R. Bergler (1986). Die Bedeutung eines Hundes für Behinderte
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R. Bergler (1986). Die Bedeutung eines Hundes für Behinderte
R. Bergler (1986). Die Bedeutung eines Hundes für Behinderte Aufgabenstellung, Aufbau und Stichprobe: Zentrale Themen der Untersuchung waren: 1) Die Alltagssituation und das Alltagsverhalten der Körperbehinderten: Untersucht wurden die Möglichkeiten und Barrieren der Bewältigung des Alltages und die Gefühlslagen der Behinderten sowie deren psychologische Begründung. Dieser Teil der Untersuchung berücksichtigt sowohl die Alltagsfreuden wie die Alltagsärgernisse sowie die spezifischen Beschwerden, Stressfaktoren und Konflikte der Behinderten in unserer Gesellschaft, aber auch in ihrer privaten und nachbarschaftlichen Umwelt. 2) Die Art und Weise des Umganges mit der Behinderung, ihren Konsequenzen für die eigene Lebenssituation und die Möglichkeiten und Grenzen der Selbstgestaltung des eigenen Lebens. 3) Die Unterstützungs-, Präventions-, Rehabilitations- und Therapiefunktionen eines Hundes für die Lebensgestaltung und die Lebensqualität von Behinderten. Die Stichprobe der quantitativen Studie setzt sich aus 120 Körperbehinderten zusammen, von denen 60 einen Hund besitzen, 11 darunter einen ausgebildeten Behinderten-Begleithund. Die andere Hälfte der Untersuchungsgruppe besitzt keinen Hund. Vorangegangen waren zehn ausführliche Explorationen als Grundlage der Entwicklung des standardisierten Fragebogens. Fast alle untersuchten Behinderten haben eine Behinderung der Beine und sind gezwungen, zur Fortbewegung einen Rollstuhl in Anspruch zu nehmen. Untersuchungsergebnisse: Das Erlebnis- und Funktionsprofil eines Hundes für den Lebensstil und die Lebensqualität eines Behinderten zeigt u.a, die folgenden positiven Wertigkeiten: (1) Soziale Rehabilitation: Körperbehinderten erleben in sozialen Interaktionen durch ihren Hund eine soziale Rehabilitation und Stimulation, und zwar auf vielfältige Art und Weise: Der Kontakt zu anderen Menschen und zwischen Menschen erfolgt über den Hund und nicht über die Behinderung: Der Hund hilft, auf andere, auch fremde Menschen ungezwungener zuzugehen; dadurch gewinnt der Behinderte selbst zunehmend Selbstvertrauen und wird wieder ohne Hemmungen, Unsicherheiten und Befürchtungen sozial aktiv. Entspannte Aufnahme eines Kontaktes: Der Hund ist imstande, bei anderen einen sympathischen ersten Eindruck auszulösen; damit wird es für Fremde einfacher und vor allem unkomplizierter, auf einen Behinderten zuzugehen. Der Hund wird bewundert, und dies empfinden Behinderte als persönliches Lob, Anerkennung (Selbstwertsteigerung) und „Streicheleinheiten“. Ein normales, ungezwungenes Gespräch jenseits der Behinderung wird wieder möglich: Abbau von Kommunikationsdefiziten. Die (sichtbare) Behinderung verliert ihre Bedeutung als zentraler Schlüsselreiz, Auslöser von negativen Vorurteilen und stereotypen verkrampften Gesprächen. Die Ergebnisse machen ein Mehrfaches deutlich: Behinderten mit einem Hund erleben im Vergleich mit Behinderten ohne Hund den Umfang und die Qualität ihrer sozialen Kontakte wesentlich zufriedenstellender (80 Prozent): Man beklagt sich nur vereinzelt über Gefühle der Vereinsamung und Verlassenheit. Behinderte mit einem Hund erleben die Wirksamkeit sozialer Vorurteile gegenüber Behinderten wesentlich weniger (53 Prozent) als Behinderte ohne einen Hund (70 Prozent): Letztere erleben in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ihre Behinderung als eine Kontaktbarriere, die dann, wenn sie wirksam wird, zu einer im Lebensablauf verstärkenden Spirale der sozialen Distanzierung wird. Behinderten mit einem Hund gelingt es mit Hilfe ihres Hundes wesentlich leichter, die Barriere von sozialen Vorurteilen zu durchbrechen, als dies bei Behinderten ohne einen Hund möglich ist. Der Abbau hochgradig verfestigter Vorurteile ist im zwischenmenschlichen Bereich nur möglich, wenn der Katalysator mit hohen Sympathiewerten und zentraler persönlicher Bedeutsamkeit aufgeladen ist. Ein Hund kann durch seine spontane Sympathiewirkung auf andere dem Behinderten soziale Erfolgserlebnisse durch Kontaktgewinnung vermitteln. Genau solche Erfolgserlebnisse benötigt ein Behinderter dringend, um wieder Selbstwert, Selbstsicherheit, Selbständigkeit und damit die Ungezwungenheit des zwischenmenschlichen Gespräches zu gewinnen. Der Hund ermöglicht es also dem Behinderten, Kontakte zu anderen Menschen unkompliziert, unverkrampft, jenseits von Hemmungen, Befürchtungen, Stereotypen und Vorurteilen aufzunehmen: Die Hemmschwelle zwischen Menschen wird unmerklich gesenkt und auch abgebaut; Behinderte finden wieder leichter Zugang zu anderen Menschen; es findet ein Prozess sozialer Rehabilitation statt. Dieser Prozess der sozialen ReIntegration geht parallel mit wieder zunehmender sozialer Sicherheit, Beweglichkeit und mitmenschlicher Aufgeschlossenheit. (2) Aktive Erweiterung des persönlichen Lebensraumes: Der Hund durchbricht durch sein spielerisches, fröhliches Verhalten die auf den eigenen Körper und seine Beeinträchtigungen gerichtete Selbstaufmerksamkeit; der Hund fordert ohne Aufforderung spontan immer wieder zu Aktivitäten und Tätigkeit heraus; ein Hund motiviert zur Umwelteroberung. Ein Hund trainiert aber auch die eigenen Sinnesorgane; man beobachtet mit viel Freude das Verhalten des Hundes, wird sensibel für nonverbale Zeichen und gewinnt dadurch auch kommunikative Kompetenz. (3) Persönlichkeitsstabilisierung: Vermittlung von Selbstvertrauen, Selbstermutigung und Lebenssinn: Das partnerschaftliche Zusammenleben mit einem Hund vermag das durch die Behinderung stark angeschlagene Selbstbewusstsein durch das Erleben von relativer Unabhängigkeit wieder zu stabilisieren; die ständige Anregung zur Selbstaktivierung ist immer ein Beitrag zur Selbstermutigung, auch zum Aufbau eines neuen Selbstwertgefühls und zur Entwicklung einer Leistungsorientierung in Selbstverantwortlichkeit („Ich traue mir, seit ich den Hund habe, selbst viel mehr zu“; „Durch den Hund bekommt mein Leben viel mehr Sinn“). (4) Gesundheitsförderung und Therapie: Als gesundheitsrelevante Konsequenzen der vielfältigen gemeinsamen Aktivitäten des Behinderten und seines Hundes ergeben sich unter anderem: eine Reduzierung von Schlafstörungen; eine Intensivierung des Schlafes; eine positive Stimulierung durch Zuwendung: „Wenn’s mir mal schlecht geht, ist mein Hund so lieb und zärtlich, dann geht es mir gleich wieder besser“; eine positive Stimulierung durch Spiel und Spaß: „Ich habe eigentlich wenig Grund zum Lachen, aber wenn ich meinen Hund spielen sehe, dann muss ich doch immer lachen“; eine Reduzierung von Schmerzen und Anhebung des subjektiven Wohlbefindens; eine Motivation zu regelmäßigen Spaziergängen, man hat den sonst so häufig vermissten Kontakt zur Natur, erlebt die Vielfalt seiner Umgebung; eine Verarmung des persönlichen Lebensraumes findet deutlich weniger statt; die Phantasie wird angeregt, die Lebensumwelt bunter und auch fröhlicher. (5) Wiedergewinnung von Zärtlichkeit: Körperbehinderungen gehen meistens parallel mit Phänomenen sozialer Deprivation und damit auch dem Verlust von Zärtlichkeit. Sicherlich haben alle Menschen ein Bedürfnis nach Streicheleinheiten, nach Zärtlichkeit; bei Behinderten ist dieses Bedürfnis aber vielfach unbewusst, und ausgelöst durch einen eingetretenen Verlust physischer Attraktivität, aufgrund der hohen Defizite an zärtlicher Zuwendung, an den verschiedenen Formen mitmenschlicher Zuwendung besonders stark ausgeprägt. Ein Hund verweigert taktile, streichelnde und als liebevoll empfundene Zuneigung nicht; Hunde kennen keine Vorurteile gegenüber kranken und weniger attraktiven, behinderten Menschen („Mein Bedürfnis nach Zärtlichkeit ist manchmal schon groß, da ist mir der Hund eine ganz große Hilfe“). Das, was bedauerlicherweise Menschen nicht selten, auch wenn sie dem Behinderten an sich menschlich näherstehen, gefühlsmäßig und ihrem Verhalten vielfach unbewusst verweigern, ist die selbstverständliche Hinwendung und Zärtlichkeit. Barrieren für das Spielen, Schmusen und Streicheln kennen Heimtiere bei Behinderten nicht. (6) Vermittlung von Sicherheit und Schutz: Behinderte haben aus verständlichen Gründen ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Schutz und Geborgenheit; ein Behinderter, der allein ist, ist jedem „Angreifer“ gleichsam schutzlos ausgeliefert. Die zunehmende Kriminalisierung und Aggressivität des Alltagslebens fördert und vermehrt die an sich schon vorhandenen Unsicherheitsgefühle und Ängste; der Behinderte wird in seinem Lebensraum eingeschränkt und dies fördert indirekt den Rückzug von der Außenwelt. Der den Behinderten begleitende Hund nimmt diesem seine Ängste in einem ganz erheblichen Umfang. Die Befreiung von Ängsten ist Abbau von Alltagsstressoren und damit in gleicher Weise physische und psychische Entspannung, also in einem ganz erheblichen Umfange Prävention. (7) Erleben von Selbstverantwortlichkeit und Nützlichkeit: In der Sorge und Pflege eines Heimtieres erleben Behinderte, dass sie auch noch „nützlich“ sein können, dass sie „Gutes“ tun können und eine ausschließliche Abhängigkeit von anderen Menschen nicht gegeben ist. (8) Kommunikation und Partnerschaft: Ein Hund ist für einen Rollstuhlfahrer ein Partner auf gleicher Ebene: Die Qualität der Wahrnehmung anderer Menschen ist für Rollstuhlfahrer eine völlig andere als die gesunder Menschen. Man kann als Rollstuhlfahrer immer nur von unten nach oben kommunizieren; man ist immer der Kleinere, der „Unterlegenere“. Der für effektive Kommunikation entscheidende Augenkontakt findet auf unterschiedlichen Ebenen statt: Davon wird auch die Sicherheit der nonverbalen Rückmeldungen negativ beeinflusst, ein „Ausdem-Felde-Gehen“ wird wahrscheinlich. Der Kontakt zwischen Herr und Hund ist bei Rollstuhlfahrern im Gegensatz zu gesunden Menschen auf einer Ebene möglich: Man kann sich gleichsam immer in die Augen schauen. Der Hund ist fast immer ein ständiger Begleiter eines Behinderten; er ist immer auch und in vielfältiger Weise Gesprächspartner. Dies wird besonders in dem Befund deutlich, dass fast alle Behinderten täglich, die meisten sogar mehrmals am Tag, mit ihrem Hund sprechen; dabei handelt es sich neben hundebezogenen Themen häufig auch um Dinge, über die man sich freut, aber auch um Ärger und Probleme, sowie um Sachen, die man in Zukunft gerne machen möchte. Die tatsächlich erlebten bzw. erwarteten positiven Erlebnisse und Erfahrungen mit einem Hund sind bei Behinderten wesentlich differenzierter, vielschichtiger und vor allem auch existentiell – rehabilitativ, therapeutisch wie präventiv - bedeutsamer, als dies bei gesunden Menschen der Fall ist. Das Leistungsprofil eines Hundes hat nach Ausmaß, Qualität und Intensität des Erlebens einen ganz spezifischen Charakter. Das Verhältnis „Mensch und Hund“ ist bei Behinderten intensiver und nuancenreicher als bei Gesunden, und dies, obwohl auch bei Behinderten der Zugang zu einem Hund vielfach über Heimtiere in der Kindheit geht.