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42 Rinder BLW 18 | 7. 5. 2010 Blutungsneigung bei jungen Kälbern Aktuelle Forschungsergebnisse zum Krankheitsgeschehen beim „Blutschwitzen“ I n der Klinik für Wiederkäuer in Oberschleißheim wurden bislang 82 Kälber mit Blutungsneigung zur Diagnostik und Behandlung eingeliefert. Zusätzlich wurden von 282 erkrankten Kälbern Blutproben zur Diagnostik eingeschickt. Somit konnte am Standort München bislang das Krankheitsbild bei 364 Kälbern aus 231 Betrieben bestätigt werden (Stand 1. 3. 2010). Nachdem sich die ersten Fälle auf das Einzugsgebiet der Klinik beschränkten, sind mittlerweile derartige Fälle in allen Regionen Deutschlands aufgetreten. Weiterhin sind gleichartige Erkrankungen aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, Schottland, England, Italien, Spanien, Ungarn, Nordirland und Irland gemeldet. Die Erkrankung tritt in manchen Betrieben auch gehäuft auf, wobei im Einzelfall bis zu 30 Kälber innerhalb von zwei Jahren erkrankten und verendeten. Häufung handelt. Weitere Krankheitserscheinungen sind Blutungen unterschiedlicher Ausprägung an allen sichtbaren Schleimhäuten, am Flotzmaulrand, an den Nasenöffnungen, am Augapfel (in der weißen Augenhaut) und häufig blutunterlaufene Stellen am Kinn. Die meisten Kälber haben auch unterschiedlich starke Blutbeimengungen im Kot. Manche setzen fast reines Blut ab. Die Mehrzahl der Erkrankten hat im Verlauf hohes Fieber (bis über 41 °C), das trotz Behandlung oft mehrere Tage bestehen bleibt. Häufig kommt es dabei zu schwer ausgeprägten Begleiterkrankungen, wie z. B. Durchfall oder Lungenentzündung sowie zu Komplikationen durch infizierte und zum Teil abszedierende Blutergüsse. Fotos: Klinik für Wiederkäuer In der Vergangenheit gab es vereinzelt Fälle von Blutungsneigung bei Rindern unterschiedlichen Alters, mit verschiedenen Ursachen. Seit dem Frühjahr 2007 häufen sich nun Fälle von Blutungsneigung bei jungen Kälbern. Die Wissenschaftler sind den Ursachen auf der Spur. Punktförmiger Blutaustritt aus der unverletzt erscheinenden Haut. Die Bezeichnung „Blutschwitzen“ ist falsch (irreführend), da es sich nicht um eine großflächige, allgemeine Hautblutung handelt. Spektakuläres Krankheitsbild Die klinische Symptomatik, der Krankheitsverlauf sowie Laborund Sektionsbefunde bei den betroffenen Kälbern sind relativ einheitlich: Der Erkrankungsbeginn liegt meist in der zweiten oder dritten Lebenswoche. Ein Teil der Kälber fällt durch spontane Hautblutungen auf, während andere wegen einer anderen Neugeborenenerkrankung oder aufgrund der Störung des Allgemeinbefindens behandelt werden. Die Blutungsneigung fällt dann in Form von Nachbluten aus Injektionsstellen auf. Meist kommt es bei diesen Kälbern außerdem zu Hautblutungen. Das frische Blut sickert dabei punktförmig aus der unverletzt erscheinenden Haut (oft an verschiedenen Stellen des Körpers), weswegen die Kälber landläufig auch als „Blutschwitzer“ bezeichnet werden. Jahreszeitlich gehäuft treten die Fälle in den Sommermonaten auf, fast die Hälfte wurde von Juni bis August vorgestellt. Da jedoch die Hautblutungen auch vor allem in der wärmeren Jahreszeit auftreten – möglicherweise zeigt sich die Blutungsneigung im Zusammenhang mit Insektenstichen – geht man inzwischen davon aus, dass es sich nur um eine vermeintliche Bei der Untersuchung des Blutes erkrankter Kälber fällt stets auf, dass die Anzahl der Blutplättchen und der weißen Blutkörperchen massiv verringert ist. Erstere sind jedoch für die Blutgerinnung von großer Bedeutung, Letztere spielen im Hinblick auf die Krankheitsabwehr eine entscheidende Rolle. Eine ausgeprägte Blutarmut tritt erst im Verlauf auf. Die meisten Kälber sterben innerhalb weniger Tage, zum Teil verbluten sie, oft verenden sie jedoch wegen einer schweren Begleiterkrankung. Wiederholt wurde festgestellt, dass einzelne Kälber in betroffenen Betrieben zwar die durch Knochenmarkschädigung bedingten Blutveränderungen aufwiesen, jedoch keinerlei erkennbare Blutungen zeigten. Daher muss befürchtet werden, dass die „blutenden Kälber“ nur die „Spitze des Eisberges“ darstellen. In welchem Umfang (infolge der Abwehrschwäche auf der Basis niedriger Konzentrationen der weißen Blutkörperchen) Verluste durch übliche Kälberkrankheiten (Durchfall, Lungen- und Nabelentzündung) diesem Krankheitskomplex zugeordnet werden müssen, kann gegenwärtig nur spekuliert werden. Wenig Chancen Zahlreiche Hautblutungen bei einem Kalb mit ausgeprägter Blutungsneigung. Da eine gezielte Behandlung der Erkrankung zumindest bislang nicht möglich ist und Blutübertragungen meist nur eine vorübergehende Besserung bewirken, kommt vor allem der Behandlung von Begleiterkrankungen Bedeutung zu. Allerdings muss die überwiegende Zahl der Kälber trotz zum Teil aufwendiger Therapie eingeschläfert werden oder verendet. Bisherige Erkenntnisse zum „Blutschwitzen“ D 1 ie bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse stellen sich wie folgt dar: Die Krankheit tritt bei Kälbern aller in der jeweiligen Region gehaltenen Rassen und bei Kälbern beiderlei Geschlechts auf. Oft kommen derartig erkrankte Kälber bestandsweise und in Betrieben einzelner Tierarztpraxen gehäuft vor. Mittlerweile sind zahlreiche Kühe bekannt, die zwei oder drei Jahre in Folge „Bluterkälber“ zur Welt gebracht haben. Die ersten derartigen Erkrankungsfälle traten lange vor Be- 2 3 4 ginn der Impfung gegen die Blauzungenkrankheit auf. Mit wenigen Ausnahmen (drei von 364 Kälbern! Stand 1. 3. 2010) sind die Mütter betroffener Kälber BVD-geimpft. Dabei wurde (mit einer Ausnahme) jeweils die gleiche Vakzine (PregSure®) benutzt. Pfizer Tiergesundheit hat in einer Pressemitteilung am 7. 4. 2010 bekannt gegeben, dass sie in Absprache mit dem Paul-Ehrlich-Institut entschieden hat, den Impfstoff PregSure BVD ab dem 7. 4. 2010 in Deutschland nicht mehr zu verkaufen. Angesichts der hohen Zahl der mit 5 dieser Vakzine geimpften Kühe steht eine eindeutige Klärung eines möglichen Zusammenhangs noch aus. Dieser Sachverhalt ergibt sich auch in den europäischen Nachbarländern (Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, Schottland, England, Italien, Spanien, Ungarn, Nordirland, Irland), in denen bislang gleichartige Erkrankungen auftraten. In Österreich und der Schweiz sind bislang keine gleichartigen Erkrankungen registriert. In beiden Ländern wird nicht gegen BVD geimpft. 6 7 BLW 18 | Rinder 43 7. 5. 2010 Hochgradige Blutbeimengung bei einem Kalb mit Durchfall. Punktförmige Blutungen auf der Maulschleimhaut eines Kalbes mit Blutungsneigung. Schwere Knochenmarkschädigung Faktoren dabei eine Rolle spielen, ist Gegenstand zahlreicher komplizierter und möglicherweise langwieriger Forschungsarbeiten. Auch wenn das klinische Bild und die Befunde inzwischen hinreichend bekannt sind und somit nicht mit jeder Probe ein Fortschritt für die Ursachenfindung zu erwarten ist, sind Patienten und Blutproben zur Dokumentation und Bestätigung der auftretenden Fälle sehr wichtig, und zwar nicht nur zur Information über regionales Auftreten sowie zum Nachweis von Bei der Sektion verendeter oder eingeschläferter Kälber findet man erwartungsgemäß Blutungen in verschiedenen Körperregionen und auch Organveränderungen infolge der Begleiterkrankungen. Der markanteste Befund ergibt sich in allen Fällen bei der Untersuchung des Knochenmarks. Dieses ist von geleeartiger Beschaffenheit und enthält nur noch wenige bis keine Vorläuferzellen der Blutplättchen und anderer Blutzellen. Diese Befunde sprechen für eine massive Knochenmarkschädigung (Friedrich et al., 2009). Von allen betroffenen Kälbern und ihren Müttern wurden Blutproben auf BVD-Virus und zum Teil auf das Virus der Blauzungenkrankheit untersucht. Das Ergebnis war immer negativ. Die Untersuchung auf Antikörper gegen das Blauzungenvirus war abhängig davon, ob das Muttertier geimpft war. Antikörper gegen das BVD-Virus konnten sowohl bei den Kälbern als auch bei ihren Müttern mit wenigen Ausnahmen nachgewiesen werden. Dies ist nicht verwunderlich, da die Mütter (mit wenigen Ausnahmen) BVD-geimpft waren (siehe Kasten). Untersuchungen einzelner Kälber auf verschiedene Chemikalien und Giftstoffe, von denen bekannt ist, dass sie vergleichbare Blutungserscheinungen verursachen können, verliefen immer negativ (Friedrich et al., 2009*). bestandsweise gehäuften Verlusten, sondern auch in Fällen, in denen der Verdacht besteht, dass die Erkrankung der Kälber in Zusammenhang mit dem Einsatz einer Vakzine bei den Muttertieren steht. Zur Meldung solcher Fälle an das Paul-Ehrlich-Institut ist ein spezieller Meldebogen entworfen worden. Betroffene Landwirte sollten sich an ihren Hoftierarzt wenden. Mit dem Erstkolostrum erhält das Kalb die stallspezifischen Abwehrstoffe, die es für seinen Immunstatus braucht. Lesen Sie dazu den Beitrag zur Kolostrumversorgung auf dieser Seite. Dr. Günter Rademacher Dr. Annette Friedrich Prof. Wolfgang Klee Klinik für Wiederkäuer, LMU München *) Friedrich A., Rademacher G., Weber B.K., Kappe E., Carlin A., Assad A., SauterLouis C., Hafner-Marx A., Büttner M., Böttcher J., Klee W.: Gehäuftes Auftreten von hämorrhagischer Diathese infolge Knochenmarkschädigung bei jungen Kälbern. Tierärztl. Umschau 2009, 64, 423–431. Die Basis für die Kälbergesundheit Optimales Versorgen des Kalbes mit Kolostrum unbedingt nötig I m Zusammenhang mit der Blutungsneigung junger Kälber ergaben sich Hinweise, dass mit dem Kolostrum „Agenzien“ auf das neugeborene Kalb übertragen werden, die zu einer Schädigung des Knochenmarks führen, woraus letztendlich die Blutungsneigung betroffener Kälber resultiert. Dies hat im Hinblick auf die Empfehlungen zur Kolostrumversorgung zu einer erheblichen Verunsicherung von Rinderhaltern, Beratern und Tierärzten geführt. Nachfolgend werden deshalb die wesentlichen Sachverhalte zur Kolostrumversorgung neugeborener Kälber dargestellt und ihre Bedeutung besonders unterstrichen. Das Kalb wird in eine „feindliche“, mit zahlreichen (mehr oder weniger gefährlichen) Krankheitserregern belastete Umwelt hinein geboren. Es muss sich mit diesen Keimen bereits während des Geburtsvorganges auseinandersetzen. Aufgrund der besonderen Verhältnisse in der Gebärmutter des Rindes bekommt das Kalb die Schutzstoffe (Antikörper) gegen die stallspezifischen Erreger (besonders Viren und Bakterien) nicht schon während der Trächtigkeit über das Blut, sondern ausschließlich über die Biestmilch (Kolostrum). Im Erstkolostrum sind diese Schutzstoffe besonders angereichert. Zudem ist es sehr reich an Vitaminen und anderen Wirkstoffen. Nicht zu Unrecht wird das Erstkolostrum (besonders älterer) gesunder Kühe als stallspezifische Medizin bezeichnet, die durch nichts zu ersetzen ist. Das Kalb wird also ohne jede Abwehr geboren. Es ist somit schutzlos den Erregern ausgesetzt. Daher ist es von zentraler Bedeutung, dass das Neugeborene nach der Geburt sobald wie möglich über das Erstkolostrum mit den stallspezifischen Antikörpern versorgt wird. Dies ist entscheidend für seine Abwehrkraft, den Immunstatus des Kalbes. Empfehlungen Für Betriebe, in denen bereits Bluterkälber aufgetreten sind, wird hinsichtlich der Kolostrumversorgung Folgendes empfohlen: Da man weiß, dass viele „Bluterkälber“ letztendlich an schwer verlauFortsetzung auf Seite 44 Foto: Klinik für Wiederkäuer Fazit Gegenwärtig kann davon ausgegangen werden, dass die Schädigung des Knochenmarks (und möglicherweise sich schon im strömenden Blut befindender Zellen) das zentrale Ereignis in einem sehr komplexen Krankheitsgeschehen darstellt. Aus Beobachtungen von Landwirten und Tierärzten sowie von Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen ergaben sich Hinweise, dass bei einem Teil der Kühe, unter bestimmten Voraussetzungen, mit dem Kolostrum vermittelte (übertragene) „Agenzien“ für diese Knochenmarkschädigung verantwortlich sind. Welche Punktförmige Blutungen an den Lidrändern und flächenhafte Blutungen in der weißen Augenhaut. Die Aufstallung neugeborener Kälber in keimarmer Umgebung ist neben der Kolostrumversorgung eine weitere wesentliche Säule im Hinblick auf die Verringerung von Kälberkrankheiten.