ihnen sehr für Ihre Gastfreundschaft«, sagte ich höflich.
Die große Pendeluhr in der Halle schlug zur Mitternacht.
»Oh, mal eine Frau mit Manieren. Du hast dazugelernt Tom ... Europa scheint dir gut zu
bekommen«, sagte jemand von der Tür her.
Wir wirbelten herum.
Da stand er, der unbekannte Fremde vom Balkon und diesmal konnte ich sein Gesicht sehen.
Es war wohlgeformt mit leichten Wangenknochen, die Nase war leicht spitz, doch nicht zu
lang. Mein Blick glitt über die vollen Lippen. Sie waren so sinnlich geschnitten, dass ich für
einen Moment die Augen schließen musste, um mich von ihnen wieder loszueisen. Seine
braunen Haare waren nicht zu kurz geschnitten, er hatte sie mit einem leicht fallenden
Seitenscheitel nach hinten gekämmt, schön locker, damit es nicht wie angeklebt aussah. Und
dann trafen meine Augen auf die seinen. Mir blieb der Atem stehen: Seine bernsteinfarbenen
Augen leuchteten mich erregt an. Wie ein Kind, welches eine Schneekugel betrachtete,
musterte er mich.
Rechts und links neben ihm schauten plötzlich zwei grünäugige kleine Kinder an ihm
vorbei. Sie traten aus seinem Schatten hervor ins Licht der hell erleuchteten Halle. Die
Kinder hatten seine erhabenen Gesichtszüge. Der einzige Unterschied zwischen den beiden
lag darin, dass die rostroten Haare des Jungen raspelkurz und die des Mädchens lang und
lockig waren.
»Aloha ... da mich anscheinend niemand vorstellen möchte, werde ich es wohl selbst machen
müssen«, sagte er in einem gespielt beleidigten Ton und die drei Neuankömmlinge schritten
näher heran. Er und die Kinder standen jetzt eine Handbreit vor mir.
»Darf ich vorstellen, Nina, das ist mein ... Cousin Benjamin.« Tom drehte sich von mir zu
ihm um. »Ben darf ich dir wiederum Nina vorstellen. Sie ist meine Freundin.« Der scharfe
Unterton war nicht zu überhören.
Nach allem, was ich bisher von Ben gehört hatte, wunderte ich mich darüber, dass Tom so
besitzergreifend ihm gegenüber war. Wenngleich mir manche Ansicht von ihm nicht gefällt, so
kann ich aus den Erzählungen über ihn nicht schließen, dass er ein skrupelloser Frauenheld ist. Also
was soll das ganze Getue eigentlich?
Ben hielt mir seine rechte Hand entgegen und ich ergriff sie.
»Entschuldige. Wir haben nicht mehr mit euch gerechnet. Ich dachte, die Kinder schlafen
schon«, flüsterte Eric benommen. Er war äußerst darauf bedacht, die richtigen Worte zu
wählen, um die Zwillinge, denen die Unsicherheit und Traurigkeit anzusehen war, nicht
noch weiter zu verschrecken.
»Und ihr zwei? Wer seid ihr denn?«, fragte ich die Kinder und hockte mich nieder, um in
Augenhöhe mit ihnen zu sein.
»Ich bin Cassie und das ist Justin«, antwortete das Mädchen.
»Freut mich euch kennenzulernen«, sagte ich. »Vielleicht habt ihr morgen mal ein wenig Zeit
für mich und könntet mir den Strand zeigen? Euer Onkel war zwar gerade mit mir dort, aber
es war zu dunkel, um etwas zu sehen.«
»Jep!«, sagte Justin.
»Natürlich nur, wenn euer Vater nichts dagegen hat.« Ich blickte erwartungsvoll zu Ben
hoch.
»Daddy Please«, flehte Cassie.
»Kommst du auch?«, fragte Justin ihn.
Dieser sah mit versteinertem Gesicht von oben auf mich herab. »Wir werden sehen ...«
»Done!«, freute sich Justin und hielt mir seine Hand entgegen und Cassie hob ihre ebenfalls.
»Give me five!«, sagte er und ich klatschte mit beiden Händen zu.
Ich stand an der Klippe. Der Wind blies mir durch das feuerrote Haar. Mein Blick ging hinunter in
Richtung Meer. Dort unten konnte ich den hell leuchtenden Flammenball sehen. Die Scheinwerfer des
Wagens leuchteten noch. Sie strahlten mir im Hinunterfallen in die Augen.
Geblendet drehte ich meinen Kopf weg. Mein Körper folgte meiner Kopfbewegung und ich ging von
der Klippe fort.
Vor mir hielt ein dunkler Jeep. Die Tür öffnete sich. »Steig ein!«, befahl mir eine raue Stimme. Ich
folgte der Aufforderung. Die Tür knallte zu und der Wagen setzte sich in Bewegung. Ich versuchte
den Fahrer zu erkennen, doch der Wagen war zu dunkel. Die getönten Scheiben ließen kein Licht
herein. Schweigend fuhren wir von den Klippen fort.
Erst an der Einfahrt zum Airport hielt der Wagen an.
Ich stieg aus und drehte mich noch einmal um. »Wir sehen uns in ein paar Wochen in Moskau, Mon
Amour«, flüsterte ich, mit einer mir unbekannten Stimme.
Aus dem Inneren des Wagens ertönte erneut die raue Stimme. »Pass auf dich auf Liebling. Wenn er
auch nur die leiseste Ahnung hat ... Gott ... ich wusste bisher nicht, zu was er fähig ist ... Was wird er
dann wohl mit dir anstellen?«
Ich fasste mir an mein linkes Auge: Es fühlte sich heiß, geschwollen und blutverkrustet an. »Es ist
schon nicht mehr so schlimm. Er wird mich nicht suchen, dafür habe ich gesorgt.«
Eine Hand griff zu mir herüber, am Ringfinger befand sich ein Silberring mit den Initialen C. N. Ich
nahm die Finger und führte sie an meine Lippen, um sie zu liebkosen. »Danke für alles Mon seul
Amour ... Du bist meine einzige Liebe.«
Der Arm wurde wieder eingezogen und ich schlug die Tür zu. Der Wagen fuhr an. Zum Abschied
winkte ich und verschwand dann selbst in der Dunkelheit.
Ich sank auf meine Knie.
»Nina, Engel. Ist es vorbei?«, flüsterte Tom mir zu.
Benommen nickte ich nur.
Tom half mir, mich aufzusetzen.
Seine Mutter Christine war ebenfalls über mich gebeugt. »Soll ich einen Arzt rufen?«
Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf. Alles um mich herum kam mir so unwirklich vor.
»Nein! Keinen Arzt!«, keuchte ich.
»Pst. Sei still, Engel. Ich bringe dich jetzt nach oben, da kannst du dich dann ausruhen. Es
war ein langer schwerer Tag. Du hättest auf mich hören und mehr trinken sollen.«
Zwei Hände griffen nach mir und hoben mich an. Ich spürte die Nähe Toms und wusste,
dass ich nicht mehr in einem Traum gefangen war. Meine Arme schlossen sich um seinen
Hals und so trug er mich die Treppe hinauf. Als wir fast oben angekommen waren, schaute
ich über seine Schulter hinweg noch mal nach unten.
Eric stand mit Sunny zusammen und beide blickten sehr betrübt hinter uns her.
Christine indes schaute auf ihre Finger und begann sie abzuzählen.
Ben nahm seine beiden Kinder in den Arm und flüsterte ihnen anscheinend etwas
Beruhigendes zu, denn die straffen Schultern der beiden wirkten auf einmal lockerer und im
Hintergrund tauchte eine blonde Schönheit auf, die zuvor durch die Eingangstür gekommen
sein musste.
Im Zimmer angekommen, legte mich Tom behutsam aufs Bett und setzte sich neben mich. Er
blickte mich eindringlich an. »Was hast Du gesehen?«, fragte er mich besorgt.
Erneut schüttelte ich den Kopf. Soll ich dir wirklich sagen, was ich sah? Es ist ja nicht mal für
mich verständlich. Es hatte überhaupt nichts mit der bisherigen Vision zu tun. Nein, es war sogar
vollkommen anders, als die bisherigen Male. Es konnte weder die Gegenwart noch die Zukunft
gewesen sein, die ich sah und was noch verwirrender war: Ich war nicht ich selbst gewesen. Ich sah die
Dinge aus den Augen einer anderen Frau. Einer Frau, die jetzt tot war, oder nicht? Zweifel nagten
an mir, mein Körper zitterte und der Kopf schmerzte.
»Sch, ganz ruhig. Was auch immer es war, es ist vorbei.« Ich fühlte seine Lippen auf meiner
Stirn und schloss die Augen.
Die Müdigkeit musste mich übermannt haben, denn als ich die Augen wieder öffnete,
strahlte das helle Sonnenlicht ins Zimmer herein.
Tom war bereits fort.
Ich kramte ein pinkes T-Shirt und eine weiße Bermuda aus den geöffneten Koffern und
verließ kurze Zeit später fertig angezogen und frisch geduscht das Zimmer. Ohne Umweg
ging ich zum Strand hinunter. Ich wollte die Stille genießen, bevor der Trubel um unsere
Ankunft aufs Neue ausbrach.
Von der Düne aus hatte ich einen fantastischen Blick auf das blaugrün schimmernde Meer.
Mitten in den Wellen entdeckte ich Tom und Ben.
Sie schwammen anscheinend um die Wette, denn als Tom zuerst aus den Fluten stieg, riss er
die Arme hoch und jubelte. »So schnell schlägst du mich nicht, Großer. Auch wenn ich kein
Meer am Haus habe. Mein Pool reicht völlig aus, um meine Kondition zu halten.«
»Du hast nur gewonnen, weil ich dich gewinnen ließ, kleiner ...«, Ben blickte mich direkt an.
Langsam ging ich die Düne hinunter. Ich konnte dabei nicht umhin, die beiden Männer von
unten bis oben zu mustern. Ben hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Tom. Er war jedoch etwas
größer, muskulöser und von der Sonne braun gebrannt.
»Oh, da ist ja mein Engel.« Tom kam auf mich zugelaufen, hob mich hoch und drehte sich
einmal mit mir im Kreis. Nachdem er mich abgesetzt hatte, küsste er mich ausgiebig.
Ben räusperte sich. »Ich möchte ja nicht stören, aber wir hatten gestern keine rechte Zeit
gefunden uns richtig zu begrüßen.« Er hielt mir abermals die Hand hin. »Tom hat mir schon
den ganzen Morgen von Ihnen vorgeschwärmt und ich bin wirklich gespannt darauf, ob Sie
seinen Schilderungen gerecht werden.«
»Oh, ich werde versuchen Sie nicht zu enttäuschen«, antwortete ich freundlich und
umschloss kurz seine Finger.
»Kommt lasst uns sehen, was es zum Frühstück gibt.« Tom nahm mich bei der Hand und
wir gingen zu dritt zu den Häusern zurück.
Die anderen saßen bereits auf der Terrasse des Strandhauses und unterhielten sich lautstark.
»Wenn ich es dir doch sage. Er ist heute früh abgereist. Clark hat den ganzen Jeep mit seinen
Sachen vollgestopft und ist davongebraust. So schnell konnte ich mir gar nichts anziehen«,
bemerkte Sunny.
»Aber warum sollte Clark einfach alles stehen und liegen lassen und verschwinden?«, fragte
Christine.
»Den Grund dafür kann ich euch nennen«, übernahm Ben das Wort, wandte sich dann
jedoch an seine beiden Kinder. »Cassie, Justin, seid so lieb, geht zu Tutu und bittet sie, euch
etwas von ihrem Schokopudding zu geben.«
Die beiden rannten sofort ins Haus.
»Also?«, forderte Eric nun die Begründung ein.
»Clark hat mich heute Nacht aus dem Bett getrommelt und wollte mit mir eine Schlägerei
anfangen.« Ein Raunen ging durch die Reihen. »Er behauptete doch allen Ernstes, ich hätte
Sophie geschlagen, ermordet und dann brennend die Klippen hinunter geworfen.«
»Nein«, stöhnte Leanne.
»Doch Mutter, das hat er behauptet«, sagte Ben mit Nachdruck.
Mir lief ein Schauer über den Rücken. Die Bilder meiner gestrigen Vision kamen mir wieder
in den Sinn.
Das blaue blutverkrustete Auge, die Klippe, ein Feuerball: dass alles passt, nur die Zeit nicht. Als wir
auf Noelani ankamen, hatte man die Leiche bereits gefunden ... Ben ein Mörder? Nein ... Obwohl,
Markus sah man die Gewaltbereitschaft auch nicht an. ... Nein! Ich zwang mich dazu Ben weiter
zu zuhören, anstatt mich meiner düsteren Vergangenheit zu stellen.
Er war immer noch dabei, die Ereignisse der letzten Nacht zu erzählen: »... dann hat er nach
mir geschlagen. Meine Rechte war jedoch schneller. Ich gab ihm bis zum Sonnenaufgang Zeit
von Noelani zu verschwinden.«
»Was ist bloß in ihn gefahren?«, fragte Christine. »Er war immer ein guter Freund. Ich habe
ihm vertraut.«
»Das haben wir alle«, raunte Eric.
»Wir müssen die Sicherheitscodes sofort ändern«, sagte die mir immer noch unbekannte
blonde Frau vom Vorabend.
»Das ist nicht nötig, Rachel. Er hat wie du nur Stufe B. Die Codes ändere ich jede Nacht ab.
Er kann die neuen Passwörter nicht haben«, mäßigte Ben sie. »Fahr ins Büro, schreib die
Kündigung und schmeiß ihn aus meinem System!«
Die Art, wie er mit ihr redete, missfiel mir. Habe ich mich doch in ihm getäuscht? Ist er vielleicht
doch nicht das Unschuldslamm, für das er sich ausgibt? Erneut musterte ich ihn, doch ich konnte
nicht hinter seine Fassade schauen. Er war für mich wie ein gut verpacktes Geschenk: Der
Inhalt war nicht zu erkennen.
»Aber was ist, wenn er sich Zugang zur Sicherheitsstufe A verschaffen will?«, fragte Eric.
»Kann er nicht. Die Daten sind auf mobilen Trägern. Da kommt keiner außer mir und Tom
ran.«
Tom nickte zustimmend.
Meine Aufmerksamkeit wurde für einen Moment von Tom abgelenkt. Was hat er mit dem
Ganzen zu tun?
Plötzlich kam Keoni aus dem Haus gelaufen. »Am Tor wartet das FBI. Sie reden möchten mit
Mister Ben.«
»Dieser Vollidiot!«, fluchte Tom.
»Reg dich nicht über ihn auf. Wer weiß, was das FBI will.«
»Agent spricht, wenn du nicht sofort gehst mit ihnen weg, sie holen ein Gerichtspapier«,
ergänzte Keoni.
Ben wandte sich an die Frauen. »Kümmert euch bitte um die Zwillinge. Ich bin so schnell
wie möglich zurück.«
»Ich begleite dich«, sagte Tom.
»Gut! Lass uns gehen. Wir wollen sie nicht zu lange warten lassen. Nicht, dass sie doch noch
Richter Nuts um sein verdientes Wochenende bringen«, antwortete Ben kühl und gelassen.
Tom küsste mich leidenschaftlich und Ben warf noch mal einen letzten Blick auf uns zurück.
Seine Augen fixierten mich für einige Sekunden. Mir lief erneut ein Schauer über den
Rücken, diesmal jedoch kein von Angst geprägter.
»Wartet!«, rief ich. »Ich komme ebenfalls mit! Falls sie juristischen Beistand benötigen, kann
ich helfen.«
»Das ist nett von Ihnen gemeint, Nina. Aber ich denke nicht, dass ich einen Rechtsbeistand
benötige. Sie müssen wissen, ich habe selbst Jura als Nebenfach belegt und außerdem habe
ich die allerbesten Beziehungen. Man wird es nicht wagen, mich ohne konkrete Beweise
festzunehmen.«
Arroganter Snob, schwirrte mir durch den Kopf, dann waren sie auch schon verschwunden.
Auch den Rest des Vormittages verbrachte die Familie damit sich über das verwunderliche
Benehmen von Clark Newton aufzuregen und hingen in Bezug auf Sophies Tod den
wildesten Spekulationen nach.
Obgleich ich mehr wusste, oder ahnte, als die anderen, hielt ich mich aus den Diskussionen
heraus, zumal die Familie auch nicht sonderlich begeistert von der Verstorbenen sprach.
Stattdessen kümmerte ich mich um die drei Kinder: Wir spielten im weitläufigen Garten
Fangen, Verstecken und Fußball.
Kurz vor dem Mittagessen kamen auch Ben und Tom wieder. Das FBI hatte Ben tatsächlich
wegen der Anschuldigungen von Clark Newton vernommen. Sie konnten ihm jedoch weder
eine Beteiligung am Tod seiner Frau noch irgendeine Handgreiflichkeit ihr gegenüber
nachweisen.
Um die Kinder aus den noch andauernden Diskussionen herauszuhalten, veranstaltete ich
mit ihnen ein Picknick auf dem Rasen.
Aus dieser sicheren Entfernung heraus taxierte ich immer wieder Ben und versuchte hinter
seiner freundlichen Art, ein Zeichen des Mannes zu erkennen, der mir in der Vision gewahr
wurde, doch es gab keins. Ben war tatsächlich der Mann, den Tom mir beschrieben hatte. Er
war sehr verantwortungsbewusst und ehrenwert, was ihn jedoch ein wenig arrogant
erscheinen ließ. Während die anderen sich inzwischen in Rage gegenüber Clark Newton
geredet hatten, versuchte er tatsächlich dem entgegen zu wirken, indem er immer wieder
beschwichtigend auf seine Familie einredete.
Irgendwann stand Ben auf. »Wenn ihr nicht sofort aufhört, euch meinen Kopf zu zermartern,
nehme ich meine Kinder und zieh in die Stadtwohnung!«
Alle blickten ihn entsetzt an.
»Es ist doch wahr. Mir ist es egal, was Clark von mir denkt. Außerdem gibt es Wichtigeres
zu tun. Ich geh jetzt und werde ein Bestattungsunternehmen mit der Beerdigung meiner
Frau beauftragen.«
»Aber ...«, versuchte Eric ihn zu beschwichtigen.
»Nein! Wenn es um Clark geht, möchte ich nichts mehr hören ... Mutter kommst du und
hilfst mir?«, fragte er tonlos. Einen Bruchteil einer Sekunde später wandte er sich mir zu.
»Nina wären Sie so freundlich, sich weiter mit meinen Kindern zu beschäftigen. Sie fühlen
sich allem Anschein nach bei Ihnen wohl. Sie können jetzt eine gute Freundin gebrauchen.«
Perplex nickte ich nur.
Ben und Leanne verschwanden in Richtung seines Hauses.
Zehn Minuten später ging ich mit den dreijährigen Zwillingen zum Strand.
Tom indes blieb mit der 18 Monate alten Lucy auf der Decke im Garten und machte mit ihr
ein Nickerchen.
Die Sonne ging bereits unter, als Ben in die Bucht kam.
»Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Das FBI will noch eine Obduktion vornehmen.
Der Leichnam wird nicht vor Ende der Woche freigegeben werden.«
Bestürzt blickte ich ihn an.
»Nani, was ist eine Oppuktition?«, fragte Cassie.
Ich hockte mich nieder. »Kleines, das ist eine Untersuchung, so wie bei einem Arzt.«
»Ich mag keinen Doktor«, antwortete sie.
»Ich auch nicht«, erwiderte ich ehrlich.
Plötzlich bekam ich eine Ladung eiskalten Meereswassers über meinen Kopf geschüttet.
Geschockt sprang ich auf und drehte mich zu dem Übeltäter um.
Justin lief kichernd weg.
»Na warte«, rief ich und lief grinsend hinter ihm her, doch er war ein klein wenig flinker als
ich und entkam mir jedes Mal um Haaresbreite, wenn ich nach ihm greifen wollte. Plötzlich
gab der Sandboden unter meinen Füßen nach. Ich fiel direkt gegen die Brust von Ben und
warf diesen mit um.
Gemeinsam fielen wir in die brausende Gischt des Meeres. Das Salzwasser brannte in
meinen Augen. Als ich es abgewischt hatte, sah ich direkt in warmherzige bernsteinfarbene
Augen hinein. Mir wurde warm ums Herz. Nein, er ist kein Mörder, urteilte ich.
Sein Gesicht näherte sich dem meinen unaufhörlich.
Eine Welle von Meerwasser spritze uns in die Gesichter und holte uns in die Realität zurück.
Benommen stand ich auf.
Cassie und Justin standen einen Meter vor uns und lachten sich die Lunge aus dem Hals.
Gott sei Dank! Sie haben nichts mitbekommen, durchfuhr es mich.
»Es ist spät ... Wir sollten ins Haus gehen«, murmelte Ben fassungslos.
Wortlos ging ich voran.
Tom und Rachel standen bereits oben an der Düne und warteten auf uns.
»Wir wollten euch gerade zum Essen holen«, rief er tonlos.
Ich rannte geschwind die Düne hoch, nahm ihn in den Arm und küsste ihn heiß und innig.
Er erwiderte diesen Kuss, mit ebensolcher Hingabe und vertrieb damit jeden Gedanken an
die letzten Minuten. Tom sah mir eindringlich in die Augen und strich mir eine nasse
Strähne aus dem Gesicht. »Ich liebe dich, Engel. Vergiss das nie.« Dann glitt sein Blick von
mir fort, hinüber zu Ben, der gerade an uns vorbei huschte und Rachel am Arm mit sich
nahm.
Statt eine Antwort zu geben, küsste ich ihn noch mal.
Vor dem Schlafengehen machten Tom und ich noch einen kleinen Spaziergang am Strand.
Als wir am Ende des Steges mit den Füßen im Wasser saßen, griff er in seine Hemdtasche
und holte ein Handy heraus.
»Bevor wir heute Mittag zurückkamen, habe ich mit Ben noch einen kleinen Abstecher
gemacht. Es ist dasselbe Model, wie meins, nur das dieses eine rote Tastaturumrahmung hat.
Es ist sofort einsatzbereit und mit meinem kompatibel, so dass wir Daten abgleichen können,
wenn du das willst.« Er reichte es mir.
»Damit ich nicht immer deins benutzen muss?!«, flachste ich.
»Ja, das auch. Aber eigentlich geht es darum, dass ich dich erreichen kann. Bei deinem Alten
fällt ja ständig der Akku aus und ich mache mir dann immer Sorgen um dich.« Er
verstummte für einen Augenblick. »Damn! Bei dem ganzen Trouble hab ich ganz vergessen,
dass wir dir noch Kleidung kaufen wollten. Das holen wir morgen gleich nach, okay?«
»Ist nicht mehr nötig, ich gewöhn mich grad an die Wäsche.« Ich zwinkerte ihm zu.
Wer ist Sophie Voleur?
Zwei Tage später machten wir auf Bens Jacht eine Bootstour, um die Kinder auf andere
Gedanken zu bringen.
Neben Tom, Ben und den Zwillingen waren noch Christine und Rachel mit an Bord.
Die See war sehr unruhig und das Boot schaukelte hin und her. Mit jeder Welle wurde mir
übler, bis ich nicht mehr an mich halten konnte und zur Toilette lief.
Als ich wieder zurückkam, lief Justin auf mich zu. »Nani, Nani. Christine sagt, du kriegst ein
Baby.«
Erschrocken sah ich den Kleinen an und ging vor ihm auf die Knie. »Nein, Justin ... Christine
irrt sich ... Ich kann leider keine Babys bekommen.«
»Warum nicht?«, fragte Cassie unumwunden.
»Cassie!«, ermahnte Rachel sie.
Zunächst sah ich die Zwillinge und dann die anderen an Bord an: Alle warteten gespannt
auf meine Antwort. Ich schluckte und griff nach der Hand von Cassie. »Ich ...« Meine Augen
füllten sich mit Tränen. »Ich war einmal sehr krank und kann deswegen leider keine Babys
bekommen.« Die erste Träne lief bereits über meine Wange und klatschte zusammen mit
einem Regentropfen auf das Deck.
Cassie wischte mir mit ihren Fingerchen die nächste Träne weg, während Justin seinen Kopf
an meine Schulter legte.
»Wir können ja deine Kids sein«, bot Justin mir an.
»Just... «, begann Rachel, doch Ben ermahnte sie mit einem strengen Blick.
Ich lächelte zaghaft. »Das ist sehr lieb von euch. Aber ich werde nie eure Mama ersetzen
können.«
»Das weiß ich doch!«, sagte Cassie in einem altklugen Ton. »Aber Maman ist bei den
´aumakua und du kriegst ja keine Babys.«
Instinktiv nahm ich beide in meine Arme. »Ich hab euch jetzt schon so lieb. Ich, werde soviel
Zeit mit euch verbringen, wie ich kann und ansonsten können wir jeden Tag telefonieren.«
»Versprichst du das?«
»Auf die Bibel, wenn ihr wollt.«
Cassie und Justin schauten sich an und pendelten gleichzeitig den Kopf hin und her. »No!«,
sagte Justin.
»Kommt ihr beiden. Der Regen nimmt zu. Wir gehen jetzt unter Deck und machen etwas zu
essen«, forderte Christine die Kleinen auf. »Rachel wären Sie so nett und helfen mir?«
Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, wie Ben sich mit der Hand übers Gesicht fuhr,
während Tom zaghaft zu mir kam.
Er hielt mir die Hand entgegen. Mit einem Ruck lag ich in seinen Armen. »Das war´s also,
was du mir nicht sagen wolltest.«
Ich schloss meine Lider.
»Nina, auch das ist mir einerlei. Ich liebe dich, ob mit oder ohne eigene Kinder«, flüsterte er
mir zu.
Meine Tränen hielt ich nicht mehr länger zurück.
Eine Woche später war die Beerdigung: Sophie sollte im Tal der Tempel beigesetzt werden.
Leanne war so freundlich und lieh Tom und mir ihren kleinen Flitzer.
Tom fluchte während der Fahrt darüber, dass nur dieser Wagen zur Verfügung stand. Er
mochte nicht in einem über dreißig Jahre alten, gelben VW Käfer gesehen werden. »Sie hätte
sich schon längst einen Neuen anschaffen können. Nur weil sie den von Sam zur Hochzeit
erhalten hat, muss sie ihn ja nicht bis in alle Ewigkeiten behalten.«
Da vor der Kapelle eine Horde Journalisten wartete, parkte er den Wagen in einigem
Abstand, sodass wir noch einen kleinen Fußmarsch hinter uns bringen mussten. Kaum, dass
die Fotografen Tom bemerkt hatten, klickten die ersten Kameras.
Ich hielt inne und ging erst einen Moment später hinter ihm her, immer darauf bedacht,
nicht in den Fokus zu rücken.
Erst an der Tür zum Gebäude bemerkte Tom, was ich tat. Über seinem Mundwinkel bildete
sich wieder das Grübchen. Ehe ich mich versah, legte er seinen Arm um meine Hüfte, drehte
sich mit mir zusammen noch einmal um und lächelte in die Linsen der Fotografen, während
ich einen überraschten Gesichtsausdruck zum Besten gab.
»War das nötig?«, zischte ich ihn leise an.
Er jedoch zwinkerte mir nur kurz zu, gab dem einen und anderen Journalisten die Hand und
setzte sie darüber in Kenntnis, wer ich war.
Benjamin kam heran, fasste mich behutsam am Arm und führte mich zu den anderen.
»Mahalo«, flüsterte ich ihm leise zu.
Er vergalt mir meine Dankbarkeit mit einem leichten Nicken.
Nachdem Tom sich endlich von der Presse gelöst hatte, kam er zu mir und entschuldigte sich
auf seine Art für sein Verhalten: »Es war mir wichtig, dass sie von mir erfahren, wer du bist,
damit sie nicht irgendwelche Spekulationen abdrucken.«
Ich war zwar immer noch angesäuert, dennoch beschloss ich, angesichts der bevorstehenden
Andacht, nichts dazu zu sagen.
Die Familie McAllister betrat gemeinsam die katholische Kirche, welche bereits randvoll
gefüllt war.
»Ich dachte, Ben wollte nur eine Feier im kleinsten Familienkreis?«, raunte ich Tom zu.
»Ist es ja auch. Es sind nur Noelanis anwesend.«
Nach der Andacht gingen wir in einer Prozession hinter dem Sarg her bis zu dem Ort, an
dem Sophie ihre letzte Ruhe finden sollte.
Kaum, dass wir angekommen waren, riss Justin sich von seinem Vater los. Er kam auf mich
zugelaufen, um sich in meine Arme zu werfen.
Ich hob ihn hoch. Prompt ließ er seinen Kopf in meine Halsbeuge fallen und begann
hemmungslos zu weinen.
Rachel wollte zu uns rüberkommen, doch Ben hielt sie zurück.
»Lass. Du kannst ihm jetzt nicht helfen.«
Gekränkt warf sie mir einen vernichtenden Blick zu.
Spät am Abend schwamm ich noch mal eine Runde im Meer. Als ich an der Jacht vorbeikam,
konnte ich hören, wie Rachel und Ben lauthals stritten.
»... glaubst du! Ich traue ihr nicht. Irgendetwas stimmt nicht mit dieser Nina. Sie hat dich die
ganze Woche über beobachtet.« Rachel war außer sich vor Zorn.
»Ja, ich weiß. Aber wahrscheinlich war sie nur neugierig. Schließlich ist Sophie gerade
verstorben und das FBI hat mich deswegen vernommen.« Auch Ben klang sehr erzürnt.
»Nein, das ist es nicht. Hast du denn nicht mitbekommen, wie sie dich angesehen hat, als du
von den Sicherheitsvorkehrungen gesprochen hast? Sie hat dich regelrecht fixiert.« Rachels
Abneigung mir gegenüber spiegelte sich in ihrem Ton wieder.
»Bitte lass es gut sein. Sie ist Toms Freundin. Du weißt, wie viel mir der Kleine bedeutet ...«
Ben klang nun aufgewühlt.
»Nein, Benjamin! Du hast dich schon einmal getäuscht und ich konnte damals nur zusehen,
wie du dein Leben wegwirfst. Noch mal werde ich es nicht zulassen«, erwiderte sie
bestimmend.
»Was soll das heißen? Was hast du vor?«
»Nichts, was ich nicht schon getan habe«, zischelte sie regelrecht. »Ich habe bereits ein paar
Nachforschungen ...«
»Rachel!« Ben klang empört.
»Ich habe es für dich getan, Benjamin. Du weißt, dass ich dich immer noch liebe. Ich musste
mir einfach Gewissheit verschaffen, dass sie dir nicht schaden wird, so wie Sop...«
»Nina hat bisher nichts getan oder gesagt, was mich an ihrer Loyalität zu Tom zweifeln
lässt«, unterbrach er sie entrüstet.
»Ach ja? Dann erklär mir mal, woher dieses Mädchen 600.000 Euro auf dem Konto hat? Das
kannst du nicht, stimmt’s? Keiner kann es! Bevor ihr Vater in Rente ging, hat er als
Tierpfleger gearbeitet. Ihre Mutter war bisher immer nur Hausfrau und der Bruder hat
gerade seine Ausbildung zum Piloten abgeschlossen. Sie selbst hat auch nie gearbeitet,
konnte sich aber ein Studium in Holland und teure Auslandsaufenthalte leisten. Also
Benjamin, sag mir, woher sie so viel Geld hat.«
»Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen?« Für einen Moment herrschte Stille, dann sagte
er jedoch: »Vielleicht hast du recht: Ich sollte vorsichtiger sein und sie ...«
»Aloha, ihr zwei.« Tom stand am Ende des Steges und rief zu den beiden hinüber: »Habt ihr
vielleicht Nina gesehen? Ich kann sie nirgendswo finden.«
Um mich nicht als Spitzel zu outen, tauchte ich unter und entfernte mich ein paar Meter in
Richtung Strand.
Als ich gerade wieder aufgetaucht war, wurde ich von einem Sog ergriffen, der mich in die
Tiefe ziehen wollte. »Hilfe!«, schrie ich. »Helft mir!«
Ben sprang sofort ins Wasser. Sobald er in meiner Nähe war, griff er nach mir und zog mich
unter großer Kraftanstrengung zum Steg, wo Tom mich entgegennahm und heraufzog. Als
Ben die Leiter hochstieg, sagte er: »Eine Verwirbelung hatte sie erfasst. Ich kam selbst kaum
dagegen an.«
Tom, der immer noch geschockt dreinblickte, sagte nur: »Wir müssen die Bucht sperren. Es
ist schon das zweite Mal, dass Nina in eine Strömung geraten ist.«
»Das muss mit dem Lavaausbruch des Lōʻihi vor Big Island zu tun haben, der vor zehn
Tagen war. Vermutlich führte der zu veränderten Strömungen. Ich werde gleich im Volcano
Observatory auf Big Island anrufen und nachfragen, ob die etwas dazu sagen können. Bis
wir Näheres wissen, gilt striktes Badeverbot.«
Mit einem unguten Gefühl ging ich eine Stunde später zu Bett: zum einen, weil ich ein
privates Gespräch belauscht hatte und zum anderen, weil ich mir nicht sicher war, was Ben,
in Bezug auf mich unternehmen würde. Seine Worte »Ich sollte vorsichtiger sein und sie ...«,
hallten mir im Kopf wieder und ließen mich schlecht schlafen.
Insgeheim war ich froh, als wir am nächsten Morgen wieder abreisten. Umso überraschter
war ich jedoch, als Ben ebenfalls in den Flieger stieg. Er begleitete uns bis Bremen, flog dann
jedoch nach Berlin weiter.
Endlich an seiner Wohnungstür angekommen, schob Tom seine Keycard durch das
Lesegerät der Tür, doch das schaltete nicht auf grün. »Damn, it´s out of order«, fluchte er
und versuchte es wieder und wieder. »Jemand muss den Code geändert haben!« Er holte
sein Handy wieder hervor, strich und drückte ein paar Mal auf dem Display herum und hielt
es dann an das Lesegerät. Nach einer kurzen Zeit schaltete dieses auf Grün um.
Ungläubig schüttelte ich den Kopf. »Ich weiß ja, dass die Dinger inzwischen sehr vielfältig
sind, aber als Türöffner?«
»Komm rein. Ich erkläre es dir drinnen.« Unsanft zog Tom mich in seine Wohnung. Dabei
sah er sich hektisch nach allen Seiten um und das, obwohl seine Wohnung die einzige auf
der Etage war.
»Warte!«, sagte ich. Ein Zittern ging durch meinen Leib. Ich spürte die Anwesenheit von
jemanden, der nicht hier sein durfte. Ich schloss die Augen. »Sophie ... hier.«
»Was redest du da? Sophie war noch nie in meiner Wohnung!«
Doch ich sah es genau vor mir. »Sie sucht etwas ...«
»Also, das geht jetzt wirklich zu weit, Nina«, unterbrach er mich. »Sophie ist tot. Wir haben
sie vor nicht mal achtundvierzig Stunden zu Grabe getragen.« Tom hörte sich erbost an.
»Glaube mir. Es ist jemand hier und durchsucht gerade deinen PC«, beschwor ich ihn
eindringlich.
Tom packte meine Hand und eilte zu dem versteckten Kartenlesegerät im Gäste-WC. Auch
dieses Gerät war gesperrt. Mithilfe seines Handys verschaffte er sich erneut Zutritt und lief
in sein Arbeitszimmer, dessen Tür weit offen stand.
»Du hast tatsächlich recht: Es war jemand an meinen PC«, sagte er, als er einen Blick auf den
Bildschirm geworfen hatte. Abermals benutzte er sein Handy und hielt es auf die
gegenüberliegende Wand. Diese öffnete sich und ein riesiger Bildschirm sowie eine Tastatur
kamen zum Vorschein.
Sofort sichtete Tom einige Dateien. »Die Eindringlinge haben den Megatron nicht gefunden«,
brabbelte er vor sich hin.
»Megatron?«, fragte ich irritiert.
»Ja, mein selbst gebauter Hochleistungs-PC. Hieran schreibe ich meine Softwareprogramme
...«
»Ich glaube, du solltest mir nicht zu viel davon erzählen. Wer auch immer hier war, hat
keine Skrupel. ... Sie wird es wieder versuchen, notfalls mit Gewalt.« Mein Instinkt rief mich
dazu auf, vorsichtig zu sein.
Tom blickte mich an. »Du meinst, dass wir in Gefahr sind?«
Ich nickte. »Als ich die Wohnung betrat, spürte ich ihre Wut, weil sie nicht an ihr Ziel kam.
Sie wird es bestimmt noch einmal versuchen. Ich weiß nicht wie, wann und wo. Doch, wenn
ich meine Augen schließe, sehe ich Blut.« Mein Körper bebte regelrecht vor Furcht.
»Ohne mein Handy ...«
Während Tom sprach, änderte sich die Stimmung im Raum, von Wut und Verzweiflung, in
freudige Erregung.
»Lass uns gehen. Bitte. Sofort!«, flehte ich und lief aus der Wohnung. »Sie ist noch da«, war
alles, was ich ihm im Fahrstuhl zuflüsterte.
Tom folgte mir bis in die Eingangshalle.
»Du hast den Megatron vergessen«, stammelte ich.
»Damn!« Tom kehrte auf dem Fuße um und bestieg den noch offen stehenden Fahrstuhl.
Als ich beim Fahrstuhl ankam, hatte sich die Tür bereits geschlossen, also lief ich die
Treppen hoch. Auf halber Strecke wurde ich umgerannt. Ich stürzte ein paar Stufen hinunter
und blieb benommen liegen. Über mir blitzten Katzenaugen auf. Sie griffen nach etwas in
meiner Hand und dann verschwanden sie auch schon.
Einige Zeit später fand Tom mich.
Ich rappelte mich gerade wieder hoch. Mein Kopf schmerzte, das Knie war aufgeschlagen
und mein Arm war zerkratzt.
»Fehlt dir etwas?«, fragte Tom besorgt.
»Ja, mein Handy«, antwortete ich trocken.
Tom half mir zurück ins Penthouse und verriegelte die Tür, indem er das Lesegerät komplett
neu codierte. Anschließend stellte er sämtliche Radio-und Fernsehgeräte in der Wohnung an.
Zuletzt nahm er mich bei der Hand und ging mit mir ins Bad, wo er die Wasserhähne
aufdrehte.
Während Tom meine Wunden säuberte, erklärte er mir leise, was es mit dem Megatron auf
sich hat. »Vor einigen Jahren erhielt IT-international von der NSA den Auftrag, eine
Software zu entwickeln, welche die Systeme der einzelnen Nachrichtendienste vor Hackern
schützt und diese im Gegenzug auch in wenigen Minuten ausfindig machen soll. Des
Weiteren und das ist auch die Hauptaufgabe dieses Programms, wird die NSA in der Lage
sein, Gefahrenquellen, wie zum Beispiel terroristische Aktivitäten oder Drogenhandel,
schneller aufzustöbern und unbemerkt in die Computersysteme ihrer Gegner einzudringen.«
Während er das aufgeschlagene Knie versorgte, redete er weiter: »Es war Ben und mir von
Anfang an klar, dass eine terroristische oder kriminalistische Organisation versuchen könnte
die Software zu stehlen, bevor wir sie an die NSA ausliefern. Deswegen habe ich den
Megatron entworfen. Das große Arbeitsspeichervolumen ermöglicht es mir, komplexe
Programmierungen zu erarbeiten und zu testen. Die Datei selbst ist jedoch auf einem
Hochleistungschip in meinem Handy gespeichert.« Er verschmierte eine grüne Paste auf die
Kratzer am Arm. »Jetzt weißt du auch, warum ich so auf mein Handy aufpasse.« Vorsichtig
verband er mir den Unterarm. »So, fertig! Ich nehme nicht an, dass du noch zum Arzt willst,
oder?«
Beschämt lächelte ich.
»Okay, ich helfe dir eben auf die Couch und dann geh ich kurz vor die Tür zum
Telefonieren.«
Bereits eine Stunde später erschien Ben mit einem Agenten von der NSA.
Zunächst scannte Agent Jones die Wohnung nach Wanzen und Kameras ab und entfernte
diese. Als das Apartment gesäubert war, fragte er Ben und Tom: »Ist die Lady sauber?«
Tom antwortete daraufhin: »Sie ist meine Freundin ... Ich vertraue ihr voll und ganz.«
Ben jedoch sah verlegen zu mir herüber. »Agent Brown hat sie gecheckt. Miss Lorenz ist
vertrauenswürdig.«
Trotzdem ich damit gerechnet hatte, dass Ben etwas unternehmen würde, war ich enttäuscht
und sauer. Erst verteidigte er mich vor Rachel, um mich im nächsten Moment zu
hintergehen. Böse funkelte ich ihn an. »Du hättest nur den BND fragen müssen. Die haben
mich bereits vor einem Jahr durchleuchtet, weil ich mich bei der NATO beworben habe«,
schnauzte ich ihn an.
Tom brauste auf. »Wie konntest du nur? Reicht es nicht, dass ich ihr vertraue?«
»Ihr habt ja recht. Es tut mir leid. Ich musste einfach sichergehen, dass der Auftrag nicht
gefährdet ist.«
Trotz seiner Entschuldigung hielt meine Wut an. »Tu das nie wieder ... Ich warne dich!« Mit
geballter Faust trat ich einen Schritt auf Ben zu und er zuckte förmlich zurück.
Tom konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Hör lieber auf sie. Sie hat eine gefährliche
Rechte und scharfe Krallen.«
Abermals machte ich einen Schritt auf ihn zu.
Diesmal blieb er standhaft stehen. »Ist ja schon gut. Ich hab’s verstanden.« Das Zittern in
seiner Stimme ließ mich erahnen, wie unwohl er sich fühlte.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Tom belustigt und nahm mich galant in den Arm, um
mich von Ben fernzuhalten.
»Wir beenden Eagle Eye so schnell wie möglich, damit der Horror endlich ein Ende findet«,
antwortete Ben.
»Das ist eine gute Idee!«, sagte Agent Jones. »Je schneller das Programm fertig ist, desto eher
kann ich mich den schönen Dingen des Lebens zuwenden.« Dabei sah er mich begierig von
oben bis unten an und zwinkerte mir zu.
In diesem Moment sah ich den Adler wieder vor mir, wie er über seiner Beute hing und diese in
tausend Fetzen zerteilte. Der Boden war bedeckt mit blutdurchtränkten weißen Federn.
Mir wurde speiübel. »T´schuldig…!«, keuchte ich und lief ins Bad, um mir dort
Erleichterung zu verschaffen.
Ben kam nur wenige Augenblicke später zu mir. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja, es ist wieder vorbei«, nuschelte ich. Doch als ich in den Spiegel sah, war dort nicht mein
Gesicht zu sehen: Eine fremde Schönheit blickte mich ernst an. »Rette ihn!«, flüsterte sie.
»Nur mit ihm bist du vollkommen.«
»Was hast du gesagt?«, fragte Ben.
»Ich ... ähm ... Rette den Agenten, bevor Tom sich vollkommen vergisst«, murmelte ich, denn
ich hörte gerade, wie Tom Agent Jones zur Schnecke machte, weil er mich so abfällig
angesehen hatte.
Ben warf mir einen merkwürdigen Blick zu, nickte dann jedoch nur und ging.
Mein nächster Blick in den Spiegel gewahrte mir, dass der Spuk vorbei war – zumindest fürs
Erste.
In den nächsten Tagen arbeiteten Tom und Ben zusammen bis spät in die Nacht am
Programm, während ich mir die Zeit vertrieb, indem ich die Sachen von Sunny aussortierte.
Sie hatte sie mir alle geschenkt und ich war nun dabei einige besonders ausgefallene Stücke
zu versteigern, um den Erlös an Children´s Hope weiter zu geben. Die Sachen, die ich
behalten wollte, hängte ich in Toms Schlafzimmerschrank, sodass der Schrank in Sunnys
Zimmer bald gänzlich leer geräumt war.
Als ich damit fertig war und es auch nichts anderes mehr zu tun gab, schaute ich den beiden
bei der Arbeit zu.
Tom lud mich sogar dazu ein bei ihm am Megatron zu sitzen und erklärte mir nebenbei, was
da auf dem großen Monitor vor sich ging.
Ich lernte schnell und konnte auch ab und an eine sinnvolle Frage stellen, ohne mich zu
blamieren.
Ben hingegen war nicht begeistert davon, dass ich Einblick in Firmeninterna bekam. Doch
jedes Mal, wenn er auch nur den leisesten Ansatz machte, etwas dagegen einzuwenden,
drohte Tom ihm damit, mich beim nächsten Mal nicht zurückzuhalten, wenn ich einen
Wutanfall bekam.
Ich rechnete jeden Tag damit, dass es wegen mir zu einem riesigen Krach kommen könnte
und beabsichtigte daher, zu meinen Eltern zu fahren.
Tom bestand jedoch darauf, dass ich bei ihm in Bremen bleibe. »Ich lass mir von Ben doch
nicht vorschreiben, mit wem ich zusammen bin. Ich vertraue dir, und wenn ihm das nicht
passt, kann er das Projekt auch gerne ohne mich beenden.«
»Nein. Ich werde morgen heim fahren.«
Er sah mich betrübt an. »Ich dachte, inzwischen sei das hier dein Zuhause.«
Erschrocken fuhr ich zusammen. » Ja ... Nein«, ich schluckte schwer, »Ich wusste nicht, dass
wir schon so weit sind.«
»Nicht? Was meinst du wohl, warum ich dir eine neue Keycard machen ließ. Dachtest du
etwa ich lass jeder Freundin eine ausstellen?«
Ich versuchte abzulenken. »Apropos, habt ihr schon eine Spur von der verschwundenen
Schlüsselkarte?«
»Ja, aber sie führt ins Leere. Anton hatte Urlaub und Felix war krank, sodass in der Woche,
in der wir auf Oahu waren, eine Ersatzkraft den Dienst übernommen hat. Die Vertretung hat
einer jungen Frau die bestellte Karte ausgehändigt. Er konnte sie jedoch nicht richtig
beschreiben. Sie trug einen Schal um die Haare gewickelt und hatte eine große Sonnenbrille
auf. Sie hatte sich als dich ausgegeben und da sie sogar das Passwort kannte, hat der
ahnungslose Pförtner ihr dann die für dich bestellte Chipkarte ausgehändigt.«
»Also hatte ich recht: Es war eine Frau.«
»Ja es war eine Frau, aber bestimmt nicht Sophie ... Wie auch immer, es ändert nichts daran,
dass du mir noch eine Antwort schuldig bist.«
»Eine Antwort worauf?«
»Ob du jetzt offiziell bei mir einziehen willst?«
»Nein, ich will nicht.«
»Damn! Nicht schon wieder dieses ICH WILL NICHT. Bist du es nicht langsam leid, mit mir
diese Kämpfe auszutragen?«
»Doch. Aber diesmal geht es nicht um mich. Es geht um dich und Ben. Ich weiß nicht, was
euer Problem ist, aber klärt das gefälligst unter euch. Lasst mich da raus.«
»Diesmal irrst du dich. Es geht einzig und allein um dich. Es ist mir egal, was Ben von dir
hält. Ich liebe dich und will dich ständig um mich haben.«
Eine warme Welle durchflutete mich. Mit tränenfeuchten Augen ging ich zu ihm hinüber.
»Eigentlich«, hauchte ich ihm ins Ohr, »ist es schon längst mein Zuhause.«
»Engel, es wird ein schönes Leben. Morgen ... Ja, morgen nach dem Frühstück, gehen wir los
und kaufen die nötigen Küchenutensilien. Du willst sie doch noch immer haben, oder?«
Ich befreite mich aus seiner Umarmung und schüttelte den Kopf. »Zu spät. Hab ich schon
längst erledigt.«
Stürmisch umarmte er mich. »Deswegen das leckere Essen in letzter Zeit. Ich dachte schon,
du hättest einen neuen Cateringservice entdeckt.«
Leise kicherte ich. »Hast du wirklich nicht gemerkt, dass ich seit drei Wochen für euch
koche?«
Diesmal wiegte er den Kopf. »Ich sollte wohl weniger arbeiten, oder?«
»Nein! Mach es erst fertig, dann nehmen wir uns die Zeit. Es würde dich sowieso nicht
loslassen.«
»Und du hast schon wieder recht. Sogar in zweierlei Hinsicht: Es würde mich nicht loslassen
und du solltest wirklich für ein paar Tage zu deinen Eltern fahren. Bei der Gelegenheit
kannst du dir deine persönlichen Sachen einpacken und mitbringen.«
Es klopfte. »Tom, kannst du mal eben kommen? Ich brauche deine Hilfe.« Ben stand in der
offenen Tür zum Schlafzimmer.
»Sorry, die andere Pflicht ruft«, zwinkerte Tom mir zu.
Glücklich ließ ich mich rücklings aufs Bett fallen. Es wird ein schönes Leben werden ... hat er
gesagt. Die letzten Wochen sind einfach traumhaft gewesen. Kann es wirklich noch schöner werden?
Eine dumpfe Vorahnung machte sich in mir breit. Ich wurde urplötzlich sehr müde und
schlief ein.
Mitten in der Nacht fuhr ich schweißgebadet hoch. Ich wusste, ich hatte wieder den Traum
von der Lehmhütte gehabt, doch das Letzte, woran ich mich erinnern konnte, waren rote
Haare und blutige Hände.
Ich rappelte mich hoch und ging auf Zehenspitzen in Richtung Küche. Tom schlief auf der
Couch, von Ben war keine Spur zu sehen. Dort angekommen, nahm ich mir Milch aus dem
Kühlschrank, goss mir davon etwas in einen Becher und trank ihn in einem Zug aus.
Als ich mich umdrehte, um das Gefäß in die Spülmaschine zu stellen, stand Ben ein paar
Zentimeter hinter mir. Vor Schreck ließ ich es ins Spülbecken fallen.
»Pst«, machte Ben und hielt seinen Zeigefinger an seinen Mund. »Wir wollen Tom nicht
wecken. Er hatte sehr wenig Schlaf in letzter Zeit.«
»Das stimmt wohl«, flüsterte ich mit einem Blick auf die Uhr: Es war halb eins.
»Sie haben da etwas Milch«, murmelte Ben und strich mir mit dem Zeigefinger über die
Mundwinkel.
Mich erschauerte es bei dieser Berührung und eine Gänsehaut lief mir über den Rücken.
Für einen Moment hielt er inne, dann wandte er sich ab. »Entschuldigung, das war jetzt ...
unangebracht.« Er räusperte sich leise. »Ich wollte Ihnen eigentlich nur sagen, dass ich mich
bisher auf das Urteilsvermögen von Tom voll verlassen konnte. Auch, wenn es mir nicht
leicht fällt, möchte ich versuchen Ihnen ein wenig Vertrauen entgegenzubringen und mich
für die Sache mit der Agency entsch...«
»Ist schon gut«, fiel ich ihm ins Wort, »Ich kann Ihre Besorgnis verstehen, nachdem, was
Sophie getan hat, wäre ...«
»Sophie!? Was wissen Sie von ihr?«, Ben schien in Sekundenschnelle wieder misstrauisch
geworden zu sein.
»Ich weiß, dass sie lebt«, murmelte ich verlegen.
»Was? ... Woher?« Er starrte mich fassungslos an.
»Ich habe sie gesehen«, flüsterte ich, weil ich befürchtete, dass auch er mir nicht glauben
würde.
»Sie haben Sophie gesehen?«, Ben klang jedoch keinesfalls überrascht. Im Gegenteil, er
wirkte äußerst interessiert.
»Ja, sie war hier in der Wohnung und hat mich im Treppenhaus überrannt. Tom will mir das
nicht glauben, aber ich weiß, dass sie es war.«
Ben legte für einen kurzen Moment seine Hand auf meinen Arm. »Du hast dich nicht
getäuscht. Sie ist wirklich noch am Leben ... Ein DNA-Test hat ergeben, dass wir eine Fremde
beerdigt haben.« Unwillkürlich war er in einen persönlicheren Ton übergegangen.
»Oh mein Gott. Sie hat jemanden umgebracht, um ihren eigenen Tod vorzutäuschen?!« Das
war mehr eine Feststellung, als eine Frage. »Sie hätte auch mich töten können, als sie mir das
Handy abnahm«, sprach ich meinen nächsten Gedanken laut aus.
»Dein Handy?«
»Ja, sie hat mir das iPhone weggenommen. Tom hatte es mir vor ein paar Tagen geschenkt.
Es war dasselbe Modell wie seins.«
»Also ist sie wirklich hinter Eagle Eye her.« Ben fluchte leise vor sich hin.
»Das habe ich mir auch schon gedacht. Aber was ich nicht verstehe, ist, was sie damit will.
Wofür macht sie diesen ganzen Aufwand? Das Programm ist ja noch nicht mal fertig.«
Er sah mich forschend und grübelnd zugleich an. »Nina, du musst mir schwören, dass du
das, was ich dir jetzt erzähle, für dich behältst und es noch nicht einmal dem Kleinen
erzählst.«
Meine Neugierde war geweckt, deswegen hob ich feierlich die Hand. »Ich schwöre!«
»Auch wenn das Programm noch nicht ganz fertig ist, so ist es dennoch schon ein Vermögen
wert. Wie du sicherlich schon bemerkt hast, arbeiten wir im Moment nur noch an der
besseren Bedienbarkeit. Die Grundfunktionen sind alle schon implementiert.« Ben zog ein
paar Lichtbilder aus seinem Jackett und legte sie vor mir auf die Kücheninsel.
Die Fotos zeigten mehrere schöne Frauen, mit verschiedenen Haar- und Augenfarben und
unterschiedlichen Make-ups. So unterschiedlich diese Frauen auch wirkten, es war ein und
dieselbe. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass sämtliche Frauen katzenartig geformte
Augen hatten und die Lippenkonturen ebenfalls identisch waren.
»Das ist ja immer Sophie«, keuchte ich, nachdem mir die Gemeinsamkeiten auffielen.
»Gut erkannt. Sophie Voleur ist eine Industriespionin. Sie verkauft Firmeninterna oder, wie
in unserem Fall, die Software an den Meistbietenden.«
»Warst du deswegen mit Agent Jones hier?«
Ben nickte. »Ja, wir haben ihre Spur bis hierher verfolgt. Doch wir kamen zu spät.«
»Seit wann weißt du, was sie ist?«, hakte ich nach.
»Seit dem Morgen nach unserer Hochzeit.« Er sah mich nachdenklich an, als ob er überlegen
würde, was oder wie viel er mir noch erzählen dürfte. »Ich war damals mit dem Kleinen und
ein paar engen Freunden in Vegas, um einen Junggesellenabschied zu feiern. Sophie lernte
ich in der Hotelbar kennen. Wir haben ein paar Gläser miteinander getrunken und am
nächsten Morgen wachte ich in ihrem Bett als ihr Ehemann auf. Entsetzt, wie ich war,
beschimpfte ich sie wüst und drohte ihr, sie wegen Betruges verhaften zu lassen.
Wutentbrannt bin ich dann erst mal raus, doch Tom schickte mich zurück, um ihr zu sagen,
dass ich die Ehe annullieren lasse. Ich fand sie in Tränen aufgelöst vor und sie gestand, dass
sie in einem unbeobachteten Moment Rohypnol in mein Glas eingeworfen hatte ...«
»Rohypnol?«, fragte ich bestürzt.
»Ja, meine Frau hat mich in Las Vegas unter Drogen gesetzt, deshalb kann ich mich nicht
mehr an unsere Hochzeit erinnern. Sophie ...«
»Das ist nicht dein Ernst«, fiel ich ihm ins Wort. Ich konnte einfach nicht glauben, dass
Drogen tatsächlich eine solche Wirkung haben sollten.
»Doch, es ist wahr. Durch das Medikament wurde ich willenlos, so konnte sie mich dazu
bringen, sie zu heiraten ...«
»Aber warum? Wollte sie dich etwa ausspionieren und bestehlen?«, unterbrach ich ihn
abermals.
»Nein, damals wohl noch nicht. Im Gegenteil, sie wollte aus dem Geschäft aussteigen und als
ich ihr dann in der Bar von Noelani erzählte, sah sie in mir ihre große Chance, ein neues
Leben in einer sicheren Umgebung zu beginnen.«
»Und warum hast du die Ehe dann nicht annullieren lassen?«, fragte ich.
»Richter Nuts riet mir damals davon ab. Ich hatte keine Beweise dafür, dass Sophie mich
betäubt hatte und ich sie nicht freiwillig geheiratet habe. Und eine Scheidung kam ebenfalls
nicht infrage.«
»Warum nicht?« .
»Kannst du dir nur im Geringsten ausmalen, welche Wellen es schlug, dass ich eine
Wildfremde geheiratet habe, die mir zufällig über den Weg lief? Nicht auszudenken, was los
gewesen wäre, wenn ich mich nach kurzer Zeit hätte scheiden lassen. Ganz Hawaii hätte
mich für nicht zurechnungsfähig erklärt. Der Ruf der Familie stand auf dem Spiel. Und dann
war da ja auch noch Sophie. Auch, wenn sie mich zu dieser Ehe gezwungen hat, so hatte sie
doch ihre Gründe und brauchte meine Hilfe.«
Für einen Moment hing ich meinen eigenen Gedanken nach. Ich hatte Ben eher für einen
arroganten Kerl gehalten, doch was er mir jetzt erzählte, ließ mich erkennen, wie sehr er um
das Wohl anderer bemüht war.
»Es lief ja auch alles gut. Wir führten eine freundschaftliche Beziehung, bis sie schwanger
wurde. Danach ging es mit unserer Freundschaft jedoch bergab.« Er sog hörbar die Luft ein.
»Sie rief mich noch nicht mal an, als bei ihr die Wehen einsetzten. Zum Glück war Agent
Jones gerade da, um mir Unterlagen für den Eagle Eye Auftrag zu bringen. Der informierte
mich darüber.« Ben sah mich mit verklärten Augen an. »Nach der Geburt wurde es sogar
noch schlimmer. Eines Tages fand ich sie völlig verheult in der Küche vor. Sie kauerte auf
dem Boden und ritzte sich mit einem Messer die Haut auf, während sie immer wieder
flüsterte, dass er sie gefunden habe und sie umbringen werde. Die Ärzte diagnostizierten
eine postnatale Psychose und wiesen sie für einige Wochen in ein Sanatorium ein.«
»Oh Gott, das ist ja schrecklich«, keuchte ich. »Nur gut, dass du für sie da warst.«
Zynisch antworte Ben: »Ja, war ich und deswegen kann ich auch nicht verstehen, warum sie
mich so hintergeht.«
Aus dem Wohnzimmer kam ein Geräusch und nur einen Moment später stand Tom in der
Tür. »Wisst ihr eigentlich, wie spät es ist?«, fragte er verschlafen und raufte sich dabei die
Haare.
»Spät genug, um ins Bett zu gehen. Ich wollte mir nur noch eine heiße Milch machen.
Möchtest du auch eine Tasse?«, fragte Ben freundlich, während ich meinen Becher in die
Spülmaschine stellte.
»Nein, danke. Ich trinke keine Milch. Ohne Nina hätte ich nicht mal welche im Haus.«
»Dann ist es ja gut, dass sie hier ist«, bemerkte Ben salopp.
»Mmh.« Tom gähnte. »Komm, Engel. Lass uns ins Bett gehen.« Er hielt mir seine Hand
entgegen. »Schlaf gut, Großer.«
»Gute Nacht, ihr beiden.«
»Träum was Schönes«, verabschiedete ich mich und ging mit Tom mit.
Die Legende des Mana Loa
Nachdem wir im Schlafzimmer ankamen, verriegelte Tom die Tür. »Du solltest dir beim
nächsten Mal lieber einen Bademantel anziehen, wenn du schon mitten in der Nacht
aufstehst«, ermahnte er mich.
Entsetzt sah ich an mir runter. Der schwarze, spitzenbesetzte Stoff meines Nachthemdes
verhüllte nicht sehr viel meiner braun gebrannten Haut. Ich fühlte, wie die Hitze in meine
Wangen stieg. »Ich hab nicht nachgedacht«, flüsterte ich.
»Ach, schon gut. Du hast keinen Grund dich zu verstecken, es ist schließlich dein Zuhause«,
murmelte Tom, während er an meinem Negligé hinabsah. Sein Blick blieb an dem hohen
Beinschlitz haften. »Ben hat bestimmt schöne Träume«, bemerkte er leise.
Bevor ich mich versah, hatte er sich seiner Kleidung entledigt und setzte sich nackt auf den
Rand des Bettes. Mit einer schnellen Handbewegung zog er mich auf seinen Schoß. Er ließ
den Träger an meiner Schulter herabgleiten und küsste mich sanft auf die frei gewordene
Haut. Seine Zunge wanderte weiter hinunter. Als der Stoff ihm Einhalt gebot, zog er den
anderen Träger ebenfalls herunter, um im nächsten Atemzug meine freigelegte Brustwarze
zu liebkosen.
In mir zogen sich sämtliche Nerven zusammen und mir wurde heiß.
Tom ließ seine Hand an meinem entblößten Bein hochgleiten, bis zur Mitte meiner Schenkel
und ich stöhnte laut auf.
»Pst, nicht so laut, Engel. Wir wollen doch Ben nicht am Träumen hindern.«
Aufgebracht boxte ich ihn an die Schulter, um mich im nächsten Moment an derselben
festzukrallen: Tom hatte seine Hand weiter vorangeschoben und spielte mit mir.
Seine Finger waren tief verborgen und sein Mund saugte sich förmlich an meiner Brustwarze
fest.
Ich wollte ihn küssen, doch er entzog sich mir. Für einen Augenblick war ich verwirrt. Doch
als er mich aufstellte, um mich zwischen meinen Schenkeln zu küssen, war es mir einerlei.
Alles um mich herum war wie weggeblasen, es gab nur noch ihn und mich und dieses
unsagbar schöne Gefühl. Heiße Wellen durchzogen meinen Bauch, die Knie drohten mir
wegzuknicken.
Tom fühlte es und zog mich ruckartig auf sich. Mit einem erlösenden Seufzer löste sich die
Anspannung zwischen meinen Schenkeln, damit sie im selben Atemzug durch seine Stöße
wieder entfacht wurde.
Ich zog meine Beine hoch aufs Bett und umschlang damit seinen Rücken.
Toms Bewegungen wurden hierdurch zwar sehr eingeschränkt, er ließ sie jedoch nahtlos in
ein sanftes Wiegen übergehen.
Aus einer kleinen Gischt von Gefühlen entwickelte sich eine große Welle, die über uns
zusammenbrach und in wohligem Stöhnen und spitzen Schreien ihren Abschluss fand.
Atemlos und verschwitzt löste ich mich von ihm.
Tom ließ sich rücklings aufs Bett fallen und ich legte mich neben ihn.
»Darf ich dich jetzt wieder küssen?«, fragte ich ihn erschöpft.
»Ja, ... jetzt darfst du«, schnaufte er immer noch atemlos.
»Danke, ich verzichte«, kicherte ich und kroch weiter aufs Bett.
Tom wälzte sich hinterher. »Aber ich nicht.« Ehe ich mich versah, war Tom auf Augenhöhe.
Sein Gesicht pendelte direkt über meinem. Langsam und behutsam senkte er sich hinab.
Seine Lippen waren noch immer so heiß und feucht, wie ich sie vor wenigen Minuten an
meiner Brust gespürt hatte. In mir entfachte erneut ein kleiner Schwelbrand.
»Ich weiß, dass du noch immer nicht gesättigt bist, Engel. Doch leider brauche auch ich
beizeiten ein wenig Schlaf«, flüsterte Tom und küsste mich nochmals sanft auf dem Mund,
dann ließ er sich in sein Kissen fallen.
»Schade«, seufzte ich und kuschelte mich an ihn. Kurz darauf schlief er und ich folge ihm
bald in das Reich unserer Träume.
Morgens beim Frühstück sprach Tom mich darauf an, wie meine beruflichen Pläne jetzt
aussahen.
»Leider habe ich mich zu spät an den anderen Unis beworben. Ich habe nur die Zusage das
nächste Sommersemester in Göttingen zu absolvieren.«
»Eigentlich meinte ich die US-Unis. Explizit die NWCU?«, fragte Tom mich.
»Ich hab noch immer nichts von denen gehört.«
»Ach ja? Und was ist das?«, er zog einen dicken Umschlag unter dem Tisch hervor. »Deine
Eltern haben ihn heute Morgen auf dem Weg zum Flughafen abgegeben. Eigentlich wollten
sie dich damit überraschen, doch du hast so tief und fest geschlafen ... Woran das wohl lag?«,
griente er.
Ich fühlte, wie ich rot wurde und Ben blickte verdrießlich drein.
»Vielleicht könntet ihr beim nächsten Mal leiser sein«, maulte er.
»Oder du nimmst das andere Gästezimmer. Das, welches nicht direkt neben meinem
Schlafzimmer liegt«, forderte Tom seinen Cousin auf.
»Das könnte dir so passen. Wenn ich schon unter den Sternen schlafen kann, mach ich das
auch!«
»Hey Jungs, hört auf!«
Beide schauten mich erschrocken an.
»Ben entschuldige, wenn wir deine Nachtruhe gestört haben. Wir werden in Zukunft
Rücksicht auf dich nehmen«, sagte ich und sah dabei Tom abstrafend an.
»Werden wir nicht!«, antwortete er barsch. »Au!«, echote er, denn mein Fuß hatte sein Knie
getroffen.
Ich entzog Tom den Umschlag. »Der ist ziemlich dick ... Die anderen waren dünner!« Panik
stieg in mir auf.
»Keine Sorge, das ist immer ein gutes Zeichen. In der Regel packen sie dann die
Anmeldeformulare und Informationen mit rein.« Ben klang sehr zuversichtlich.
Meine Angst wandelte sich in Furcht. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und riss ihn
auf.
An meinem Freudenschrei konnten die beiden erkennen, dass ich tatsächlich angenommen
worden war. Stürmisch umarmte ich Tom. »Jetzt kann ich amerikanisches Recht studieren
und trotzdem bei dir bleiben ... Mir fehlt nur noch ein Praktikumsplatz in einer IT-Firma,
dann habe ich alles zusammen.«
»IT?«, hinterfragte Ben.
»Ja, Nina hat sich in den Kopf gesetzt zur NATO oder UNO zu gehen, um dort als
Frauenrechtlerin zu arbeiten.«
»Anwältin für Frauen- und Kinderrechte!«, schnaubte ich.
»Auch gut. Jedenfalls meint sie, dass sie mit einem Studium oder Praktikum in IT ihre
Chancen erhöht. In Bremen kann sie, wegen mir, jedoch nicht mehr studieren und die
anderen Unis sind wohl voll. Jetzt bleibt nur noch ein Praktikum oder einfach faul
rumsitzen.«
Ben wandte sich mir zu. »Wie wäre es, wenn du uns weiter zusiehst und dabei etwas lernst.
Wenn du dich geschickt anstellst, stelle ich dir ein Zeugnis aus. Und wenn du Lust hast, gebe
ich dir auch noch Nachhilfe im amerikanischen Justizrecht«, bot Ben an.
Ich strahlte ihn an und Tom guckte blöd aus der Wäsche.
»Was wird denn hier gespielt?«, fragte er völlig konfus.
»Nichts. Ich hab nur gestern eure Diskussion gehört und deswegen beschlossen, dass es
besser ist, wenn ich mit Nina Frieden schließe«, bemerkte Ben tonlos.
»Ach und den habt ihr mal eben mitten in der Nacht bei einem Glas Milch besiegelt, oder
was?« Er lachte, doch in seinem Ton klang ein gewisses Missfallen mit.
Ich bin dieses Bruderzwistes allmählich überdrüssig. Wenn die beiden sich nicht bald einkriegen, fahre
ich wirklich für ein paar Tage zu meinen Eltern, dachte ich genervt und stand auf, um mein
Geschirr in die Spülmaschine zu stellen.
»Tom, was hältst du davon, wenn du Nina gleich die erste Stunde gibst?«, fragte Ben ihn.
»Geht leider nicht«, antwortete dieser. »Ich muss zur Uni. In drei Wochen beginnt das neue
Semester und ich habe noch nicht mal meinen Lehrplan eingesehen.« Er sah Ben an.
»Vielleicht wärst du so nett?«
»Eigentlich wollte ich heute los und die Geburtstagsgeschenke für die Zwillinge in Auftrag
geben. Aber ich könnte Nina ja mitnehmen, sofern du nichts dagegen hast.«
»Solange du sie mir unversehrt zurückbringst, geht das in Ordnung. Ich würde sagen, wir
treffen uns zum Mittag im Bistro. Bis dahin seid ihr doch fertig mit eurem Ausflug, oder?«
»Klar. Ich geh mir nur eben was Luftiges anziehen. Draußen scheint es wieder sehr heiß zu
sein«, antwortete Ben und stand auf.
Kurz nacheinander verließen sie die Küche.
»Na toll! Sie reden über mich, als sei ich gar nicht vorhanden ... Aber für das Aufräumen
nehmen sie mich gern in Anspruch«, fluchte ich leise vor mir hin.
Ein paar Minuten später kam Ben in die Küche. »Den Rest räume ich weg.«
»Nicht mehr nötig. Bin schon fast fertig«, widersprach ich tonlos. »Hast du schon eine
Vorstellung, was du den Kids schenken willst?«
»Ja. Ich hab da eine Idee«, vorsichtig griff er nach meinem Armband. »So etwas schwebt mir
vor. Am besten ist, wir gehen zu Paolo. Nur er kann so feine Ketten schmieden.«
Eine halbe Stunde später waren wir bei einer Goldschmiede angekommen. Kaum, dass wir
den dazugehörigen Laden betreten hatten, kam auch schon eine hübsche Verkäuferin auf
uns zugeeilt. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ja, indem Sie so freundlich wären und Paolo herholen«, forderte Ben sie auf.
»Nun, Paolo hat zu tun. Er ist ...«
»Gnädigste, ich bestehe darauf. Sagen Sie ihm einfach, dass Benjamin Franklin auf ihn wartet
... Sie werden sehen, er wird sich die Zeit nehmen.«
»Wie Sie meinen«, erwiderte sie schnippisch und blickte uns ungnädig über ihre
Brillengläser hinweg, an. Dann verschwand sie im hinteren Raum.
Ben drehte sich zu mir um und lachte. »Ich hätte wohl doch lieber nicht in Bermudas und
alten Sneakers herkommen sollen.«
Ich erwiderte sein Lachen. »Anscheinend hatte Tom recht. Er sagte einmal zu mir: Die
richtige Kleidung öffnet die richtigen Türen.«
»Ein kluger Rat, zumal er eigentlich von mir ist. Vielleicht sollte ich ihn in Zukunft selbst
beherzigen.«
»Benjamin Franklin! Oh, wie lange ist es her? Vier Jahre, oder fünf?«, tönte es quer durch den
Raum.
»Sechs.«
»Ist das deine Frau? Sie sieht bezaubernd aus.« Der Mann griff nach meinen Händen und
starrte sie an. »Sie trägt keinen Ring ... Seid ihr für einen Ehering hier?«
»Nein, du täuscht dich. Nina ist ... eine gute Freundin von mir. Sie soll mir dabei behilflich
sein, ein Geschenk für meine Zwillinge Justin und Cassie auszusuchen. Sie werden in ein
paar Wochen vier Jahre alt. Es sollte etwas Persönliches sein, aber nicht zu auffällig.«
»Mmhm … Ja, ja … . Wartet hier! Ich komme gleich zurück«, lautlos, wie er gekommen war,
verschwand Paolo auch wieder.
Interessiert schaute ich mich derweil im Laden um. Es waren wirklich ein paar schöne, aber
auch auffällige Stücke dabei. Vor einer Auslage blieb ich stehen. Mein Blick war auf einen
Platinring gefallen. In feiner Schrift war das Wort AL HA eingraviert: Das O war ausgefüllt
mit einem Bernstein.
»Probiere ihn ruhig an«, ermutigte Ben mich, nahm ihn und schob ihn sanft über meinen
Finger. »Er ist wie für dich geschaffen«, schmeichelte er mir und lächelte mich mit einem
Grübchen über dem Mund an.
Verlegen lächelte ich zurück. »Ich brauche noch keinen Ehering.«
Paolo kam mit ein paar Skizzen wieder. Er hatte in der kurzen Zeit verschiedene Arm- und
Fußketten gezeichnet. Ben entschied sich für die kunstvoll geschmiedeten Armbänder mit
eingelassenen Namen.
»Als i-Punkte setze ich einen Zirkonia ein, den kann ich später durch einen echten Edelstein
ersetzen«, entschied Paolo.
»Hört sich gut an, aber sag mal, seit wann arbeitest du mit Imitaten? Ich dachte, du nimmst
nur echte Edelsteine?«
»Grundsätzlich schon. Für gute Freunde mache ich aber gerne mal eine Ausnahme.
Normalerweise nimmt Thomas nur Zirkons, um sie seinen Verflossenen zu schenken.«
Ben prustete los. »Paolo, mein alter Freund, sei vorsichtig, mit dem, was du sagst. Nina ist
nicht nur eine gute Freundin von mir. Sie ist seit geraumer Zeit auch fest mit Tom liiert.«
»Ist nicht dein Ernst?« Paolo stupste Ben mit seinen Fingerspitzen an und verdrehte kurz die
Augen. »Deshalb kommt er jetzt so selten. Früher kam er fast jeden Montag und heute kann
ich froh sein, wenn ich ihn einmal im Monat zu sehen kriege.«
»Er braucht halt keine Abschiedsgeschenke mehr«, lachte Ben.
»Verzeihen Sie mir diesen kleinen Fauxpas«, wandte sich Paolo an mich.
»Da gibt es nicht zu verzeihen. Ich fühle mich eher geschmeichelt.«
Paolos Blick fiel auf meine Kette. »Oh ... Sie sind diejenige, für die Thomas die Kette hat
anfertigen lassen. Er bestand darauf, dass ich sie nach dem Vorbild des Mana Loa schmiede.
Wissen Sie, es war nicht leicht den blauen Diamanten einzuarbeiten, aber ich sehe, es hat sich
gelohnt. Er hat eine würdige Trägerin gefunden.«
Erschrocken griff ich nach dem Anhänger. »Ein blauer Diamant?«
»Oh ja. Und was für einer. Man findet nicht oft einen blauen Diamanten, der so rein ist.«
Ben stupste Paolo an. »Du solltest dich jetzt wirklich ein wenig zurückhalten. Ich denke
nicht, dass es in Toms Interesse ist, wenn du ihr als Nächstes noch den Preis nennst.«
»Du hast recht, ich rede wieder zu viel. Ich geh jetzt lieber nach hinten und fange mit den
Armbändern an.«
»Mach das. Es war schön dich mal wiederzusehen. Ich komme Ende September vorbei und
hole sie ab. Ist das Okay?«
»Ja, ja.« Die beiden umarmten sich zum Abschied und klopften sich auf die Schulter. »Ähm
Ben, noch was ...«
»Ja?«
»Weißt du, wo der Mana Loa ist? Thomas hatte ein Foto dabei, obwohl er seit zehn Jahren
verschwunden ist.«
»Ich denke, er wird wieder auftauchen, wenn seine Zeit gekommen ist«, erwiderte Ben.
Sanft, aber bestimmend, schob er mich zur Tür hinaus.
Kaum in meinem Wagen angekommen, wagte ich es, ihn auf sein merkwürdiges Verhalten
anzusprechen. »Was ist der Mana Loa?«
»Ein Ring.« Er nahm meinen Anhänger in die Hand. »Du trägst ein Abbild von ihm um
deinen zarten Hals«, Ben räusperte sich. »Der Stein in den Händen symbolisiert die Seele
eines Menschen. Übersetzt heißt Mana Loa: geheiligte Energie oder Kraft. Man spricht auch
von Lichtenergie. Die Kraft des Steins soll das Mana Loa des Trägers verstärken und
bündeln. Es heißt, die Leuchtkraft des Steins wird durchs Mana seines Trägers bestimmt.
Also je mehr Magie du in dir trägst, desto heller wird der Stein aufleuchten. Doch nur, wenn
die rechtmäßige Besitzerin ihn trägt, wird er seine ganze Macht entfalten. Er wird seit
Generationen von Kahuna zu Kahuna mit den Worten: ‘Wenn das Herz und die Seele sind
vereint, kehrt die Eine die verloren scheint heim’ weitergereicht ...«
»Das hört sich ja mysteriös an ... Was bedeutet es?«, fragte ich ihn hochinteressiert.
Ben lächelte mich an. »Es ist eine lange Geschichte ... Wenn ich sie dir erzähle, werden wir
nicht rechtzeitig zum Mittagessen kommen.«
»Macht nichts. Ich möchte sie hören, egal was Tom sagt«, forderte ich ihn auf.
Sein Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen, welches die Kerbe über seinem Mund nur
noch deutlicher erscheinen ließ. Dennoch sagte er: »Nein, es ist nicht die richtige Zeit dafür
und außerdem möchte ich nicht, dass Tom mir einen Tritt in den Hintern verpasst und ich
im Po lande.«
Ich musste schallend lachen, weil sich dieser Satz sehr lustig anhörte und Ben lachte kräftig
mit, bis uns sogar die Tränen über die Wangen rollten.
»Der Po, den ich meine, ist, die ...«, Ben krümmte sich vor Lachen, »Welt zwischen der
unseren und Lewa Lani, dem höchsten Himmel.«
»Und ... leuchtet der Stein wirklich?«, fragte ich, um mich wieder unter Kontrolle zu bringen.
Sein Lachen ließ nach. »Nina, es ist nur eine alte Geschichte ... eine Legende.«
»Schade ... ich hätte ihn gern mal als Taschenlampe benutzt«, neckte ich ihn und verfiel
gleich wieder in einen Lachanfall.
Ben jedoch griff nach meiner Haarlocke, die sich aus meinem Zopf befreit hatte, und strich
sie hinter mein Ohr. »Sorry, die wurde von deinen Lachtränen feucht«, sagte er laut. Dann
wandte er sich ab und flüsterte ganz leise: »Und so siehst du nicht ganz so verführerisch
aus.«
Für einen Moment fühlte ich mich geschmeichelt, bevor ich jedoch etwas Passendes sagen
konnte, ließ er den Motor an und trat das Gaspedal voll durch, so dass der Wagen aufheulte.
»Wir sollten zum Restaurant fahren, nicht, dass Tom wirklich noch einen Anfall kriegt.«
Meine Antwort bestand aus einem lautlosen Nicken.
Zu später Stunde wurden wir von einem Klingeln an der Tür geweckt. Bevor Tom und ich
überhaupt aufgestanden waren, hörten wir einen lauten Tumult und Kinderlachen.
»Daddy, Daddy! Wir haben dich so vermisst!«, hörte ich Cassie rufen.
Während Tom im Badezimmer verschwand, warf ich mir einen Seidenmantel über und ging
ins Wohnzimmer.
Dort hockte Ben vor seinen Kindern und umarmte diese herzlichst mit einem Grübchen über
dem Mund. »Ich habe mich auch nach euch gesehnt, aber wie kommt ihr hierher?«
»Mit mir!«, Sunny kam durch die Eingangstür. Sie hatte eine weinende Lucy auf dem Arm.
Hinter ihr kam Anton herein. Er schob einen Rollwagen voller Koffer vor sich her.
Tom huschte an mir vorbei und lief auf Sunny zu. »Da ist ja meine kleine Lucy Maus. Du
hast bestimmt Hunger.« Ohne auch nur zu fragen, nahm er Lucy aus Sunnys Armen und
ging mit ihr in die Küche.
Sunny indes wandte sich an Ben. »Die Zwillinge haben dich vermisst und in fünf Tagen ist
die Fashion Week in London. Da dachte ich mir, die Zeit bis dahin können wir auch hier
verbringen.«
Tagsüber, während Tom und Ben weiter am Programm schrieben, unternahm ich etwas mit
Sunny, den Zwillingen und Lucy. Da mein alter Polo inzwischen endgültig den Geist
aufgegeben hatte, erkundeten wir in den ersten Tagen nur die Gegend um Toms Wohnung.
Nach zwei Tagen entschloss sich Sunny dazu, einen nagelneuen Audi Q7 zu kaufen,
wodurch wir in der Lage waren, auch ein paar Tagestouren durchzuführen.
Als dann die Fashion Week in London begann, flogen wir morgens mit einem von Charles
Privatjets rüber zur Insel und abends wieder zurück.
Allmählich bekam ich sogar wieder einen Sinn für Mode und binnen kürzester Zeit hatte ich,
wenn auch zunächst widerstrebend, den Kleiderschrank mit topmodischen, aber nicht zu
auffälligen Klamotten wieder gefüllt. Innerhalb einer Woche hatte ich einige Tausend Euro
ausgegeben und fühlte mich wiedererwarten recht gut dabei.
Freitagabend gönnten die Männer sich eine kleine Auszeit und Ben lud uns in einen
exklusiven Tanzklub ein.
Schon beim Betreten des Klubs wurde mir bewusst, dass er nicht mit einer normalen Disco
zu vergleichen war: Der Laden war im Stil der 40´er Jahre aufgebaut und anstelle von
moderner Rock- und Popmusik wurden hier Gesellschaftstänze gespielt. Es wurde ein netter
Abend. Wir tranken viel, lachten viel und tanzten auch sehr viel.
Tom achtete den ganzen Abend darauf, dass ich gut unterhalten wurde und es gab kaum
einen Tanz, bei dem er mich nicht aufforderte und dennoch hatte sein Verhalten einen
bitteren Beigeschmack.
Es kommt mir vor, als wenn er unter allen Umständen verhindern will, dass Ben auch nur den
Versuch starten kann, mit mir zu tanzen, schwirrte es durch meinen Kopf, als Tom mich zum xten Mal aufforderte.
Beim Tango jedoch bat er Sunny, ihm auf die Tanzfläche zu folgen. Erleichtert ließ ich mich
in den bequemen Sessel fallen.
»Möchtest du vielleicht mit mir tanzen?«, lud Ben mich ein.
»Sei mir nicht böse, aber ich kann eine Pause vertragen und außerdem ist Tango der einzige
Tanz, bei dem ich aus dem Takt gerate.«
Ben lächelte. »Ja, beim Tango kommt es auf den richtigen Tanzpartner an. Nur ein
gleichstarkes Paar kann ihn beherrschen. Schau dir die beiden an.« Er zeigte auf ein recht
ungleiches Paar: Sie war groß und stämmig und er klein und zierlich, doch der Tango lag
ihnen im Blut. Zwar nicht so sehr wie Tom und Sunny, aber annähernd. »Und jetzt sieh dir
die beiden an.« Sein Blick deutete in die Mitte der Tanzfläche. Dort versuchte ein Sonnyboy
eine Diva regelrecht über den Boden zu schieben, während sie ihn immer wieder
ausbremste.
»Ist schon ein Unterschied«, pflichtete ich ihm bei. »Ich wär schon froh, wenn ich nur halb so
gut Tango könnte, wie Tom und Sunny«, seufzte ich mit einem kleinen Blick auf die Zwei.
Der Tanz war zu Ende und bald darauf machten wir uns auch auf den Heimweg, weil Sunny
ihren Schlaf brauchte. Sie beabsichtigte am nächsten Tag abzureisen, da sie noch die letzten
Vorbereitungen für den Herbstball zu treffen hatte.
Pünktlich zum Herbstball hatten die beiden Männer dann auch ihre Arbeit an Eagle Eye
beendet, sodass wir guten Gewissens nach Oahu abreisen konnten.
Obwohl Tom sichtlich angespannt wirkte, hatte er dennoch darauf bestanden, dass ich
vorher noch einmal meine Eltern besuchte.
Da sein Wagen jedoch in der Inspektion war und Ben sich, den Audi von Sunny ausgeliehen
hatte, um seinen alten Freund Jimmy in Hamburg zu besuchen, fuhren wir mit der Bahn
dorthin.
Es wurde ein schöner Abend: Während wir Frauen in der Küche wurschtelten, unterhielten
sich Tom und mein Vater angeregt, bei einem Glas Macallan, über Hawaii.
In Anbetracht des bevorstehenden langen Fluges ging ich früh zu Bett. Tom indes war noch
nicht müde und blieb noch eine Weile bei meinen Eltern im Wohnzimmer sitzen. Ich hörte
die Drei noch eine ganze Zeit lang plaudern und lachen, dann schlief ich ein.
Am nächsten Morgen gegen 5.30 Uhr verließen Tom und ich - meine Eltern schliefen noch das Haus.
Doch wider Erwarten stand kein Fahrzeug vor der Tür und Tom schlug auch nicht die
Richtung zur Bushaltestelle ein. Er ging in Richtung Forst.
»Wohin gehen wir? Fahren wir nicht mit einem Taxi oder nehmen den Bus?«, fragte ich ihn.
Tom grinste, das Grübchen schwelte wieder um seinen Mundwinkel. »Weder noch. Komm
einfach mit!« Und tatsächlich gingen wir in den nahen Wald hinein. Je tiefer wir gingen,
desto dunkler wurde es. Als wir um die letzte Biegung vor der Lichtung bogen, sah ich ihn:
den Helikopter.
Vor Überraschung blieb ich wie angewurzelt stehen.
Tom nahm mich bei der Hand. »Keine Angst. Das ist sicherer als Autofahren.« Kurz darauf
half er mir in den Hubschrauber zu steigen.
Dreißig Minuten später landeten wir direkt neben dem Goldstück. Onkel Charles und Ben
erwarteten uns schon und diesmal war auch Toms Tante Caroline dabei.
»Mann, dass ich das mal erleben darf, dass du so lange an einem Mädel hängst«, rief Charles
freudestrahlend Tom entgegen.
»Tja, Wunder geschehen«, erwiderte dieser.
»Und wie ich hörte, bist du auch schon bei ihm eingezogen«, sein Blick wanderte zu mir.
»Ja, das stimmt. Seit knapp drei Wochen wohnen wir zusammen«, antwortete Tom für mich.
»Ging ziemlich schnell, oder?«, Charles fixierte mich eindringlich.
»Mag schon sein ...«, ich blickte ihm direkt in die Augen. »Gefällt dir das nicht?«
Verlegen lächelte er. »Oh nein, ganz im Gegenteil. Versteh mich nicht falsch: Zu meiner Zeit
hatten wir unseren Spaß, ohne dass wir gleich zusammengezogen sind. Damals wurde
geheiratet und dann zog man erst zusammen.«
Ich schmunzelte.
Ben sah mich an. »Ganz unrecht hat er ja nicht.«
»Seht das doch so: Wenn´s nicht klappt, kann ich einfach wieder ausziehen. Ich spar mir den
Scheidungsstress und Tom sich die Abfindung.« Dabei lächelte ich die beiden verschmitzt
an.
»Punkt für dich!«, feixte Ben.
»Könnten wir jetzt vielleicht das Geplänkel sein lassen und starten? Sunny jagd uns quer
über die Ananasfelder, wenn wir zu spät kommen. Wir hätten eigentlich schon gestern
fliegen müssen.« Toms Ton verhehlte nicht, dass ihm das Thema Unbehagen bereitete.
»Das liegt ja ganz an dir. Du wolltest unbedingt noch zu Ninas Eltern. Mir wäre es auch
lieber gewesen, wenn wir Eagle Eye schon in Fort Meade abgegeben hätten«, gab Ben
zurück.
»Ist ja schon gut. Ich wollte Nina nur einen Gefallen tun«, murmelte Tom kleinlaut.
Jetzt reden die schon wieder über mich, als wenn ich nicht da bin, dachte ich verärgert. »Also ich
fliege jetzt, ihr könnt ja rüber schwimmen«, schnaubte ich und ging hoch in das Flugzeug.
Die anderen folgten mir auf dem Fuße.
Charles gab Caroline noch einen kleinen Kuss und verschwand dann in Richtung Cockpit.
Neugierig schaute ich hinter ihm her.
»Er fliegt für sein Leben gern selbst«, raunte Tom mir zu.
»So, wie Lars ...«
»Fasten your Seatbelts«, ertönte Charles Stimme aus den Lautsprechern.
Wir setzten uns auf die vier Sessel und schnallten uns an.
Als das Freizeichen zum Abschnallen kam, sagte Tom an uns alle gewandt: »Ich hab mir
gedacht, dass ihr Frauen das Schlafzimmer und Ben die Couch nimmt. Ich kann wohl im
Pilotenraum schlafen.«
»Ich bin aber gar nicht müde«, sagte Caroline.
»Ich auch nicht«, pflichtete ich ihr bei.
»Gut, dann bevorzuge ich das Schlafzimmer. Ich bin erst um drei Uhr wieder in Bremen
gewesen und könnte wirklich ein bisschen Schlaf gebrauchen«, sagte Ben.
Er hat es wirklich nötig. Jetzt erst sah ich die Ringe unter seinen Augen. »Schlaf schön«, sagte
ich freundlich, dann war er auch schon verschwunden.
»Eine Runde Poker?«, fragte Caroline.
»Immer gern«, antwortete Tom.
»Spielst du auch mit? Zu zweit macht es nur halb so viel Spaß«, forderte sie mich auf.
»Ich spiel nicht gut. Mein Gesicht ist wie ein Spiegel.«
»Das macht nichts, in dieser Familie wirst du das Bluffen schnell lernen.«
Tom knuffte sie.
»Nun denn, let's Poker«, sagte Caroline enthusiastisch und holte die Karten und die Chips
hervor.
Nachdem wir bereits den Zwischenstopp in Fort Meade zur Abgabe von Eagle Eye hinter
uns hatten, kam Ben auch noch dazu. Er spielte jedoch nicht, sondern sah nur zu.
Ich hatte mich stundenlang wacker geschlagen, doch immer wieder gelang es Tom, mir den
einen oder anderen Pott abzuringen. Irgendwann blieb mir nichts anderes übrig, als einen
Bluff zu wagen und All Inn zu gehen.
Tom durchschaute dies und holte sich auch meine letzten Chips.
»Du hast heute sehr viel Glück«, sagte Caroline zu ihm.
»Mit Glück hat das weniger zu tun. Ich kenne meinen Engel in- und auswendig. Sie kann
mich zwar verzaubern, aber bluffen kann sie mich nicht.« Über seinem Mundwinkel erschien
wieder dieses Grübchen.
Ich blickte verlegen zu Boden. Mir war es unangenehm, wie Tom über mich vor Caroline
und Ben sprach.
Caroline stand auf. »So, ich sehe mal, ob Charles mit mir seine Kabine teilt. Ihr könnt dann ja
das Schlafzimmer nehmen«, sagte sie und verschwand im Pilotenbereich.
»Gute Idee«, sagte Tom und stand ebenfalls auf.
Gähnend folgte ich ihm und kaum, dass ich mich hingelegt hatte, versank ich in einem
traumlosen Schlaf, aus dem ich nur wenige Stunden später geweckt wurde, da ich mich noch
für den Ball zurecht machen musste.
Nach einer erfrischenden Dusche legte ich mir schnell ein in goldbraunen Tönen gehaltenes
Make-up und zum Schluss roten Lippenstift auf. Ich wollte das erste Mal seit langer Zeit
verführerisch wirken. Dann zog ich ein in London erworbenes Kleid an. Es war ein
dunkelrotes Bustierkleid mit goldenen Verzierungen. Um die Taille lag es sehr eng an. Nach
unten hin ging es dann jedoch etwas weiter auseinander und endete hinten in einer leichten
Schleppe. Im vorderen Teil war ein hoher Gehschlitz eingelassen, sodass ich mich, trotz des
engen Grundschnittes, gut bewegen und auch tanzen konnte.
Caroline kam kurze Zeit später ins Schlafzimmer, um mich zu frisieren. Mit geschickten
Händen, einem Föhn und einer Menge Haarspray gestaltete sie mir eine Hochsteckfrisur mit
einem geflochtenen Dutt. Zur Auflockerung des Ganzen ließ sie jedoch rechts und links an
der Stirn eine einzelne glatte Strähne an den Wangen entlang fallen. Es hatte eine kleine
Ewigkeit gedauert, das Ergebnis jedoch war umwerfend.
Ich trat in den Wohnraum, wo Tom und Ben bereits warteten. Tom hatte sich passend zu
meinem Kleid eine rote Fliege zu seinem Smoking ausgesucht, während Ben immer noch
legere Kleidung trug. Er hatte anscheinend nicht mit so einem langen Deutschlandaufenthalt
gerechnet und sich deswegen wohl seinen Anzug nicht mitgenommen.
»Du siehst atemberaubend aus, Engel«, bemerkte Tom mit stolzgeschwellter Brust.
»Du bist wirklich sehr schön«, raunte Ben.
Alles ist vorherbestimmt
Der Ball fand am ersten Wochenende im Oktober in einer der riesigen Hotelanlagen am
Waikiki Beach statt. Wir fuhren in einer Stretch Limousine von hinten durch den VIPEingang in die Tiefgarage, weshalb ich den Namen des Hotels nicht sehen konnte.
Drei Hotelangestellte, zwei in schwarzen Hosen und weißen Jacketts und einer mit einem
dunklen Jackett, standen bereit, um uns willkommen zu heißen. Einer von ihnen kam zur
hinteren Fahrzeugtür geeilt und öffnete sie.
Zuerst stieg Tom aus. Er hielt mir seine rechte Hand entgegen, um mir beim Aussteigen
behilflich zu sein, was ich angesichts dieses engen langen Kleides als sehr hilfreich empfand.
Tom nahm meine Hand mit seiner Linken, winkelte dann seinen rechten Arm an und legte
meine Hand in seine Armbeuge.
Mir entschlüpfte ein Lachen und Tom sah mich irritiert an. »Wie in einem alten Film«, raunte
ich ihm zu.
Er lächelte. »Ich bin halt wohlerzogen.«
Der dunkelgekleidete Hotelangestellte stellte sich als Manager vor und begleitete uns dann
in den prächtig geschmückten Festsaal.
Am anderen Ende des Raumes hatte eine zehnköpfige Band ihre Instrumente aufgebaut.
Zwanzig Achtecktische waren auf den ganzen Saal verteilt aufgestellt worden und auf ihnen
standen Blumenbouquets aus weißen und grünen Callas. Des Weiteren befanden sich
goldene Platzteller darauf, welche wiederum mit einer weißen Serviette und jeweils einer
Calla belegt waren. Die Callas allerdings waren abwechselnd in Weiß oder Grün gehalten.
Vor dem Teller-Arrangement stand eine farblich abgestimmte Windlichttüte, auf der in
goldener Kalligrafie der Namen des Gastes geschrieben worden war.
Der Raum selbst war mit Blumenarrangements aus Calla, Orchideen und weißen Rosen
umsäumt. In der Mitte des Saales war eine große mit Blumensäulen umrandete Fläche zum
Tanzen freigelassen worden.
Nachdem Sunny uns zwischen all den Blumen entdeckte, kam sie auch sofort auf uns
zugelaufen. Ihr schwarzes perlenbesetztes Kleid schwang bei jedem Schritt elegant um ihre
Beine.
»Ich hoffe es gefällt euch«, fragte sie und wirkte dabei sichtlich angespannt.
Tom erwiderte: »Nun ich hatte ein paar ...«
Sunny verdrehte die Augen. »... paar was?«
»Gäste erwartet«, antwortete Tom trocken.
Sunny boxte ihn gegen die linke Schulter. »Du weißt genau, dass die noch kommen.«
Tom lachte sie mit demselben Grübchen über dem Mundwinkel an, mit dem er auch mich
immer anlächelte. Ihre Zweisamkeit versetzte mir einen Stich.
Sei keine Närrin. Sie ist seine Cousine, zügelte ich mich selbst. Doch dann wurden meine
Gedanken bereits in eine andere Richtung gelenkt. Ich hörte, wie Ben hinter uns eintrat und
sich bei dem Manager für seine Gastfreundschaft bedankte. Verstohlen blickte ich mich um.
Ben sah einfach umwerfend aus. Er trug den gleichen Smoking wie Tom, jedoch hatte er eine
goldene Fliege angelegt. Sie ließ seine bernsteinfarbenen Augen in einem goldenen Glanz
erscheinen.
Dann kamen auch schon die ersten Gäste und wie auf Kommando stellten sich die
McAllisters in einer Reihe auf und begrüßten jeden einzelnen Gast mit einer netten Floskel.
Tom bildete den Abschluss des Begrüßungskomitees und ich stand vor ihm, direkt neben
Ben.
Nachdem die ersten Gäste von Ben begrüßt worden waren und ich gerade ein freundliches
Lächeln hervorgebracht hatte, sprach Tom das Paar auch schon auf Englisch an: »Mister und
Mrs. Winehouse, darf ich Sie mit meiner Freundin Nina bekannt machen?«
Die Betonung legte er eindeutig auf das Wort Freundin, woraufhin Mister und Mrs.
Winehouse mich, wie ich es inzwischen schon gewohnt war, von oben bis unten
begutachteten. Der Mann nickte anerkennend, während seine Frau die Nase rümpfte.
Doch Tom ließ sich nicht beirren und sagte mir zugewandt in Englisch: »Nina, das ist Mister
Peter Winehouse. Er ist einer der führenden Weinhändler hier auf Oahu und das neben ihm
ist seine entzückende Gattin Marie. Sie ist die leitende Oberärztin im Kapi'olani Medical
Center for Women and Children. Ihr Spezialgebiet ist die Neonatologie. Beide sind übrigens
sehr gute Bekannte von mir.«
Mrs. Winehouse verzog erneut das Gesicht.
Das Ehepaar trat zur Seite und ich schaffte es gerade noch Tom zuzuraunen: »Warum?«
Bevor ich meine Frage beenden konnte, begann das Spiel von Neuem, indem er mir die
nächsten Gäste vorstellte.
Auch hier lag die Betonung auf Freundin, doch diese Dame, welche mir als die Gattin des
Bürgermeisters von Honolulu vorgestellt wurde, freute sich eher für Tom. Von einer
Abneigung mir gegenüber war nichts zu spüren.
Nachdem das Bürgermeisterpaar zu ihrem Tisch weitergegangen war, beantwortete Tom
meine unfertige Frage in Deutsch: »Warum sie so blöd aus der Wäsche guckt? Bevor sie
verheiratet war, war sie mal für eine Nacht meine Gespielin. Aber keine Angst mein Engel.
Sie kann nicht mit dir mithalten.«
Dann begrüßte er den nächsten Ankömmling. Und so ging es Gast für Gast weiter.
Als die Schlange überschaubar wurde, flüsterte Tom mir zu: »Ich komme gleich wieder.« Er
verschwand in Richtung Sunny, die wild mit den Armen nach ihm gestikulierte.
Den Grund dafür hatte ich nicht mitbekommen, da meine Aufmerksamkeit von einer mir
allzu bekannten Stimme abgelenkt wurde. Ich schaute die Reihe der ankommenden Gäste
durch.
Du hast dich geirrt. Er kann nicht hier sein, beruhigte ich mich selbst, doch dann sah ich ihn: Er
war der letzte Gast und stand zusammen mit seinen Eltern bei Eric und Leanne. Er war
inzwischen gewachsen und hatte einen kleinen Bartansatz, doch die Statur, die Stimme, die
schiefe Nase und das Hinken verrieten mir, dass ich mich nicht irrte: Markus ist hier! Ich griff
nach rechts und bekam Bens Hand zu packen. Meine Fingernägel drückten sich fest in seine
Handfläche.
»Auī!«, entwich ihm.
Erschrocken sah ich ihn an und entzog ihm sofort meine Hand.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Ja«, flüsterte ich und begrüßte den nächsten Gast mit einem aufgesetzten Lächeln.
Geh! Noch ist es Zeit, noch kannst du gehen. Ich atmete tief ein. Nein, ich gehe nicht! Die
Genugtuung sollen sie nicht haben. Ich werde meine Familie nicht bloßstellen. In mir tobte ein
Krieg. Ein Hin und Her zwischen Angst, Verzweiflung, Wut, Trauer und Stolz war in mir
ausgebrochen. Je näher die Hartmanns kamen, desto steifer fühlte sich mein Körper an.
Ben begrüßte nun Dr. Hartmann und ich erstarrte vollends. Mein Kinn hob ich ebenso an,
wie meine Schultern. Instinktiv machte ich mich dazu bereit gleich auf Markus loszugehen.
Eine Sekunde später fühlte ich Bens beruhigende Hand auf meiner Schulter. »Nina. Darf ich
vorstellen, das ist Dr. Phil Hartmann mit seiner Frau Ute und ihrem Sohn Markus. Der Doc
leitet unser Kinderdorf unten in Waimanalo.« Ben wandte sich den Gästen zu. »Das ist Toms
Freundin Nina Lorenz. Sie kommt aus derselben Gegend wie ihr. Vielleicht habt ihr euch
bereits schon mal gesehen …«
»Wir kennen uns«, zischte ich fast überhörbar.
»Nina war mit mir in einer Klasse«, murmelte Markus dazwischen.
»Oh, dann habt ihr euch sicher eine Menge zu erzählen.« Ben war sichtlich erfreut.
Indes verschränkte ich meine Arme vor der Brust und biss mir auf die Unterlippe. Auf dem
Absatz drehte ich mich um und ging hinaus in den Garten.
Wie erwartet folgte Markus mir.
Am anderen Ende der Parkanlage - weit ab von jeder anderen Person - hielt ich an und
drehte mich zu ihm um. Ich war mir sicher: Wenn Blicke töten könnten, wäre Markus in
diesem Moment tot umgefallen. Mein ganzer Hass lag in diesem Blick. Ein Blitz erhellte in
diesem Moment den kleinen Palmengarten und Markus wich erschrocken zurück.
»Ich hatte gehofft, dass du mir nach all der Zeit verziehen hast«, wisperte er.
»Wie du siehst, heilt die Zeit doch nicht alle Wunden«, schnaubte ich unter einem
Donnergrollen. »Du hast mein Kind getötet und glaubst, ich könnte dir verzeihen?«
»Es war auch mein Baby«, flüsterte Markus.
»Ach und du meinst, das macht es besser?«, ich schäumte. »Ich werde nie wieder schwanger
werden können. Du hast alles kaputt gemacht ... In mir ist nur noch Mus.« Meine Hände
legten sich instinktiv auf meinen Unterleib. »Nichts woran sich jemals eine Eizelle heften
könnte ... Alles ist vernarbt.«
»Nina. Bitte ...« Markus Augen füllten sich mit Tränen. »Ich kann nur noch mal wiederholen,
dass es mir leidtut. Ich wusste nicht, dass es reines Tilidin war. Dass kein Naloxon
beigemischt war, konnte ich nicht wissen. Ich weiß nur noch, wie ich auf dem Weg zu dir
war. Ich wollte dir sagen, dass ich zu dir stehe und wir unser Kind gemeinsam aufziehen
werden. Noch bevor ich bei dir ankam, setzt meine Erinnerung aus ...«
»Du meinst, das reicht aus? Ich habe Schmerztabletten geschluckt und deswegen dein Leben
zerstört. Nein, das reicht nicht! Egal was du sagst, du kannst es nicht ungeschehen machen«,
brüllte ich und einem weiteren Donner folgte sofort ein Blitz. Ich nahm meine
Angriffshaltung ein. Mir war in diesem Moment sogar egal, ob das Kleid zerreißen würde.
Meine Wut war unermesslich groß.
Markus wich abermals zurück. »Es tut mir leid.«
Aus dem Schatten eines Busches trat jemand hervor. »Markus, dein Vater sucht dich. Du
solltest lieber reingehen«, forderte Ben ihn auf.
Markus nickte und ging eiligst davon.
Obgleich er nun fort war, behielt ich meine Haltung bei.
Ben jedoch sah nach oben gen Himmel. »Nina, auch wir sollten reingehen. Es sieht so aus, als
ob sich gerade ein schweres Unwetter zusammenbraut.«
»Oh ja. Es wird ein Gewitter geben! Ich werde mir nämlich jetzt diesen Hur...« Meine
restlichen Flüche wurden von einem Donnerhall verschluckt. »Und wenn ich mit ihm fertig
bin, dann schnapp ich mir seinen Vater, diesen Scharlatan. Dem werde ich seine Instrumente
so tief in sein ...«
Ben fing schallend an zu lachen und brachte mich damit abrupt zum Schweigen.
Wenn Blicke wirklich hätten töten können, wäre er an diesem Abend der zweite Mensch
gewesen, der tot umgefallen wäre. Doch das Einzige was passierte, war, dass eine weitere
Blitzsalve über den Himmel jagte.
»Wie konntet ihr die Hartmanns nur anstellen? Wisst ihr denn nichts von ihrem
Vorstrafenregister?« Meine Wut suchte sich ein neues Ventil.
»Doch ich weiß, dass Dr. Hartmann in Deutschland seine Lizenz wegen unsachgemäßer
Lagerung von Medikamenten fast verloren hätte und sein Sohn nur knapp einer
Verurteilung wegen schwerer Körperverletzung entgangen ist. Aber ich weiß auch, dass es
...« Ben stockte und holte einmal tief Luft. »Markus hatte nie die Absicht dich zu verletzen.
Er konnte nichts dafür.«
»Wie bitte? Wie kannst du es wagen, dich auf die Seite dieses Monsters zu stellen?«
»Weil ich Informationen habe, die ein anderes Licht auf das Geschehene werfen.«
Für einen Moment herrschte Ruhe. Eine unnatürliche schwere Totenstille hing in der Luft
und nicht mal der Wind wagte es, einen Lufthauch von sich zu geben.
»Es ist an der Zeit, dass du die Wahrheit über dich erfährst.« Er ging zielstrebig auf die
nahestehende Bank zu, setzte sich und klopfte dreimal mit der flachen Hand auf die leere
Stelle neben sich. »Hele Mai Nina. Komm zu mir, wenn du wissen willst, warum dein Leben
diese schreckliche Wendung nahm.« Bittend sah er mich an und brachte dadurch meinen
Puls wieder auf Normallevel.
Neugierig geworden, folgte ich seiner Aufforderung.
Sofort nahm er meine Hände und führte sie an seine Schläfen. »Konzentrier dich auf den
Tag, der dein Leben änderte, dann siehst du, was ich weiß ...«
Ich hatte noch nicht einmal den ersten Gedanken gefasst, da sah ich die Kartenlegerin in der schlecht
beleuchteten Grotte auf dem Steinboden sitzen. »Ein Mädchen ... vom Leben gezeichnet ... belegt mit
einer Gabe ... auserkoren, um zu ändern ... was die Vergangenheit bewahrt und die Zukunft bereithält
... Berührt von der Liebe eines Mannes, dessen Leben in ihren Händen weilt ... begibt sich auf eine
Reise ... zu sich selbst«, murmelte sie.
Ihre bereits schon trüben Augen verdunkelten sich zusehends und die klare Flüssigkeit, die vor ihr in
einer Holzschüssel stand, begann zu sieden. Die Alte sprach nun mit einer völlig fremden Singstimme
»Berichtige ihr Leben. Ihr Schicksal entscheidet über die Welt!«
Die Fackeln, die zuvor nur noch glommen, standen nun wieder in Flammen und ließen den Raum hell
erleuchten. Ihr Blick klärte auf und sie erhob sich, um zu dem Altar zu gehen, der hinter ihr an der
Wand stand.
»Ka La `Ano Ka La maika` i«, sagte sie.
»Wofür ist heute ein guter Tag?«, fragte ich mit einer männlich herben Stimme.
Die Greisin drehte sich zu mir um. »Hea mai i ke aumoe.«
»Iho Ki, du sprichst wieder einmal in Rätseln. Welcher Schlaf lockt dich in der Nacht?«
Selig lächelte sie mich an. »Der ewige Schlaf.«
Unwillkürlich richtete ich mich auf und straffte meine Muskeln. »Du meinst, du wirst heute Nacht
sterben?«
Die Greisin nickte leicht.
»Es tut mir leid«, flüsterte ich.
»Das braucht es nicht. Ich habe ein erfülltes Leben geführt. Jetzt rufen die ‘aumakua nach mir. Die
Familiengötter brauchen mich, um meine Nachfolgerin wieder auf den richtigen Weg zu bringen ...«
»Du weißt, wer sie ist?«, unterbrach ich sie.
Die alte Frau nickte. »Ja. Nur weiß sie nicht, dass sie eine Noelani ist und wofür sie auserkoren
wurde.« Iho Ki drehte sich wieder gen Altar und zündete mit zittriger Hand eine Kerze an. »Die
Aufgabe, die ich heute Nacht zu erfüllen habe, ist die schwerste meines Lebens.« Sie blies das
Streichholz aus, welches sie noch immer in der Hand hielt. Erneut wandte sie sich mir zu. »Ich muss
den Tod bringen, um das Leben zu schenken.«
»Was?« Alles in mir sträubte sich gegen diese Ankündigung.
»Glaube mir. Es wird mir nicht leicht fallen. Und wenn das Wesen, welches ich töten soll, schon eine
Seele hätte, würde ich mich nicht dem Willen der ‘aumakua beugen.«
Für einen Moment herrschte Stille in der Höhle.
»Bist du von allen guten Geistern verlassen? ... Hast du überhaupt eine Ahnung davon, wie viel
Unglück du der Frau bereitest, indem du ihr Ungeborenes tötest?«, fragte ich sie entsetzt, als mir
gewahr wurde, was ihre Aussage bedeutete.
»Natürlich weiß ich das«, antwortete sie traurig. »Aber es nicht aus dem Weg zu schaffen, könnte den
Untergang der Welt bedeuten. Dieses Wesen darf nicht geboren werden, sonst wird die Magie an das
falsche Kind gehen. Versteh doch: Das Schicksal des Mädchens wurde geschrieben, noch bevor sie zur
Welt kam. Dieses Kind war nie Teil ihrer Vorsehung und deswegen werde ich das Leben des
Mädchens wieder in die richtigen Bahnen lenken. Ab heute Nacht wird alles, was geschehen wird für
sie vorherbestimmt sein. So, wie es dir vorgegeben ist, den Mana Loa zu bewahren und ihn ihr zu
übergeben.«
»Ich ... Wieso ich?«, fragte ich überaus überrascht.
»Weil dein Leben an das ihre gebunden ist«, antwortete sie knapp.«
»Wie meinst du das? Wie ist mein Leben an ihres gebunden?«
Iho Ki lächelte. »Das wirst du selbst herausfinden müssen.« Die Kerzen auf dem Altar flackerten. »Ich
muss bald gehen, um die Zukunft zu begradigen. Das Wesen muss weichen, damit die Eine, die
verloren scheint, heimkehren kann.«
»Aber ich dachte immer, Okelani sei nur eine Legende ... eine alte Geschichte.« Ich trat auf sie zu. »Du
darfst kein Leben opfern für einen Aberglauben!«
Die Fackeln loderten, der Raum verdunkelte sich und die Alte sah mich böse an. »Die Legende der
Okelani ist wahr! Die aus dem Himmel wird zurückkommen und sich den Götterschwestern erneut
entgegenstellen.«
Ich umfasste nun ihre Schultern und schüttelte sie leicht. »Iho Ki, auch wenn es wahr wäre, so ist es
dennoch nicht richtig. Du weißt nicht, wie es ist ein Kind zu verlieren ... Einen größeren Schmerz gibt
es nicht. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr es einen zerreißt, wenn ein Teil von dir genommen
wird.« Während ich dies sagte, brachen meine alten Gefühle wieder hervor. Zum zweiten Mal in
meinem Leben fühlte ich die Qualen eines Elternteils, welches sein Kind verloren hatte.
Die Greisin sah mich mitfühlend an. »Peni‘amina, es tut mir leid.« Sie atmete tief ein. »Es gibt Seelen,
die im Po verweilen, bis ihnen ein neuer Körper und damit ein neues Leben geschenkt wird. Dies
geschieht nicht allzu oft. Doch wenn es passiert, hat es eine größere Bedeutung, als uns jemals klar
sein wird. Diesen Seelen muss der Zugang zum Diesseits gewährt werden, egal, welche Opfer es mit
sich bringt ...«
Die Fackeln fingen an, unruhig zu flackern und die Kerzen auf dem Altar erloschen.
Unruhig sah ich mich um, doch Iho Ki blieb ganz still und murmelte: »Meine Zeit wird knapp ...« Sie
wurde kreidebleich und knickte ein.
Im letzten Moment konnte ich sie gerade noch auffangen, bevor sie auf den harten Boden aufkam.
»Bitte Peni‘amina«, flüsterte Iho Ki. »Bewahre ihn für sie auf«, bat sie mich. Sie fummelte an ihrer
linken Hand herum und zog den Ring ab. »Übergebe ihn ihr und erzähle ihr von Okelani ... Aber bleib
bei der Wahrheit, damit sie auch versteht, warum sie diesen Ring mit ihrem Leben verteidigen muss.«
Ein derber Windhauch ließ die Fackeln erzittern und löschte die Kerzen, die auf dem Boden standen.
Iho Ki ließ sich davon anscheinend nicht beirren, denn sie hielt mir jetzt den Ring mit zittriger Hand
entgegen »Nimm ihn und schwöre mir, dass sie ihn von dir erhält.«
Erneut blies ein Wind durch den Raum und die erste Fackel erlosch.
Ich nahm den Ring an mich und flüsterte: »Ich schwöre es dir bei den ‘aumakua.«
»Mahalo, jetzt kann ich in Frieden gehen«, lächelte sie und stand auf, als wenn nichts gewesen wäre.
»Das ist nicht dein Ernst«, schnauzte ich sie an. »Du spielst hier die Sterbende, nur damit ich einer
Wildfremden den Ring gebe?«
Die Polynesierin strafte mich mit einem gütigen Blick. »Vielleicht findest du deinen Humor wieder,
wenn dein Herz geheilt ist.«
»Verdammt noch mal Iho Ki. Kannst du nicht einmal ernst bleiben?«
Sie lachte. »Nein, es macht zu viel Spaß dich zu ärgern.«
»Okay, du hattest dein Vergnügen, könnten wir zum eigentlichen Thema zurückkehren?«, fragte ich
richtig angesäuert.
Die Alte grinste über beide Ohren. »Oh, ich habe es nie gewechselt.«
»Pupule!«, schimpfte ich. »Du bist verrückt!« Ich pfefferte ihr den Ring vor die Füße und kehrte ihr
den Rücken zu.
Ben nahm meine Hände von seinen Schläfen und die Verbindung brach augenblicklich ab.
Fassungslos sah ich ihn einfach nur wortlos an. In mir war nur noch Leere, kein Gedanke
regte sich. Es war, als wenn meine Seele und mein Herz abgeschaltet wurden. Das, was ich
soeben gesehen hatte, war so ungeheuerlich, dass mein Geist sich weigerte, es auch nur
ansatzweise in Betracht zu ziehen.
Ben sah mich für einen Moment forschend an, dann zog er mich an seine Schulter und
streichelte mir behutsam über meinen Arm. »Du bist es, nicht wahr? ... Du bist ihre
Nachfolgerin. Ich meine, es passt so einiges. Deine Visionen zum Beispiel ...«
Erstaunt blickte ich ihn an. »Du weißt von meiner Gabe?« Angst und Verwirrung mischten
sich unter die Wut, die in mir loderte.
»Ja, ich habe es an deinen Augen gesehen. Jedes Mal, wenn Iho Ki mit dir in Kontakt tritt,
verklären sich deine Augen, so wie die von Keanu, wenn er in den Flammen liest ... Nur dass
deine so blau wie der Moana sind.« Ben sah mich forschend an. »Außerdem bist du an Iho
Ki´s Todestag ebenfalls fast gestorben und dein Leben geriet total aus den Fugen, als Markus
...«
»Was? Das ist nicht dein Ernst!« Ich sprang auf. Mein Gehirn fing wieder an zu arbeiten. Was
geschehen ist und was geschehen wird, ist dir vorherbestimmt, hämmerte es in meinen Kopf. »Das
kann nicht sein ... Das ist ein schlechter Witz, oder?«, flüsterte ich leise vor mich hin. Ich
wollte weglaufen, das alles hinter mir lassen. Doch irgendetwas hielt mich zurück ...
»Warum tust du mir das an?«, schrie ich Ben an. »Was habe ich dir getan, dass du mich so
quälen musst?«
»Nichts ... Aber genauso wenig habe ich etwas getan, um zu verhindern, was dir geschehen
ist … Nina, ich habe neun Jahre lang gedacht, dass alles, was Iho Ki an diesem Mittag gesagt
hatte, ein übler Scherz war. Sie machte gerne mal Späße und deswegen maß ich dem Ganzen
auch keine Bedeutung bei. Und das, obwohl sie wirklich in der Nacht verstarb. Nicht mal, als
die Hartmanns zu mir kamen, hatte ich eine Ahnung, dass sie unschuldigerweise an der
Berichtigung deines Schicksals beteiligt worden sind. Das wurde mir eben erst klar, als ich
das Gespräch zwischen euch beiden belauschte ... Erst da ergab alles für mich einen Sinn.«
Meine Gedanken arbeiteten indes wieder auf Hochtouren. Im Geiste ging ich nochmals alles
durch, was ich zuvor gezeigt bekam und am Ende war mir klar, dass Ben sich irrte. »Ich bin
es nicht. Ich habe kein Noelaniblut in mir.«
»Doch das hast du. Tom hat mir von eurem Ausflug in die Grotte erzählt. Er sprach davon,
dass du das Gefühl hattest, als würden tausend Hände dich streicheln und Hunderte von
Lippen dich küssen. Genau dasselbe Gefühl hatte ich auch, als ich das erste Mal die Höhle
betreten habe. Es bedeutet, dass die ‘aumakua dich als eine von uns anerkannt haben. Du
warst ihnen willkommen, ansonsten hätten dir die Kiai Angst eingejagt.«
»Aber wie ...?«, fragte ich und klammerte mich dabei an die Hoffnung, dass Ben keine
Erklärung hatte.
»Oh, da wäre den Schutzgöttern wohl was zu eingefallen.« Er sah mich an und fing an zu
grinsen, über seinem Mund bildete sich eine Kerbe, dann verfinsterte sich sein Gesicht
wieder. »Ach so, ... Du meinst, wie du eine von uns sein kannst. Nun, ich weiß es ehrlich
gesagt nicht. Dein Bruder und ich haben tagelang im Archiv von Pearl Harbor gewühlt.
Doch wir haben keine Spur von einem Alois Hauding gefunden, der 1944 in Frankreich
gelandet ist. Wer auch immer er ist, er ist ein Stammesangehöriger, das ist sicher: Lars hat
die unverkennbaren Augen der Noelanis geerbt.«
»Na schön, dann bin ich es halt, die Iho Ki meinte«, knickte ich ein. »Nur war es denn
wirklich nötig mein Kind zu töten? Hätte Iho Ki mir nicht damals schon einfach erscheinen
und mir sagen können, dass ich ihren Platz einzunehmen habe?« Sarkasmus machte sich in
mir breit.
»Nina, ...«, in seine Augen traten nun Tränen, »du hast es ja selbst gehört, deine Magie durfte
nicht an dieses Kind vererbt werden.«
Ich lachte hämisch. »Oh, ein toller Plan: Wir töten das eine Kind, damit die Magie an das
Nächste geht ... nur leider kann ich jetzt gar keine Kinder mehr bekommen!«, schrie ich
lauthals.
Ben hingegen sah sehr nachdenklich aus. »Ich verstehe, dass du jetzt sehr aufgewühlt bist,
doch das bringt uns nicht weiter ... Komm setz dich, dann überlegen wir gemeinsam, was die
Prophezeiung besagt. Vielleicht hilft es dir, es ein wenig besser zu verstehen.« Wieder einmal
sah er mich mit seinen goldbraunen Augen an und brachte mich dadurch schlagartig wieder
zur Ruhe.
Ich nickte und setzte mich neben ihn.
»Also, es fing folgendermaßen an: Ein Mädchen, vom Leben gezeichnet ... Damit ist wohl
gemeint, was dir in dieser Nacht wiederfahren ist. Belegt mit einer Gabe ...«
»Ich kann die Gegenwart und die Zukunft sehen«, sagte ich mit tränenerstickter Stimme.
Ben nickte. »Auserkoren, um zu ändern, was die Vergangenheit bewahrt und die Zukunft
bereithält«
»Das soll wohl heißen, dass ich die Vergangenheit verändern kann.« Die erste Träne rollte
über meine Wange und klatschte auf mein Dekolleté. »Aber ich kann weder in die
Vergangenheit sehen, noch kann ich in der Zeit zurückreisen und verhindern, dass ich keine
Kinder gebären kann, oder dass Markus mir zehn Jahre meines Lebens stiehlt. Was, bitte
schön, soll ich also korrigieren können?« Meine Wut brach wieder hervor und verstärkte nur
noch mehr den Tränenfluss.
»Nein, du hast es nicht richtig verstanden. Die Vergangenheit kann man nicht korrigieren,
aber Geheimnisse, die in ihr vergraben sind, könnten die Zukunft beeinflussen. Alles, was
dir geschehen ist, war vorherbestimmt, doch die Zukunft kannst du berichtigen«, flüsterte er
leise durch den Regen hindurch.
»Die Zukunft will ich nicht richtigstellen ... Die Vergangenheit ist es, die mir zu schaffen
macht ... Und was soll das heißen, mein Schicksal entscheidet über das der Welt? Wie soll
das gehen, frag ich dich? ... Soll ich etwa mit ein paar hellseherischen Fähigkeiten über die
Menschheit wachen? Das ergibt doch alles keinen Sinn.« Ich verfiel jetzt endgültig in einen
Tränenschwall.
Ben zog mich an seine Brust und streichelte mir beruhigend über den Rücken. »Auch ich
könnte nur Mutmaßungen darüber anstellen.« Sanft strich er mir eine vom Regen nasse
Haarlocke aus dem Gesicht.
Meine Tränen liefen weiter und erst nach einer Weile schaffte ich es meinen Kopf zu heben,
um ihn anzusehen.
Er lächelte mich zaghaft an und küsste mich sanft auf die Stirn, wodurch ein warmer
Schauer durch meinen Körper lief.
Ich legte meinen Kopf wieder ganz nah an seine Schulter und atmete seinen schweren Duft
nach Sandelholz ein. Mit jedem Atemzug verblassten die Erinnerungen an das gerade
Gesehene. Genüsslich schloss ich die Augen. Eng umschlungen saßen wir einfach da. Ich
spürte, wenn einer von uns sich rührte, würde es kein Zurück mehr geben.
Nach einer gefühlten Ewigkeit flüsterte Ben: »Nina, ich könnte jetzt noch stundenlang so
sitzen bleiben, aber die Weissagung geht ja noch weiter ...«
»Es ist mir egal«, murmelte ich leise. »Die Prophezeiung interessiert mich nicht. Ich werde
mein Erbe nicht antreten und mein eigenes Leben leben ...«
»Mein Herz ...«, er hob meinen Kopf an und sah direkt in meine Augen, »ich wünschte, es
wäre so einfach, doch die Wahrheit ist, dass mein Schicksal an das deine gebunden ist ... Ich
bin es, dessen Leben in deinen Händen weilt.«
Abrupt sprang ich auf und starrte ihn fassungslos an. »Dein Leben ist in Gefahr?«
»Sag du es mir! Schau für mich in die Zukunft und sag mir, was mich erwartet. Wie kann ich
meinen Tod abwenden? Sag es mir«, forderte er mich auf und griff nach meiner Hand, doch
es passierte nichts.
»Es tut mir leid, es geht nicht! ... Es passiert meistens dann, wenn ich es nicht erwarte. Du
musst verstehen, die Visionen lassen sich nicht von mir lenken.«
Ben wurde blass und wirkte in sich gekehrt. »Dann ist mein Schicksal besiegelt«, murmelte
er verzweifelt und hoffnungslos.
»Nein Ben ... Sag so was nicht ... Es muss noch einen anderen Weg geben.« Panik überkam
mich. Ich kniete mich vor ihn und meine Finger berührten seine Wange. Mir wurde
schwindelig:
Ich stand in einer riesigen Flughafenhalle und starrte auf die Anzeigentafel. Obgleich ich die
kyrillische Schrift nicht lesen konnte, wusste ich, dass der Flug von Frankfurt gerade landete. Schnell
lief ich zur Wartehalle der ankommenden Flüge hinüber. Ich sah den ersten und den letzten Passagier
das Flugzeug verlassen, doch die Person, die ich erwartete, war nicht dabei.
Ich griff zu dem Handy in meiner Jackentasche. Es war das Handy, welches mir in Bremen gestohlen
wurde: Leider war weder eine SMS, MMS noch eine E-Mail eingegangen.
Die Nummer, die ich wählte, wurde auf eine Mailbox umgeleitet: Die freundliche Stimme von Clark
Newton teilte mit, dass er nicht erreichbar sei und bat darum eine Nachricht zu hinterlassen.
Traurig verließ ich den Flughafen.
Im Wagen sah ich in den Rückspiegel und entfernte die verwischte Wimperntusche mit einem
Taschentuch, das linke Auge war immer noch geschwollen. »Dieser verdammte Bâtard. Wenn ich
Benjo je wieder sehe, werde ich ihn umbringen.« Die grünen Augen im Spiegel blickten mich jetzt
direkt an und mich überkam das ungute Gefühl, entdeckt worden zu sein.
»Nina, was siehst du?«, hörte ich Ben fragen.
»Du ... du hast deine Frau geschlagen.« Mir liefen abermals die Tränen übers Gesicht, doch
diesmal war es der Schmerz über die Erkenntnis darüber, wen ich vor mir hatte und nicht
der meines eigenen Unglückes.
Das pure Entsetzen spiegelte sich auf Bens Gesicht wieder. »Spinnst du? Ich verprügel keine
Frauen.«
»Sophie hast du aber geschlagen. Sie hat es eben gesagt.«
Aus Bens Augen funkelte der Zorn. »Meine Frau ist eine Lügnerin, Betrügerin und Diebin
und trotzdem glaubst du ihr mehr als mir?«
Mein Kopf dröhnte und, dennoch konnte ich die Gedanken nicht abschalten. Was, wenn sie
mich wirklich gesehen hat ... Ben ein Schläger? Nein, es kann nicht sein. Es darf nicht sein! Aber sie
hat es gesagt. Sie kann mich nicht gesehen haben, also warum sollte sie dann so was sagen?
»Und ich dachte, wir wären inzwischen ... Ach, vergiss es!«, Ben rauschte an mir vorbei und
verschwand in der Dunkelheit.
Ich war gerade dabei, mir die letzten Tränen aus dem Gesicht zu wischen, als Sunny aus den
Büschen hervorkam. »Hier bist du. Tom sucht dich schon überall!«
»Entschuldigung, mir war nicht gut. Der Jetlag macht mich wieder ganz fertig«, murmelte
ich, während ich versuchte, die verlaufene Wimperntusche mit meinen Fingern
wegzuwischen.
»Komm ich helfe dir.« Sie nahm mich bei der Hand und führte mich in den ersten Stock in
ein von ihr gemietetes Zimmer.
»Geh schon mal ins Bad und mach dich frisch. Ich komme gleich nach«, sagte sie und ging
am zerwühlten Bett vorbei an den Kleiderschrank.
Nur Augenblicke später übergab sie mir ein perlenbesetztes Cocktailkleid. »Zieh das schnell
an.«
Wortlos folgte ich ihrer Anweisung.
Es klopfte an der Zimmertür und Sunny ging hin.
»Was willst du hier?«, zischte sie. »Ich bin nicht allein.«
»Damn!«, schnaubte eine männliche Stimme. »Ich habe meine Fliege vergessen.«
Sunny huschte an der leicht offenen Badezimmertür vorbei zum Bett und griff nach etwas
Rotem, dann rannte sie schnurstracks zur Tür zurück und schloss diese alsbald wieder, um
mit einem verlegenen Lächeln auf den Lippen zu mir zurückzukehren.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich. »Von mir erfährt niemand etwas.«
»Danke«, flüsterte sie und die Erleichterung war ihr ins Gesicht geschrieben. »Wir sollten
uns jetzt beeilen das Dinner fängt gleich an. Wäre doch schade, wenn es kalt wird.«
Sunny zog mein Gesicht zu sich herüber und begann, ohne auf meine roten geschwollenen
Augen einzugehen, mein Gesicht mit ihren Lotion Pads abzuwischen und mir neues Makeup aufzutragen. Dann nahm sie den Föhn und rettete von meiner Frisur, was es noch zu
retten gab. Zum Schluss ging sie an die Fensterbank und nahm eine weiße Hibiskusblüte aus
dem Blumenstrauß heraus und stecke diese über meinem Ohr ins Haar.
Ich wollte gerade rausgehen, da hielt sie mich zurück. »Warte, du solltest erst ein starkes
Parfüm aufsprühen ... Du riechst nach Ben.«
Erschrocken sah ich sie an. »Du musst mir glauben, es ist nichts passiert ... Er hat mir nur
eine Schulter zum Anlehnen angeboten und dann haben wir uns sogar gestritten.«
»Ist gut, ich glaube dir. Ben lässt sich nicht auf amouröse Abenteuer ein.«
Entsetzt sah ich sie an.
»Entschuldige, das kam jetzt falsch rüber. Ich meinte, dass ... Ach verdammt, du weißt
genau, was ich meine. Aber ich könnte es verstehen, wenn ihr euch doch aufeinander
einlasst. Du bist wunderschön und meine Brüder sind sehr anziehend. Doch du solltest dich
bald für einen von ihnen entscheiden, bevor es zu spät ist und du nicht mehr zurückkannst.«
Sie umschlang mich förmlich und flüsterte mir zu: »Wie auch immer du dich entscheidest,
ich steh hinter dir.«
»Da gibt es nichts zu entscheiden. Ich gehöre zu Tom!«, sagte ich entschieden, löste mich von
ihr und ging in Richtung Tür.
»Wenn du dich da mal nicht irrst«, flüsterte Sunny.
Unserer neu gewonnenen Freundschaft zuliebe überhörte ich es geflissentlich.
Nur zwei Minuten später saßen wir an unserem Tisch und bekamen auch gleich die
Vorspeise. Es wurden Scampi in heißem Öl zusammen mit gebratenen Jakobsmuscheln auf
Rucolasalat und Gazpacho serviert. Kurz darauf folgte ein Pastinakenschaumsüppchen mit
einer Praline vom Kalb.
Nach der Vorspeise und der Suppe wurde ein Tango gespielt. Ich überraschte Tom, indem
ich ihn zu dem Tanz aufforderte.
»Du hast ihn tatsächlich gelernt.«
»Ja. Ben hat ihn mir letzte Woche beigebracht«, strahlte ich ihn an und trat ihm mit dem
Pfennigabsatz meines Schuhs auf seinen Fuß – Tom verzog sein Gesicht zu einer
schmerzverzerrten Grimasse.
Beim Schlussakkord des Tangos ließ ich mich in seine Arme gleiten. Sein Lächeln ließ die
Erinnerung an Bens innige Umarmung verblassen. Ich hatte meine Wahl getroffen, längst
bevor ich wusste, dass ich eine zu treffen hatte und sein Kuss nahm mir den letzten
Nachgeschmack von der vergangenen Stunde.
Kurze Zeit später wurde die Hauptspeise serviert. Es gab Reh auf Sugo vom Wildschwein
mit gebratenen Pilzen und Johannisbeerpolenta und zum Nachttisch Dreierlei von der
Creme Brûlée mit Vanilleeis.
Nach dem Essen setzte ich mich zusammen mit Tom an einen der anderen Tische, um
Konversation zu betreiben. Wir unterhielten uns angeregt mit den Gästen über Gott und die
Welt, Mode und das Wetter. Je nachdem, was mir wieder einfiel, welche Position oder Beruf
der Gast hatte, versuchte ich ein Gespräch mit ihm oder ihr aufzubauen. Es lag vielleicht an
dem Champagner, jedenfalls fiel es mir gar nicht schwer, diese Art von Unterhaltung
durchzuführen und das sogar in fließendem Englisch.
Gut zehn Minuten später bat Tom mich um den nächsten Tanz und ich folgte ihm gern.
»Du bist zauberhaft«, sagte er, während wir uns harmonisch zu einem Cha-Cha-Cha
bewegten. »Du hast sie alle verhext. Sowohl die Männer wie auch die Frauen. Jeder Mann
hier im Saal beneidet mich um dich und jede Frau hier wünscht dir deswegen nichts Gutes.«
Verunsichert blickte ich mich um. Tatsächliche waren fast alle Augen auf uns gerichtet. Aber
nicht alle Männer schauten begierig und die wenigsten Frauen sahen verächtlich zu uns
herüber. Im Gegenteil: Ich sah viele, die uns einfach nur wohlwollend anlächelten.
»Du übertreibst mal wieder maßlos«, schimpfte ich ihn.
»Mag sein ... Aber trotzdem bist du zauberhaft.«
Das Lied war zu Ende und wir setzten uns erneut an einen der Tische.
Und auch hier wiederholte ich die Art meiner Unterhaltung: Mit den Frauen sprach ich über
Mode und mit den Männern sprach ich über Politik und das Wetter. Irgendwann bemerkte
ich, dass Toms Blick mal wieder auf mir ruhte und ich wandte mich ihm zu.
»Du musst wissen, dass es einen guten Grund gab, weshalb wir bei deinen Eltern waren. Ich
habe sie um ihr Einverständnis gebeten und sie haben es mir erteilt«, flüsterte Tom mir ins
Ohr.
Misstrauisch blickte ich ihn an. »Wovon, zum Teufel, sprichst du? Was für ein
Einverständnis?« Ich ahnte die Antwort, wollte es aber nicht wahrhaben.
»Ich hielt bei deinem Vater um deine Hand an. Und er bat mich, dir auszurichten, dass er
überglücklich sei, wenn du meinen Antrag annehmen würdest. Nina, ich möchte dich um
deine Hand bitten«, sagte er ganz unumwunden.
Hätte ich in dem Moment etwas gegessen oder getrunken wäre ich daran erstickt. »Du bist
verrückt«, bellte ich.
»Ja. Verrückt nach dir!«
»So meinte ich das nicht! Wir kennen uns gerademal dreieinhalb Monate und schon sprichst
du von Hochzeit.«
»Das ist sooo nicht ganz richtig. Wir kannten uns gerade eine Stunde, da habe ich bereits von
Hochzeit gesprochen.«
Obwohl wir uns die ganze Zeit in Deutsch unterhielten, merkte ich, dass alle Ohren in der
Nähe auf uns gerichtet waren.
»Ja, aber das war doch nur im Scherz«, versuchte ich die Situation wieder unter Kontrolle zu
kriegen.
Doch ich erreichte das Gegenteil: Tom stand auf, hob die Hände und drehte sich von rechts
nach links und wieder zurück. »Ich mache dir vor all diesen Leuten einen Heiratsantrag und
du sagst ich mache Scherze. Das verletzt mich jetzt aber zutiefst.«
Dann ging er durch die Menge davon und ich rutsche noch tiefer in meinen Sessel hinein,
wenn dies überhaupt möglich war.
Die Blicke der anwesenden Gäste wanderten von ihm zu mir und wieder zurück. Das
Nuscheln war nicht zu überhören. Doch ich verstand kein Wort, meine Gedanken kreisten
um ihn. Auweia, dachte ich. Jetzt hast du´s aber vergeigt.
Urplötzlich stand Tom zu meiner Linken und zog mich von meinem Sessel hoch, hinter sich
her, direkt in den Garten hinein. Auf dem Rasen hockte er sich vor mir nieder. »Ich habe
vielleicht nicht die richtigen Worte gewählt, deswegen versuche ich es noch einmal«, er
räusperte sich. »Möchtest du … ?«
»Kann ich einen Ehevertrag bekommen?«, unterbrach ich ihn.
»Du machst es mir nicht leicht, aber Okay. Im Fall einer Scheidung verzichte ich auf jeglichen
Unterhalt.«
Ich musste kichern. »Kannst du jemals ernst sein?«
»Würde ich ja gern, aber du bist immer so pessimistisch. Das muss ich ja irgendwie
ausgleichen. Selbst einen banalen Heiratsantrag, beantwortest du mit einer Gegenfrage«,
zischte er.
»Jetzt habe ich dich wirklich verärgert, oder?«
Tom grinste spöttisch. »Ja, und du kannst dir ja bestimmt denken, wie du es
wiedergutmachen kannst. Also, dreimal ist Oldenburger Recht.«
»Du wohnst aber in Bremen«, antwortete ich lachend, um meine immer größer werdende
Nervosität in den Griff zu bekommen.
»Pst, ich muss mich jetzt konzentrieren, um ernst zu bleiben.« Er räusperte sich erneut, legte
sein linkes Knie auf den Boden, zog eine kleine Schatulle aus seiner Hose heraus und hielt sie
mir geöffnet hin. Als ich den Platinring sah, in dem ein ovaler Brillant eingefasst war, wurde
mir klar, dass er es wirklich ernst meinte und Tränen der Rührung stiegen mir in die Augen.
»Nina my angel, I love you. Ich möchte den Rest meines Lebens mit dir verbringen. Und so
frage ich dich noch einmal, ganz im Ernst und ohne Zweifel: Will you marry me?« Die Frage
stellte er mir in einem Mix aus Deutsch und Englisch.
»Ich muss selbst verrückt sein«, flüsterte ich, während ich mich zu ihm niederkniete und
meine Arme um seinen Hals schlang. »Yes«, sagte ich laut und deutlich und aus reinster
Überzeugung heraus.
Als Tom mir dann noch den Ring an den linken Ringfinger steckte, brach ich endgültig in
einen Schwall von Tränen aus.
Es dauerte eine Weile, bis ich mich wieder gefasst hatte und Tom mich aus seiner
Umarmung ließ.
Kaum, dass wir im Saal wieder eingetroffen waren, zog er ein Mikrofon hinter seinem
Rücken hervor.
»Ladys und Gentlemen ... Mit Freude darf ich Ihnen mitteilen, dass Nina Lorenz soeben
meinen Heiratsantrag angenommen hat.« Diesmal sprach er in Englisch, sodass alle im Saal
es verstehen konnten.
Eric rief in Englisch durch die Menge hindurch: »Auf das junge Paar. Möge ihre Ehe
mindestens genauso lange halten, wie der Antrag wohl dauerte.«
Alle Anwesenden erhoben sich und brachen in Beifall aus.
Meine Hochstimmung wurde erst unterbrochen, als ich Bens Gesichtsausdruck sah.
Instinktiv wusste ich: Er verachtete mich. Doch in diesem Moment war es mir egal.
Aloha liebe Leserin, lieber Leser!
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So, und nun bleibt mir nur noch Dir viel Spaß beim (weiteren) Eintauchen in Ninas Welt zu
wünschen.
Me ke Aloha pumehana
Astrid Rose
Glossar
Englisch
Accident
Unfall
Are you coming?
Kommst du?
death
tot
Eagleeye
Adlerauge
Goodbye
Lebewohl (Abschiedsgruß)
I could beat him
Ich könnte ihn schlagen
I know it
Ich weiß es
I love you
Ich liebe dich
probably
vermutlich
Sorry
Entschuldigung
Tell me the way
Sag mir den Weg
This is Nina Lorenz speaking
Hier spricht Nina Lorenz
Tom has just collapsed and I did not understand everything
Tom ist zusammengebrochen und ich habe nicht alles verstanden
What happened?
Was ist passiert?
Yes
Ja
Französisch
je lui aime
Ich liebe ihn
Mes enfants
Meine Kinder
Mon Ami
Mein Freund
Mon Amour
Meine Liebe
Mon seul Amour
Meine einzige Liebe
Qui
Ja
Non
Nein
Voleur
Dieb
Hawaiianisch
`Ae
Ja
`A`ole Uku
keinen Kaiserfisch
`eha koni
schmerzende Herzen
`Oia
Das ist richtig
‘aumakua
Familiengötter
‘aumakua ho`omaluhia
den Familiengöttern Frieden bringen
‘He aha kou pilikia?
Was ist dein Problem?
a
und
A hui hou
Auf Wiedersehen
A hui hou
Baby
Ala
Straße
Ali'i
Häuptling
ALOHA
hat viele Bedeutungen. Es steht für Hallo, Auf Wiedersehen und Liebe
Auê
Ein Ausdruck für Angst, Wunder. Wie zB. Meine Güte, oh mein Gott
auī
Autsch!
Aweiku
die Engel oder Lichtwesen, die in Lani Keha wohnen, ein Äquivalent der cristl.Engel
Center von Noelani
Ein Rundling in der Küstenmitte von Noelani. Es gehört Eric McAllister und die McAllister haben ihre
Häuser dort errichtet.
E ho`i i ka pili E ku`u ipo E nêne`e mai e nânea mai E ke aloha E ho`onipo kâua
Komm her zu mir mein Schatz, ich möchte dir jetzt ganz nahe sein. Liebe mich mein Liebes ... nur dieses
eine Mal
E hoʹōla ke kino
Dein Körper wird heilen
E Komo Mai
Sei Willkommen
E lei akue oe kuu aloha I koolua nou i kahi mehemeha
Trage meine Liebe wie einen Lei. Möge sie dich überall hin begleiten
Hala-kahiki
Ananas
Hawai’i Ponoʹi
Hawaiianische Nationalhymne
He lōkahi nō ko kāua mau ʹuhane
Unsere Seelen sind eins
Hea mai i ke aumoe
Schlaf lockt mich in der Nacht
Hele mai
Komm näher
Hiapo
Erstgeborener
Honi
Nasenkuss
Ho'oponopono
etwas richtig stellen
Hu'i e, Hu'i `eha, Hu'i konikoni i ka pu'uwai
Schmerzen, Schmerzen, pochende Schmerzen im Herzen. Du hast ein gebrochenes Herz
Huna
Geheimnisse
Iho Ki
Iho = die Seele, Ki = Kraft
Ipu
Wassermelone
Ka La `Ano Ka La maika` i
Heute ist ein guter Tag
Kahiko
ein alter Hulatanz
Kahuna
Experte, Künstler, Schamane
Kalama
leuchtende Fackel
Kâpili
jemanden zusammenbringen
Kapu
Verbot
Kauka
Arzt
kiai
Schutzgeister
Ko Aloha Makamae E Ka'u pu'uwai
Mein Herz du bist so wertvoll
Kupunakane
Großvater
Laulau
gedünstete und gefüllte Bananen-Blätterpäckchen. Sie sind gefüllt mit Schweinefleisch, Rind, gesalzenem
Fisch oder Spitzen der Wasserbrotwurzel
Leilani
Kind, Blume des Himmels
Liliko'i
Passionsfrucht
lomilomi salmon
gehackter Lachs mit Zwiebeln und Tomaten
Lulani
höchster Himmel
Mahalo
Danke
Mahalo nui loa
Sehr vielen Dank
Mai kali `ê nô ka lâ `a`e. Ka lâ `âno ka lâ Maika’i
Warte nicht bis zum nächsten Tag. Heute ist ein guter Tag
Makana
Geschenke
Makuahine
Mutter
Makuakāne
Vater
Malihini
Neuankömmling
Mana
Kraft, Power, Macht
Mana-Karten
Heilkarten, ähnlich einem Tarot
Manako
Mango
Maylea
Großtante von Tom, Gute Seele des Centers
Me ke Aloha pumehana
Mit herzlichen Grüßen
Moana
Ozean
mo'opuna
Enkel
mo'opuna wahine
Enkeltochter
Namaka-o-Kaha 'i
Wassergöttin
Nânâ
Du wirst sehen
Nina my Angel
Nina mein Engel
Noelani
bedeutet Schöner Himmel
Noelani (Anwesen)
50 qm Landstück am Kailua Beach. Das nördliche Areal gehört Keanu Noelani. Das Südliche verwaltet er
bis zum 30. Geburtstag von Ben, dann geht es auf ihn über.zum fiktiven Hawaiianer-Stamm Noelani.
Noelani (Stamm)
ein fiktiver Stamm hawaiianischer Ur-Einwohner
Noelani Air
Fluggesellschaft von Onkel Charles
Nohona hau `oli
glückliches Leben
O ke aloha ʹoiaʹiʹo ke lanakila ma luna o ka wā a me ka hakahaka
Wahre Liebe überwindet Raum und Zeit
ohana
Familie
Okay, that's enough
Okay, das ist genug
outrigger Canoe
Ausleger Kanu
Pali
Klippe
Peni‘amina
Benjamin
Po
Die Zwischenwelt
Po’ko’i
Zauberer
Pu
Muschel, die beim Reinblasen einen dumpfen Ton hervorbringt
Pupule
Verrückt
Pupule Kela
Das ist verrückt!
Thank you
Danke dir
Tutu
Bezeichnung für ältere Frauen
Ua
Regen
Wahine
Frau