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»Macht das Sinn?« – Überlegungen zur Anglizismenkritik im Gesamtzusammenhang der populären Sprachkritik Von JAN GEORG SCHNEIDER Abstract In diesem Aufsatz werden zunächst die zentralen Thesen und Argumente der populären Anglizismenkritik, die in Deutschland vor allem durch den Verein Deutsche Sprache (VDS) repräsentiert wird, vorgestellt und kritisch analysiert. Hiervon ausgehend wird die Frage gestellt, ob linguistische Anglizismenkritik a) möglich und b) sinnvoll ist. Lassen sich aus linguistischer Perspektive überzeugende Kriterien zur Beurteilung des Anglizismengebrauchs entwickeln? Hat die Linguistik der populären Anglizismenkritik etwas entgegenzusetzen? In this article I first analyse the main arguments of the popular anglicism critique in Germany, which is mainly represented by the Verein Deutsche Sprache (VDS). Then I ask if it is possible and if it makes sense to criticize anglicisms from a linguistic point of view. Does linguistics offer any convincing alternatives to the popular anglicism critique? 1 Einleitung – Allgemeines über populäre Sprachkritik In den letzten Jahren lässt sich in Deutschland ein starkes öffentliches Interesse an Sprachrichtigkeit und Sprachidentität beobachten. Dieses zeigt sich nicht zuletzt am immensen Erfolg sprachpflegerischer Publikationen wie Bastian Sicks mehrbändigem Bestseller Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod sowie am großen Zuspruch des Vereins Deutsche Sprache (VDS), der mittlerweile nach eigenen Angaben ungefähr 30.000 Mitglieder hat. Beeindruckend war auch der Zulauf bei Sicks »Größter Deutschstunde der Welt« im März 2006 in Köln, zu der 15.000 größtenteils sehr junge Menschen kamen. Zu beobachten ist aber andererseits auch, dass dieses offensichtliche Bedürfnis nach gutem und korrektem Sprachgebrauch derzeit hauptsächlich von Sprachpflegern bedient wird, die zwar als Experten präsentiert werden, sich in ihren Darstellungen jedoch häufig nicht auf dem Stand der linguistischen Forschung bewegen, und dass auf der anderen Seite die Linguistik größtenteils zu den sprachpflegerischen Publikationen schweigt. Sie hat sich in ihrem Anspruch, eine ausschließlich deskriptive Disziplin zu sein, seit vielen Jahrzehnten aus der Sprachkritik zurückgezogen – eine Entwicklung die vor allem Jürgen Schiewe in vielen seiner Publikationen benannt und zu Recht kritisiert hat (vgl. Schiewe 1998, 2001, 2003); unter anderem auch durch die Gründung der von ihm und Martin Wengeler herausgegebenen Zeitschrift Aptum. In einem Beitrag für ebendiese Zeitschrift habe ich mich kritisch mit den populären Kolumnen Bastian Sicks auseinandergesetzt und gezeigt, dass diese in mehrfacher Hinsicht als paradigmatisch für die heutige populäre Sprachkritik betrachtet werden können. Insgesamt werden in dem Aufsatz sechs Charakteristika populärer Sprachkritik herausgearbeitet: In dieses Bild passt auch, dass an der ZDF-Sendung »Was ist gutes Deutsch?«, die am 30. 04. 2006 ausgestrahlt wurde, kein einziger Sprachwissenschaftler teilnahm. Neben dem Moderator Volker Panzer waren die Diskutanten Konrad Beikircher, Zé Do Rock, Bodo Mrozek und Bastian Sick anwesend, wobei Sick vom Moderator immer wieder als Experte für deutsche Sprache angesprochen wurde; ähnlich verhielt es sich in einer Folge von »Johannes B. Kerner« (18. 04. 2006). 56 Muttersprache 1/2008 Jan Georg Schneider 1) die Vermischung von Synchronie und Diachronie. – Sprachpfleger interpretieren Sprachwandelprozesse in der Regel als Verfallserscheinungen und argumentieren mit der »ursprünglichen« Bedeutung von Wörtern. Sick beispielsweise befasst sich unter anderem mit den Verben schmeißen und kriegen, die aufgrund ihrer sprachgeschichtlichen Herkunft angeblich zu vermeiden seien (vgl. Sick 2004, 190–192), 2) die Fixierung auf die Einzelwortebene und, damit zusammenhängend, die Dekontextualisierung von Wörtern (zum Beispiel generelles Beharren auf dem semantischen Unterschied zwischen derselbe und der Gleiche), 3) die weitgehende Ausblendung der Pragmatik; das heißt hier insbesondere: die Ausblendung von besonderen Verwendungsweisen in bestimmten Kontexten, 4) die Verkennung des metaphorischen Sprachgebrauchs (siehe unten), 5) die Vernachlässigung medialer Unterschiede, insbesondere der Unterschiede zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (zum Beispiel bei der Beurteilung von wegen mit Dativ-Rektion), 6) die starre Trennung zwischen »Dialekt« und »Hochsprache«. (Vgl. Schneider 2005 b, 171 f.) Gleich mehrere dieser Charakteristika zeigen sich beispielsweise in Sicks Kommentaren zu dem Übersetzungsanglizismus »Sinn machen« (›making sense‹): » ›Sinn‹ und ›machen‹ passen einfach nicht zusammen. Das Verb ›machen‹ hat die Bedeutung von fertigen, herstellen, tun, bewirken; es geht zurück auf die indogermanische Wurzel mag-, die für ›kneten‹ steht. Das Erste, was ›gemacht‹ wurde, war demnach Teig. Etwas Abstraktes wie Sinn lässt sich jedoch nicht kneten oder formen. Er ist entweder da oder nicht. Man kann den Sinn suchen, finden, erkennen, verstehen, aber er lässt sich nicht im Hauruck-Verfahren erschaffen.« (Sick 2004, 49) Der Autor vermischt hier die synchrone und die diachrone Beschreibungsebene miteinander, indem er die »ursprüngliche« Bedeutung von mag- auf den Sprachgebrauch im Gegenwartsdeutschen abbildet. Diese etymologische Herleitung verbindet er mit der dogmatischen, nicht begründeten Behauptung, Sinn könne man nicht machen oder erschaffen; er sei »entweder da oder nicht«. – Aber unabhängig davon, wie man diese philosophische Frage beantworten möchte, zeigt sich in dem Zitat auch eine Verkennung des metaphorischen Charakters von Sprache. Wenn man dem sickschen Buchstäblichkeitsgrundsatz folgen würde, könnte etwas zum Beispiel auch keine Schule machen – ein Ausdruck, den Sick im übrigen selber verwendet (Sick 2004, 25) –, man könnte sich auch keine Sorgen machen und keinen schlechten Eindruck; ja streng genommen könnte man noch nicht einmal eine Frage stellen, eine Antwort geben, eine Entscheidung treffen oder Kritik üben. Nimmt man den Buchstäblichkeitsgrundsatz beim Wort, so bleiben nur wenige »korrekte« Wendungen übrig. An dieser und vielen anderen Textstellen zeigt sich, dass Sick, wie viele andere Sprachpfleger, dazu tendiert, Sprache als ein mehr oder weniger starres Regelsystem aufzufassen, … wobei noch nicht einmal klar ist, ob es sich hierbei überhaupt um einen Anglizismus handelt. Die Redewendung Sinn machen ist in der deutschen Sprache schon recht lange geläufig; in den letzten Jahren ist jedoch, sicherlich durch den Einfluss des Englischen (zum Beispiel Synchronisierung englischsprachiger Spielfilme), eine deutliche Zunahme der Verwendungshäufigkeit zu verzeichnen. Dieser sprachhistorischen Frage gehe ich hier nicht weiter nach. Zum Folgenden vgl. Schneider 2005 b, 170 f. Überlegungen zur Anglizismenkritik Muttersprache 1/2008 57 als einen – um einen von Roy Harris und Nigel Love gebrauchten Terminus zu verwenden – »fixed code« (Love 1998, Harris 1998, 24) bzw. als eine klar »abgrenzbare Einheit« (Spitzmüller 2005, 207). Im vorliegenden Artikel möchte ich mich auf die Anglizismenkritik konzentrieren und zeigen, dass sich die genannten Charakteristika auch in den Argumentationen und Darstellungen anderer populärer Anglizismenkritiker finden. Andererseits verfolgt der Aufsatz aber nicht nur ein kritisches Interesse. Vor allem am Ende wird es auch darum gehen, nach positiven, linguistischen Kriterien zur Beurteilung des Anglizismengebrauchs zu fragen, anstatt ausschließlich in der Kritik der Anglizismenkritiker zu verharren. 2 Begriffsbestimmung von »Anglizismus« Zunächst jedoch einige Worte zur Intension und Extension des Begriffs »Anglizismus«. Im Hinblick auf die Intension schließt der vorliegende Aufsatz an Ulrich Busse an, der unter dem Terminus Anglizismus »jede Erscheinung einer einheimischen, hier der deutschen Sprache« versteht, »die auf Transferenz der englischen Sprache zurückgeht« (Busse 2001, 134). Wichtig ist, dass Anglizismen in dieser Definition nicht als englische Wörter, sondern als Phänomene der deutschen Sprache betrachtet werden. Diese Phänomene lassen sich auf verschiedenste Weisen klassifizieren. Die Einteilung, die ich im Folgenden vornehme, folgt gebrauchsbezogenen Kriterien. Sie ist weder trennscharf, noch vollständig; es geht nur um einen groben Überblick über die Extension des Begriffs »Anglizismus«: a) »Eingedeutschte«, allgemein gebräuchliche Anglizismen, die kaum noch als solche wahrgenommen werden (weitgehend unstrittig): Baby, Clown, Hobby, Interview, Training, Disco, Fairness, Hitparade, T-Shirt; Fitness, Killer, Puzzle; Pullover, Teenager, Stress … b) Allgemein gebräuchliche Begriffe für neue Phänomene, sowie für Phänomene, die aus dem englischen oder amerikanischen Sprachraum stammen (insbesondere computervermittelte Kommunikation): chatten, Browser, Scanner, verlinkt, Homepage, Spam, zappen, E-Mail, …; auch: Hip-Hop, Rap, Swing, … c) Produktnamen, Werbesprache etc.: Service Point, Free Call, Lucky Pack, Walkingschuh, Runningschuh, Trail-Runningschuh, Zeitung4you, Extremsparing, … d) Fachsprachliche Anglizismen: Managersprache: Dead Capital, Working Capital; Fachsprache im Gesundheitswesen: Disease-Management-Programme; Musikersprache: Groove/grooven, tight/untight, Break; Sprache von Computer-Fachleuten: installen, … Die meisten dieser Anglizismen werden sogar im Anglizismen-Index des VDS als »ergänzend« (und damit als bewährt) eingestuft (Stand: 19. 06. 07). Die letzten drei allerdings werden dort als »verdrängend« kategorisiert; vgl. unten S. 61. Hierbei handelt es sich, wie U. Busse zu Recht anmerkt, zum Teil um sehr kurzlebige Sprachschöpfungen, die nicht fester Bestandteil des Sprachsystems sind; vgl. Busse 2001, 132. 58 Muttersprache 1/2008 Jan Georg Schneider e) Anglizismen, die hauptsächlich in der gesprochenen Sprache sowie in konzeptionell mündlicher Kommunikation vorkommen: bye-bye, sorry, wow!, …; auch: SMS-spezifische Abkürzungen wie lol (›laugh out loud‹), f) Anglizismen, die zwar im Anglizismen-Index des VDS vorkommen, bei denen es jedoch mehr als fraglich erscheint, ob sie überhaupt in der »Gemeinsprache« gebräuchlich sind: ageless, buy, carry, defroster, eagle, ear, Eigenvalue, example, know, only, such, … g) Übersetzungsanglizismen: Sinn machen, nicht wirklich, einmal mehr, in 2005, stehende Ovationen, feuern; realisieren, kontrollieren, … h) Allgemein gebräuchliche, »umstrittene« Anglizismen, die von vielen noch als Anglizismen wahrgenommen und kritisiert werden: Banker, busy, Coaching, clean, Comedian, cool, Date, Deal, Event, faken, Feeling, gestylt, Glamour, Handout, Hardliner, high, Image, Kick, Kids, Leader, Location, Meeting, Power, pushen, soft, Song, Stalker, trendy, User, … Um diese letzte Gruppe wird es im Folgenden hauptsächlich gehen, wobei der Übergang zu anderen Kategorien zum Teil fließend ist. 3 Welche Argumente werden gegen Anglizismen angeführt und was lässt sich aus linguistischer Sicht dazu sagen? 3.1 Nichtlinguistische Argumente Zunächst lassen sich drei Arten von anglizismenkritischen Argumenten ausmachen, die nicht nur von Sprachpflegern verwendet werden, sondern überhaupt in der Öffentlichkeit sehr verbreitet sind: 1) Ästhetische Argumente: Anglizismen werden zum Teil als unschön empfunden. Hierbei handelt es sich natürlich nicht um ein (sprach-)wissenschaftliches Argument, sondern um ein Geschmacksurteil. 2) Verständlichkeitsargumente: Viele Anglizismen werden (vor allem von älteren Menschen) nicht verstanden (vgl. Zimmer 1997, 9, 14). Auf der Internet-Seite des VDS (eingesehen am 19. 06. 07) heißt es, der Index enthalte »nur solche Anglizismen, die nachweislich in der deutschen Gemeinsprache verwendet werden«. Noch im Juli 2006 wurde jedoch auf derselben Internet-Seite darauf hingewiesen, dass der AnglizismenIndex nicht nur häufig gebrauchte Anglizismen aufliste, sondern »auch solche, die nur gelegentlich in Texten und in der Werbung auftauchen, damit sie nach dem Grundsatz ›Wehret den Anfängen‹ daran gehindert werden können, sich weiter zu verbreiten«. Diese beiden widersprüchlichen Aussagen beziehen sich auf ein und dieselbe Anglizismen-Liste, die seitdem nur unwesentlich verändert wurde. Den Tatsachen entspricht wohl eher die frühere Beschreibung. Bei den beiden letzten Beispielen handelt es sich um Verben, die durch Transferenz der englischen Sprache (to realize, to control) eine Bedeutungserweiterung erfahren haben. Vgl. hierzu Donalies 2003, 28-30, wo diese Art von Sprachkritik unter der Überschrift »Geschmäcklerische Kritik« diskutiert wird. Überlegungen zur Anglizismenkritik Muttersprache 1/2008 59 Wenn beispielsweise der Bundeswirtschaftsminister Michael Glos in der Talkshow Sabine Christiansen (15. 07. 06) davon spricht, dass das Kapital »heute sehr viel free-floatender [sei] als früher«, wenn der Sportreporter René Hiepen den ZDF-Fernsehzuschauern bei einer Boxkampf-Übertragung mitteilt, der Ringrichter gebe gerade noch »seine Instructions« (15. 07. 06), wenn die Bündnis 90/Die Grünen beim NRW-Landtagswahlkampf 2005 mit dem Slogan »Safer Shoppen ohne Gen-Tech« werben, dann sind sowohl das Geschmacksurteil, als auch das Verständlichkeitsargument nachvollziehbar. Allerdings stellt sich bei dem Verständlichkeitsargument immer auch die Frage: Liegt das mangelnde Verstehen wirklich an der Verwendung des Anglizismus oder eher an der Unkenntnis des Phänomens, was vor allem im Bereich der computervermittelten Kommunikation deutlich wird (scrollen, chatten, googeln, Browser, Server etc.). Außerdem werden von Anglizismenkritikern immer wieder Extrembeispiele angeführt, was eine Versachlichung der Diskussion mitunter erschwert. So orientiert sich etwa Hermann Fink in einem anglizismenkritischen Beitrag unter anderem an folgenden Beispielen aus einer McDonalds-Werbung: »The Schönste, was eggs passieren kann: our Koch has it gerührt.« »Beautiful warm and knusprig getoastet: a leckeres Weizenbrötchen in two Teilen« Spiegeln solche Formulierungen in irgendeiner Weise den allgemeinen heutigen Sprachgebrauch wider? 3) Verbreitungsargument: Aufgrund des immensen Einflusses von Massenmedien bestimme nicht mehr die Sprachgemeinschaft »in welche Richtung die Sprachentwicklung geht«. Hierbei wird insbesondere der Einfluss von Werbung und Marketing-Agenturen hervorgehoben.10 Obwohl auch dieses Argument sicherlich nachvollziehbar ist, handelt es sich hierbei ebenfalls nicht um ein im engeren Sinne linguistisches, sondern um ein (sprach-)politisches Argument. Viele Anglizismenkritiker stützen ihre Argumentation stark auf dieses Verbreitungsargument, wobei nicht unerwähnt bleiben sollte, dass sie sich hierbei mitunter eines bemerkenswerten Beschreibungsvokabulars bedienen. Schon im Vorwort des Wörterbuchs überflüssiger Anglizismen findet sich zweimal der Ausdruck »Überschwemmung« (9), und bei einer Lektüre der Aufsatzsammlung Denglisch, nein danke!, die von Hermann Zabel herausgegeben wurde und dem VDS nahesteht, stößt man in allen Beiträgen auf Metaphern, die in eine ähnliche Richtung weisen: Naturkatastrophe, Krankheit, Tod, militärische Invasion usw. Hier nur einige Beispiele: Wolfram Wilss: »Fremdwortinfiltration« (17), »massive Durchsetzung und Aufweichung der deutschen Sprache« (18), »unaufhaltsam anschwellende Fremdwortflut« (20), »Eindringen fremder Sprachbestandteile« (22), »Fremdsprachliche Wucherung« (23), »Entartung des Fremdworts« (25)11; Hermann Fink: »Überfremdung unserer Muttersprache« (33), Zabel (Hg.) 2003, 37; vgl. hierzu auch Zimmer 1997, 21. Vgl. Bartzsch et al. (Hgg.) 2004, 7 (im Folgenden zitiert als WüA). 10 Vgl. etwa Zabel (Hg.) 2003, 230. 11 Der Aufsatz von Wilss stammt zwar aus dem Jahre 1958. Dieser Sachverhalt kann aber kaum zur Relativierung angeführt werden, wenn hier im Jahre 2003 ein solcher Aufsatz unkommentiert in einer sprachpflegerischen Publikation abgedruckt wird. In dem gesamten Sammelband findet sich keine Distanzierung von diesem Vokabular. 60 Muttersprache 1/2008 Jan Georg Schneider »Eindämmung der Infiltration von Amerikanismen« (33), »weltweite Gefahr der Überfremdung durch das amerikanische Englisch« (34), »Gefahr für den Bestand der deutschen Sprache?« (37); Heinz-Günther Schmitz: »verfremdetes, beschädigtes, entstelltes oder verkrüppeltes Deutsch« (63); Gerhard H. Junker: »Man muss sich deshalb aber nicht wundern, dass die vom Zeitgeist induzierte Amerikomanie auch im deutschen Alltag Metastasen [!] treibt« (121); Gerd Schrammen: »Schimpansensprache« (167) All dies sind Beispiele für die Verwendung eines migrationspolitischen, auch militärischen und biologistischen Vokabulars, das zum Teil stark an den Sprachgebrauch ultrarechter Parteien erinnert, unter gleichzeitigem Hinweis, dass die Debatte um Anglizismen »ohne puristische oder gar nationalistische Tendenzen geführt werden sollte«. Dies verstehe sich von selbst.12 – Warum dann, so fragt sich der arglose Leser, ein solches Vokabular? Sogar Dieter E. Zimmer, der insgesamt deutlich differenzierter argumentiert, verwendet mitunter eine ähnliche Metaphorik: »Zustrom« (Zimmer 1997, 19, 72), »Pidginisierung« (72), »Masseninvasion« (74).13 3.2 Spezifisch sprachpflegerische und linguistische Argumente Das vielleicht wichtigste, am häufigsten angeführte Argument von Anglizismenkritikern, insbesondere im Umfeld des VDS, lautet: Die meisten Anglizismen sind schlicht überflüssig, denn sie könnten genau so gut durch deutsche Wörter ersetzt werden (Ersetzbarkeitsargument). VDS-Mitglied Hermann Zabel zum Beispiel schreibt über die Ziele und Aktivitäten des Vereins, er betreibe »keine Deutschtümelei«, sondern verfolge lediglich das Ziel, »entbehrliche Fremdwörter aus dem Englischen und Amerikanischen, soweit möglich, durch deutsche Wörter zu ersetzen, um dadurch die Verstehens- und Verständigungsprobleme in der Gesellschaft teilweise abzubauen«.14 Zu diesem Zweck gibt der VDS seit einigen Jahren den sogenannten Anglizismen-Index heraus, der immer wieder aktualisiert wird und auch im Internet unter der Web-Adresse des VDS abrufbar ist. Sowohl in diesem Index als auch in dem sehr ähnlich ausgerichteten Wörterbuch überflüssiger Anglizismen (im Folgenden WüA), das ebenfalls im Umfeld des VDS entstanden ist, werden mögliche Ersetzungen für die aufgelisteten Anglizismen angeboten. Die meisten Anglizismen werden als schädlich angesehen, weil sie deutsche Wörter angeblich verdrängen. In der Online-Version des Anglizismen-Index (Stand: 19. 06. 07) wird die Kategorie »verdrängend« wie folgt erläutert: »Es handelt sich um einen Anglizismus, der ein bedeutungsgleiches deutsches Wort oder gar Wortfeld verdrängt oder verdrängen kann, die Verständigung unnötig erschwert und deshalb überflüssig ist oder einen deutschen Ausdruck überflüssig zu machen droht.«15 Laut Website des VDS enthält der Index mittlerweile über 6000 Einträge; ca. 80 % davon werden der Kategorie »verdrängend« zugeteilt! – Was aber ist die empirische Grundlage für diese Behauptung? Es lässt sich leicht zeigen, dass viele der Anglizismen, die im WüA als überflüssig und im Anglizismen-Index als verdrängend eingestuft werden, im konkreten Sprachgebrauch deutlich anders verwendet werden als die angebotenen Ersetzungen. Thomas Niehr hat So Fink in Zabel (Hg.) 2003, 50; vgl. auch Zabel (Hg.) 2003, 234. Zur Metaphorik im Anglizismendiskurs vgl. auch Spitzmüller 2005, 204 ff.; Ehlich 2006, 47; zur biologistischen Organismus-Metaphorik in der populären Sprachkritik vgl. Schneider 2007 a. 14 Zabel (Hg.) 2003, 254 f., vgl. auch ebd. 226. 15 Vgl. auch Zabel (Hg.) 2003, 326. 12 13 Überlegungen zur Anglizismenkritik Muttersprache 1/2008 61 dies anhand des Wortes Kids verdeutlicht und gezeigt, dass sich die Autoren des genannten Wörterbuchs und des Index an einer einseitigen Auffassung von sprachlicher Bedeutung orientieren (Niehr 2002): Sie fixieren sich auf die Referenzfunktion, blenden die expressive und die soziale Bedeutung aus, untersuchen Einzelwörter losgelöst von konkreten Äußerungskontexten (s. die eingangs genannten Charakteristika der populären Sprachkritik; vgl. auch Schiewe 2001). In verschiedenen Zeitungsdatenbanken habe ich die Häufigkeit und den Gebrauch einiger ausgewählter Anglizismen überprüft (Datenbestand 1999 bis 2006). Hier zunächst eine Tabelle, die die Häufigkeit des Anglizismus Hardliner in der FAZ und der SZ dokumentiert: FAZ SZ 1999 36 110 2000 37 110 2001 61 158 2002 54 114 2003 75 179 2004 52 138 2005 65 120 2006 72 131 Die Tabelle zeigt, dass der Ausdruck Hardliner offensichtlich auch in der gehobenen Schriftsprache verbreitet ist und dass die FAZ hier, wie auch bei der Verwendung vieler anderer Anglizismen, etwas zurückhaltender ist als die SZ. Hier nun einige Beispiele für Verwendungsweisen des Ausdrucks Hardliner in der SZ und in der Zeit: SZ 69/2000: »Für IG-Metall-Chef Klaus Zwickel wird es leichter, gegen Hardliner in den eigenen Reihen auf einen moderaten Abschluss hinzuarbeiten.« SZ 82/2000: »Seit Sie Innenminister in Berlin waren, gelten Sie als Hardliner in der Sicherheitspolitik.« Zeit 16/2004: »In diesen seltenen Momenten können Zentralbanker zeigen, wes Geistes Kind sie sind. Hardliner oder Pragmatiker.« Zeit 23/2001: »Die Hardliner sind nicht mehr die grimmigen Kommunisten in ihren Mao-Jacken, sondern die einfachen Chinesen.« Der Anglizismen-Index und das WüA bieten für das Wort Hardliner, das in beiden Publikationen als verdrängend kategorisiert wird, die Ersetzungen Dickkopf, Sturkopf und Betonkopf an, der Index neuerdings auch Prinzipienreiter.16 – Man sieht leicht, dass keine der angebotenen Alternativen den Bedeutungsumfang von Hardliner in den genannten Beispielen auch nur annähernd abdeckt. Dies ist im Rahmen des Anglizismen-Index und des WüA keineswegs ein extremes Beispiel. Richtig amüsant wird es, wenn zum Beispiel Fetenmädchen als Ersetzung für party girl angeboten wird. 16 62 Muttersprache 1/2008 Jan Georg Schneider Fazit: Betrachtet man den realen Gebrauch in konkreten Äußerungskontexten, so zeigt sich, dass die angeprangerten Anglizismen häufig (nicht immer) eine deutlich andere Bedeutungsnuance hervorheben als alle angebotenen Ersetzungen. Dies ist ein starkes linguistisches Indiz dafür, dass die Ausdrücke eben nicht verdrängend oder gar überflüssig sind, sondern erweiternd bzw. ergänzend und den Sprechern andere Bedeutungsdifferenzierungen ermöglichen. Gegen dieses linguistische Kontext-Argument führen Anglizismenkritiker mitunter erstaunliche Einwände an; so schreibt beispielsweise Gerd Schrammen in seinem Beitrag zu Denglisch, nein Danke!: »Daß die deutschen Wörter nicht genau den Bedeutungsbereich der englischen abdecken, ist nebensächlich. Sprache ist Konvention, beruht auf stillschweigender Vereinbarung, und an ›ritterlich‹ für fair und ›rohes Spiel‹ für foul hätten wir uns gewöhnen können.« (154) Der Ausdruck Konvention wird hier offenbar im Sinne von ›beliebige Nomenklatur‹ aufgefasst. Dies ist im Rahmen der populären Anglizismenkritik durchaus paradigmatisch. Zabel beispielsweise charakterisiert die von Sprachwissenschaftler Hoberg vorgetragene Spielart des Kontextarguments als »spitzfindig« (2003, 265). Neben dem Ersetzbarkeitsargument wird häufig ein zweites sprachtheoretisches Argument angeführt, das ich im Folgenden das Pidgnisierungsargument nenne. Die deutsche Sprache sei als »eigenständige Kultursprache« bedroht (WüA, 8). Dieses Argument wird unter anderem von Dieter E. Zimmer vorgetragen und mit dem polemischen Begriff der »Pidginisierung« charakterisiert: »Deutsch hat seine Assimilationskraft weitgehend eingebüßt. Es ist kaum noch imstande, fremdsprachliche Wörter und Wendungen entweder zupackend und überzeugend zu übertragen oder sie wenigstens den inländischen Sprachgesetzen ein Stück weit anzupassen. Es ist dazu kaum noch imstande und es will es auch gar nicht mehr sein. Nichtassimilierte fremde Wörter und Wendungen jedoch nötigen zu einem Wechsel des Tiefencodes.« (Zimmer 1997, 70) Zimmer sieht die Gefahr nicht im »Zustrom von fremden Wörtern und Wendungen als solchem«, sondern in den »unberechenbaren Codesprünge[n]«, zu denen die vielen nichtassimilierten fremdsprachigen Wörter zwingen. Diese Code-Sprünge bewirken – so Zimmers Auffassung – eine »Aufweichung des Regelsystems« (72) und eine Gefährdung des sogenannten Tiefencodes. Er plädiert daher für eine »vollständigere Aufnahme« der Anglizismen. Abgesehen von dem problematischen Ausdruck Aufweichung und dem von mir nicht geteilten Gefahrenszenario, wonach der Tiefencode gefährdet sei17, ist Zimmers Argument in einer bestimmten Hinsicht berechtigt: Durch Aufnahme in die deutsche Sprache, wird der Anglizismus zu einem deutschen Wort, mit allen syntaktischen, morphologischen, phonologischen und orthographischen Konsequenzen.18 Orthographisch zeigt sich dies zum Beispiel an der Großschreibung der Substantive (Computer, Hardliner, User, …), morphologisch unter anderem an der Pluralbildung 17 18 Kritisch hierzu auch Eisenberg 1999. Vgl. hierzu auch Busse 2001, Eisenberg 2001. Überlegungen zur Anglizismenkritik Muttersprache 1/2008 63 (Computer, Dativ: Computern, nicht: Computers, …).19 In einem Aufsatz von 2001 untersucht Eisenberg diese grammatische Integration von Anglizismen genauer. Er unterscheidet zwischen einem Kern des Sprachsystems und mehreren Epizentren, wobei sich verschiedene Stufen der Integration feststellen lassen: Eine (orthographische) Teilintegration liegt zum Beispiel bei Ketchup vor, das nach der Neuregelung jetzt auch Ketschup geschrieben werden kann, nicht aber Ketschap (Eisenberg 2001, 185). Die Aussprache betreffend lassen sich als Beispiele Jeep und Job anführen, die jeweils mindestens zwei Aussprachevarianten zulassen. – Haben wir es hier mit einem schrittweise erfolgenden Assimilierungsvorgang zu tun oder mit einer »Erweiterung des Phonem- und Silbenbestands des Deutschen«? (Eisenberg 2001, 189). Als Beispiel für morphologische Integration kann man die Partizipbildung des Neologismus googeln anführen: Sprachsystematisch betrachtet, muss das Partizip II sicherlich gegoogelt lauten; mittelfristig könnte sich auch gegugelt durchsetzen; korrekturbedürftig jedoch ist gegoogled – was unmittelbar deutlich wird, wenn man solche Partizipien als Linksattribute verwendet: Wir können recyceltes Papier kaufen, nicht aber recycledes Papier.20 Obwohl Zimmer anhand einiger Beispiele – insbesondere anhand eines Computer-Handbuchs (74 ff.) – zeigt, dass die geforderte Assimilation in manchen Domänen offenbar nicht immer funktioniert, ist das Untergangsszenario, das er entwirft, meines Erachtens insgesamt unberechtigt. Vielmehr ist eine lohnende Aufgabe für Linguisten, den Sprachwandel konstruktiv zu begleiten, indem sie eben auf solche sprachsystematischen Zusammenhänge hinweisen. Dies betrifft aber nicht nur den Bereich der Anglizismen. Interessanterweise neigen gerade Anglizismenkritiker (allerdings nicht Zimmer) dazu, die sprachsystematischen Argumente auszublenden und die Assimilation, besser gesagt die Integration, in Abrede zu stellen: So heißt es zum Beispiel in Denglisch, nein danke!, wiederum in dem Beitrag von Gerd Schrammen: »Wir sind nicht kleinlich und übergehen, daß ›dribbel‹ eigentlich dribble und Englisch ist.« (S. 167) Um in der Metaphorik von Anglizismenkritikern zu bleiben: Die Tendenz, den Anglizismen den Aufenthalt zu erschweren und die Assimilation zu verweigern, anstatt sie zu integrieren, zeigt sich auch daran, dass im Anglizismen-Index und im WüA die »englischen« Substantive grundsätzlich kleingeschrieben werden und eine Orthographie verwendet wird, die bei der Verwendung der Anglizismen in der deutschen Sprache gar nicht vorkommt. Durchgehend erfolgt die Schreibung nach dem American Heritage Dictionary: Hardliner zum Beispiel wird zu hard-liner – eine Schreibung, für die weder in der FAZ, noch in der SZ (Grundlage: alle Ausgaben von 1999 bis 2006) auch nur ein einziger Treffer angezeigt wird. So viel zum Thema empirische Validität. Obwohl Zimmer, wie gesagt, eine ganz andere Argumentationslinie verfolgt und die Integration gerade befürwortet, bleibt auch er der mythischen Vorstellung von Sprache als einem 19 Vgl. Eisenberg 2001, 204. Solche sprachsystematischen Argumente wurden übrigens bereits 1762 von Johann Christoph Gottsched angeführt, der Fremdwörter keineswegs ablehnte, sondern für ihre Anpassung an die deutsche Wortbildung plädierte; vgl. Gottsched 1762, 243, vgl. hierzu auch Schiewe 1998, 106. 20 Vgl. hierzu Eisenberg 2001, 193 f. 64 Muttersprache 1/2008 Jan Georg Schneider fixen Code verhaftet. Wie die meisten Anglizismenkritiker scheint er das Sprachsystem als etwas mehr oder weniger Starres zu betrachten, wenn er zum Beispiel von einer »Aufweichung des Regelsystems« spricht.21 Außerdem ist die Analogie zu den Pidgin-Sprachen natürlich irreführend. Pidgin-Sprachen entstehen bekanntlich durch Sprachkontakt zwischen Fremden, die keine gemeinsame Sprache miteinander verbindet, die aber miteinander kommunizieren wollen bzw. müssen. Beim Thema Anglizismen in der deutschen Sprache geht es dagegen um den Einfluss des Englischen auf eine Sprache, die von Millionen von Sprechern täglich als Muttersprache verwendet wird. Auf die Idee, einen solchen Einfluss – mag er in manchen Domänen auch noch so stark sein – mit dem Terminus Pidginisierung zu kennzeichnen, kann man in der Tat nur kommen, wenn man sich Sprachen als fixe Codes bzw. als klar abgrenzbare Einheiten vorstellt.22 Auch das dritte Argument von Anglizismenkritikern, das sogenannte Denglisch-Argument23, beruht, je nachdem wie es interpretiert wird, auf diesem Mythos. Die gängigen Versionen des Denglisch-Arguments lauten: Das jeweilige Wort gibt es gar nicht in der englischen bzw. amerikanischen Sprache, oder es ist ein Mischmasch aus englischen und deutschen Sprachanteilen bzw. »bei der Einfuhr (des Wortes) sind Fehler unterlaufen« (Zimmer, 35). Hier sind zwei Aspekte zu unterscheiden, die oft miteinander vermischt werden: Handelt es sich wirklich um konkrete Übersetzungsfehler beim Übertragen englischer Texte ins Deutsche, zum Beispiel um sogenannte falsche Freunde, dann ist die Kritik prinzipiell berechtigt: Wörter wie vital, familiär, eventuell bedeuten etwas ganz anderes als die entsprechenden englischen Ausdrücke vital, familiar, eventually. Dies gilt jedoch nicht mehr, wenn die betreffenden Ausdrücke in der deutschen Sprache im Zuge des Sprachwandels ein Eigenleben entwickeln; auch dann, wenn es sich um Ausdrücke handelt, die es im Englischen »gar nicht gibt«. Kurz gesagt: Handy24, Dressman und Twen sind zwar Anglizismen, aber eben keine englischen Wörter, sondern deutsche.25 Ähnliches gilt für die Beurteilung von Übersetzungsanglizismen: Die bloße Tatsache, dass ein deutscher Ausdruck in Analogie zu einem englischen gebildet ist (Sinn machen, nicht wirklich, …), bietet noch keinen hinreichenden Anlass für Kritik, auch wenn Anglizismen-Kritiker es häufig so hinstellen (vgl. etwa Sick 2004, 154–159). 4 In welchen Hinsichten ist der Anglizismengebrauch linguistisch beurteilbar? Um nun die Frage nach der linguistischen Beurteilbarkeit des Anglizismengebrauchs behandeln zu können, ist es sinnvoll, zunächst einen Schritt zurückzutreten und eine grundlagentheoretische Perspektive einzunehmen. Wie Christian Stetter in seinem 2005 erschienenen Buch System und Performanz zeigt, muss die linguistische Rekonstruktion eines Sprachsystems stets in der Performanz verankert sein. Stetter verdeutlicht dies unter Vgl. u.a. Zimmer 1997, 42 f., 72; vgl. dagegen Eisenberg 2001. Zum Unterschied zwischen Pidgin und den von Zimmer beschriebenen Phänomenen vgl. auch Ehlich 2006, S. 52. 23 Hierzu auch Ehlich 2006, S. 51 f. 24 Da von Anglizismenkritikern immer wieder irrtümlich behauptet wird, das Wort handy existiere im Englischen nicht, hier eine kleine Präzisierung: Das Adjektiv handy gibt es dort sehr wohl; und auch als Substantiv wurde es eine Zeitlang verwendet. Während des zweiten Weltkrieges fungierte es offenbar als Bezeichnung für ein mobiles Funksprechgerät; vgl. hierzu Busse 2001, 138 (Fußnote 6). 25 Vgl. Donalies 2003, 29. 21 22 Überlegungen zur Anglizismenkritik Muttersprache 1/2008 65 anderem dadurch, dass er sich mit dem erkenntnistheoretischen Status eines syntaktischen Konstitutionssystems (K-Systems) auseinandersetzt.26 Eine Konstitutionsregel (K-Regel) hat bekanntlich die Form: AB+C Technisch gesehen, handelt es sich hierbei um eine Ersetzungsregel, die sich folgendermaßen versprachlichen lässt: »Ersetze den Ausdruck A durch den Ausdruck B + C.« Materialiter besagt die Regel, dass A aus den Konstituenten B und C besteht bzw. dass B und C Konstituenten von A sind. Der Ausdruck B kann dann auf der nächsten Ebene als Linkselement erscheinen und weiter analysiert werden: B D + E, usw. Das philosophische bzw. erkenntnistheoretische Problem liegt nun in der Frage nach dem Status des ersten Linkselements eines solchen K-Systems. Die generative Linguistik neigte bekanntlich immer dazu, dieses Anfangssymbol (S = ›Satz‹) als unproblematisch zu betrachten. Wie Stetter verdeutlicht, müsste hier aber eigentlich ein Fragezeichen stehen, denn das K-System ist »nach oben hin« offen (Stetter 2005, 224 und 231): Das Anfangssymbol markiert sozusagen die Andockstelle zwischen Sprachsystem und Performanz, zwischen Langue und Parole. Macht man sich dies klar, dann folgt daraus, dass in einer »rein« systemlinguistischen Perspektive nicht entschieden werden kann, was als akzeptable, wohlgeformte sprachliche Form gilt und was nicht; dies kann sich nur aus dem Sprachgebrauch ergeben. – Mit Wittgensteins Privatsprachen-Argumentation gesprochen: Die Differenzen des Sprachsystems müssen sich im öffentlichen Sprachgebrauch zeigen, und hieraus ergibt sich die Notwendigkeit einer performanzorientierten Grundlagentheorie. Vertritt man eine solche Sprachauffassung – Sprache als offenes System! –, dann folgt daraus für das Thema Anglizismenkritik zunächst: Es gibt keine linguistischen Kriterien, die es rechtfertigen würden, ein bestimmtes Wort von vornherein aus der »deutschen Sprache« auszuschließen. Durch Aufnahme in den allgemeinen Sprachgebrauch wird das adaptierte Wort, wie gesagt, zu einem deutschen Wort (vgl. auch Busse 2001, 134; dagegen WüA, 11). Mit Saussure gesprochen: Sprachzeichen sind beliebig aufnahmefähig; sie existieren nur im Gebrauch, indem sie von Mund zu Mund weitergegeben werden.27 Sprache ist kein fixer Code. Auch Anglizismen entwickeln in diesem Sinne ein – wie Ulrich Busse es ausdrückt – »semantisches Eigenleben losgelöst von der Modellsprache« (Busse 2001, S. 139). Aber auch im Lichte einer solchen gebrauchsorientierten, »liberalen« Sprachauffassung lassen sich Anglizismen beurteilen. Und zwar nach dem bisher Gesagten in zweierlei Hinsicht: 1 sind sprachsystematische Argumente möglich (Stichwort: gegoogelt, nicht gegoogled); 2. kann man durch eine genaue Beschreibung von tatsächlichen Verwendungsweisen im Einzelfall prüfen, ob ein Anglizismus sich im jeweiligen Kontext ohne relevanten Bedeutungsunterschied durch einen »deutschen Ausdruck« ersetzen lässt (Stichwort: expressive und soziale Bedeutung , vgl. Lyons 1983, 141 f.). Zum Folgenden vgl. Stetter 2005, 222 ff.; zum Begriff der Konstitutionsgrammatik vgl. auch Heringer/Strecker/Wimmer 1980, 122. 27 Vgl. etwa Saussure 1997, 301; Saussure 2003, 159. 26 66 Muttersprache 1/2008 Jan Georg Schneider Analysiert man konkrete Verwendungsweisen, dann zeigt sich zwar, dass dies weitaus seltener der Fall ist, als von Anglizismenkritikern behauptet wird. Jedoch gibt es meines Erachtens solche Fälle: beispielsweise lässt sich downloaden in vielen Kontexten wohl durch herunterladen substituieren; ähnlich verhält es sich mit dem Wortpaar forwarden/weiterleiten. Der Sportreporter Hiepen könnte in seinem Satz: »Der Ringrichter gibt noch seine Instructions« das Wort Instructions, schon um der Verständlichkeit willen, sicherlich durch Anweisungen oder Instruktionen ersetzen. Aber über solche Wertungen kann man natürlich im Einzelfall diskutieren. Letztlich geht es bei dieser normativen Frage immer um eine Erhöhung der Sprachreflexion und um eine Sensibilisierung für sprachliche Verwendungsweisen, nicht um Belehrung oder Bevormundung. – In diesem Sinne folgt der vorliegende Aufsatz einer Auffassung von Sprachkritik, wie sie bereits in den Achtzigerjahren von Peter v. Polenz vertreten wurde: Sprachkritik ist das »Aufzeigen der Möglichkeit, etwas auch anders sagen zu können«.28 Um diesen Aspekt der Sensibilität für sprachliche Verwendungsweisen theoretisch fassen zu können, benötigen wir einen Kompetenzbegriff, der nicht auf grammatische Kompetenz beschränkt ist, sondern pragmatische und mediale Aspekte mit einbezieht. Sprachkompetenz in diesem weiten Sinne lässt sich – im Anschluss an den späten Wittgenstein – als Sprachspielkompetenz charakterisieren.29 Grob gesprochen verstehe ich unter Sprachspielkompetenz die Fähigkeit, sprachliche Ausdrücke in konkreten Situationen, Domänen und Medien situationsangemessen verwenden zu können. – Einen Beamten im Einwohnermeldeamt begrüßt man nicht mit »Hi!«, es sei denn, man kennt ihn privat; beim Vorstellungsgespräch redet man anders als beim abendlichen Kneipenbesuch, usw. In diesem Sinne knüpft die Idee der Sprachspielkompetenz an Dell Hymes' Konzeption der »kommunikativen Kompetenz« an (Hymes 1972), ergänzt diese aber um den Medialitätsaspekt und weist somit auch Ähnlichkeiten mit Reinhard Fiehlers »Konzept der kommunikativen Praktiken« auf (Fiehler 2000, 38 f.; Fiehler et al. 2004, 99 ff.). Die Frage nach der Situationsangemessenheit hängt aufs engste mit dem Medialitätsaspekt zusammen; zum Beispiel ist es für die Beurteilung der Angemessenheit alles andere als gleichgültig, ob es sich um mündliche oder um schriftliche Äußerungen handelt, ob technische Interaktions- und Verbreitungsmedien involviert sind, usw. Auf das Thema Anglizismen bezogen: Manche Anglizismen kommen fast ausschließlich in der gesprochenen Sprache und in der konzeptionell mündlichen Kommunikation vor (Chat, E-Mail, …): bye-bye, sorry, maybe etc. Unter solchen Gesichtspunkten lassen sich auch medial bedingte Abkürzungen, vor allem in der SMSKommunikation, begreifen: hdgdl, lol, cu30, … Zur Sprachspielkompetenz gehört aber auch die Fähigkeit zum angemessenen Code-Wechsel, zum Beispiel in bestimmten Institutionen, sowie die angemessene Wahl des Mediums (»Man kondoliert nicht per SMS«). – Der zenSchiewe 2001, 287 (kursiv von mir, J.G.S.); vgl. von Polenz 1988; vgl. dagegen Zabels fettgedruckte Maxime in Denglisch, nein danke! (339), die zwar in gewisser Hinsicht in eine ähnliche Richtung weist, jedoch ungleich dogmatischer formuliert ist: »In einer konkreten Kommunikationssituation hat der Sprecher zu prüfen, ob er seinem/seinen Hörer(n) einen bestimmten Anglizismus zumuten darf oder ob er das Ziel seines sprachlichen Handelns mit der Wahl eines Ersatzwortes möglicherweise eher erreichen kann. Entsprechendes gilt für den Schreiber, der einen, mehrere oder viele Leser vor Augen hat.« (Kursiv von mir, J.G.S.). 29 Der Begriff der Sprachspielkompetenz wird in meiner Habilitationsschrift eingeführt und ausführlich erläutert; vgl. auch Schneider 2007 b. 30 ›Hab dich ganz doll lieb‹, ›laugh out loud‹, ›see you‹. Vgl. Zimmer 1997, 51; zur SMS-Kommunikation vgl. auch Androutsopoulos/Schmidt 2002. 28 Überlegungen zur Anglizismenkritik Muttersprache 1/2008 67 trale Gedanke lautet: Sprachkompetenz ist immer bezogen auf bestimmte Sprachspiele; losgelöst vom konkreten Gebrauch in konkreten kommunikativen Praktiken, die immer mit bestimmten Medien verwoben sind, lassen sich Wörter nicht sinnvoll beurteilen; dies gilt natürlich auch für Anglizismen. 5 Zusammenfassung: Die Anglizismenkritik im Kontext der populären Sprachkritik und die Rolle der Linguistik Die systematischen Ergebnisse des vorliegenden Aufsatzes lassen sich nun folgendermaßen thesenartig zusammenfassen: - Die Tendenzen der populären Sprachkritik zeigen sich auch in der Anglizismenkritik; Stichworte: Sprache als starres System (fixed-code theory), Dekontextualisierung von Einzelwörtern, Verkennung des metaphorischen Sprachgebrauchs. - Die Linguistik hat im Bereich der Sprachkritik einigen Nachholbedarf, denn sie hat sich in ihrem Anspruch eine ausschließlich deskriptive Wissenschaft zu sein, seit langem weitgehend aus der Sprachkritik verabschiedet und Sprachpflegern das Feld überlassen.31 - Es lassen sich rational begründete, linguistische Kriterien zur Beurteilung des Anglizismengebrauchs anführen. Wortkritik ist allerdings nur als Wortgebrauchskritik sinnvoll zu begründen (Schiewe 2001, Spitzmüller 2006) - Stellen Anglizismen eine Gefahr oder Bedrohung dar? – Die Diskussion um Anglizismen sollte besser unter dem Angemessenheitsaspekt als unter dem Gefährlichkeitsaspekt geführt werden.32 Aber vermutlich hat Spitzmüller Recht, wenn er zu der Auffassung gelangt, dass es sich bei der alltagsweltlichen und der linguistischen Sprachreflexion um zwei weitgehend inkompatible Diskurse handelt, die sich an ganz unterschiedlichen Kriterien orientieren und völlig verschiedene Zwecke verfolgen: Im öffentlichen Diskurs spielen Emotionen und Wertungen eine entscheidende Rolle, während es den Linguisten – so Spitzmüller – gerade darum gehe, »von ihrer persönlichen Lebenswelt zu abstrahieren, um das Phänomen aus angemessener Distanz beurteilen zu können«. Daraus resultiere, »dass Linguisten und Anglizismenkritiker – etwas pointiert ausgedrückt – von zwei verschiedenen Dingen reden, wenn sie von Sprache sprechen« (Spitzmüller 2006, 53). Diese diskursanalytisch geprägte Darstellung hat einiges für sich. Was bei einer solchen Zweiteilung der Metasprachdiskurse in öffentliche und wissenschaftliche jedoch nicht hinreichend berücksichtigt wird, sind die laienlinguistischen, zum Teil auch pseudo-wissenschaftlichen Publikationen sowie Publikationen von Linguisten, die sich eindeutig nicht auf dem Stand der heutigen Forschung bewegen, jedoch als Experten auftreten und als solche Vgl. insbesondere die einschlägigen Arbeiten von Schiewe; vgl. aber auch Zabel (Hg.) 2003, 31 232. Auch wenn man es quantitativ betrachtet, besteht kein Anlass zur Panik. Seriösen Schätzungen zufolge machen Anglizismen ca. 1 % des (geschriebenen) allgemeinen Wortschatzes aus (Zahlen 2002, Quelle Spitzmüller 2006). 32 68 Muttersprache 1/2008 Jan Georg Schneider wahrgenommen werden.33 Diese stellen eine dritte Gruppe dar, die sich in Spitzmüllers Gegenüberstellung nicht recht einfügt. Das Grundproblem besteht darin, dass der öffentliche Diskurs über Sprachidentität und Sprachrichtigkeit zwar seit einiger Zeit in vollem Gange ist und in der Öffentlichkeit auf starke Resonanz stößt, jedoch weitgehend ohne Beteiligung der Fachwissenschaft geführt wird34 – eine Situation, an der die Linguistik ohne Zweifel alles andere als unschuldig ist. Linguisten sollten sich an diesen Diskursen beteiligen und an diesen Diskursen beteiligt werden.35 In Universität und Schule könnten sie ihren Teil dazu beitragen, dass Studierende und Schüler für sprachliche Nuancen sensibilisiert werden und ihren Sprachgebrauch, auch ihren Gebrauch von Anglizismen, stärker reflektieren. In der genauen Beschreibung der Sprachspielkompetenz sehe ich eine Möglichkeit, auf diesem Wege ein Stück weiter zu kommen. Literatur Androutsopoulos, Jannis/Schmidt, Gurly (2002): »SMS-Kommunikation: Ethnographische Gattungsanalyse am Beispiel einer Kleingruppe.« In: Zeitschrift für Angewandte Linguistik 36 (2002), S. 49–79. Anglizismen-Index (Verein Deutsche Sprache e. V.). http://www.anglizismenindex.de (zuletzt eingesehen am 04. 04. 07) Bartzsch, Rudolf et al. (Hg.) (2004): Wörterbuch überflüssiger Anglizismen. 6. Aufl. Paderborn. Busse, Ulrich (2001): Typen von Anglizismen: von der heilago geist bis Extremsparing. In: Stickel, Gerhard (Hg.) (2001), S. 131–155. Carstensen, Broder/Busse, Ulrich/Schmude, Regina (1993-1996): Anglizismen-Wörterbuch. Der Einfluß des Englischen auf den deutschen Wortschatz nach 1945. 3 Bde. Berlin/New York. Donalies, Elke (2003): »Gebt endlich die Wortbildung frei! Über unsinnige und sinnige Kritik an der Wortbildung.« IDS-Sprachforum 13. November 2002. 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Wie ich in Schneider 2005 b gezeigt habe, versucht auch Sick immer wieder, seine Geschmacksurteile sprachsystematisch zu fundieren. 34 Ein schillerndes Beispiel dafür, auf welchem Niveau sich der öffentliche Diskurs über Sprache derzeit bewegt, bot der Spiegel mit seiner Titelgeschichte Deutsch for sale (Nr. 40/2006, 182–198), in der verschiedenste Themen wie Sprachentod, Graffiti-Kunst, Jugendsprache, computervermittelte Kommunikation, Bildungsnotstand, Anglizismengebrauch usw. völlig undifferenziert miteinander vermischt werden; vgl. hierzu Schneider 2007 a. 35 Ein positives Beispiel hierfür ist Peter Eisenbergs Artikel Gesotten und gesiedet. Das kuriose Deutsch der Sprachentertainer, der in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung erschien (11./12. 11. 06). 33 Überlegungen zur Anglizismenkritik Muttersprache 1/2008 69 Fiehler, Reinhard (2000): »Über zwei Probleme bei der Untersuchung gesprochener Sprache.« In: Sprache und Literatur 85, S. 23–42. Fiehler, Reinhard et al. 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