Bundesstaatlichkeit und Neugliederung des Bundesgebiets

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Bundesstaatlichkeit und Neugliederung des Bundesgebiets
Akademie für Raumforschung und Landesplanung
Tagung Neugliederung des Bundesgebietes –
oder Kooperation der Bundesländer?
29. September 2011 in Berlin
Prof. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier
Bundesstaatlichkeit und Neugliederung des Bundesgebiets
1.
Die föderale Ordnung, die seit den Zeiten des Heiligen Römischen Reichs
Deutscher Nation zum historischen Erbe Deutschlands gehört, hat sich spätestens mit der Wiedervereinigung zur größten Baustelle der deutschen Staatlichkeit entwickelt.
2.
Das Prinzip der Bundesstaatlichkeit und seine konkrete Ausformung in
Deutschland werden nur dann überlebens- und zukunftsfähig sein, wenn sie
sich immer wieder neu legitimieren und der Bevölkerung begreiflich gemacht
werden können.
3.
Wirkliche Eigenstaatlichkeit, die die Länder nach wie vor für sich beanspruchen, und zwar nach der grundgesetzlichen Ordnung zu Recht, setzt unter
den heutigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen ein Handlungspotenzial voraus, über das viele Bundesländer nicht oder jedenfalls nicht
in hinreichendem Maße verfügen.
4.
Das Thema „Länderneugliederung“ betrifft gewissermaßen querschnittsartig
alle Problembereiche der föderalen Ordnung. Die Neugliederung des Bundesgebiets, an deren Ende eine deutlich kleinere Zahl möglichst gleich großer und
gleich potenter, jedenfalls aber aus sich heraus lebensfähiger Bundesländer
steht, ist nicht nur Vorbedingung für eine Neuordnung der Finanzverfassung,
sondern im Grunde auch Vorbedingung für alle anderen substanziellen Reformschritte. Die Rückübertragung von Aufgaben und Kompetenzen auf die
Länder, insbesondere zur Gesetzgebung, einschließlich derjenigen über die
Steuern, die Stärkung des Subsidiaritätsprinzips und generell des Parlamentarismus auf der Länderebene, die bereits vorangebrachte Entflechtung der
Gemeinschaftsaufgaben und Beseitigung der Mischfinanzierungen, all dies
macht nur Sinn, wenn die Bundesländer auch in der Lage sind, die wiedergewonnen Handlungsspielräume kraftvoll und im Sinne einer wirklich eigenständigen gestalterischen Politik zu nutzen.
5.
Ein erster Schritt wäre die Änderung des Art. 29 des Grundgesetzes selbst,
der das Verfahren einer Neugliederung des Bundesgebiets wenig praktikabel,
ja im Grunde eher hinderlich ausgestaltet.
6.
Im Grundgesetz ist die Neugliederung des Bundesgebietes von Anfang an
vorgesehen gewesen. Aber der vorrangig maßgebliche Art. 29 hat verschiedene Stufen der Ausgestaltung erfahren und sich – vereinfacht ausgedrückt –
von einer verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur umfassenden Neugliederung des Bundesgebietes über eine bloße verfassungsrechtliche Ermächtigung zur Neugliederung von Bundesländern hin zu einer letztlichen Neugliederungs-Verhinderungsvorschrift entwickelt.
7.
Obgleich in der Bundesrepublik Deutschland auch die Bundesländer über eine
eigene Staatlichkeit verfügen, genießen sie kein uneingeschränktes Selbstbestimmungsrecht. Abgesehen von der Regelung im Art. 29 Abs. 8 GG ist
grundsätzlich der Bundesgesetzgeber in der Lage, bestehende Bundesländer
abzuschaffen, sie fusionieren oder ihre Gebietsstrukturen zu ändern. Wir haben also keinen „labilen“ Bundesstaat, sondern einen durchaus „festen“ Bundesstaat mit in ihrer Existenz und ihrem Gebietsstatus „labilen“ Bundesländern. Sogar der einfache Bundesgesetzgeber kann unter Beachtung der verfassungsrechtlichen „Richtbegriffe“ des Art. 29 Abs. 1 GG in den Bestand und
in die Gebietsstrukturen der vorhandenen Bundesländer eingreifen. Allerdings
sieht Art. 29 Abs. 2 und Abs. 3 GG ein Referendum in den beteiligten Ländern
vor; die Staatsvölker dort haben also ein Vetorecht.
8.
In der Bundesstaatlichkeit unter dem Grundgesetz verfügen auch die Bundesländer über eigene Staatlichkeit. Ihnen müssen Aufgaben in Gesetzgebung,
Verwaltung und Rechtsprechung verbleiben, die eine substanzielle Gestaltungsmacht, Eigenverantwortung und Eigenstaatlichkeit manifestieren. Es wäre daher zu erwägen, dass dann, wenn diese Voraussetzungen bei einigen
Bundesländern auf Grund ihrer Größe und Leistungsfähigkeit dauerhaft nicht
mehr erfüllt sind, aus der verfassungsrechtlichen Ermessensvorschrift des
Art. 29 Abs. 1 Satz 1 GG eine sich verdichtende Verfassungsverpflichtung zur
entsprechenden Neugliederung erwachsen kann.
9.
Auf der anderen Seite ist zu berücksichtigen, dass ein entsprechendes Neugliederungsgesetz des Bundes immer nur wirksam werden kann, wenn es
durch einen Volksentscheid in den betroffenen Ländern gebilligt wird. Daher
wäre auch bei Annahme einer denkbaren Reduktion des legislatorischen Ermessens auf Null das Votum nach wie vor richtig, dass es sich bei Art. 29 GG
jetziger Fassung im Grunde um eine Neugliederungs-Verhinderungsvorschrift
handelt.
10.
Will die Politik den Gedanken einer Neugliederung des Bundesgebietes überhaupt jemals aufgreifen, ist unter rechtlichen Aspekten eine Grundgesetzänderung unverzichtbar. Sie könnte in der „Rückumwandlung“ des Art. 29 GG in eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Neugliederung bestehen, unter
gleichzeitiger Normierung eines Referendumsvorbehalts zugunsten des Bundesvolkes.
11.
Sie könnte aber – und dies scheint sogar sinnvoller zu sein – so ausgestaltet
werden, dass das Grundgesetz selbst die Neugliederung regelt. Selbstverständlich sollte auch in einem solchen Fall in der fraglichen Grundgesetzvorschrift ein Referendum des Bundesvolkes vorgesehen werden.