Leseprobe - UVK Verlagsgesellschaft
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½ ±8¼b Das Radio ist ein additives Medium, in dem Sendung auf Sendung folgt. Alles findet nacheinander statt und so haben bereits die ersten Hörfunkmacher ihre Angebote bewusst nacheinander angeordnet, anordnen müssen. Zunächst organisierten sie ihre (regionalen) Programme eher intuitiv nach Tageszeiten, Wochentagen und Jahreszeiten. Seit die ersten öffentlich-rechtlichen Programme in den 1950er-Jahren miteinander konkurrierten, seit das duale System 1986 etabliert wurde, erhielt jede Welle ihre spezifische Ausprägung in Musik, Wort und Anmutung. Nicht mehr die Summe der Einzelsendungen, sondern das (penibel durchstrukturierte) Format prägte das Programm. bÜ~V~ÁY ~7b¼bYb´n±Ä|b*8Y´ Radio ist in Deutschland vor allem ein Regionalmedium. Schon in der Weimarer Republik strahlten neun Sendegesellschaften sehr unterschiedliche Programme aus. Der Sendebeginn, die Sendedauer oder die Sendungen waren von Region zu Region unterschiedlich. Letztlich war jedes Programm eine regionale Angelegenheit, abhängig von Technik und Finanzlage, Radiokonzeption, Sozialstruktur, politischen und rechtlichen Vorgaben, Hörerreaktionen, konkurrierenden Massenmedien und – nicht zuletzt – den Machern. Und das ist bis heute so geblieben. Das Radio der Anfangsjahre richtete sich »an alle«, aber früh war klar, dass dies nicht zu jeder Tageszeit und mit jedem Programmangebot der Fall sein konnte. Spätestens 1931 wurde der Tag (implizit) in drei Phasen eingeteilt: Die A-Zeit, in der tendenziell alle Hörer erreichbar waren (18 bis 22 Uhr), die B-Zeiten, in denen viele Hörer aufnahmebereit waren (7 bis 8 Uhr, 15 bis 18 Uhr und 22 bis 24 Uhr) sowie die C-Zeit, in der kaum jemand Radio hörte (8 bis 15 Uhr). KRUG, Radio ISBN 978-3-8252-3333-4 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 sÀ *8Y(±o ´O|±t±8bV<´¼O|b±t±8b Der Weimarer Hörfunk war ein »Mischprogramm«. Sehr unterschiedliche Programmbereiche wie Kultur, Bildung, Nachrichten, Unterhaltung, Werbung wurden auf einer Welle gebündelt und zeitlich strukturiert. Die Aufgabe der Programmplaner war, diese Bereiche innerhalb des Tages, der Woche, des Monats, kurz: innerhalb von Zeitzonen anzuordnen (und damit natürlich auch zu werten) und der Hörer hatte sich nach diesen Vorgaben zu richten. Zunächst positionierte man in den Funkhäusern einfach Sendung auf Sendung, nach einem Vortrag kam etwa Musik, nach einem Zielgruppenangebot kam Kultur. Für diese Programmphilosophie hat man später den Terminus »Kästchenprogramm« erfunden. Um 1930 bedeutete »Kästchenradio«, dass täglich – je nach Programmdauer – zwischen 13 und 33 Sendungen mit einer durchschnittlichen Länge von 30 Minuten ausgestrahlt wurden. Schon der frühe Hörfunk kannte Zielgruppensendungen für Kinder, Eltern, Arbeiter, Land und Kirche, stellte für sie bis zu zehn Prozent der Programmfläche zur Verfügung und ordnete sie durchaus adressatengemäß: Die Zielgruppensendungen für Frauen und Kinder wurden nachmittags, die für Arbeiter, Beamte oder Ärzte früh abends oder am Wochenende gesendet. Vorträge, die in den ersten Jahren bis zu 20 Prozent des Programms ausmachten, wurden vor allem am frühen Abend ausgestrahlt; Kultur und Unterhaltung dominierten die wichtigste Sendezeit: das abendliche Hauptprogramm. Zur gezielten Radionutzung halfen Programmzeitschriften und Programmvorschauen in Tageszeitungen. Diese Programmstruktur blieb bis in die 1960er-Jahre mehr oder weniger prägend – Programmkonzepte wurden »nur relativ geringfügig und ziemlich langsam« (Jäger 1982, 62) verändert. Das Nachkriegsradio definierte sich als akustischer »Gemischtwarenladen«, der das Notwendigste ohne große Auswahl bot. Der SDR etwa sendete zu reinen Mittelwellenzeiten morgens (5 bis 8 Uhr) vor allem Unterhaltungsmusik, unterbrochen durch stündliche Nachrichten, die »südwestdeutsche Heimatpost« und die Morgengymnastik; den Abend ordnete man seit 1950 nach Schwierigkeitsgraden: dienstags, mittwochs und freitags begann man mit anspruchsvollen Sendungen, an den anderen Tagen mit Unterhaltung. 80 Prozent der Bevölkerung, so stellte man in den 1950er-Jahren fest, hatten Hauptschulabschluss, 60 Prozent lebten in Dörfern und Kleinstädten, 80 Prozent waren bis 7 Uhr aufgestanden, 68 Prozent lagen um 22 Uhr in den Betten. Die Demoskopie wurde also überraschend früh auch zur Programmplanung herangezogen. KRUG, Radio ISBN 978-3-8252-3333-4 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 ½ ±8¼b s½ Auch als nach 1950 die ersten UKW-Programme aufgebaut wurden, änderte sich an den grundsätzlichen Programmstrukturen wenig. Die UKW-Angebote wurden zwar nach dem Grundsatz »Gegensätzlichkeit zur Mittelwelle« positioniert, doch sie blieben Mischprogramme nach dem »Kästchenprinzip«. Der NDR schuf neben der »Repräsentationswelle« die »Welle der Freude« UKW-Nord; der SDR kontrastierte seine beiden Programme anders: Während das erste MW-Programm Leichtes sendete, strahlte das (zweite) UKW-Programm Anspruchsvolles aus und umgekehrt. Programmreformen beschränkten sich lange auf diese – je nach Sender sehr unterschiedlichen – »Differenzierungen« zwischen erstem (MW), zweitem (UKW) und dann auch drittem Programm. Beobachter sahen in diesen Programmstrukturen der 1950er-Jahre »Orgo-Schema live«, sie waren vor allem Ausdruck senderinterner Machtverhältnisse und Organisationsstrukturen. *8Y8´btb¼bYÁ Erst in den 1960er-Jahren war es mit der vierzigjährigen Ruhe vorbei; der Siegeszug des Fernsehens, die nachlassenden Hörzeiten, die Ausweitung der Programme, die finanzielle Situation der ARD-Sender führten nach und nach zu großen Programmreformen in den Sendern. Nun kam es zu grundsätzlichen Veränderungen: Das Radio wurde vom Abend- zum Tagesmedium umgebaut, seine Position als eigenständiges, spezifisches, rein akustisches Medium pointiert. Aber dies waren jahre-, ja jahrzehntelange und regional sehr unterschiedliche Prozesse. Es waren zunächst eher vereinzelte Initiativen, die bald zu einem kompletten strukturellen Umbau des Radios führten. An erster Stelle standen – von der Forschung bisher vollständig übersehen – die Nachrichten zu jeder vollen Stunde. Der amerikanische Soldatensender AFN kannte sie seit Langem, aber erst 1964 wurden sie auf der jungen, werbungsintensiven Europawelle Saar eingeführt, 1966 folgten der NDR und in den 1970er-Jahren dann fast die gesamte ARD. Die Nachrichten waren aber nicht nur für die aktuelle Information wichtig, sie setzten den Radiohörern erstmals eine neue und strenge Struktur. »Die Einführung des Stundenrasters bei Nachrichten« war »der erste Schritt zur Entwicklung des Radios zum Begleitmedium« (Arnold 1981, 10). KRUG, Radio ISBN 978-3-8252-3333-4 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 ss *8Y(±o Merksatz Stündliche Nachrichten, Magazinsendungen und popmusikalische Jugendsendungen leiteten in den 1960er-Jahren den Umbau des »Kästchenhörfunks« zum Begleitmedium Radio ein. Es waren zunächst nur punktuelle, auf einzelne Sendungen bezogene Neuerungen, die schließlich zu umfassenden Programmformen führten. Amerikanischer Herkunft war auch eine zweite neue Radioform: das Magazin. Es wurde früh von RIAS Berlin und der Europawelle Saar (22 bis 24 Uhr) eingeführt, trat seinen Siegeszug aber erst mit dem WDRMittagsmagazin (1965) an. Im frühen Magazin wurde bisher Getrenntes vereint: Politik, Zeitgeschehen, Kultur, Sport, Buntes und Musik; die bisherigen Trennungen Information und Unterhaltung, Politik und Nichtpolitik wurden aufgehoben; der Stil wurde »dialogisch«, die Ansprache umgangssprachlich. Gleichzeitig veränderten sich auch die tradierten senderinternen Arbeitsteilungen. Für die neuen, zwei- bis zweieinhalbstündigen Magazine arbeiteten verschiedene Fachredaktionen zusammen und machten die neue Liveform rasch zum Riesenerfolg. Zunächst gehörte zum »Magazin« die »starke Betonung des politischen Geschehens« (La Roche1993, 183) – aber diese ließ nach, als immer mehr Programme Magazine sendeten. Schon 1971 hatte NDR 2 ein Tagesprogramm aus mehreren Magazinen; die Welle war durch die Magazinform charakterisiert. Weitere Neuerungen waren schließlich – Politik, Popmusik und Protest erstmals verbindend – spezifische Jugendsendungen wie Der 5-UhrClub (NDR 1969) oder der Zündfunk (BR 1974). b·Îb±~8|±bU±b¼bÁtYb±*8Y8tbF¼b In den 1970er-Jahren gab es in Deutschland drei verschiedene, unterschiedlich differenzierte Programmtypen: – Die traditionellen, weiterhin »kästchenartig« organisierten und für die politische Information zuständigen »ersten Programme«, die ihre Namen langsam in WDR 1, NDR 1, SDR 1 oder hr1 änderten. Die einst konkurrenzlosen Leitprogramme behielten weitgehend den Charakter eines Mischprogramms, verloren aber deutlich an Hörern. – Die magazinisierten, sehr stark popmusikalisch programmierten und zum Teil neu gegründeten Service-, Pop-, Informations- oder Unterhaltungswellen wie Europawelle Saar, hr3, Bayern 3, Südfunk 3, SWF 3, KRUG, Radio ISBN 978-3-8252-3333-4 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 ½ ±8¼b sp WDR 2 oder NDR 2. Diese Programme sendeten in der Regel Werbung und entwickelten sich innerhalb weniger Jahre zu den hörerstärksten Wellen und faktischen Leitwellen. Beim NDR gab es 1970 folgende Hörerverteilung: NDR/WDR 1 – die damals noch gemeinsam sendeten: 27 Prozent, NDR 2: 33 Prozent und NDR 3: 2 Prozent (Köhler 1991, 426). – Die eigenständigen Kulturwellen wie NDR 3, WDR 3, BR 2, Studiowelle Saar, hr2 oder SWF 2. Sie blieben »Kästchenprogramme«, Minderheiten- und Einschaltangebote, zum Teil noch ohne richtige Programmstruktur oder zusätzlich als Gastarbeiterprogramm genutzt. *bt8´b±ÁtU±<ÁO|b<|bÍÁ±b± Obwohl der Hörfunk seit den Anfängen ein Regionalmedium war, erhielten die Programme durch Programmaustausch oder gemeinsame ARDNachtprogramme immer wieder auch einen überregionalen, ja nationalen Charakter. Doch auch die Gegenbewegung fand statt: In Bayern wurden seit 1960 Sendungen von Bayern 1 nicht landesweit ausgestrahlt, sondern in Regionalfenster »gesplittet«, der SDR experimentierte seit 1979 mit Kurpfalz-Radio für den Ballungsraum Mannheim-Ludwigshafen. Merksatz Das Radio war aus technischen und politischen Gründen seit den Anfängen vor allem ein Regionalmedium. In den 1980er-Jahren versuchte man, das Regionale durch das Lokale zu ergänzen. Dort, wo man das Neue bisher noch vor allem vom direkten Hörensagen oder aus der Zeitung erfuhr, suchte das Radio einen neuen Markt und den direkten Kontakt mit dem Hörer. Anfang der 1980er-Jahre ermöglichten es die neuen Kommunikationstechniken, systematisch über eine Subregionalisierung des Hörfunks nachzudenken; 1981 wurde die »Regionalisierung« etwa im WDR sogar zum neuen Unternehmensziel erklärt. Der öffentlich-rechtliche Hörfunk zielte einerseits auf die Zeitungsleser als neue Hörer, andererseits auf einen »Ereignisraum, der in besonderer Weise der Integrationsfunktionen der Medien« (Teichert 1982, 238) bedürfe – und scheitere. Radio Dortmund etwa wurde nach neun Jahren aufgegeben. Fortan wurde eine Fülle Regionalstudios gegründet und so die (direkte) Nähe zum Hörer gesucht, eigenständige öffentlich-rechtliche Lokalradios aber KRUG, Radio ISBN 978-3-8252-3333-4 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 s¸ *8Y(±o entstanden nicht. Die neuen Studiotechniken machten jedoch bimediale Redaktionsarbeit (ökonomisch) sinnvoll, die eher praktisch orientierte politische Arbeit vor Ort rief bald eine neue regionale Informationsform hervor: die Abkehr vom traditionellen Primat der Politik in den lokalen Informationssendungen und die Orientierung an der persönlichen Betroffenheit der Hörer. In der Regel wurden diese lokalen Formen als »Fenster« in die ersten Programme integriert. Besonders umkämpft war die Regionalisierung im Norden, wo der NDR gleich drei Bundesländer ›bestrahlte‹. Hier wurde nach heftigen politischen Auseinandersetzungen 1981 die älteste Welle NDR 1 in drei Landeswellen aufgespaltet: NDR 1 Welle-Niedersachsen, NDR 1 Welle Nord sowie NDR 1 Hamburg-Welle; friedlicher entstanden volkstümliche Wellen wie WDR 4, hr4 oder MDR 1 Radio Sachsen (1992). Alle diese regionalisierten Programme setzten musikalisch auf deutsch orientierte melodiöse Musik (DOM) und die älteren Hörer. Lokale Radios im eigentlichen Sinne, d. h. Radios, die nur in einem kleinen Sendebereich, einem Kreis oder einer Stadt hörbar waren, wurden erst nach der Etablierung des dualen Hörfunksystems in Bayern, BadenWürttemberg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Sachsen gegründet und wurden in einigen Orten (Radio Köln, 1991) sogar Marktführer. Die Vielzahl der bundesdeutschen Radios hat in der Fülle von Lokalsendern wie Radio Regenbogen, Antenne Unna oder Radio Dresden ihre Ursache. Es sind vor allem privatwirtschaftliche Formatradios mit Werbung, die Musik liegt im AC-Bereich und der Informationsanteil ist eher gering. Teile der Programme werden von sogenannten Mantelprogrammen übernommen. In NRW liefert Radio NRW diese Programmteile, viele Lokalradios verfügen also teilweise über identischen Content; das Lokale ist hier eine Fiktion. Ün<tbYb´(±Ç8¼±8Y´ Als das duale Hörfunksystem 1986 startete, gab es im Wesentlichen vier öffentlich-rechtliche Programmformen: traditionelle »Kästchenwellen« (1), magazinisierte Rock- und Popwellen mit und ohne Infoschienen (2), einschaltorientierte Kulturprogramme (3) und seit 1984 erste (dezent) DOM-orientierte Regionalprogramme (4). Bis auf die Rock- und Popwellen waren alle Angebote noch mehr oder weniger Einschaltprogramme. Die jungen werbefinanzierten Privatfunkwellen orientierten sich zunächst an den – werbefinanzierten – öffentlich-rechtlichen Service-, Pop- und Unterhaltungswellen und konkurrierten vor allem mit ihnen. KRUG, Radio ISBN 978-3-8252-3333-4 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 ½ ±8¼b s· Radio Schleswig-Holstein (RSH) etwa startete – so der ehemalige Unterhaltungschef der Europawelle Saar (1979 bis 1984) und RSH-Gründer Hermann Stümpert – mit einem breiten Full-Service-Angebot aus »Versatzstücken von ›Top 40‹, AC, Oldies … und der deutschen Programmtradition«, aber noch nicht mit einem voll formatierten Angebot. Über die Programmstrukturen und den Sound der frühen Privatradios weiß man bisher nur wenig; doch die Formatierung hat sich wohl eher langsam auf dem Privatfunkmarkt durchgesetzt; 1993 waren etwa 50 Prozent der Privatwellen formatiert, was bedeutete, dass sie »durchgehend gestylt« und durchhörbar programmiert waren. Der Programmschwerpunkt war der Morgen, wichtig wurden die Morgensendungen oder »Morningshows«, denn morgens gab es die meisten Hörer. Merksatz Mit den privaten Hörfunkwellen wird nach 1986 ein ganz neuer, in Amerika schon vielfach und lange gelungener Programmtyp in Deutschland eingeführt: das Formatradio oder besser: die Formatradios. Die neuen Wellen sind vor allem durch die Musikfarbe geprägt; sie sind auf Durchhörbarkeit programmiert. Ein spezifisches Marketing legt das Profil fest, das – vom Anspruch her – akustisch unverwechselbar sein soll. ±8¼¼Êb Der Privatfunk hatte in Deutschland keine Grundversorgung zu gewährleisten, er war ein Zusatzangebot und der Informationsanteil war – etwa in Hamburg bis 2003 – auf 10 bis 15 Prozent festgeschrieben. Die Musik prägte die Programme also deutlich und sie definierte die Formate. Seit Beginn der 1990er-Jahre gab es in Deutschland vor allem drei musikdominierte Formate: – Adult Contemporary (AC) prägte etwa ein Drittel der Sender und galt als »sichere Wahl«. AC-Radios spielten die Popstandards der letzten Jahrzehnte und richteten sich an die Kernzielgruppe der 25- bis 49-Jährigen; Werbung, Promotionaktionen, Gewinnspiele oder Anrufsendungen waren feste Programmbestandteile. Zum AC-Format gehören auch Unterformen wie »Soft AC«, »Oldie based AC«, »Current based AC« oder »Hot AC«. Frühe und erfolgreiche Wellen mit AC-Format waren in Deutschland RSH, Radio Gong 96,3 (München), Radio Hamburg, Antenne Bayern, Radio NRW, 104,6 RTL, Radio FFH, Radio PSR KRUG, Radio ISBN 978-3-8252-3333-4 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 sg *8Y(±o oder Radio SAW (Magdeburg). Die Playlists wurden von anfänglich rund 7.000 Titeln auf etwa 2.000 bis 3.000 (1993) reduziert. – Contemporary Hit Radio (CHR) ist ein Nachfolger der amerikanischen Top-40-Formate. Dieses Format setzte auf die aktuellen Hits und richtete sich an die 14- bis 25-Jährigen. Die Playlists bestanden aus 60 bis 80 Titeln, Wiederholungen waren entsprechend häufig. Wortbeiträge waren auf wenige Nachrichten reduziert. Ein frühes, sehr erfolgreiches CHR-Radio war das Hamburger OK Radio (1988) – es erreichte Anfang der 1990er-Jahre in seiner Zielgruppe bis zu 60 Prozent. – Deutsch orientierte melodiöse Musik (DOM) war ein Format, das speziell für den deutschen Hörfunkmarkt entwickelt wurde und Ende der 1980er-/Anfang der 1990er-Jahre mit Schlagern, Volksmusik und Oldies bei den Hörern außerordentlich erfolgreich war. Frühe Vertreter waren das Hamburger Alsterradio oder Radio Brocken. Da die Werbebranche auf das Format und die angesprochene Zielgruppe (40 bis 60 Jahre) zurückhaltend reagierte, entschlossen sich die meisten Sender zum Formatwechsel; die Werbung definierte letztendlich das Format. Inzwischen hat fast jeder ARD-Sender sein – außerordentlich quotenträchtiges – DOM-Format (WDR 4, hr4, NDR 90,3). nnb±bÍbbO|b Anders als in den USA entwickelte sich in Deutschland keine Vielfalt der Formate. Oldie- oder Klassikformate (Klassik Radio, 1990) blieben eher unbedeutend, andere wie das Jazzformat (Jazz Welle Plus) Episoden. Und auch die wortbasierten Formate wie Radioropa (1990), Inforadio 101 (1991 bis 1993), Berlin aktuell 93,6 (1998 bis 2000) oder FAZ Radio 93,6 (2000 bis 2002) konnten sich nicht etablieren. Diese Programme setzten quasi das Top-40-Konzept im Wort- und Newsbereich um, blieben aber – anders als die Vorbilder in den USA – auf dem deutschen Markt mit seinen ausgebauten öffentlich-rechtlichen Infostrukturen als Privatangebot erfolglos. An der Vorherrschaft der AC-CHR-Formate sollte sich bis in die Gegenwart nichts ändern; in kritischer Absicht beschreibt dies auch der Terminus »Dudelfunk«. Trotz der identischen Formate unterschieden sich die Programme aber letztlich in Sound und Struktur doch voneinander. Gerade auf den senderreicheren Märkten in Berlin, Hamburg oder München entwickelten auch die AC-Sender ihr jeweils eigenes Profil. Denn nicht nur die Musik, sondern Moderation, Stimmen, Nachrichten, Wortanteil, Aktionen, Jingles, Claims, Trailer, Rhythmus prägen das ForKRUG, Radio ISBN 978-3-8252-3333-4 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 ½ ±8¼b s mat. Jede Welle hat ihren eigenen programmtypischen Sound und soll – idealerweise – sofort vom Hörer identifiziert werden können. Deutlich werden die Unterschiede in den Programmen schon durch die Zahl der Elemente: So bestand WDR 2 1992 etwa aus 995 Elementen pro Tag, NDR 2 kam auf 1.076, Antenne Bayern auf 1.403 und RSH auf 1.412. Merksatz Der duale Hörfunk begann in Schleswig-Holstein und Hamburg 1986, in München 1988, in NRW 1990 und in Sachsen 1992. Die Zulassung neuer Sender war von der Technik und den Frequenzen abhängig, von den Ländern und von der Politik und fand deshalb zu unterschiedlichen Zeitpunkten statt. Nicht nur das private Angebot stieg quantitativ, auch die öffentlich-rechtlichen Sender erhöhten die Zahl der Programme und strukturierten sich neu. Das duale System brachte vor allem die Zunahme von »Begleitprogramm«-Formen mit AC-Charakter. Die neuen Privatradios trafen auf inzwischen rund zehn Jahre erfolgreiche öffentlich-rechtliche Popwellen. Und die Folgen waren etwa für NDR 2 desaströs: Bereits 1993 hatte das private Radio Hamburg (in Hamburg) eine größere Reichweite als die NDR-Leitwelle. Diese Erfolge des Privatfunks führten innerhalb des ARD-Hörfunks rasch zu Programmreformen und Neupositionierungen. Man verschob zunächst die Inhalte und die Wortsendungen. Der NDR, der als erster öffentlich-rechtlicher Sender landesweiter privater Konkurrenz ausgesetzt war, machte NDR 2 stärker zum überwiegend popmusikbetonten Fließprogramm, führte ein Wortlimit ein und verbannte große Wortelemente auf andere Wellen. Anfang der 1990er-Jahre war »Durchhörbarkeit« das Zauberwort für Programmreformen; das Gesamtprogramm erhielt Priorität gegenüber der einzelnen Sendung. $nnb¼O|~±bO|¼O|bbÁ´¼b±Át Es blieb nicht bei den eher feinjustierenden Reaktionen des öffentlichrechtlichen Hörfunks auf die neue Konkurrenz; binnen weniger Jahre wurden in den ARD-Sendern die Organisationsstrukturen und die Programme vollständig umgebaut und ausgeweitet. Beim NDR wurde das Hörfunkangebot 1989 »rundum erneuert und erweitert« (NDR Magazin 3/89, 17). Es war nun erstmals prinzipiell musikalisch geordnet: NDR 2 KRUG, Radio ISBN 978-3-8252-3333-4 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 pÎ *8Y(±o stand für Rock und Pop, NDR 3 für Klassik und das 1989 neu gegründete NDR 4 stand – ganz traditionell als »Kästchenradio« oder Einschaltprogramm eingerichtet – fürs Wort. Jede Welle erhielt ihre eigene Programmgruppe, »ihre programm- bzw. kanalbezogene Organisationseinheit«, die für »das Gesicht, den Charakter einer ganzen Welle« (NDR Magazin 1/89, 13) zuständig war. Etablierte Wortsendungen wie das Echo des Tages wurden auf NDR 4 verschoben und damit fast in die Hörerfreiheit. 1995 wurde ein Prozent der Hörer erreicht. Die traditionelle Politikberichterstattung war vom Publikum abgekoppelt. Die Konkurrenz zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern konzentrierte sich zunächst auf die werbenden Begleitwellen und ihre Musikfarben – NDR 2 gegen ffn, Radio Hamburg oder RSH, hr3 gegen FFH oder Bayern 3 gegen Antenne Bayern. Doch da die alte Frequenzknappheit beseitigt war, versuchte man parallel, auch durch die Ausweitung und Spezialisierung der Angebote Hörer zu gewinnen. Bereits 1986 wurde mit Radio Bremen 4 ein erstes Jugendradio für die 14-bis 30-Jährigen gestartet – als Versuchsballon. Die Sendungen kamen von Anfang an aus dem – lange Jahre verpönten – Selbstfahrerstudio, für die Playlists wurden erste Computer eingesetzt, aber vom »Formatradio« wurde noch nicht gesprochen. Das Konzept wurde erst durch das Handbuch »RadioManagement« populär, das der ehemalige AFN-Redakteur und damalige Antenne-Bayern-Chef Mike Haas mit Uwe Frigge und Gert Zimmer 1991 vorlegte. Zugleich stieg die Nachfrage nach einer neuen, sehr diskreten Tätigkeit: der Radioberatung (Schramm 2009, 103). Merksatz Seit Mitte der 1980er-Jahre wurden Computer im Hörfunk eingesetzt, Anfang der 1990er-Jahre begann die langsame Digitalisierung, und zwar bei den neuen, formatierten Jugendwellen. Außerhalb der traditionellen Funkhäuser wurden hier reine Wellenredaktionen etabliert, wellen- und zielgruppenspezifisches Arbeiten trainiert und erste Ansätze bimedialer Hörfunkarbeit erprobt. ÁtbYÈbb Die Digitalisierung und Formatierung des öffentlich-rechtlichen Radios begann mit den neu gegründeten Jugendwellen: N-Joy-Radio (1994) arbeitete erstmals in Deutschland mit digitalisierten Rechnersystemen und automatischer Senderabwicklung, hohem Musik- und geringem KRUG, Radio ISBN 978-3-8252-3333-4 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 ½ ±8¼b p Wortanteil. Das jährlich etwa fünf Millionen D-Mark teure Jugendradio galt informierten Beobachtern als »lupenreine« Umsetzung der Haas’schen Vorstellungen vom modernen Privatradio; Eins Live (1995) war digitalisiert und wurde – erstmals im WDR – von einer Wellenredaktion produziert; vollständig digitalisiert war die neue Jugendwelle hr XXL (1998) – alle Schallereignisse außer den Moderationen kamen aus dem Computer. Die neuen Jugendwellen verließen technisch und organisatorisch die alten analogen Organisationsformen und veränderten durch die digitalen Techniken Sound, Geschwindigkeit und Format des Radios. Mancher sprach deshalb von einer Revolution des Radiomachens, mancher von der »Konvergenz« der Systeme (Merten 1995). Erstmals wurden bei Eins Live bimediale Arbeitsweisen erprobt: man sendete die Talksendung Domian in Radio und Fernsehen. t¼8´b±Át Zunächst waren die Digitalisierungen Insellösungen, 1999 digitalisierte der Hessische Rundfunk seine acht Hörfunkwellen und die anderen Anstalten folgten. Die neue Technik veränderte und automatisierte fortan die Arbeitsprozesse, alte Arbeitsteilungen zwischen Redaktion und Technik wurden aufgehoben: Der Hörfunkjournalist der 1990er-Jahre musste Stimme, Recherche, Schnitt und Technik verbinden und zudem wellenspezifisch arbeiten können. Die private Konkurrenz und die technischen Neuentwicklungen der Redaktionssoftware führten zu umfangreichen Neustrukturierungen der öffentlich-rechtlichen Programme und der Radioarbeit, Programmreform folgte auf Programmreform. Bis in die 1990er-Jahre hatten Fachredaktionen sämtliche Wellen beliefert; die Kultur etwa NDR 1, NDR 2 und NDR 3; da die Programmideale und die Terminologien von Fachredaktionen wie »Zeitfunk« oder »Kultur« aber differierten, gelangte sehr Unterschiedliches in die Programme. Die Fachredaktionen (und das bisherige Integrationsmodell) wurden deshalb mit der fortschreitenden Formatierung nach und nach aufgelöst und in Wellenredaktionen überführt, die die Einheitlichkeit, Durchhörbarkeit, Zielgruppenorientierung und das Profil des Programms gewährleisten sollten. Die verschiedenen Wellen wurden nun – als Unternehmensziel – deutlich gegeneinander positioniert, jedes Programm sollte Tag für Tag wie ein jederzeit leicht zu identifizierendes Ganzes wirken. Die Nachrichten oder die Korrespondentenberichte wurden den Anforderungen der jeweiligen Welle angepasst. KRUG, Radio ISBN 978-3-8252-3333-4 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 pÀ *8Y(±o An der Spitze jeder Welle stand seit den 1990er-Jahren ein Wellenchef, der nur dem für alle Wellen verantwortlichen Hörfunkdirektor und dem Intendanten untergeordnet war. Auch bei der Etablierung des Wellenkonzepts variierte die Umsetzung. 1995 installierte der WDR seine erste Wellenredaktion bei Eins Live, peu à peu wurden auch die anderen Programme umgebaut; der Saarländische Rundfunk begann 1998. Über diese Umbauprozesse und die Folgen für den Hörfunkjournalismus und die Programme weiß man nur wenig. Sicher scheint, dass die Reformen keiner einheitlichen Radioidee folgten, sondern schwer zu rekonstruierenden Organisationsprozessen, Macht- und Konkurrenzlagen. Á´ 8´O|tb±Yb¼b7bt±Áb±t±8b Anfang des 21. Jahrhunderts war das Radio weiterhin ein UKW- und ein Regionalmedium, doch innerhalb aller ARD-Radios hatten sich ähnliche Strukturen und Formate herausgebildet: Die Programme waren gegeneinander profiliert, nach Musikfarben und Zielgruppen geordnet, digital produziert, formatiert und – in der Regel bis auf die Abendstunden – auf Durchhörbarkeit, Verlässlichkeit und »Nebenbeihören« programmiert. Für den Zusammenhalt der Senderangebote waren nun die Öffentlichkeitsarbeit, das Corporate Design und die Off-Air-Präsentation, kurz: das Marketing, zuständig. 2006 hatten ARD-Sender zwischen vier und acht unterschiedliche, weitgehend formatierte und auch auf die private Konkurrenz reagierende terrestrische Wellen. Der NDR hatte folgende – etwa vom WDR- oder SWR-Hörfunkangebot abweichende – Differenzierung: – NDR 1 Welle-Nord (Landesprogramm (LP) Schleswig-Holstein). Musikfarbe (MF): Schlager. Zielgruppe (Z): 50+. Musikanteil (M): 68,2 %. Wortanteil (W): 31,8 %. Hörer: 685.000 (Tagesreichweite bundesweit). – NDR 1 Radio-MV (LP Mecklenburg-Vorpommern). MF: melodiös/ Schlager. Z: 50+. M: 64,3 %. W: 35,7 %. Hörer: 509.000. – NDR 1 Niedersachsen Welle (LP Niedersachsen). MF: Schlager. Z: 50+. M: 64,9 %. W: 35,1 %. Hörer: 2,58 Millionen. – NDR 90,3 (LP/Stadtsender Hamburg). MF: Schlager. Zielgruppe: 50+. M: 69,4 %. W: 30,6 %. Hörer: 402.000. – NDR 2 (Popwelle). MF: Pop. Z: 30 bis 49. M: 76,0 %. W: 22,7 %. Werbung: 1,3 %. Hörer: 1,89 Millionen. – NDR Kultur (Klassik- und Kulturwelle). MF: Klassik. Z: 30 bis 49. M: 73,5 %. W: 26,5 %. Hörer: 280.000. KRUG, Radio ISBN 978-3-8252-3333-4 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 ½ ±8¼b p½ – NDR Info (Informationswelle). Z: 30 bis 49/50+. M: 26,2 %. W: 73,8 %. Hörer: 381.000. – NDR N-Joy (Jugendwelle). MF: Rap, Hip-Hop, Rock, Dance. Z: 14 bis 19. M: 82,4 %. W: 17,6 %. Hörer: 879.000. Merksatz Während der alte Hörfunk, das sogenannte Dampfradio, Wort und Musik, Politik und Unterhaltung auf einer Welle bündelte, löste der Siegeszug des Formatradios diese Verbindungen endgültig auf. Formatradio ist eine Form serieller Organisation im Radio, die alle Programmbereiche den Formatvorgaben unterwirft. Damit wurde aber auch die Art und Weise standardisiert, wie Politik und Sport, Kultur und Werbung, Religion und Nachrichten berücksichtigt werden. Die Radioforschung hat sich bisher der Analyse dieses (inhaltlichen) »Begleitsounds« entzogen. Radio wurde schon immer »programmiert«, ob es sich nun um das traditionelle »Kästchenradio« oder das »Magazinradio« handelte. Die konsequenteste Form der Programmierung ist bisher das – weitgehend aus Amerika importierte – Konzept des Formatradios. Es orientierte sich an einer – fiktiven – Zielgruppe, der Durchhörbarkeit, dem Nebenbeihören, dem Tagesrhythmus, der Stundenuhr und den demoskopisch ermittelten Hörererwartungen. Das Formatradio wird vor allem durch die Stundenuhr geprägt, die Tag für Tag und Stunde für Stunde vorgibt, was für eine Musik gespielt werden soll, welcher Programmbereich an der Reihe ist und welches Thema in wenigen Minuten angerissen werden kann. b¼8 ¼b¼b*8Y8tbF¼b »Die eigentliche Botschaft der Massenmedien lautet: Die Ereignisse wechseln, der Senderahmen bleibt konstant« (Bolz 2007, 59). Jeder Tag und jede Stunde haben ihre spezifische, quasi serielle Struktur, für die sich im öffentlich-rechtlichen Bereich etwa der Terminus Verlässlichkeit etabliert hat. Formatradios haben also eine feste formale Struktur, die sich Tag für Tag wiederholt – nur das Wochenende, gelegentlich auch der Abend, folgen anderen Rhythmen. 1999 sahen solche Tagesstrukturen etwa so aus: KRUG, Radio ISBN 978-3-8252-3333-4 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 ps *8Y(±o NDR 2 05:30: Frühkurier 09:00: Am Vormittag 12:00: Mittagskurier 13:00: Am Nachmittag 17:00: Abendkurier 18:00: Der Club 00:05: Nacht SWR 3 04:05: Up 06:05: Puls 09:05: Magma 12:05: Nun 14:05: Hithop 16:05: Hiline 19:05: Club 22:05: Intensiv 00:05: Luna FFN 05:05: Morningshow 09:05: Vormittag 13:05: Nachmittag 17:05: Feierabendshow 21:05: Am Abend 00:05: Nordnacht Die konzeptionellen und organisatorischen Absichten hinter diesen Programmstrukturen, die demoskopischen und medienwissenschaftlichen Hintergründe, sind weitgehend internes Senderwissen; über die relativ junge Beteiligung externer Radioberater, »ohne die kein erfolgreiches Radioprogramm mehr operiert« (Hagen 2005, 358), weiß man fast nichts – aber ihr Arbeitsspektrum ist breit. Einer beriet 1994 etwa »diverse« private Sender, »Alsterradio, Radio Brocken, RPR II, Radio NRW, Radio F, Charivari, Radio RT.1, Antenne 1. Es gibt so viele, dass es mir schwer fällt, sie alle aufzuzählen« (Radio-Journal 6/1994). Öffentlichrechtliches und privates Radio haben für ihre gerade im Popbereich sehr ähnlichen Programmierungen unterschiedliche Terminologien gefunden. Der Tag wird im Formatradio in verschiedene Phasen aufgeteilt, die sich an den – demoskopisch ermittelten – Lebensumständen der Hörer orientieren sollen. Morgens sind Musik und Moderation also rhythmischer und aggressiver, nachmittags melodischer und entspannter, morgens sind (obwohl zwischen »Tagesschau« und Aufstehen in der Regel nur wenig Neues passiert) die Nachrichten häufiger als am Nachmittag oder gar am Abend, und die Zeitansagen sind zur Aufstehzeit präsenter. Der Sound des Formatradios ist am Morgen also ein anderer als am Nachmittag oder am Abend und selbst die Themen dürften sich – in internen »Stylebooks« festgelegt – nach den »Bedürfnissen« der Hörer richten: um wie viel Uhr wird Comedy gesendet, wann spricht der Moderator, wann ist ein politischer Beitrag dran und wann ein kultureller (oder auch nicht). Zugleich sollte eine Station nach zwei Titeln erkennbar sein (Krug 2002, 125). +¼ÁYbÁ|± Doch das war noch nicht alles. Im modernen Formatradio ist – anders als etwa in den Magazinen – auch jede Stunde bis auf die Minute, ja Sekunde KRUG, Radio ISBN 978-3-8252-3333-4 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 ½ ±8¼b pp genau getaktet. Alle Elemente sind in der Stundenuhr festgehalten und festgelegt: die Länge der Nachrichten und ihre Schwerpunkte, das Musikbett beim Wetter und beim Verkehrsbericht, die akustischen Zeichen zwischen einzelnen Nachrichten, der Zeitpunkt der Werbung, die Länge der Moderationen, die Dauer jeder Musik und ihre »Anmutung«, die »Verpackung«, also der Zeitpunkt und die Häufigkeit der Jingles und Claims (Senderkennungen) und ihre jeweilige Form. Die moderne Radiosoftware bietet die Möglichkeit, diese Prozesse präzise und vorausschauend zu planen. So lassen sich nicht nur zu häufige Wiederholungen von Musiktiteln oder Wortbeiträgen durch Programmierung vermeiden. »In kleineren Sendern ist es durchaus möglich, dass ein Mitarbeiter mit seinem Computer das gesamte 24-Stunden-Programm im Fließbandverfahren produziert. Wer seine Ausgaben im musikredaktionellen Bereich noch mehr reduzieren will, kann sein komplettes Programm als CD-Stapel von einem Radioconsultant erwerben. Es gibt sogar schon Sender, die auf eine eigenständige Musikredaktion vollständig verzichten« (Münch 1995, 175). +ÁY±Ob´´t Nichts wird im modernen Radio dem Zufall überlassen; und vor allem wird alles akustisch gesteuert: Nicht mehr das Wort oder die Musik machen eine Formatwelle aus, sondern der Sound oder das Klangbild. »Das Klangbild ist abhängig von der Abfolge und Verdichtung der im Hörfunk akustisch wahrnehmbaren Klangelemente« (Drengberg 1993, 189). Vor allem zwei Begriffe sind für dieses moderne Klangmanagement relevant geworden: Soundprocessing, der technische Ausgleich dynamischer Unterschiede zwischen Musik und Wort durch einen Prozessor, sowie Pitching, die Veränderung der Geschwindigkeit – und damit der Wirkung – einzelner Titel um ein bis zwei Prozent. Weder die Mediennoch die Kommunikationswissenschaft haben bisher Untersuchungen zum formatierten Radioklang vorgelegt, zum Radioklang etwa der Berliner Republik. Empirisch freilich dürfte dies vor allem ein Sound aus der Kombination von Top 40 und AC, CHR, Schlager sowie Klassik sein. 8O|±O|¼bn±8¼bV,~sÎ~n±8¼b Auch das Inforadio kam aus den USA und existierte dort als »All-news radio« in fast jeder Großstadt. 1991 adaptierte der Bayerische Rundfunk das Konzept und gründete die Infowelle B5 aktuell. Die Welle war nach KRUG, Radio ISBN 978-3-8252-3333-4 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 p¸ *8Y(±o einer Stundenuhr strukturiert. Jeder Werktag hatte die gleiche Struktur, jede Stunde war im 15-Minuten-Takt gegliedert. Immer auf 00, 15, 30 und 45 gab es Nachrichten mit oder ohne Originalton und jede Ausgabe begann mit den Topnews – ein neuer Informationstypus entstand, der durch Fakten, Fakten, Fakten und hohe Redundanz geprägt war. Nicht zufällig gelten die großen Krisensituationen als die Sternstunden der Inforadios (Krug 2002). Merksatz Anfang der 1990er-Jahre wurde in Deutschland damit begonnen, eigenständige und anspruchsvolle Formatradios mit dem Schwerpunkt Wort zu etablieren. Nicht mehr die Musik, sondern ausschließlich Politik, Information, Kultur, Sport und Werbung wurden seriell organisiert. Nach den Nachrichten folgten Hintergrundberichte und Spezialangebote (Kultur, Sport). Wetter, Verkehr, Senderkennung und Werbung waren nach einem festen Rhythmus eingebaut. B5 aktuell war ein Bruch mit traditioneller Radioarbeit: Die Welle wurde von der BR-Nachrichtenredaktion vollständig abgekoppelt, das Inforadio erforderte eigene Arbeitsstrukturen zwischen Moderatoren, Nachrichtenredakteuren, Studioredakteuren und dem Chef vom Dienst. Und auch die Absicht war neu: Diese Welle richtete sich nicht mehr an den dauerhörenden Nebenbeihörer, sondern an den zappenden, bewusst einschaltenden Zuhörer. Das Wortformat »Inforadio« wurde regional sehr unterschiedlich umgesetzt. In Berlin setzte Inforadio auf einen 20-Minuten-Rhythmus, NDR Info beschränkte sich auf die Zeit von 6 bis 19 Uhr und unterbrach das Format mittags durch das traditionelle Mittagsecho. So wie die musikalischen Formate unterscheiden sich auch Infoformate durch Rhythmus, Themen und Themenspektrum, Nachrichten, Moderation und ihren spezifischen Sound. Die Formatstruktur gilt im Wesentlichen nur innerhalb der Woche, am Wochenende dominieren – ganz älteres Radio – die Wortmagazine mit dem Hintergrundwissen. 2005 etablierte Deutschlandradio Kultur mit dem insgesamt sechsstündigen Radiofeuilleton erstmals auch Kultur im Wortformat. KRUG, Radio ISBN 978-3-8252-3333-4 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 ½ ±8¼b p· 2Yb±3bb±b¼b±ÁtÍÁ±b|±bY8¼<¼ Mit den Inforadios wurden erstmals eigenständige Reporterpools mit dem Auftrag aufgebaut, zu recherchieren und Themen zu finden. Inzwischen deutet sich eine weitere, technisch-organisatorisch verursachte Veränderung an: Die neu gebauten, digitalisierten Funkhäuser in Saarbrücken und Bremen bündeln in ihren nach 2006 eingerichteten Newsrooms Audio, TV und Internet. Wellenspezifisches Arbeiten wird hier – zunehmend – durch trimediales Arbeiten (wieder in Fachredaktionen) und ein herausgehobenes Themenmanagement ersetzt. Groß angelegte Themenangebote der ARD wie der Schwerpunkt Mehr Zeit zum Leben – Chancen einer alternden Gesellschaft (2008) sind hier Vorboten. Sie dauerten 2008 287 Radiostunden und 340 Fernsehstunden. Merksatz Radioprogramme haben ihre jeweils spezifische Programmierung oder Formatierung. Sie orientieren sich am Nebenbeihörer; Morgenprogramm und Abendprogramm etwa unterscheiden sich vielfältig. Dieser Programmcharakter ist mit den On-Demand-Angeboten im Internet aufgelöst: hier zählt nur noch der einzelne Beitrag. Die Musik hat – schon aus Rechts- und Kostengründen – hier keine Bedeutung mehr. Die letzte Form des UKW-Radios ist das Formatradio, aus den frühen Warenhäusern, Gemischtwarenläden und Fachgeschäften sind Discounter mit beschränkter, aber standardisierter Produktpalette geworden. Ob (oder wann) sich in Deutschland ein digitales Radio etablieren kann ist offen, welche Formate die dann wohl nicht mehr regional beschränkten Formen DAB oder Digital Radio Mondiale (DRM) entwickeln könnten ebenso. Die Digitalisierung der Medien wirkt hier in zwei Richtungen: 1. Die trimedialen Newsrooms ändern das Verhältnis zwischen den Wellen; sie werden nicht mehr konkurrieren, sondern kooperieren und TV und Internet mit abdecken müssen. Welch ein radikaler Wechsel hier stattfindet, wird deutlich, wenn man sich daran erinnert, dass sich das Begleitradio gegen das Fernsehen erfand. 2. Das Internet bietet inzwischen mit Audio-on-Demand eine neue Form des Radiokonsums an. Sie ist den formatierten Strukturen entwachsen und jederzeit möglich. Das Internet erfordert also etwas, was aktuell im Radio vor allem in Häppchen angeboten wird: Inhalt oder neudeutsch: Content. KRUG, Radio ISBN 978-3-8252-3333-4 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 KRUG, Radio ISBN 978-3-8252-3333-4 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 s 8O|±O|¼b Der Hörfunk verband seit den Anfängen sehr heterogene, eigenen Logiken verpflichtete Programmbereiche: Unterhaltung, Musik, Politik, Nachrichten, Kultur und Werbung. Diese Bereiche wurden durch Programmstrukturen mehr oder weniger fest miteinander verbunden und dienten einem Zweck: der »ständigen« akustischen »Erzeugung und Bearbeitung von Irritation« (Luhmann 1996, 174). Zum wichtigsten, allgegenwärtigen und das gesamte Programm strukturierenden Programmbereich entwickelten sich die Nachrichten. »Nachrichten berichten nicht was geschieht, sondern was andere für wichtig halten« (Bolz 1999, 21), und da es immer mehr Nachrichten als Sendezeit gab, mussten sie stets ausgewählt, selektiert und geordnet werden. Die ersten Hörfunknachrichten waren vor allem verlesene Zeitungsnachrichten. Ihre Aktualität war gering. Seit 1926 wurden die Nachrichten von der Drahtloser Dienst AG (Dradag) zentral geliefert. Sie war zu strikter politischer Neutralität verpflichtet. Die regionalen Gesellschaften waren auf der Nachrichtenebene also nationalisiert; interessanterweise hatte die Dradag keine eigenen Korrespondenten, sondern nutzte traditionelle Agenturen und schrieb deren Meldungen zu Hörfunkmeldungen um. Hörfunkgemäß hieß etwa: »Die Hörerschaft setzt sich zusammen aus allen Stämmen, Konfessionen, Ständen, Parteien und Bildungsschichten. Das Urteil über die Fassungskraft des Hörers hat sich zu richten nach den naivsten Hörern!« (Leonhard 1997, 428). Nachrichten waren anfangs selten und nur eingeschränkt politisch ausgerichtet; es waren vor allem Wirtschaftsnachrichten. Die Kölner Werag hatte täglich drei Nachrichtentermine: vormittags zwischen 10 und 11 Uhr, mittags gegen 13 Uhr und abends nach dem Abendprogramm. 1930 kam für die »werktätige Hörerschaft« ein vierter Nachrichtentermin um 21 Uhr hinzu – die Nachrichten, Meldungen und Bekanntmachungen galten grundsätzlich als staatsnah. Auch nach 1933 kamen die Nachrichten zentral von der Dradag, die nun dem Propagandaministerium angegliedert war. Mit Kriegsbeginn stieg die Zahl der Sendungen auf sieben; KRUG, Radio ISBN 978-3-8252-3333-4 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 ¸Î *8Y(±o 1938 gab es erstmals auch zehnminütige Angebote. Eine besondere Form der Nachricht waren nach 1940 die militärischen Meldungen, dann die Sonder- und Warnmeldungen etwa vor Luftangriffen. Nach 1945 wurden die Nachrichten regional produziert. Beim alliierten Radio Hamburg und dann beim NWDR war »News« der am schärfsten kontrollierte Programmbereich; Nachrichten waren das »journalistische Kardinalkriterium der ›Re-education‹« (Köhler 1991, 129) und machten beim NWDR etwa neun Prozent des Programms aus. Die alten Sprecherstimmen und Sprechstile blieben weitgehend erhalten – im Nachrichtensound gab es also Kontinuität. Nachrichten bringen nicht nur das Neue und Unbekannte, sondern sie irritieren auch; sie setzen – so Niklas Luhmann – »Individuen als kognitiv interessierte Beobachter voraus, die nur zur Kenntnis nehmen, was ihnen vorgeführt wird«. Nur »sozial zugewiesene Prominenz« handelt in den Nachrichten, dem Hörer wird seine passive Rolle bestätigt (Luhmann 1996, 131). 1953 gab es im Saarländischen Rundfunk neun tägliche Nachrichtensendungen, beim Süddeutschen Rundfunk wurden Nachrichten noch zu ungeraden Sendezeiten, etwa um 5:20 Uhr oder 12:45 Uhr gesendet und mancherorts dauerten die Nachrichten 10 oder sogar 15 Minuten. Dennoch wurden die Nachrichtenblöcke beliebter: Mitte der 1950er-Jahre hörten im Bundesdurchschnitt 55 bis 60 Prozent regelmäßig Nachrichten, vier Jahrzehnte später sollten es nur noch 50 Prozent sein. Konrad Dussel sieht die »demokratiepraktischen Verdienste des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in seiner ersten Phase hauptsächlich in einer umfangreichen, weitgehend unverzerrten Nachrichtenproduktion« (Dussel 2004, 213). 8O|±O|¼b8´bÁt b¼ÁY(±t±8±8´¼b± 1960 konnte der WDR zu jeder Stunde Nachrichten anbieten – aber noch nicht auf jeder Welle. Zur gleichen Zeit erhöhte der Hessische Rundfunk die Dauer der Nachrichten in seinem ersten Programm von 105 Minuten (1961) auf 120 Minuten (1967) täglich. 41 Jahre nach dem Start des Hörfunks etablierte der Saarländische Rundfunk 1964 erstmals Nachrichten zu jeder Stunde, und zwar auf seiner Werbung sendenden, musikorientierten Europawelle; 1966 folgten NDR 2 und andere ARD-Sender. Aber es dauerte Jahre, bis sich diese stündliche Form breit durchgesetzt hatte und vermutlich brachten erst die Formatradios und ihre Philosophie des Nebenbeihörens den endgültigen Durchbruch. KRUG, Radio ISBN 978-3-8252-3333-4 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 s 8O|±O|¼b ¸ Merksatz Die größte Veränderung bei den Nachrichten fand in den 1960erJahren statt: stündlich wurden nun die aktuellen Nachrichten vermittelt. Damit war nicht nur eine neue Verlässlichkeit implementiert; alle weiteren Radioproduktionen hatten den neuen 60-Minuten-Radio-Rhythmus zu berücksichtigen. Die Stundennachrichten waren nicht mehr nur Information, sie prägten nun auch die Programmstruktur; die Neuigkeiten hatten regelmäßige Plätze, Irritation war ein serielles Ereignis im Radio. Und diese zweite Funktion änderte auch den Charakter der Nachrichten: Die Nachrichtenblöcke wurden auf Dauer kürzer und stärker auf die Topnews beschränkt, Wetter und Verkehr, Service also, kamen dazu bzw. danach. Dann wurde auch akustisch modernisiert. 1970 übernahm der Saarländische Rundfunk eine amerikanische Praxis und erweiterte seine nur gelesenen, »klassischen Nachrichten« durch sogenannte Originalton- oder O-Ton-Nachrichten. Es verlas nun kein Chef- oder Nachrichtensprecher mehr das Neueste, sondern Originaltöne wurden zunächst angehängt und dann eingebaut. Ein O-Ton war alles, was nicht im Nachrichtentext stand. Was in Saarbrücken als Nachricht »neuen Stils«, gar als »Revolution« verstanden wurde, wurde innerhalb der ARD konsequent abgelehnt – denn mit den O-Tönen drang die Subjektivität des Sprechenden in den um Objektivität und Neutralität bemühten Nachrichtenstil. Erst die Privatradios popularisierten nach 1986 diesen Sendungstyp und nutzen ihn durchweg. Öffentlich-rechtliche Wellen übernahmen die neue Form langsam und gezielt. Heute werden – je nach Welle, Format und Tageszeit – Nachrichten mit und auch ohne O-Töne ausgestrahlt. Nachrichten gelten einerseits als eine journalistische Grundform im Radio, andererseits ist der Anteil der »selbst erarbeiten Fakten und Daten« seit den Anfängen eher gering. Der Hörfunk konzentrierte sich auf die Verbreitung, Zeitungen und Radio recherchieren und positionieren – wie Hans Mathias Kepplinger (1985) zeigte – durchaus unterschiedlich. Die Menge der zu verarbeitenden Nachrichten und Daten wuchs dabei in den letzten Jahrzehnten enorm: Die Deutsche Presseagentur (dpa) lieferte 1963 in ihrem Basisdienst etwa 150 Meldungen, 1993 waren es 400. Die Nachrichtenzentralredaktion des SWF-Hörfunks erhielt 1993 über 2.000 Meldungen pro Tag. KRUG, Radio ISBN 978-3-8252-3333-4 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 ¸À *8Y(±o 8O|±O|¼b´Y¼±8Y¼bb±Èb´b(¼ 8O|±O|¼b Nachrichten vermittelten in Deutschland traditionellerweise das Politische im engeren Sinne. Sie wurden – akustisch – in einem spezifischen, fast hoheitlichen Sicherheitston von Männern gelesen und sollten objektiv und wahr sein sowie das Wesentliche berücksichtigen. Dass die »Regierenden« bevorzugt zu Wort kommen, liegt etwa für Bernd-Peter Arnold, den langjährigen Nachrichtenchef des Hessischen Rundfunks, in der »Natur der Sache. Eine Partei, die die Regierung stellt, hat nun einmal mehr Gelegenheiten, ›politisch Relevantes‹ zu äußern. Sie hat vor allem Möglichkeiten, ›Fakten‹ zu schaffen, an denen der Nachrichtenjournalist nicht vorbeikommt« (Arnold 1981, 57). Seit die Nachrichten in den 1970er-Jahren ein Strukturelement der neuen Service- und Popwellen wurden, veränderte sich ihr Charakter wellenspezifisch immer wieder. Die Servicewellen erforderten hörerbezogene Informationen, die Jugendwellen knappste Daten, die Lokal- und Landeswellen bevorzugten das Lokale, die Inforadios das eigentlich Politische und einige Wellen ersetzten die Nachrichten durch »News«. Radionachrichten vermitteln also spätestens seit den 1970er-Jahren nicht mehr »die Wahrheit«, sondern sie vermitteln zielgruppenspezifisch selektierte und nach dramaturgischen Gesichtspunkten geordnete Informationen. Es entwickelte sich, so eine empirische Analyse 2005, »eine deutliche Korrelation zwischen Anmutung und Zielgruppe eines Senders sowie seiner Nachrichtengebung« (Volpers 2005, 122). Seit den 1970er-Jahren gab es immer wieder Debatten um die Verständlichkeit von Nachrichten (Horsch 1994). Sie führten zu vielfältigen und stillen Neujustierungen in Stil, Struktur, Tempo, Musikbett und Timbre der Blöcke, ohne die zentrale Funktion von Nachrichten zu verändern: die permanente (und professionelle) Erzeugung von Irritationen. 1998 ersetzte der Saarländische Rundfunk die traditionellen Nachrichtensprecher durch die verantwortlichen Nachrichtenredakteure, andere Sender folgten. Spätestens um die Jahrtausendwende waren Nachrichtenblöcke Kombinationen aus Nettonachrichten und anderen Bestandteilen wie Jingle, Begrüßung, Teaser, Name des Nachrichtensprechers (Bruttonachrichten). Sie lagen (2005) in Norddeutschland zwischen 9,3 (NDR 90,3) und 26,7 Prozent (Ostseewelle). KRUG, Radio ISBN 978-3-8252-3333-4 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 s 8O|±O|¼b ¸½ Merksatz Nachrichtensendung ist nicht gleich Nachrichtensendung. »Die Nachrichten« folgen nicht nur spezifischen, professionalisierten Nachrichtenwerten; sie unterliegen auch den Formatvorgaben der Wellen und haben sich – je nach Welle – insgesamt vom traditionell Politischen entfernt. Auch die Vorstellungen darüber, was mitteilungswert sei, änderten sich im Verlauf der Jahre. Neben die Berichte über Kanzler, Minister und Parteien trat auch – je nach Welle – Regionales, Lokales, Boulevardeskes und Spektakuläres. Die (empirische) Lage ist auch hier unübersichtlich. 2005 entfielen in norddeutschen Vollprogrammnachrichten 51 Prozent auf politische Sachthemen, 22 Prozent auf Human Touch, 16 Prozent auf gesellschaftliche Sachthemen und 9,5 Prozent auf Sport. Doch zwischen den Wellen haben sich erhebliche Differenzierungen herausgebildet. Das Inforadio B5 aktuell etwa sendet täglich knapp 100 Nachrichtenausgaben, 4 pro Stunde. Einige Privatradios verzichten inzwischen auf eigene Nachrichten: RSH, das 1986 als Marketinggag und Alleinstellungsmerkmal gegen den NDR die Nachrichten »fünf vor« einführte, besitzt keine Nachrichtenredaktion mehr, sondern kauft sie bei einem Hörfunkdienstleister für Nachrichten; Lokalradios wie Antenne Unna oder Radio Bonn erhalten ihre Nachrichten vom Mantelprogrammanbieter Radio NRW. Bei einigen Jugendwellen und Privatsendern haben »Hörfunknachrichten immer mehr die Bedeutung von Teasern« (Bauer 2004, 10); ihnen bieten, so könnte man paraphrasieren, »anhaltende Traditionen der Radiogeschichte« nur noch »die Hülle« (Hagen 2005, 379). KRUG, Radio ISBN 978-3-8252-3333-4 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010