unsichtbare gegner

Transcription

unsichtbare gegner
MACHTKAMPF IN SANAA
WIE ARCHAISCH IST DER JEMEN?
MÄRZ / APRIL 2013
DER PREIS DES ERFOLGS
WAS DIE TÜRKEI SICH LEISTET
SINDBAD VS. SIEGFRIED
WAGNER UND DIE ARABER
WWW.ZENITHONLINE.DE
Online Special
Die Wirtschaftsseiten
der neuen zenith
UNSICHTBARE
GEGNER
WARUM ES IN ÄGYPTEN IMMER WIEDER KNALLT
DEUTSCHLAND EURO 8,20 | ÖSTERREICH EURO 8,90 | BENELUX EURO 8,90 | SCHWEIZ SFR 13,50
ISSN 1439 9660
Iraq
Healthcare
Conference
2013
Lofoten (Norwegen)
IM URLAUB DEN BLICK SCHÄRFEN
in Begleitung von taz-KorrespondentInnen
taz Reisen mit Umwelt-Schwerpunkt
27th – 28th May
Erbil, Iraq
Wenn Sie vom Urlaub mehr als Sonne und Freizeit
erwarten: taz.die tageszeitung organisiert seit fünf
Jahren Reisen in Begleitung von taz-MitarbeiterInnen.
Diese ermöglichen Begegnungen mit Menschen, die
sich in Projekten und Bürgerinitiativen engagieren.
2013 sind auch vier Reisen mit Umwelt-Schwerpunkt
im Angebot – dank einer Kooperation mit dem
Umweltmagazin zeo2 bei zwei dieser Reisen.
Under the Patronage of the Iraqi Ministry
of Health and the Kurdistan Regional
Government Ministry of Health
Featuring
NORDFRIESLAND MIT HELMUT HÖGE
Dr. Saif AlJaibeji
Iraq Health, Chairman
Iraq Healthcare Conference 2013 Chairman
Wattenmeer und Windenergie
21. bis 25. Mai 2013; ab 750 € (DZ/HP/ohne Anreise)
Veranstalter: Reisebüro Grunert, Husum
Salman Al-Rawaf
Imperial College London, Public Health Professor and WHO Office, Director
SCHWEIZ MIT GERHARD FITZTHUM UND JÜRG MEYER
Dr. Finn Goldner
Healthcare/Investment Advisor,
Former Director of Health System Financing at Abu Dhabi Health Authority
Saad Othman
Cambridge Academy for Higher Education, President
Um intensivere Begegnungen zu ermöglichen, reisen
Sie in kleinen Gruppen von max. 16 Personen. Und
die Mitreisenden sind wie die meisten taz-LeserInnen:
weltoffen und an sozialen Themen interessiert; sie
sind gewohnt, auch individuell unterwegs zu sein,
wissen aber eine Reiseleitung mit Kontakten zur
Zivilgesellschaft zu schätzen: Gruppenreisen für
IndividualistInnen.
in Kooperation mit OekoGeno e.G., Freiburg
Gletscherwelten – Alpenwanderung auf den Spuren des Klimawandels
24. bis 30. August ; ab 1.080 € (DZ/HP/ohne Anreise)
Schweiz
Veranstalter: tra cultura a natura, Lollar
BADEN-WÜRTTEMBERG
Dr. Michael Bitzer
Daman Health, CEO
Dr. Sami Al Amiri
Mazars Chartered Accountants, Managing Partner
MIT CHRISTIANE GROSSKOPF (ZEO2) UND PETER UNFRIED
in Kooperation mit OekoGeno e.G., Freiburg
Energiewende im „Musterländle“ – eine Reise zu innovativen Projekten.
16. bis 21. September 2013; ab 980 € (DZ/HP/ohne Anreise)
There are open sponsorship opportunities.
For more information please contact: [email protected]
LOFOTEN (NORWEGEN) MIT RANVEIG ECKHOFF (ZEO2)
Baden-Württemberg
Veranstalter: TourSerail, Freiburg
Ökosystem Meer: Reise ins bedrohte Reich von Dorsch und Seeadler
2. – 11. März 2014; Preis ab Ende März 2013 im Internet
Veranstalter: Lappland Tours, Överkalix
Patrons
Organizers
Partner
Academic Partner
Alle Infos (Programm, Veranstalter, Preise/Leistungen etc.) zu den
taz Reisen in die Zivilgesellschaft unter www.taz.de/tazreisen oder
am Telefon (030) 2 59 02-117
CHF 8,50 I USD 8,50 I GBP 5,20 I AED 32,00 I TRY 16,00 I KZT 1.400,00 I EURO 5,80
Nordfriesland
ISSN 2193-0333
ZENITH 01/2013 · EDITORIAL
Foto: Philipp Spalek
ZENITH
1999 als Zeitschrift für den Orient gegründet, ist ein unabhängiges Magazin zum Nahen Osten, Afrika, Asien und der muslimischen Welt. zenith berichtet zweimonatlich über Politik, Wirtschaft und Kultur in
einer Welt, die vielen in Europa fremd ist,
aber immer näher rückt.
Das Wort »zenith« (auch »Zenit«) ist das
Ergebnis eines Orient-Imports: Es stammt
von »samt«, einem in der arabischen Astronomie des Mittelalters geläufigen Begriff,
der die »Richtung des Kopfes« bezeichnet.
Wenn die Sonne im zenith steht, werden
Schatten kürzer und es fällt Licht dorthin,
wo es sonst eher dunkel ist – ein Leitmotiv
für die Berichterstattung dieses Magazins.
3
s war einer dieser Tage, an denen
eine Demonstration zum TahrirPlatz oder zum Präsidentenpalast zieht. Nichts Besonderes mehr
in Kairo. »Beinahe überlegt man
mittlerweile sogar, ob man überhaupt hingehen soll«, so unser
Fotograf Philipp Spalek, der seit
2009 regelmäßig mehrere Monate in Ägypten verbringt. Sind es nicht am Ende immer wieder die gleichen Bilder? Schreiende Ägypter, die den »Sturz des
Regimes« wollen. Soldaten und Polizisten. Tränengas.
Dieser Tag jedoch war anders. Seit ein paar Tagen trieb ein mysteriöses
Phänomen sein Unwesen in den Straßen Kairos. Alle Fotografen konzentrierten sich auf die vermummten Gestalten, die den Protestzug umkreist
hatten, um die Demonstranten zu schützen. Politik und Staatsanwaltschaft
nannten sie den Grund für die gewalttätigen Ausschreitungen, die Ägypten
ab Ende Januar erneut erschütterten. Sie selbst nennen sich »Schwarzer
Block«. Praktisch über Nacht war er berühmt geworden. Die Gruppe ist eine
Reaktion auf die gewalttätigen Angriffe von Islamisten auf friedliche Demonstranten im Dezember 2012. Schutz der Demonstranten und Sturz des
Regimes sind die Ziele der Aktivisten. Dabei gehen sie radikal und kompromisslos vor.
An diesem Tag also stürzten sich alle Fotografen auf die Männer – und
Frauen – mit den Kapuzenpullis und den Masken. Die Stimmung war angespannt. Eine Hand griff ins Bild, um Spalek daran zu hindern, Fotos zu schießen, anhand derer die Aktivisten identifiziert werden könnten. Unterdessen
fuhren die Sicherheitskräfte Spezialeinheiten auf, um das Büro des Generalstaatsanwalts zu schützen. Eine weitere Radikalisierung in einem radikalen
Umwälzungsprozess. Spaleks Bilder der Ausschreitungen in Kairo finden Sie
ab Seite 16.
In zwei weiteren Beiträgen beleuchten wir das Sicherheitsvakuum auf
Ägyptens Straßen und den Kampf der politischen Fraktionen um die Deutungshoheit: Im Interview schildert der ehemalige Polizeioffizier Mahmud
Qatari die Missstände im ägyptischen Polizeiapparat. Und Natalie Eiselstein
fragt in einem Essay nach der Rolle des Märtyrers für das Gedenken an die
Revolution. Ab Seite 28.
INHALT
MÄRZ/
APRIL
2013
Titel: Philipp Spalek
Foto links unten: Philipp Spalek
Foto rechts: Daniel Etter
Foto rechts unten: Maike Pullo
RUBRIKEN
03
06
12
50
52
65
82
100
102
108
111
112
114
»Klar, Wagner war Antisemit«, sagt Zaki Nusseibeh. Aber er
habe universelle Fragen gestellt, befand der palästinensische
Musikliebhaber im Interview anlässlich des Wagner-Jahres.
104
POLITIK
DOSSIER: ÄGYPTEN
16 Schwarz ist die Revolution
Auf Ägyptens Straßen nimmt die Anarchie zu
28 »Die Polizei ist schon vor Jahren
zusammengebrochen«
Ein ehemaliger Polizeioffizier legt Missstände offen
33 Das Blut der Märtyrer
Der Kampf um die Toten der Revolution
38 Wird der Jemen morgen anders sein?
Ein Gastbeitrag von Herta Däubler-Gmelin
42 Sehnsucht nach dem starken Mann
Im Irak erleben Repression, Patronage und Zentralismus ein Comeback
47 Was Syrien jetzt braucht
Vier Vorschläge, um noch mehr Blutvergießen zu vermeiden
48 War da was?
Die Pressefreiheit im Nahen Osten bleibt bedroht
Editorial
Unser Bild vom Orient
Profile
Netzgeflüster
Bilanz
Almanach der Energien
Der Sekretär
Basar
Neue Bücher
Neue Musik
Der kleine Arabist
Momentaufnahme
Kalender / Ausblick / Impressum
16
Trommeln für die Revolution: Seit wenigen Wochen macht in
Ägypten eine neue Gruppierung von sich reden: der Schwarze Block.
Was wollen die vermummten Revoluzzer?
78 Diese Zahlen sind nicht getürkt
Wirtschaftsdaten zur Türkei
80 Ein riskanter Höhenflug
Vorsicht ist geboten: Die Türkei kann schnell in eine Strukturkrise geraten
KULTUR
84 Ayşe unchained
Türkische Frauen zwischen Armut und Establishment
94 »The Kaiser’s spy«
Warum Max von Oppenheims Ideen falsch bewertet werden
102 Keinesfalls veraltet
Die Geschichten des türkischen Autors Sait Faik Abasıyanık
103 Im Schatten der Verantwortung
Nir Barams Roman über Mitläufer im Zweiten Weltkrieg
104 »Der Fliegende Holländer könnte auch
Sindbad heißen«
Ein Gespräch mit dem arabischen Wagner-Liebhaber Zaki Nusseibeh
110 Die Tränen des Propheten
Grenzenlos sind die wirtschaftlichen Ambitionen der Türkei. Doch
sie wird Rückschläge verkraften müssen. Und mit dem Erfolg verändert sich auch das Gesicht des Landes.
74
WIRTSCHAFT
54 Roaaar
Er kommt: Lykan. Ein Unternehmen – sieben Autos – ein Mann
56 »Die haben keinen Steve Jobs«
Hala Fadel fördert junge Unternehmer im Nahen Osten
58 Bis der Arzt kommt
Wo es im saudischen Gesundheitssektor zu investieren lohnt
61 Achtung, Sie verlassen den öffentlichen Sektor!
In den Emiraten sollen mehr Start-Ups gegründet werden
62 »Es geht hier nicht um die Privatsphäre«
Die Aktivistin Maryam al-Khawaja über digitale Spionage in Bahrain
66 Wettlauf gegen das Öl
Tansania will seine Wirtschaft rechtzeitig fit machen
70 »Nackte Frauen helfen da nicht«
Eine Akademie in Israel bildet orthodoxe Werbeexperten aus
74 Hart im Nehmen
Die türkische Volkswirtschaft wächst weiter – mit Mut zum Risiko
Muhammads Sohn Ibrahim soll früh verstorben sein – heißt es
84
Welten scheinen die Lebensumstände türkischer Frauen voneinander zu trennen: Denn in kaum einem anderen Land wird der
Kampf um Gleichberechtigung so hart ausgefochten.
WIRTSCHAFT · BILANZ
INSELN
MIT
ANKER
Arabische Händler sollen die Seychellen
einst entdeckt haben – nun erobern sie das
Archipel im Indischen Ozean abermals:
Seit Jahren kaufen wohlhabende Emiratis
und Angehörige der Herrscherfamilie von
Abu Dhabi dort Grundbesitz und erhöhen
die Direktinvestitionsrate. Eine Studie zum
ENTWICKLUNG DER SEYCHELLEN
HERKUNFTSL ÄNDER VON TOURISTEN
IM 1. QUARTAL 2013
1 FRANKREICH
2 DEUTSCHLAND
INFLATION
2011
2,5
2012
3,5
2013
3,7
3 ITALIEN
REALES BIP-WACHSTUM PRO KOPF
4 RUSSLAND
2011
2,5
5 CHINA
2012
3,5
6 VAE
2013
3,7
(QUELLE: NATIONAL BUREAU OF STATISTICS, SC) / (SCHÄTZUNGEN DES OECD
AFRICAN ECONOMIC OUTLOOK)
52
FINANZIERT TARIF AKHRAS HEIMLICH DIE OPPOSITION?
Von einem prominenten Mitglied des syrischen Präsidentenclans erwartet man andere Auftritte – vor allem, dass er sich bedeckt hält und sich im Ausland nicht mehr
in der Öffentlichkeit zeigt. Aber Tarif
al-Akhras, der 62-jähriige, ältere Bruder
der Präsidentengattin Asma al-Assad, erschien Anfang Februar auf einem Branchengipfel der Zuckerindustrie, der »Kingsman Sugar Conference« in Dubai. Akhras,
Besitzer mehrere Zuckerraffinerien und
Süßwarenfabriken, klagte dort über einen
drastischen Konsumeinbruch in Syrien.
Der Mann hat Sorgen, mögen sich jene Verwandte des Präsidentenpaars gedacht haben, die derzeit Militär und Sicherheitskräfte kommandieren und ihren Untergang abwenden wollen.
Akhras, langjähriger Wirtschaftsverbandsfunktionär, Präsident der Handelskammer der Industriestadt Homs, Großinvestor, Zuckerkönig und Initiator eines
»Disney-Parks« in Syrien, stand schon verhältnismäßig früh auf den Sanktionslisten
der Europäischen Union. Als Baschar
al-Assads Schwager war er ein naheliegender Kandidat – er klagte vergeblich in
Straßburg gegen diese Maßnahme; sein
Mandant, so erklärte Akhras’ Anwalt, ha-
be deshalb sogar Todesdrohungen von Regimegegnern erhalten. Es herrscht wohl Einigkeit darüber, dass Akhras längst kein so
ein brutaler Profiteur des Regimes ist wie
Assads Cousin Rami Makhlouf. »Gegen Akhras konnte man vor einem syrischen Gericht einen Prozess gewinnen, gegen Makhlouf nicht«, sagt ein Rechtsanwalt, der vor
einigen Jahren mehrere gekündigte Mitarbeiter von Akhras vertrat, im Gespräch mit
zenith.
In Syrien kursierten damals Gerüchte,
Akhras habe einen Teil seines Vermögens
UNGEMACH FÜR BEIRUTS BANKEN
Angesichts lähmender Haushaltsstreits im
Kongress sucht das US-Finanzministerium
neue Einnahmequellen. Wenn Steuern nicht
erhöht, so sollen sie wenigstens effektiv eingetrieben werden – auch im Ausland. Den
größten Erfolg verzeichneten die Fiskalbeamten des Internal Revenue Service im Fe-
bruar, als die Schweiz sich den Bestimmungen des Foreign Account Tax Compliance
Act (FATCA) beugte. Auch der Bankensektor in Nahost muss sich nun auf Druck aus
Washington gefasst machen und seinen
Kundenbestand prüfen: Die Meldepflicht
wird im Januar 2014 wirksam. Wie im
während der Embargo-Jahre gegen das
Saddam-Regime im Irak verdient: mit
Schmuggel -Geschäften. Andere bescheinigen ihm den Leumund eines unbescholtenen Kaufmanns.
Als Spitzenvertreter der sunnitischen
Elite in Homs, wo der Aufstand gegen Assad schon früh losbrach, steckte Akhras in
einer besonders verzwickten Lage – und
anscheinend meistert er sie sehr geschickt.
Bereits im Sommer 2012 gab es Hinweise
darauf, dass Akhras hinter den Kulissen
und mit seinen – also finanziellen – Mitteln
die Opposition unterstützt. Dabei ist anzunehmen, dass er auf beiden Seiten der Front
dringend benötigte Finanzhilfen verteilt,
also gewissermaßen auf Rot und Schwarz
zugleich setzt. »Er steht voll auf unserer
Seite«, sagt ein anderer Unternehmer und
Unterstützer der Aufständischen im Gespräch mit zenith. Seinen Aufenthaltsort
hält Akhras geheim. Sein lässiger Auftritt
beim Dubaier Zuckergipfel, aber auch Hinweise von Oppositionellen lassen darauf
schließen, dass Akhras derzeit in den
Emiraten residiert. Bis vor wenigen Wochen hieß es noch, er sei in Homs und sorge
sich um die Importpreise für Rohzucker.
Als wäre sonst nicht viel passiert.
Schweizer Fall sollen die Geldinstitute Daten über die Zentralbanken sammeln und
übermitteln. Verhandlungen laufen in der
Region bisher mit Israel und dem Libanon.
Der Zedernstaat steht im Visier der Ermittler, da FATCA nicht nur steuerprellende Expats, sondern auch Netzwerke zur Geldwäsche aufdecken soll. So fallen Doppelstaatsbürger, Greencard-Besitzer und selbst Personen mit US-Wohnsitz unter die Regelung,
Illustartion: LeSprenger / Foto: Emirates
ROT ODER SCHWARZ
BILANZ · WIRTSCHAFT
so genannten Performanzindex des GIGA-Instituts von 2012 bescheinigt den
Seychellen die besten Leistungsperspektiven Afrikas. Der IWF hält derzeit ein Gesamtwachstum von 3 Prozent für realistisch. Immerhin: Während der Finanzkrise 2008 galten Seychellen-Bonds noch als
wertlos. Im August 2012 erhielten die Seychellen endlich ein Breitband-Unterseekabel. Zudem profitieren sie von der liberalen
Einreise-Politik: Auch afghanische oder
pakistanische Staatsbürger benötigen kein
Visum. Was die Regierung in Victoria nicht
steuern kann, sind Tourismus-Trends und
53
Energiepreise: Diese treffen ein Land im
Ozean naturgemäß. Ein Prominenter
suchte im Winter Asyl auf den Seychellen:
Sakhr el-Materi, 31, Schwiegersohn von
Tunesiens Ex-Diktator Ben Ali. Tunis
will die Auslieferung des Millionärs; aber
Victoria bleibt gastfreundlich.
CHINESEN AM
ARABISCHEN MEER
Eigentlich würde Emirates gerne nach Berlin und Stuttgart fliegen, aber Warschau ist zunächst auch nicht so schlecht. EK0179 aus Dubai landete im Februar erstmals auf dem
Chopin-Airport. Polens Ministerpräsident Donald Tusk ließ dort Protokoll auffahren und
schüttelte dem Chef der Emirates Group, Scheich Ahmad bin Saeed Al Maktoum die Hand.
2013 sollen unter anderem Algier und eine weiteres Ziel in Japan angeflogen werden. Allianzen schmieden will der Carrier noch immer nicht – auch keine Beteiligungen auf dem
als lukrativ geltenden südamerikanischen Flugmarkt. »Wir konzentrieren uns auf eigenen Stärken«, sagt Hubert Frach, Vice-President und Ex-Lufthansa-Manager gegenüber
zenith. Allerdings können nun Emirates-Kunden ihre Bonusmeilen bei der Billig-Airline
Easyjet in Europa abfliegen. Steuern, Gebühren und Zuschläge machen dort ohnehin den
Großteil des Ticketpreises aus; die Vorteile für Vielflieger bleiben also überschaubar.
Der Staatskonzern China Overseas Port
Holding Company (COPHC) betreibt den
pakistanischen Tiefseehafen Gwadar – seit
Januar 2013 auch offiziell. Die Chinesen
hatten bereits den Löwenanteil der Baukosten für die 2007 abgeschlossene erste
Projektphase gestemmt. Die Konzession ist
auf 40 Jahre befristet. 2012 hatte der eigentlich Gewinner der Ausschreibung, die
Port of Singapore Authority (PSA), nach einem Streit das Handtuch geworfen. Es
heißt, nur der bis 2008 regierende, westlich
orientierte General Musharraf habe einst
verhindert, dass Gwadar damals schon an
die Chinesen ging. Peking wartet noch immer auf ein Freihandelsabkommen mit Pakistan; die Lage zum Golf und Gwadars Ölterminals sind für China aber besonders attraktiv. Das Land könnte seine Westprovinzen über den Karakorum Highway mit
Pakistans Küste verbinden – durch einen
»Himalaya-Brenner«. Pakistan hingegen
braucht Verstärkung für die überlasteten
Häfen Karachi und Qasim, die 90 Prozent
des Außenhandels umschlagen. Gwadars
Lage in der Unruheprovinz Belutschistan
ist für das Projekt nicht die größte Sorge.
Nur wenige Kilometer entfernt baut Iran
den Konkurrenzhafen Chahbahar. Hauptinvestor: Pakistans Erzfeind Indien.
als angeblicher Drogen- und Waffenfinanzier der Hizbullah auf die schwarze Liste
kam. Washington verdächtigt Beirut weiterhin, als Umschlagsplatz zur Umgehung der
Sanktionen gegen Iran und Syrien zu dienen.
Die Ausweitung der FATCA-Kriterien würde den US-Fahndern weit häufiger Zugriff
auf Kontodaten geben, um »verdächtige
Transaktionen« zu prüfen. Weitere Erschütterungen für den Finanzplatz Beirut zeich-
nen sich auch im Fall des Sturzes des syrischen Assad-Regimes ab. Nach Erkenntnissen von Finanz-Forensikern haben Mitglieder des Clans und des Sicherheitsapparats in
den vergangenen Jahrzehnten Milliardensummen durch den Libanon geleitet. »Prominente Zentralbanker und Politiker in Beirut
müssen sich deshalb auf Ärger gefasst machen«, sagt ein Ermittler im Gespräch mit
zenith.
EMIRATES WILL SOLO BLEIBEN
»WIR KONZENTRIEREN UNS
AUF EIGENE STÄRKEN«
gemeldet werden müssen neben Konten
auch Firmenbeteiligungen und Versicherungen. Bei Nichtbefolgung droht ein Strafzoll von 30 Prozent auf Vermögenswerte in
den USA. Da im Libanon damit das Bankengeheimnis zur Disposition steht, wird sich
die Branche etwas einfallen lassen müssen.
Die US-Behörden statuierten 2012 ein Exempel an der Lebanese Canadian Bank: Das
Geldinstitut musste schließen, nachdem es
54
WIRTSCHAFT · VAE · AUTOMOBILINDUSTRIE
Extravagante Boliden sind beliebt am
Golf. In diese Kerbe schlug nun der
erste arabische Hypercar-Hersteller
WMotors, als er im Januar auf der
»Qatar Motorshow« den aggressiven
Lykan präsentierte: Gold- und Platinfäden für die Innenausstattung, Kohlefasern für die Karosserie – und 420
15-Karat-Diamanten in den Frontscheinwerfern (die Farbwahl obliegt
dem Käufer). Damit dürfte der Gründer von WMotors, Ralph R. Debbas,
seine Ankündigung, das »teuerste,
exklusivste und luxuriöseste Auto
der Welt« zu bauen, einigermaßen erfolgreich umgesetzt haben.
750 PS
0–100 : 2.8 SEKUNDEN
3.4 MILLIONEN US$
AUTOMOBILINDUSTRIE · VAE · WIRTSCHAFT
Der Absolvent der School of Art &
Design der Coventry University
gründete das Unternehmen im Libanon, verlegte dann aber den Sitz
in die Vereinigten Arabischen
Emirate. Unterstützung für Technik und Design des Hypercars gab
es von Magna Steyr Turino sowie
RUF, der deutschen Manufaktur
für Hochleistungsfahrzeuge. Das
4,3 Millionen US-Dollar teure Auto
bringt es auf potente 395 km/h. Ein
Geschwindigkeitsrausch, den freilich sehr wenige werden genießen
können: Debbas möchte nur sieben
Modelle des Lykan bauen lassen.
55
WIRTSCHAFT · LIBANON · PROFIL
»Die haben keinen Steve Jobs«
Die arabische Welt ist träge – und wer mit Mädchennamen »Frangieh« heißt, setzt sich ins gemachte
Nest? Hala Fadel tritt an, um solchen herkömmlichen
Weisheiten zu widersprechen
VON LAURA GINZEL
ƀLJƍY((,LJ"(LJ(!-.LJ0),LJ,/(ŻLJ#LJ%&/!LJ
und schön zugleich sind«, sagt Hala Fadel.
Das hat man sicher schon einmal gehört –
aber angesichts der aktuellen Sexismus-Debatte in Deutschland kann es nicht schaden,
es noch einmal zu erwähnen. Schließlich
lebt Fadel, 39, im Libanon, wo die Beschäftigungsquoten von Frauen in führenden Positionen zwar nicht mit denen Saudi-Arabiens
zu vergleichen, aber ähnlich beschämend
sind wie in der Bundesrepublik.
Rund ein Viertel der Frauen im Libanon sind berufstätig und machen damit um
die 30 Prozent der Erwerbstätigen im Land
aus. Sie haben nach Fadels Ansicht aber
kaum familiäre Unterstützung für eine
Karriere. »Ich habe einen Karriere-Coach.
Wir treffen uns einmal die Woche und planen meinen Tagesablauf, sodass ich genügend Zeit für meine Kinder und für meine
Projekte habe«, erklärt die dreifache Mutter im Gespräch mit zenith. Sie ist sich bewusst, wie wichtig der familiäre Rückhalt
für ihren eigenen Erfolg war: Ihr Mann Robert Fadel ist Abgeordneter im libanesischen Parlament und Direktor einer Stiftung
zur Wirtschaftsförderung. Sie selbst
stammt aus dem weitläufigen Großgrundbesitzer-Clan der Frangieh aus dem Norden
des Libanon, allerdings nicht aus einem der
wohlhabendsten Zweige.
Dennoch, so mögen Kritiker, einwenden, habe sie leicht reden über die »Trägheit
und Energiearmut der Menschen in der
arabischen Welt«. Aber sie unternimmt etwas dagegen: Bereits 2005, also mit 32 Jahren, gründete Fadel das »MIT Enterprise
Forum of the Pan Arab Region« – einen Ableger der weltweit aktiven MIT-Foren, die
»Alles, was junge
Unternehmer hier sehen,
sind Machthaber, die
nicht für ihre Position
oder ihren Reichtum
kämpfen mussten.«
Kapital und Technologie vernetzen wollen.
»MIT« steht für »Massachusetts Institute
of Technology«, die amerikanische Kaderschmiede, wo die Netzwerke und Ideenwettbewerbe der Foren entstanden. Im
Gründungsjahr, so erinnert sich Fadel, bewarben sich 1.500 Teams mit Geschäftside-
en für den Wettbewerb, mittlerweile sind
es mehr als 5.200 aus 20 Ländern der Nahost-Region. Und der Anteil an weiblichen
Team-Mitgliedern wachse rasant: »Wir
sind inzwischen bei der Hälfte der Bewerber angekommen – das hätte man von der
arabischen Welt gar nicht erwartet!«
Die üblichen Verdächtigen:
Frauen und Palästinenser
Innovation, Skalierbarkeit und Bedeutung
des Projekts für die Region – das sind die
Hauptkriterien der Juroren. Ziel sei es, Netzwerke zu bilden, auf die junge Unternehmer
ein Leben lang zurückgreifen können: »Die
haben keinen Steve Jobs, zu dem sie aufschauen können. Alles, was sie sehen, sind
Machthaber, die nicht für ihre Position oder
ihren Reichtum kämpfen mussten«, kritisiert Fadel. Sie selbst hat im Alter von 16 Jahren angefangen zu jobben und sich ihr Studium in Cambridge und Paris durch Arbeit
und Stipendien finanziert. Danach arbeitete Fadel zunächst als Analystin im Fusionsgeschäft bei der Investment-Bank Merill
Lynch.
Heute verdient sie ihr Geld als Fondsmanagerin und engagiert sich ehrenamtlich
im Projekt »Social Challenge«, das ab September 2013 Konzepte zur Armutsbekämpfung in der arabischen Welt prämiert. Ihren
Unternehmergeist entdeckte Fadel 1999
während ihres Master-Studiums an der Sloan School of Management des MIT: »Damals
hat jeder seine eigene Firma aufgemacht –
ich wollte da nicht hinten anstehen«, erzählt
sie. Sie bewarb sich bei einem Förderwettbewerb mit der Idee für eine Software zur
Minimierung der Telekommunikationsausgaben von Banken, gewann und verkaufte
schließlich nach zwei Jahren ihren ersten
eigenen Betrieb.
Ihr eigenes Forum in der arabischen
Welt sieht sich mit vielen bürokratischen
Hürden konfrontiert. Die Endrunde des
Wettbewerbs findet jedes Jahr in einem anderen Land der Region statt. »Wohl nicht
mehr in Saudi-Arabien«, schimpft Fadel:
Der Hälfte der Teilnehmer hätten die Saudis 2008 die Einreise zur Eröffnungszeremonie verweigert. Frauen und Palästinenser hätten es besonders schwer gehabt: »Die
einen hielten sie für Prostituierte, die an,(LJ į,LJ,,),#-.(źƌLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJƀ
Foto: privat
56
73
58
WIRTSCHAFT · SAUDI-AR ABIEN · GESUNDHEITSMARKT
Bis der Arzt kommt
Saudi-Arabiens Gesundheitsmarkt wächst, und die Politik will den
privaten Sektor stärken. Noch ist der Staat Hauptanbieter und
Zahlmeister zugleich – dabei fehlen Regulierungen und messbare
Qualitätsstandards. Wo lohnen sich Investitionen, und welche
Entscheidung gilt es jetzt zu treffen?
VON FIRAS EID
ƀLJ#.LJ("4/LJŲŰLJ#&&#,(LJƐ)&&,LJ/-!(LJ į,LJ(LJ-/(heitssektor im Jahr 2010 belegte Saudi-Arabien den ersten Platz
unter den Golfstaaten – und hält ihn auch weiterhin. In den letzten fünf Jahren erfuhr der Sektor ein Wachstum im zweistelligen
Bereich, derzeit wird ein jährliches Wachstum um 12 Prozent
prognostiziert. Als Gründe hierfür gelten die Einführung der
Krankenversicherungspflicht, eine wachsende, alternde Bevölkerung sowie die rapide Ausbreitung moderner Krankheiten wie
Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Fettleibigkeit. Aber
auch ein steigendes Gesundheitsbewusstsein und höhere Einkommen spielen eine Rolle.
Neben dem Gesundheitsministerium, welches rund 60 Prozent der saudischen Krankenhäuser besitzt und betreibt, sind
andere Regierungsorganisationen wie die Nationalgarde, die Königliche Kommission, medizinische Fakultäten und die Ministerien für Verteidigung, Inneres und Luftfahrt Schlüsselfiguren
der nationalen Gesundheitsindustrie. Der Privatsektor verfügt
derzeit über 31 Prozent der Krankenhauskapazitäten.
Von 2007 bis 2009 stieg der Anteil des
Privatsektors im saudischen Gesundheitswesen von 21 auf 33 Prozent
Zwischen 2006 und 2010 ging die Regierung entscheidende
Schritte: etwa die Einführung einer Versicherungspflicht für Expatriates und Privatfirmen – man nimmt an, dass dies in naher
Zukunft für alle Einwohner Saudi-Arabiens gelten wird. Darüber
hinaus implementierten die Behörden ein Informations- und Management-System für Patienten, ein ambitioniertes E-Health-Programm, welches 220 Krankenhäuser und weitere rund
2.000 medizinische Zentren im Land vernetzen soll.
Der laufende Fünfjahresplan (2010–2014) veranschlagt 9
Milliarden Rial, also 2,4 Milliarden US-Dollar, für verschiedene
Gesundheitsinitiativen, darunter auch den Bau von 120 Kliniken.
Eine detaillierte Analyse zeigt, dass eine größere Beteiligung
des Privatsektors – trotz der inhärenten Vorteile wie Erweiterung und Verbesserung des Angebots – mit Schwierigkeiten verbunden ist: Zunächst einmal ist die Regierung weiterhin der
größte Zahlmeister im Gesundheitswesen. So beglich der Staat
2009 rund 70 Prozent der Kosten für Gesundheitsfürsorge; 70
Prozent der 400 Krankenhäuser in Saudi-Arabien liegen in öffentlicher Hand. Allerdings sind die staatlichen Ausgaben für Gesundheit gemessen am BIP relativ gering, zumindest für entwickelte Staaten. 2010 lagen die Ausgaben für Gesundheitsfürsorge
bei ungefähr 5 Prozent des BIP – zum Vergleich: in Deutschland
bei 9,3 und in Großbritannien sogar bei 11,3 Prozent.
Zieht man in Betracht, dass staatliche Krankenhäuser nicht
derart kostengetrieben sind und ihre Leistungen zu subventionierten Preisen anbieten, ist eine eingeschränkte Wettbewerbsfähigkeit für Privatkliniken zu befürchten. Hinzu kommt, dass die Gesundheitsinfrastruktur in den Golfstaaten und Saudi-Arabien nach
wie vor nicht mit internationalen Standards mithalten kann und
die öffentliche Ordnung bislang wenig Anreize für den Privatsektor
geschaffen hat, maßgeblich zur Verbesserung dieser Standards beizutragen. Selbst die angestrebte Anzahl der verfügbaren Krankenhausbetten von 3,2 pro 1.000 Einwohner liegt unter dem globalen
Durchschnitt und weit hinter Ländern wie Großbritannien mit 3,89
und Deutschland mit 8,9 Betten pro 1.000 Einwohner.
Erschwerend kommt hinzu: Der Aufbau medizinischer Einrichtungen ist kapitalintensiv; Investitionen rentieren sich nur
langfristig. Außerdem ist eine Projektfinanzierung auf Basis der
konventionellen Eigenkapitalsbeteiligung oft kompliziert: Banken fürchten, das Risiko eines Aktiva-Passiva-Ungleichgewichts
tragen zu müssen – und ein Krankenhaus ist keine Fabrik, der
man einfach die Kreditlinie streichen oder den Finanzierungsvertrag kündigen könnte.
Eine der größten Herausforderungen des saudischen Gesundheitssystems ist indes die starke Abhängigkeit von Expatriates und
Knappheit an medizinischem Personal: 2010 leisteten in Saudi-Arabien schätzungsweise rund 67.000 Ärzte und 129.000 Pflegekräfte
ihren Dienst am Patienten. Der Anteil von Ausländern liegt bei 67
und 78 Prozent. Ende 2009 kamen im Königreich auf 10.000 Einwohner 21,6 Ärzte und 43,7 Schwestern und Pfleger. Expats weisen
eine hohe Fluktuation auf – insbesondere Pflegekräfte bleiben im
Durchschnitt nur zwei Jahre lang im Land. Deshalb bemüht sich die
Regierung, die Anzahl des saudischen Fachpersonals zu erhöhen.
Das Bildungsministerium versucht, diesem Trend durch Ausbau medizinischer Fakultäten und Lehrkliniken entgegenzuwirken. Im gleichen Jahr verkündete Saudi-Arabien eine Trainingskooperation für saudisches Fachpersonal mit Irland.
THEMA · LANDISTAN · WIRTSCHAFT
VERFÜGBARE KRANKENHAUSBETTEN PRO 1000 EINWOHNER
SAUDI-ARABIEN
ENGLAND
DEUTSCHLAND
3,2
3,89
8,9
ÄRZTE IN SAUDI-ARABIEN
67.000
67%
AUSLÄNDISCH
PFLEGEKRÄFTE
129.000
78%
AUSLÄNDISCH
ÄRZTE , SCHWESTERN & PFLEGER PRO 10.000 EINWOHNER
ÄRZTE
21,6
PFLEGEKRÄFTE
43,7
7 VON 27 MILLIONEN HABEN EINE KRANKENVERSICHERUNG
Mit nur 5 Prozent des BIP liegen die Ausgaben
für Gesundheit in Saudi-Arabien weit
unter denen entwickelter Industriestaaten
Das Versicherungssystem muss überholt werden: Eine Krankenversicherung ist bislang nur für Expats und Privatunternehmen
verpflichtend. Ende 2009 hatten somit 7 der 27 Millionen Einwohner einen Versicherungsvertrag, was für eine sehr geringe
Marktdurchdringung spricht. Die Krankenversicherungen übernehmen immer mehr Versorgungskosten direkt – absehbar ist,
dass zwischen Gesundheitsdienstleistern und Versicherungen
Informationslücken entstehen werden: Die bereits sehr ausgedehnten Zahlungsfristen in Saudi-Arabien verlängern sich dadurch, was ein erhöhtes Ausfallrisiko für Gesundheitsversorger
impliziert. Da es an einer zentralen Datenbank zur Erfassung von
Versicherungskartennutzern mangelt, kann auch der Zugang zu
verschiedenen medizinischen Versorgungsquellen nicht nach-
59
60
3,2
WIRTSCHAFT · SAUDI-AR ABIEN · GESUNDHEITSMARKT
PRO 1.000 EINWOHNER BETRÄGT DIE KAPAZITÄT
AN KRANKENHAUSBETTEN IN SAUDI-ARABIEN.
IN DEUTSCHLAND LIEGT DIE QUOTE BEI 8,9
vollzogen werden – somit könnten einige Versicherungen an sie
gestellte Forderungen zurückweisen.
Investoren in den saudischen Gesundheitsmarkt muss klar
sein: Auch wenn die Krankenversicherungsbranche momentan
von drei großen Anbietern – Tawuniya, MedGulf und Bupa – dominiert wird, ist zu befürchten, dass mit zunehmendem Wettbewerb der Preisdruck auf Gesundheitsdienstleister steigen wird:
Der Preis wird schließlich das Unterscheidungsmerkmal der Versicherungen sein.
Mängel in den Regulierungen stellen derzeit eine Gefahr für
den Patienten dar: Sofern diese überhaupt durchgesetzt werden,
gelten sie auschließlich für private Einrichtungen, staatliche Gesundheitseinrichtungen sind davon vorerst nicht betroffen. Die
Qualitätsstandards der privaten Serviceanbieter sind noch undurchsichtig, viele Patienten verstehen sie nicht und treffen ihre
Entscheidung auf Basis von Mundpropaganda, Werbung und äußeren Eindrücken, was es Qualitätsanbietern erschwert, durch
Leistung zu brillieren. Eine umfassende Reform der Regulierungen scheint notwendig, um Billiganbieter im Zaum zu halten und
Sicherheit für Patienten zu garantieren.
Nicht zuletzt konzentrieren sich Gesundheitsdienstleister im
Königreich auf die urbanen Zentren Riad, Dschiddah, Dammam
und Khobar. Vororte und ländliche Gegenden bleiben schlecht
versorgt.
Die Qualitätsstandards der privaten
Serviceanbieter in Saudi-Arabien
sind undurchsichtig; viele Patienten
verstehen sie nicht
Zweifelsohne hat der saudische Gesundheitssektor also viel Raum
für Ausbau und Verbesserungen. Eine Gesundheitsreform muss
unter anderem eine verstärkte Einbindung qualitativ hochwertiger privater Akteure zum Ziel haben. Des Weiteren sollte sich die
Rolle der Regierung schrittweise vom führenden Anbieter und
Financier zu der eines Reformbeschleunigers und Regulators
wandeln. Um finanzielle Hürden für neue, private Einrichtungen
abzubauen, braucht es öffentlich-private Partnerschaften, neue
öffentlich-rechtliche Unternehmen und finanzielle Förderungen.
Das Preisgefälle zwischen öffentlichen und privaten Anbietern
muss schrittweise reduziert werden.
Transparente Qualitätsstandards sind unabdingbar. Bereits
die Verbesserung der medizinischen Ausbildung in Saudi-Arabien
hätte eine Leistungssteigerung zur Folge und könnte zugleich die
hohe Fluktuation ausländischen Personals verringern.
Das Unternehmen Brighton Hospital, zweitältester Anbieter
für die Behandlung von Alkohol- und Drogenmissbrauch in Nordamerika, soll Saudi-Arabien nun beim Aufbau eines Suchtbehandlungszentrums in Riad unterstützen. Der deutsche Anbieter
Vivantes zeichnete eine Vereinbarung mit dem saudischen Gesundheitsministerium, um den Medizintourismus zwischen
Deutschland und Saudi-Arabien zu stärken. Die renommierten
amerikanischen Institutionen Cleveland Clinic and John Hopkins
Medicine entwickeln und managen indes bereits seit einigen Jahren Einrichtungen im benachbarten Abu Dhabi. Allein 2011 haben die Golfstaaten sechs neue Kooperationsprojekte mit internationalen Anbietern aus den USA, Indien, Korea und Großbritannien angekündigt.
Private Anbieter müssen sich entscheiden:
direkt investieren oder Management-Verträge
zeichnen?
Die Entwicklung des privaten Gesundheitssektors ist nicht zuletzt auch ein Maß für den Entwicklungsstand eines Landes. Die
Golfstaaten stehen vor einer Nachfrage, die das Angebot an Gesundheitsleistungen übersteigt. Für private und internationale
Anbieter gibt es daher unterschiedliche Möglichkeiten, im Gesundheitsmarkt der Golfstaaten mitzumischen. In Saudi-Arabien
werden deutsche medizinische Fertigkeiten und Leistungen geschätzt. Daher stellen Unterstützung in Ausbildung und Training, Beratungsangebote und Managementvereinbarungen zur
Effizienz- und Qualitätssteigerung exzellente Möglichkeiten für
deutsche Anbieter dar. Um das hohe Risiko direkter Investments
zu verringern, bietet sich die Gründung von Joint Ventures mit
lokalen Anbietern an.
Gleichzeitig können internationale Anbieter ihre Dienstleistungen im Gesundheitstourismus ausbauen: Die Richtgröße von
8.000 saudischen Patienten, die jedes Jahr für Behandlungen
nach Deutschland reisen, macht nur einen sehr kleinen Anteil
aus. Obwohl es keine offiziellen Zahlen gibt, ist die Gesamtzahl
der ins Ausland reisenden Patienten vermutlich viel höher und
liegt im sechsstelligen Bereich. Deutschland hat beachtliche Erfahrung mit einem öffentlichen Gesundheitssystem, der Regulierung von Leistungen und der sorgsamen Privatisierung öffentlicher Krankenhäuser seit 1984. Von dieser Erfahrung könnten die
Regierungen der Golfstaaten bei der Reform ihrer Gesundheitssysteme maßgeblich profitieren.
Zweifellos wollen die politischen Entscheidungsträger in
Saudi-Arabien die Rolle der privaten Anbieter stärken. Private
Anbieter müssen sich dann entscheiden, ob sie Verwaltungsverträge mit der öffentlichen Hand abschließen, ihre eigenen Einrichtungen betreiben oder sich weiterhin auf Spezialgebiete in der
,.#Y,0,-),!/(!LJ-",Y(%(LJ1)&&(źLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJƀ
Firas Eid ist ehemaliger »Strategy Consulting Leader« für Nahost der
Beratungsfirma Deloitte und begleitet heute Gesundheitsunternehmen
bei strategischer Planung und beim Markteintritt in den Golfstaaten.
STARTUPS · EMIR ATE · WIRTSCHAFT
61
ACHTUNG
S I E
V E R L A S S E N
D E N
ÖFFENTLICHEN SEKTOR!
Die emiratische Jugend soll mehr Start-Ups gründen:
Staatliche Programme fördern junge Unternehmer, aber noch fehlt privates Risikokapital
VON LAURA GINZEL
ƀLJ)/&)/LJ"4(LJ4ŻLJųűŻLJ%((LJ#",LJ&į%LJ()"LJ#'',LJ%/'LJ -- kapitalgeber für Start-Ups unterwegs sind: »Die meisten Grünsen: Sie hat eine Förderung in Höhe von 1 Million Dirham, rund der wissen nicht einmal, wohin sie sich mit ihren Ideen wenden
200.000 Euro, bekommen – gesponsert vom Telefonanbieter können«, machte Al Gurg in der Sendung ihrem Ärger Luft.
du und der Beratungsfirma Ernst &Young. Dazu erhält sie für
Derzeit kümmern sich vor allem der Khalifa Fund, die
ein Jahr Büroräume, Telekommunikations- und Marke- staatliche Fördergesellschaft Dubai SME oder der Mohammed
ting-Support. In zwölf Runden hat sich Baz Ende letzten Jah- bin Rashid Fund um junge Gründer. Letzterer wurde erst im
res mit ihrer Start-Up-Idee »Nabbesh« durchgesetzt – ein sozi- Dezember 2012 ins Leben gerufen und soll fortan jährlich 100
ales Netzwerk für Freischaffende aus der Kreativbranche. junge Unternehmer und ihre Projekte finanzieren.
2.000 Mitbewerber hatten sich nach Angaben der Veranstalter
Dubai SME hat sich auf die Fahnen geschrieben, jungen
bei der TV-Show »The Entrepreneur« gemeldet. In den Emira- Emiratis das Unternehmertum als Alternative zur Karriere in
ten ansässige Gründer konnten in einer zweiminütigen Vi- staatlichen Behörden schmackhaft zu machen. Das Programm
deobotschaft ihre Business-Idee pitchen. Die besten 100 Be- »Young Entrepreneur Competition (YEC)« soll »frühzeitige
werber wurden persönlich eingeladen. In der Jury saßen Un- unternehmerische Erziehung« leisten und mit dem Bildungsternehmen wie Virgin Media Mega Stores Middle East und ministerium der Emirate kooperieren. Es richtet sich an Schüler und Studenten zwischen 15 und 25 Jahren. Für 2013 rechPetrochem Middle East.
»The Entrepreneur« ist das bislang medienwirksamste ei- nen die Veranstalter mit rund 1.000 Anmeldungen, 15 Prozent
ner Reihe von Projekten, mit denen die Emirate ihre jungen Zuwachs im Vergleich zu 2012.
Bürger aus dem gemütlichen Alltag locken wollen; Expats und
Die Organisation Injaz kooperiert seit zwei Jahren mit dem
Gastarbeiter stellen die überwältigende Mehrheit in der freien Khalifa Fund. Insgesamt unterstützt der Khalifa Fund die OrWirtschaft.
ganisation mit 1,5 Millionen Dirham, um mehr als 4.000 SchüVon den Einheimischen sind mehr als 85 Prozent der Er- ler und Studenten zwischen 13 und 24 Jahren in Finanzplawerbstätigen bei Ämtern beschäftigt, weitere 8 Prozent arbei- nung, Kommunikationsfähigkeiten und kreativem Denken zu
ten in Public Private Partnerships, nur 7 Prozent im privaten schulen – mithilfe eines Mentorennetzwerks aus der PrivatSektor. Arbeitlose Jugendliche wünschen sich laut einer Studie wirtschaft. Bislang habe Injaz bereits mehr als 15.000 junge
aus dem Jahr 2011 zu fast 95 Prozent einen Behördenposten, so Emiratis erreicht, freut sich Geschäftsführerin Sulaf al-Zubi:
ermittelte Samer Kherfi, Professor für Betriebswirtschaft an »Wir wissen, dass nicht jeder ein Entrepreneur sein kann, aber
der American University im Emirat Sharjah: »Der öffentliche die Jugendlichen verstehen jetzt ihre Fähigkeiten und MöglichSektor bietet signifikant höhere Einkommen als private Unter- keiten.« Für Shadi Banna, Mitinhaber der Onlineplattform ponehmen. Hinzu kommen eine entspanntere
tential, ist allerdings entscheidend, dass
Arbeitsatmosphäre und kürzere ArbeitszeiGründer in den Emiraten nicht bloß Konten. Die Konkurrenz im Privatsektor ist
zepte und Ideen anderer Länder importieren. »Wir brauchen eigene Geschäftsmodelgroß, Emiratis sind oft schlechter qualifile und -ideen mit einem starken Bezug zum
ziert als Expats«, heißt es in Kherfis Studie.
regionalen Markt«, sagt Banna im Gespräch
Muna Easa Al Gurg, Mitglied der Jury
von »The Entrepreneur« und Geschäftsfühmit zenith. Die Zahl der Interessenten an öfrerin der Easa Saleh Al Gurg Group (ESAG),
fentlichen und privaten Förderungsinstrubeklagt, dass gut gemeinte staatliche Initiamenten für Unternehmensgründer steige
PROZENT DER ARBEITSLOSEN
tiven diese Schieflage nicht allein korrigiezwar, aber die Anreize für private KreditgeJUGENDLICHEN WÜNSCHEN
ber und Start-Up-Fonds seien noch längst
ren können. Es sei kaum verständlich, dass
SICH EINE ANSTELLUNG
in den Emiraten noch derart wenige Risikonicht ausgeschöpft.
ƀ
IM ÖFFENTLICHEN SEKTOR
95
62
WIRTSCHAFT · BAHR AIN · SPYWARE
»Es geht hier
nicht um die
Privatsphäre«
INTERVIEW: DANIEL GERLACH
Maryam Abdulhadi al-Khawaja, 25, ist Vizepräsidentin der Organisation Bahrain Center for
Human Rights. Sie studierte englische Literatur
in Bahrain und an der Brown University (USA)
und besitzt neben der bahrainischen auch die
dänische Staatsbürgerschaft. Ihr Vater, der prominente bahrainisch-schiitische Aktivist Abdulhadi al-Khawaja, verbüßt in Bahrain eine lebenslange Haft wegen angeblicher Gründung
einer terroristischen Vereinigung.
zenith: Frau Khawaja, Sie führen derzeit eine Kampagne gegen Firmen, denen Sie vorwerfen, sie hätten den
bahrainischen Behörden SpionageSoftware geliefert. Gegen wen richtet
sich Ihr Zorn? Maryam al-Khawaja: Derzeit ermitteln wir gegen die deutsche Trovicor GmbH, die zu Siemens Nokia gehört.
Wir haben Beweise dafür, dass Menschenrechtsaktivisten mit deren Software, sogenannter Spyware, ausspioniert wurden.
Danach haben die bahrainischen Sicherheitskräfte diese Menschen verhaftet und
gefolter t. Die Orga nisation Ba hra in
Watch hat entsprechende Daten gesammelt. Zudem haben wir detaillierte Informationen über die Verwendung von Spyware der britischen Gamma International
in Bahrain.
Wie haben Sie das herausgefunden?
Zahlreiche Aktivisten, darunter ich selbst,
erhielten verdächtige E-Mails. In meinem
Fall bekam ich von einem angeblichen
Journalisten eine Mail mit einem WordDokument im Anhang. Ich wurde geben,
das zu öffnen und den darin enthaltenen
Artikel gegenzulesen. Ich hatte mit diesem
Journalisten aber nicht gesprochen. Abgesehen davon ist das eine ungewöhnliche
Verfahrensweise. Im Gegensatz zu anderen
habe ich den Anhang gelöscht: Beim Gulf
Center for Human Rights haben wir Schulungen in Internetsicherheit durchgeführt.
Daher wissen wir, dass E-Mail-Anhänge
Trojaner enthalten können. Die Organisation Bahrain Watch hat Internetspezialisten, die infizierte Computer untersuchen
konnten.
Foto: dge
Die bahrainische Aktivistin Maryam al-Khawaja über »digitale
Rüstungsgüter« und Ausfuhrkontrollen für Spionage-Software
SPYWARE · BAHR AIN · WIRTSCHAFT
63
64
WIRTSCHAFT · BAHR AIN · SPYWARE
Verlangen Sie nun ein Verbot von Überwachungsprogrammen? Nein, wir brauchen ein sehr strenges Regelwerk für ihre
Verwendung. Und wir wollen, dass Firmen
zur Verantwortung gezogen werden können, wenn sie repressive Regime damit beliefern. Zu diesem Zeitpunkt war klar, dass
Bahrains Behörden systematisch die Menschenrechte verletzen.
Sie bezeichnen Spyware als »digitale
Rüstungsgüter«. In Deutschland genehmigen Rüstungskontrollbehörden und
der Bundessicherheitsrat Waffenexporte. Soll dort demnächst über Spyware getagt werden? Ich verlange ein internationales System, dem wir den Missbrauch solcher Software anzeigen können
und das veranlassen kann, dass Unternehmen in ihren Ländern zur Rechenschaft gezogen werden. Und zwar ein besseres System als das der bisherigen Rüstungsausfuhrkontrolle. Es ist doch absurd genug,
dass Deutschland Panzer nach Saudi-Arabien liefert, wo systematisch gegen Menschenrechte verstoßen wird und das kein
System der Rechenschaft kennt. Es ist zudem eine Brutstätte für Terroristen, und es
kann sein, dass die Panzer einmal in völlig
andere Hände fallen. Das soll Europas Sicherheit befördern?
Wie wollen Sie das rechtlich durchsetzen? Letztendlich können die Firmen
argumentieren, dass sie Regierungen
beliefern, die in ihren jeweiligen Ländern »legal« sind. Wollen Sie, dass die
UNO eine schwarze Liste mit Ländern
herausgibt, die keine Spyware bekommen dürfen? Nein, wir wollen die konkreten Fälle offenlegen und erreichen, dass die
Firmen zukünftig genau nachdenken, wen
sie beliefern und wen nicht. In Ländern wie
Bahrain oder Syrien ...
Gewiss denken Sie, sofern Sie wirklich
stabile Beweise haben, darüber nach,
Hersteller von Spyware zu verklagen.
Wenn eine Firma etwa in den USA tätig
ist, könnten Betroffene dort in einer
Sammelklage einen erheblichen Schadenersatz erstreiten. Wir sind noch nicht
so weit und prüfen die rechtlichen Fragen.
Aber es ist klar, dass wir die Lieferanten
von Spyware an repressive Regime an zwei
Stellen treffen können: am Marken-Image
und am Portemonnaie.
... oder Iran ... ja, ebenso in Iran kann die
Verwendung solcher Software den Tod von
Menschen nach sich ziehen. Wir reden hier
nicht nur über eine Verletzung der Privatsphäre.
Andererseits kann man einen Waffenhersteller ja nicht verklagen, wenn jemand mit einer Waffe aus dessen Produktion Amok läuft. Wenn dieser Waffenhersteller weiß oder wissen müsste, dass
der Kunde einen Amoklauf plant, schon.
Wer repressive Regime am Golf mit Spyware beliefert, weiß, was damit geschieht.
Oder müsste es zumindest wissen!
Was sagt Gamma dazu? Sie haben behauptet, die bahrainischen Behörden hätten womöglich eine Demo-Version des Programms benutzt; alles sei ohne Wissen der
Firma erfolgt. Wir bezweifeln, dass Bahrain
die Experten hat, um ausgerechnet einer
Spezialfirma für Internetsicherheit Software zu entwenden. Denn sie konnten das
Programm offenbar upgraden und Informationen von den ausspionierten Computern auf Server in Bahrain transferieren.
»Wer solche Spyware
nach Bahrain liefert,
weiß, was damit
geschieht. Oder
müsste es zumindest
wissen!«
Nun argumentieren die Golfstaaten:
Auch europäische Polizeibehörden nutzen Spyware, um verfassungsfeindliche
Kräfte zu überwachen, die das System
stürzen wollen. Genau das tue man auch.
Ich verteidige hier nicht die Überwachungspraktiken in der EU. Aber in Europa sind die
Konsequenzen weder Tod noch Folter. Finden Sie nicht, dass das einen Unterschied
macht?
In den Vereinigten Arabischen Emiraten
werden Cyber-Aktivisten ja nicht umge-
Der Trojaner
kam von einem
angeblichen
Journalisten
bracht. Nein, aber wir haben glaubwürdige
Berichte über Folter auch von dort. Die Menschenrechtsbilanz der Staaten des Golfkooperationsrates (GCC) wird derzeit in der
Tendenz nicht besser, sondern schlechter.
Finden Sie es in Ordnung, wenn die Golfstaaten Spyware benutzen, um Al-QaidaNetzwerke oder Finanzkriminalität
aufzuspüren? Sofern dem ein strikt legales, gerichtlich instruiertes Verfahren zugrunde liegt, das die Grundrechte der Betroffenen achtet, ist das okay.
Die Rechtsmentalität in den Golfstaaten
basiert ja eher auf der Idee, dass der
Staat den Bürger vor seinen eigenen
Dummheiten und Leidenschaften schützen müsse. So blockt man bestimmte
Web-Inhalte, die für schädlich befunden
werden: zum Beispiel Sex-Seiten oder
was immer man dafür hält. Es macht einen Unterschied, ob man das Betreiben einer Porno-Seite in einem Land strafrechtlich verfolgt, weil es nach dem Gesetz illegal ist, oder einfach Seiten blockiert. Bei
dieser Praxis muss man fragen: Wo beginnt
das, und wo hört es auf? Diese Auseinandersetzung mit der Freiheit des Internets
ist in den Golfstaaten kaum entwickelt.
Glauben Sie, dass Sie mit Ihrer Meinung
über Freiheit in den Golfstaaten für eine Mehrheit der Staatsbürger sprechen? Sicher nicht. Die meisten denken,
dass bei ihnen die Welt in Ordnung ist. Ich
sage auch nicht, dass wir jetzt im GCCRaum die großen Revolutionen erleben
werden. Aber in meiner Generation stellen
immer mehr Menschen die richtigen Fra!(LJ/(LJ-.,(LJ("LJ,Y(,/(!źLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJƀ
KOLUMNE · WIRTSCHAFT
ALMANACH DER ENERGIEN
Tierische und pflanzliche Kräfte
Kamele und Hammel sind seit
Jahrtausenden in der arabischen
Welt zu Haus – inzwischen betreibt
sogar der Wüstenstaat Saudi-Arabien
Rinderfarmen und exportiert Milch:
Das eröffnet Energiequellen
Illustration: Matthias Töpfer
VON ACHMED A.W. KHAMMAS
ƀLJLJ&&LJ,#-"(LJY(,LJ(1#,.-" .LJ/(LJ#"zucht betreiben, gibt es eine Energieressource, welche
insbesondere auf ländlicher Ebene genutzt werden
kann: Biogas, das aus der Vergärung organischer Stoffe entsteht. Doch anders als in Ländern wie Indien oder
China, in denen eine gewaltige Zahl kleiner »Digister«
entstanden ist, bleibt diese Technologie in Nordafrika
und dem Nahen Osten weitgehend ungenutzt. Und das,
obwohl die klimatischen Verhältnisse überaus geeignet sind, da der Gärungsprozess optimal bei 30 bis 33
Grad Celsius verläuft. Das gewonnene Gas kann zum
Kochen, zum Beheizen oder sogar mit Biogas-Generatoren zur Stromerzeugung eingesetzt werden.
In Ländern wie Deutschland wird Biogas bereits
in großem Maßstab erzeugt – gleichwohl die erste reguläre Biogasanlage der Welt 1859 in Indien erprobt
wurde. Die großtechnische Anwendung ist durch die
gezielte Ausnutzung von Biomasse-Kulturflächen
möglich, wobei auch die Option besteht, besondere
Aquakulturen anzulegen – etwa mit Algen und Wasserhyazinthen, die dann als Kompostierungsmaterial dienen. Den Rückstand an mineralischen Nährstoffen
kann man der Kulturfläche als Dünger wieder zuführen. Es ist ebenfalls möglich, Industrieabfälle aus der
Papierherstellung, der organischen Chemie und der
Klebemittelindustrie zu nutzen – und nicht zuletzt Abfälle von Schlachtereien.
Eine weitere interessante Alternative sind die sogenannten Pflanzenölkocher. Schließlich kochen noch immer rund zwei Milliarden Menschen an offenen Feuerstellen mit Holz, gefährden dabei ihre Gesundheit und
ruinieren die Umwelt. Der WHO zufolge sterben jährlich rund 1,5 Millionen Menschen durch giftige Anteile
des Rauchs und durch Rußpartikel (Stand 2007). Die
Universität Hohenheim entwickelte daher gemeinsam
mit der philippinischen Leyte State University einen
Pflanzenölkocher namens »Protos«, der schon 2004
während einer Erprobungsphase in 100 philippinischen
Haushalten und Garküchen seine Bewährungsprobe bestanden hat. Berechnungen zufolge lässt sich mit 100 Litern Pflanzenöl die Kochenergie einer durchschnittlichen Familie für ein ganzes Jahr sichern.
Mithilfe der Münchner Bosch und Siemens Hausgeräte GmbH (BSH) wird der Öko-Kocher anschließend in Indonesien produziert und für umgerechnet
30 Euro verkauft. Außerdem sollte eine Infrastruktur
für die Gewinnung von Pflanzenölen aus tropischen
Gewächsen entstehen. Es gelingt aber nicht, den Kocher einer breiten Nutzerschicht zugänglich zu machen
– und das Projekt läuft nun aus. Immerhin stellt die
BSH die Konstruktionszeichnungen und technischen
Anleitungen kostenlos als Blue Prints zur Verfügung.
Womit ihrer Verbreitung in der arabischen Welt nichts
mehr im Wege stünde, sofern endlich eine Übersetzung
des Materials erfolgt.
Eine Technologie, die schon wesentlich erfolgreicher, im Orient aber trotzdem noch nicht weit verbreitet ist, sind die Solaren Kochkisten und Solarkocher, die
fast überall lokal und ohne großen Aufwand herstellbar sind. Die einfachsten Geräte sind verglaste Kisten,
während die Reflektorkocher aus einem segmentierten, parabolischen Spiegel bestehen, der Sonnenstrahlen bündelt und auf den Boden des Kochgefäßes richtet. Statt Glas- oder Metallspiegeln kann auch eine mit
Aluminium beschichtete Polyethylenfolie eingesetzt
werden. Und will man es etwas luxuriöser, dann gibt es
inzwischen zusammenklappbare Kocher aus polierten
Aluminium- oder Edelstahlsegmenten, die vor jedes
/#((4&.LJ#((LJ/"LJ/./,#-'/-LJ"#(4/,(źLJLJLJƀ
zenith-Kolumnist Achmed A.W. Khammas ist Dolmetscher
und Science-Fiction-Autor. In seinem Internet-Archiv
buch-der-synergie.de informiert er über Geschichte und
Gegenwart der Erneuerbaren Energien.
65
66
WIRTSCHAFT · TANSANIA · IN VESTITIONEN
Wettlauf
gegen
das Öl
Gute Wachstumsraten, aber ein mieses Ranking auf
dem Index für »menschliche Entwicklung«: Ehrgeizige
Unternehmer wollen Tansanias Wirtschaft fit machen
– bevor neu entdeckte Rohstoffe die Entwicklung
wieder durcheinanderbringen
TEXT UND FOTOS: BARBARA OFF
IN VESTITIONEN · TANSANIA · WIRTSCHAFT
67
»Lions on the Move« –
so nannte das McKinsey Global Institute, die Denkfabrik der Unternehmensberatung McKinsey, ihre Studie
zum Wachstums- und Investitionspotenzial afrikanischer Volkswirtschaften im Jahr 2010. Damals sagte
das Institut für verschiedene ostafrikanische Länder
eine Investitionsrendite voraus, die weit höher lag als
in anderen Entwicklungsregionen: Wachstumsraten
von durchschnittlich sechs Prozent, zunehmende politische Stabilität, eine wachsende Mittelschicht und
eine neue junge, ambitionierte Elite.
Tansania kann auf der einen Seite tatsächlich seit
mehreren Jahren Wachstumsraten von sechs Prozent
und mehr aufweisen. Auf der anderen Seite rangiert
das Land 2011 auf dem Human Development Index für
»menschliche Entwicklung« der Vereinten Nationen
nur auf Platz 152 von insgesamt 187 Ländern.
Die Straße zwischen der Küstenstadt Bagamoyo
und der Metropole Daressalam wird derzeit vierspurig
ausgebaut. Dort pulsiert das Leben: Stau, Staub, Hitze,
Lärm, Straßenverkäufer, Geschäftsleute in Anzügen,
Baustellen allerorten. Neue Einkaufszentren und Bürogebäude entstehen, Hochhäuser werden aufgestockt.
Eine Hauptverkehrsader wird mit einer Schnellbuslinie ausgestattet. Jetzt in Infrastrukturprojekte oder
Immobilien zu investieren lohne sich auf jeden Fall,
sagt der Unternehmer John Maeda, der sein Geld mit
Immobilien und Suchmaschinenoptimierung gemacht
hat. »Der nächste Hotspot wird das Viertel Kigamboni,
da haben wir gerade 800 Quadratmeter Land gekauft!«
Maeda ist zuversichtlich: Sobald die Verkehrsinfrastruktur in dem Gebiet vorhanden sei, werde der Wert
um ein Vielfaches steigen.
Anfang des Jahres unterzeichneten die Behörden
mit chinesischen Baufirmen Verträge in Höhe von 136
Millionen US-Dollar: Bis 2015 soll dort eine Brücke
mit City-Anbindung entstehen. Damit könnte Kigamboni zu einem neuen Wohn- und Geschäftsgebiet für
die Mittelklasse werden, da vergleichbare Stadtteile
wie Massaki, Mikocheni oder Mbzei bereits saturiert
sind. Verschiedene US-amerikanische Unternehmen
hätten mit den tansanischen Behörden bereits Investitionsabkommen für die Erschließung Kigambonis getroffen, sagt Maeda: »Wenn du Geld hast, kaufst du
dort jetzt!«
Das Verkehrsaufkommen und die Bau-Aktivitäten
lenken den Blick ausländischer Geschäftsleute auf eine prosperierende und konsumfreudige Mittelschicht
in Tansania. Investoren seien deshalb geneigt, auf diesen Absatzmarkt zu zielen, sagt Maeda. Dennoch, so
ist er überzeugt, spreche die Statistik für sich: »Es gibt
in Tansania viel mehr arme Leute als Vertreter der
Mittel- oder Oberschicht. Für ein erfolgreiches Unternehmen lohnt es sich, Produkte für die gesamte Gesellschaft anzubieten.«
Und erfolgreich sind damit vor allem die Mobilfun-
kunternehmen: Heute liegt das Potenzial in mobilen
Anwendungen, die das Leben in einem Entwicklungsland wie Tansania erleichtern. Der Mobilfunksektor
profitiert so auch von der schlechten Festnetz-Infrastruktur, geringem Bildungsstand und geringer Dichte
von Post- und Bankdienstleistungen: Bereits relativ
früh, im Jahr 2007, hat die in Kenia entwickelte mobile
Anwendung Mpesa das Bezahlwesen in Tansania revolutioniert. Mit Mpesa kann man, ohne über ein Bankkonto zu verfügen, über sogenannte Mpesa-Agents
Bargeld auf ein elektronisch geführtes Guthabenkonto
einzahlen. Dieses Geld wird dem Empfänger mit dem
entsprechenden Code an einem anderen Ort bei einem
Mpesa-Agent wieder ausgezahlt.
Teddy Qirtu, Managerin beim Marktforschungsund Dienstleistungsunternehmen DataVision International, skizziert die vielfältigen Möglichkeiten, die mobile Dienstleistungen bieten können: »Für das tansanische Parlament haben wir den Service SMS Mtandao
implementiert, womit alle Parlamentarier per SMS
über Termine informiert werden.« Jetzt könne sich
kein Abgeordneter mehr herausreden, wenn er eine
Sitzung verpasst.
Demnächst soll ein Kommunikationsservice für
den tansanischen Baumwollmarkt den Betrieb aufnehmen: Agrarspezialisten in Daressalam sollen darüber
mit Baumwollbauern über geeignete Düngemittel oder
bevorstehende Witterungsverhältnisse kommunizieren. Teddy Qirtu ist überzeugt von solchen mobilen
SMS-Diensten: »Auf dem afrikanischen Markt funktionieren vor allem einfache Technologien«, sagt sie.
Im »Entrepreneurship Center« der Universität
Daressalam finden heute regelmäßig Workshops für
Existenzgründer statt, durchgeführt von der tansanischen Organisation »Support for Entrepreneurship
and Enterprise Development« (SEED) und dem BIDNetwork, einer Nichtregierungsorganisation aus den
Niederlanden, die Unternehmer aus Entwicklungsund Schwellenländern mit Investoren zusammenbringen will. Deren Matchmaking kann bereits einige Erfolgsgeschichten erzählen: etwa die von Godfrey
Mosha und seinem Unternehmen Principal Company,
das Backzutaten importierte. Als das Unternehmen
groß genug war, begann Mosha, selbst zu produzieren:
Principal Company konnte so die Importkosten senken und auf lokale Grundstoffe zurückgreifen.
2020 will Tansania Schwellenland
werden – und vor allem zum Nachbarn
Kenia aufschließen
68
WIRTSCHAFT · TANSANIA · IN VESTITIONEN
Verkehr und Bau-Arbeiten in Daressalam lenken den Blick ausländischer Besucher auf eine prosperierende Mittelschicht.
Für Donath Olomi, langjähriger Unternehmer und
Berater von Existenzgründern, ist diese Entwicklung
typisch für den Aufbau von Betrieben in Tansania.
»Die meisten produzierenden Unternehmen starten
als Handelsfirmen«, sagt Olomi. »So sammeln sie Erfahrungen, können den Markt und die Lieferketten
studieren und Marktlücken erkennen.« Im Regelfall
erwirtschafte das Importgeschäft auch ein Basiskapital für den Aufbau einer Produktion.
Vor allem im Agrarsektor sehen tansanische Experten Potenzial für Investitionen in die Weiterverarbeitung: 24 Prozent des tansanischen BIP werden dort
erwirtschaftet, bislang ist aber erst rund ein Viertel der
nutzbaren Flächen erschlossen. Agrarerzeugnisse wie
etwa Cashewnüsse werden immer noch im Rohzustand
exportiert und erst im Ausland geröstet und weiterver-
»Die regionale Integration
übt einen positiven Druck
auf die Tansanier aus«
arbeitet. Seit 2009 verfolgt die Regierung in Daressalam die Strategie »Kilimo Kwanza«, was auf Swahili
»Transformation der Landwirtschaft« bedeutet: Ziel ist
die Modernisierung und Kommerzialisierung des Agrarsektors. Eines der bedeutenden Projekte ist der
»Southern Agricultural Growth Corridor of Tanzania«,
wo Regierung, internationale Geber, private Unternehmen und Bauern gemeinsam die landwirtschaftliche
Wertschöpfungskette verbessern sollen. Auf Unternehmerseite sind internationale Konzerne aus der Chemie-, Biotechnologie- und Nahrunsgmittelbranche
vertreten: etwa Monsanto, Unilever und Dupont.
Tansanische Unternehmen wollen aufschließen
zum erfolgreicheren Nachbarland Kenia: Dass Tansania wirtschaftlich ins Hintertreffen geraten ist, erklären viele mit der sozialistischen Prägung des Regimes
unter Präsident Julius Nyerere, der über 20 Jahre
herrschte. Erst ab 1985 öffnete sich das Land langsam
dem internationalen Markt. Die sozialistische Vergangenheit habe immer noch Einfluss auf Arbeitsmoral
und Produktivität, sagen tansanische Unternehmer.
Auf politisch-gesellschaftlicher Ebene könne das Land
hingegen punkten: Ethnische Auseinandersetzungen
wie in Kenia kenne man dort kaum. Tansania gilt als
eines der friedlichsten Länder Afrikas und als Stabilitätsfaktor der »East African Community« (EAC). Der
gemeinsame Markt der EAC bietet langfristig nicht
IN VESTITIONEN · TANSANIA · WIRTSCHAFT
nur Handelsoptionen und wirtschaftliches Wachstum,
sondern erhöht auch den Wettbewerb unter Arbeitnehmern und Unternehmern. »Die regionale Integration übt einen positiven Druck auf die Tansanier aus«,
sagt Aggrey Marealle, Regierungsberater und Inhaber
einer PR-Agentur namens Executive Solutions. »Wenn
sie nicht überrollt werden wollen, dann müssen sie
sich bewegen!«
Große Hoffnungen setzt Marealle darauf, dass
Tansanias Wirtschaft fit und nachhaltig genug entwickelt ist, wenn sie demnächst eine ihrer größten Herausforderungen aufnimmt. Ein nationales Projekt, das
Segen, aber auch Fluch sein kann: Anfang 2012 wurden im Süden Tansanias, vor der Küste Mtwaras in
Mzani Bay, umfangreiche Öl- und Gasvorkommen entdeckt. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann die
Förderung beginnen wird, und es gilt dabei, grobe Fehler anderer afrikanischer Staaten zu vermeiden: »Damit in Zukunft auch die Bevölkerung vom Öl und Gas
profitiert, müssen jetzt faire Verträge mit ausländischen Firmen verhandelt werden«, sagt Marealle. Da
es in Tansania wenige hoch qualifizierte Fachkräfte
wie Ingenieure und Juristen gebe, werde es nicht leicht
sein, die nationalen Interessen bei diesem Unterfangen bestmöglich zu wahren.
Zudem besteht die Gefahr, dass Tansania sich zu
sehr auf die Einnahmen aus fossilen Rohstoffen ver-
69
Tansanias Landwirtschaft führt Rohstoffe
aus. Dabei wäre die
Verarbeitung lukrativ
lässt und dabei andere Wirtschaftssektoren vernachlässigt. Bei einem Bevölkerungswachstum von fast
drei Prozent wird vor allem die Jugendarbeitslosigkeit
in den Städten ein immer drängenderes Problem; eines, das der Öl- und Gassektor kaum auffangen wird.
Nach der langfristigen Entwicklungsstrategie der
Regierung soll Tansania bis 2020 zum Schwellenland
werden. Aber noch sind viele Unternehmer unzufrieden mit der politischen Führung. Man habe zwar gute
Gesetze, an der Durchsetzung hapere es jedoch, heißt
es in Unternehmerkreisen: Korruptionsskandale,
Selbstbereicherung von Politikern und Ineffizienz in
der Verwaltung stünden einer nachhaltigen Entwick&/(!LJ#(-.1#&(LJ()"LJ#'LJ!źLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJƀ
Reine Lippenbekenntnisse
glcons.de / Foto: picture alliance (Mirjam Reiter)
Der Schriftsteller Bahman
Nirumand klagt den Westen an:
Durch seine bigotte Menschenrechtspolitik verspielt er
den letzten Rest Vertrauen
in Nahost.
Bahman Nirumand
Menschenrechte als Alibi
Die Nahostpolitik des Westens
muss glaubwürdig werden
100 Seiten|Euro 10,– (D)
ISBN 978-3-89684-145-2
Auch als deutsches und englisches
E-Book erhältlich.
www.edition-koerber-stiftung.de
70
WIRTSCHAFT · ISR AEL · MARKETING
»Nackte Frauen
helfen da nicht«
Wie macht man Werbung für streng religiöse Menschen? Eine
Akademie für ultraorthodoxe Juden in Israel hat ihre Antwort
gefunden: indem man sie selbst zu Reklame-Experten ausbildet
TEXT UND FOTOS: ANDREAS HACKL
ƀLJ/,LJ#((LJ#&)'.,LJ(. ,(.LJ0)(LJ(LJ"#**(LJ †-LJ
und Bars Tel Avivs beginnt eine Enklave des streng religiösen jüdischen Lebens: die Stadt Bnei Brak. Hier
tragen die Männer schwarze Anzüge und noble Hüte,
die Frauen Kopftuch, Perücken, und knöchellange Röcke. Fernsehen und Internet sind verpönt in der
zehntgrößten Stadt Israels, die einzigen Medien sind
Zeitungen und Magazine. Dennoch gelten ultraorthodoxe Juden, wie sie hier leben, zunehmend als lukrative Zielgruppe für maßgeschneiderte Werbung.
Und wer könnte besser als die Zielgruppe selbst wissen, wie solche Werbung aussehen muss. Der israelische
Werbefachmann Eitan Dobkin leitet deshalb einen Studiengang speziell für Ultraorthodoxe. Dieser ist Teil der
renommierten Tel Aviver Werbeakademie Habetzefer.
Doch statt pulsierender Innenstadt umgeben Autowerkstätten und Lagerhallen das Gebäude am Rande von
Bnei Brak, in dem die Seminare abgehalten werden. Derzeit 25 Frauen und Männer lernen hier unter strikter
Geschlechtertrennung, wie man Werbung macht.
»Diese Rabbis bekommen dafür viel
Geld. Das ist Teil des Markts«
»Wir machen Ultraorthodoxe zu Werbefachleuten, weil
sie am besten wissen, wie man ihre Gemeinschaft für
Produkte gewinnt«, sagt Dobkin, während er vor dem
Abendkurs letzte Änderungen in seine Powerpoint-Präsentation einfügt. Dann breitet er zur Ansicht
einige Magazine auf dem Schreibtisch aus. Eine Titelseite zeigt den Kopf eines Rabbiners mit langem Bart.
Das Design ist zurückhaltend und wirkt konservativ.
Im Inneren gibt es vor allem eines zu sehen: viel Text.
»In diesen Kreisen wird sehr viel gelesen: die Bibel, religiöse Texte, aber auch solche Magazine«, sagt Dobkin. Printmedien seien deshalb der wichtigste Kanal
für die Werbung auf dem ultraorthodoxen Markt.
Fernsehen, Radio und Internet stellten nach wie vor
ein Tabu für viele streng Religiöse dar. So forderten Ende Mai rund 60.000 ultraorthodoxe Juden im New-Yorker Queens-Stadion ein koscheres Internet. Das Web
sei ein »Minenfeld der Unmoral«, wetterte ein Rabbiner vor der Menge. Um das Netz trotzdem dieser Zielgruppe zugänglich zu machen, bieten mehrere Firmen
Filter an, die unerwünschte Inhalte blockieren und so
das Netz koscher machen sollen.
Wer streng religiöse Menschen von einem Produkt
überzeugen will, sollte eine ganze Reihe von Regeln beachten. Frauen in der Werbung etwa sind nach Ansicht
der Haredim oder »Gottesfürchtigen«, wie ultra-orthodoxe Juden auch genannt werden, überhaupt nicht
koscher. Deshalb versah die Stadtverwaltung von Bnei
Brak vergangenes Jahr einige Plakate mit einem Aufkleber: »illegale Werbung«. Zu sehen waren darauf
nicht etwa Models in Unterwäsche, sondern voll bekleidete Lehrerinnen, die sich für eine landesweite Bildungsreform aussprachen.
Die Besonderheiten des Markts bergen aber nicht
nur Gefahren, sie bieten auch Ansatzpunkte für strategische Zielgruppenansprache. Während Eitan Dobkin durch das Magazin blättert, erklärt er die Ideen
hinter erfolgreichen Werbeanzeigen – zum Beispiel der
eines israelischen Herstellers von Milchprodukten:
»Sie werben damit, dass diese Milch besonders koscher
sei, weil sie in einem speziellen Karton verpackt ist.«
Auf der nächsten Seite geben mehrere Rabbiner entsprechende Gutachten ab. »Diese Rabbis bekommen
dafür viel Geld. Das ist Teil des Markts«, sagt Dobkin.
Um in diesem Marktsegment Erfolg zu haben,
müssen Firmen die Kunden von zwei wesentlichen Eigenschaften ihres Produkts überzeugen: Es muss gut
sein, und es muss koscher sein. Das gelingt nicht immer auf Anhieb. So habe Coca-Cola lange Zeit Proble-
60
MARKETING · ISR AEL · WIRTSCHAFT
PROZENT DER ULTRAORTHODOXEN
JUDEN IN ISRAEL SIND ARBEITSLOS
Coca Cola für ein »glückliches
Pessach-Fest und einen Frühling in
üppigem Grün«. Die Haredim bekommen
viele Kinder und sind eine wachsende
Konsumentengruppe
71
72
WIRTSCHAFT · ISR AEL · MARKETING
me damit gehabt, sich in der streng-religiösen Gemeinschaft in Israel zu behaupten, erläutert Dobkin. Ein
Grund dafür sei der Preis gewesen. Doch anstatt ihn zu
senken, habe sich das Unternehmen einen Slogan einfallen lassen: »Tikvat Shabas Kodesh – Zum heiligen
Sabbat.« Damit knüpfte Coca-Cola an einen jüdischen
Glauben an, nach dem Gott alles, was zum Sabbat gekauft wird, wieder zurückgibt. »Die Kampagne war
sehr erfolgreich«, sagt Dobkin.
»Gerade weil es so viele Regeln gibt,
müssen wir sehr kreativ sein«
Dieser »Mad Man« ist ein Gottesfürchtiger: Eitan Dobkin leitet den
Studiengang Werbung für Ultraorthodoxe. Mit dem »Minenfeld der
Unmoral«, dem Internet, hat er kaum Berührungsängste.
»Die Senf-Honig-Vinaigrette von Hellmanns sorgt dafür, dass Sie
Ihren Salat nicht wiedererkennen« – das Koscher-Gütesiegel sorgt
in jedem Fall dafür, dass ein Haredi nicht danebengreift.
Die meisten ultraorthodoxen Studenten der Akademie
in Bnei Brak können sich die rund 2.600 Euro für den
siebenmonatigen Kurs nicht leisten. Deshalb bekommen viele Stipendien von Stiftungen in den USA, die
mehr ultraorthodoxe Juden in Arbeit bringen wollen.
Denn etwa 60 Prozent aller Haredim in Israel sind arbeitslos; viele der Familien leben von öffentlichen Geldern. Sie haben im Schnitt rund acht Kinder. Dabei ist
die Beschäftigungsrate unter Frauen höher als unter
Männern, die meist in Religionsschulen die hebräische
Bibel studieren.
Die Gegensätze zwischen Ultraorthodoxen und
anderen Israelis haben sich in den vergangenen Jahren
zugespitzt. So wird in ultraorthodoxen Vierteln in Jerusalem in öffentlichen Bussen Geschlechtertrennung
praktiziert, außerdem ein Autoverbot zum Sabbat. Die
Forderung, auch dort Frauen von Werbeplakaten zu
verbannen, löste einen Aufschrei von Frauenrechtsorganisationen und empörten Bürgern aus. Beispiele wie
die Werbeakademie zeigen jedoch, dass beide Welten
nicht völlig unvereinbar sind – und dass es durchaus
Ultraorthodoxe gibt, die Karriere machen wollen.
»Ich bin das, was man einen neuen Haredi nennen
kann«, sagt der 22-jährige Ishai Hizkia kurz vor Beginn
seiner Seminareinheit in Bnei Brak. Scheu vor neuen
Trends und dem Internet hat er nicht. »Ich benutze das
Internet. Ich lerne von der neuen Welt und hole mir viele Ideen vom Werbemarkt«, sagt er. »Die wende ich
dann am ultraorthodoxen Markt an.« Schon in der
Kleidung unterscheidet er sich von den meisten seiner
Kommilitonen: Sein Hemd ist nicht schlicht und weiß,
sondern farbig und kariert. Anstatt eines Hutes trägt
er eine unscheinbare Kippa, die unter männlichen Juden übliche Kopfbedeckung.
Bilder von Frauen will aber auch Hizkia nicht in der
Werbung sehen – allerdings nicht, weil er sie anstößig
fände. »Es ist einfach nicht kreativ, einen nackten Frauenkörper auf eine Plakatwand zu kleben«, sagt Hizkia.
»Ich stelle mir eher die Frage: Wie kann ich etwas schaffen, das es noch nicht gegeben hat?« Er hat sein ganzes
Leben in Bnei Brak verbracht. Dort ist er aufgewachsen,
und dort will er auch Werbung machen. »Gerade weil es
so viele Regeln gibt, müssen wir sehr kreativ sein«, sagt
,źLJƍ%.LJ,/(LJ"& (LJLJ(#".źƌLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJƀ
The Corporate Gate to a
World of Logistics
EL FADEL
The worldwide specialists for:
AIR FREIGHT
SEA FREIGHT
LAND TRANSPORT
WA R E H O U S I N G
COMBI - SOLUTIONS
S U P P LY C H A I N S O L U T I O N S
CUSTOMS
I T- S O L U T I O N S
BOOKFREIGHT
CHEMICALS
G R E E N - L O G I ST I C - S O L U T I O N S
NEW!
There is no quicker way to calculate logistics:
Your tool of voice to organize all information you need
to make a good price quotation. Online 24 hours / 7 days
all over the world. Register for free! Use for free!
>>>
online.cgate-logistics.com
CGATE Logistics GmbH
Ferdinandstrasse 2 | D-20095 Hamburg | Germany | Phone +49 (0)40 32 52 88 3 0 | Fax +49 (0)40 32 52 88 3 29 | Mail: [email protected]
&*$7(B$Q]B[PPB3ULQWLQGG
www.cgate-logistics.com
74
WIRTSCHAFT · TÜRKEI · GESCHÄFTSKLIMA
Hart im Nehmen
Wer nicht in den Club darf, kann auch draußen glücklich werden:
Zwischen Europa, Nahost und Zentralasien gedeiht die türkische Volkswirtschaft weiter
– der Mut zum Risiko zahlt sich aus. Neue Akteure und Eliten verändern das Gesicht
des Landes. Dabei lernen die Türken, auch Rückschlage zu verkraften
VON YASEMIN ERGIN
ƀLJ-LJ į,LJ#(LJ&(ƂLJ#(LJ-"&**1!(ŻLJ&(LJ'#.LJ(LJ0,%)"&ten, zusammengeschmolzenen Resten mehrerer Transportlaster,
rollt über den syrisch-türkischen Grenzübergang Cilvegözü. Die
stinkenden Klumpen aus Gummi und Stahl waren einmal Ali Celiks ganzer Stolz. Der Spediteur aus der südtürkischen Stadt Mersin holt nun zurück in die Heimat, was von seinem Reichtum übrig
bleib: »Das war’s dann mit dem Wirtschaftsboom in Hatay«, sagt
er. Rebellen der Freien Syrischen Armee hatten die Kontrolle eines
Zollpostens erkämpft, kurz danach plünderten unbekannte Täter
die türkischen Lastwagen und setzten sie in Brand. »Jetzt stehen
viele Firmen in der Gegend endgültig vor dem Ruin«, klagt Celik.
Die Türkei schloss nach dem Vorfall im vergangenen Sommer
ihre Seite der Grenze für den Warenverkehr – der Schritt markierte
das vorläufige Ende des ehemals blühenden Grenzhandels.
Noch bis vor knapp zwei Jahren galt Hatay als Paradebeispiel für
die positiven wirtschaftlichen Auswirkungen der neuen Nahostausrichtung der Türkei. Im Zuge der von Außenminister Ahmet
Davutoglu vorangetriebenen »Null-Probleme-Politik« schloss Ankara Ende der 2000er Jahre Freundschaft mit dem früheren Problemnachbarn Syrien. Hatay, einst historischer Zankapfel zwischen den beiden Ländern – in den 1920er Jahren hatten die europäischen Mächte die Provinz den Türken zugeschanzt –, galt vor
Beginn des Aufstandes in Syrien als Stätte der Versöhnung und erlebte dabei einen ungeahnten Aufschwung.
Der florierende Grenzhandel mit Weizen, Baumwolle oder Autoreifen machte viele Geschäftsleute in der Region steinreich; die
Markthändler in Hatay wiederum boten seitdem erstklassige Gewürze, Datteln und Seifen aus dem syrischen Aleppo feil. Auch der
GESCHÄFTSKLIMA · TÜRKEI · WIRTSCHAFT
Tourismus kam in Schwung – heute sind Konfliktreporter und syrische Flüchtlinge die einzigen verbliebenen Gäste.
»Es ist eben riskant, enge Handelsbeziehungen mit instabilen
Regimen einzugehen«, sagt Sumru Altug, Professorin für Wirtschaft an der Istanbuler Koc-Universität, eher ungerührt von der
Geschichte. »Neue Märkte zu erschließen ist schön und gut, aber
wenn die Türkei sich zu sehr auf ihre Handelspartner im Osten
verlässt, wird es immer wieder Probleme geben«, doziert sie. »Nehmen Sie Iran. Die Türkei bezieht einen Großteil ihrer Energie von
dort. Aber was ist, wenn die Iran-Krise eskaliert und die Energiepreise in die Höhe schnellen? Das würde die türkische Wirtschaft
noch viel härter treffen als der Konflikt in Syrien.«
Die in Pennsylvania ausgebildete Ökonomin schlug für ihren
Posten an der privaten Nobel-Hochschule etliche Jobangebote aus
England und den USA aus und erlaubt sich gerne kritische Bewertungen der türkischen Handelspolitik. Die Abwendung von Europa etwa ist in ihren Augen ein großer Fehler, denn politische Stabilität sei ein zu hohes Gut, Schuldenkrise hin oder her: »Die meisten Europäer haben immer noch mehr Geld, das sie für türkische
Produkte ausgeben können, als der Durchschnittsbürger in, sagen
wir, Aserbaidschan.«
Dass die türkische Außenpolitik durch den Krieg in Syrien an
ihre Grenzen gestoßen ist, steht außer Zweifel. Eine einflussreiche
Regionalmacht mit guten Beziehungen zu allen Nachbarn und Gewicht auf dem internationalen Parkett wollte die Türkei sein, so
jedenfalls sah es die von Außenminister Ahmet Davutoglu entwickelte Doktrin der »Strategischen Tiefe« vor. Schließlich sei die
Türkei durch ihre Lage als Bindeglied zwischen Europa, Asien und
Afrika wie geschaffen für eine solche Rolle; und schließlich beherrschten noch vor weniger als hundert Jahren osmanische Sultane von Istanbul aus einen Vielvölkerstaat im Nahen Osten.
Die ehrgeizigen Ziele der grenzenlosen Führungsmacht wurden von den arabischen Revolutionen und den daraus entstehenden Krisen vorerst durchkreuzt – obwohl es zunächst aussah, als
könne die Türkei als Vorbild der »islamischen Demokratien« auftreten und aus den Umbrüchen Profit schlagen. Weder gelang es
der türkischen Regierung, auf das immer brutaler gegen das eigene Volk vorgehende Assad-Regime einzuwirken, noch, Probleme
mit ihren anderen Nachbarn zu vermeiden. Stattdessen gab es
Streit mit Israel und Zypern und Stress mit Iran. Ganz zu schweigen von dem im eigenen Land brodelnden Kurdenkonflikt.
Zunächst sah es so aus, als trage die Strategie Früchte. Die Kooperationen mit Iran etwa sind ein gutes Beispiel dafür, wie flexibel die Türkei zwischen Ost und West hin- und her jonglieren
konnte. Trotz politischer Querelen zog die Türkei viele iranische
Unternehmen an, die sich dem Druck internationaler Sanktionen
entziehen wollen. Iraner stehen noch immer an der Spitze der Statistik ausländischer Firmengründungen in der Türkei, allein 2012
ließen sich rund 650 registrieren. Und dann ist da auch noch die
raffinierte Tauschkette »Energie gegen Gold«, mit der die Türkei
die Wirtschaftssanktionen gegen Iran umgeht, ohne ihnen direkt
zuwiderzuhandeln: Nachdem Teheran im Zuge der Sanktionen
2012 aus dem weltweiten Interbanken-System SWIFT verbannt
wurde, deponierte die Türkei für Öl- und Gasimporte Türkische
Lira auf iranischen Konten; Zahlung mit Devisen war nicht mehr
möglich. Von dem Geld wiederum kaufte der iranische Staat in rauen Mengen Gold auf dem türkischen Markt ein. Der sprunghaft
ansteigende Goldhandel verschönerte ganz nebenbei noch die tür-
75
Die lukrative Zusammenarbeit mit
Iran hätte sich die Türkei als
EU-Mitglied nicht leisten können.
Links: Die Region Istanbul erreicht eine Wirtschaftsleistung, die den Vergleich mit
der europäischen Konkurrenz nicht scheuen muss.
Unten: Konzernerbin Dogan Yalcindag hier beim Foto-Termin mit zenith, hat sich
mit den politischen Gegnern ihres Vaters diplomatisch arrangiert.
76
WIRTSCHAFT · TÜRKEI · GESCHÄFTSKLIMA
kische Leistungsbilanz – ein Trick, den sich die Türkei als Mitglied
der Europäischen Union nicht hätte leisten können. Und die Folgen eines Standortvorteils, wenn man überall dabei ist, aber nirgendwo dazugehört.
Das türkische Wirtschaftswunder der letzten Jahre speist
sich, da sind sich die Experten einig, aus dem enormen Improvisationsgeschick und der Anpassungsfähigkeit türkischer Unternehmen. Sie mischen dort mit, wo sich andere nicht ohne Weiteres hintrauen, gelten als aufgeschlossen für »Provisionen« an Staatsbeamte und haben wenig Scheu vor Risiken. Türkische Firmen bauen heute Einkaufszentren im Sudan, Fabriken in Usbekistan und
Flughäfen im Irak. Gleichzeitig lockt die Türkei Kapital aus der
Region auf ihre Märkte und treibt erfolgreich Handel über alle
Grenzen. Und aus der globalen Finanzkrise sind die Türken einstweilen sehr glimpflich herausgekommen.
»Ja, die Türkei hat ein sehr gutes Jahrzehnt hinter sich«, sagt
Arzuhan Dogan Yalcindag und lächelt beinahe zärtlich, während
sie die Erfolge der letzten Jahre rekapituliert. »Wir haben schon
zu Beginn der 2000er Jahre unsere eigene Finanzkrise gemeistert
und unseren Finanzhaushalt in Ordnung gebracht, während der
Rest der Welt langsam in die Krise schlitterte. Wenn man die Russen mit ihren Öl- und Gas-Exporten mal beiseitelässt, sind wir
heute die größte Wirtschaftsmacht in der Region!« Am Ende sei
die Stoßrichtung doch richtig gewesen, hätten sich die Risiken und
Rückschläge rentiert.
Und wenn eine Frau wie Arzuhan Dogan Yalcindag die Politik
der gemäßigt-islamistischen Regierung in Ankara lobt, muss wohl
etwas dran sein. Denn kulturell liegt sie von Premier Erdogan und
seiner Clique in etwa so weit entfernt wie der Bosporus vom Fuß
des Kaukasus-Gebirges. Und überdies hätte sie mit Erdogan noch
eine Rechnung zu begleichen.
Die 48-Jährige ist Vorstandschefin des größten türkischen
Medienkonzerns Dogan Medya Holding und eine der mächtigsten
Bosse im Land. 2007 wurde sie zur ersten weiblichen Vorsitzenden des türkischen Unternehmerverbandes TÜSIAD gewählt, ein
Posten, den sie 2010 aufgeben musste, um den familieneigenen
Mammutkonzern aus der Krise zu führen. Dogan Yalcindag, die
zwei Kinder erzieht und – zu Recht – von türkischen Frauenzeitschriften stets für ihr perfektes Styling Lobpreisungen erntet, ist
eine der »Superfrauen« der türkischen Wirtschaftswelt, wie man
sie in Deutschland vergeblich sucht: Güler Sabanci etwa, Chefin
der gleichnamigen Holding, die den zweitgrößten Konzern des
Landes lenkt, Museen und Forschungsinstituten vorsteht und in
ihrer Freizeit einen von Kennern hochgeschätzten Wein anbaut.
Oder Ümit Boyner, die aktuelle Präsidentin von TÜSIAD, die außerdem im Finanzvorstand des boynerschen Familienkonzerns
sitzt.
Diese Frauen der Business-Welt stellen europäischen Lebensstil zur Schau und entstammen Industrie-Clans, die in der türkischen Wirtschaft den Ton angaben und deshalb von früheren Regierungen gehätschelt wurden. Sie haben sich inzwischen auch mit
der islamisch-konservativen Camarilla um Erdogan arrangiert:
Allein die Dogans lieferten sich einen wahrhaften Kulturkampf
mit den neuen Herrschern.
Arzuhan Dogan Yalcindag ist die älteste Tochter des Tycoons
Aydin Dogan, Begründer eines Konglomerats aus Energiekonzernen, Autofirmen, Finanz- und Medienunternehmen, darunter die
auflagenstarke Zeitung Hürriyet.
Die Geschichte der Dogan Holding steht beispielhaft für einen
Wandel, der sich in den letzten Jahren in der türkischen Geschäftswelt abgespielt hat, ein verändertes unternehmerisches Klima,
das zum Aufstieg neuer Akteure führte.
Aber war es auch, wie manche Beobachter behaupten, ein
Kampf um die Ost- oder West-Ausrichtung der Türkei?
Patriarch Aydin Dogan hielt wenig von dem Islamisten Erdogan, was wohl auf Gegenseitigkeit beruhte; 2007 ging der Showdown
in die erste Runde. Nicht zuletzt, weil seinen Konzernen einige rentable Staatsaufträge durch die Lappen gingen, führte Dogan einen
Medienkrieg gegen den Regierungschef. Im Frühjahr 2009 fuhr Erdogan schweres Geschütz auf und hetzte seinem Erzfeind die Steuerbehörden auf den Hals. Die verlangten Nachzahlungen in Höhe
von 2,3 Milliarden US-Dollar – auch für den Giganten Dogan Holding hätte das den sicheren Ruin bedeutet. Der alte Dogan pfiff seine Kampfhunde zurück und entließ einige Chefredakteure und Kolumnisten. Dann zog er sich aus dem Vorstand zurück und überließ
seiner ältesten Tochter Arzuhan die Rettung seines Lebenswerkes.
»Wir steckten damals völlig im Chaos. Viele Menschen haben
nicht daran geglaubt, dass die Holding die Krise überstehen würde. Aber es geht uns heute besser als je zuvor«, sagt Dogan Yalcindag und nippt an ihrem Capuccino.
Das Bewusstsein, dass man am Markt bestehen
kann, hat das Land mehr verändert als die AKP
Tatsächlich ist der Machtkampf zwischen Dogan und Erdogan in
einem größeren Kontext zu betrachten. Lange begegneten die alten Istanbuler Eliten dem hemdsärmeligen Aufsteiger mit Geringschätzung. Seine Gerechtigkeits- und Fortschrittspartei AKP versprach Wohlstand für alle: Erst kommt das Fressen, dann kommt
der Islam – so könnte man die Ideologie der AKP beschreiben.
Mit dieser Mischung aus Religion und Business verschob sich
das wirtschaftliche Bewusstseinszentrum der Türkei ein Stück
weit nach Osten – und es eröffneten sich Horizonte an den Ostgrenzen. Nach einigen Jahren Erdogan sahen viele Türken ihr
Land nicht mehr als Bittsteller, der von den Türstehern der Europäischen Union nicht in den Club gelassen wird. Den Türken war
indes auch klargeworden, dass der Traum vom EU-Beitritt in weite Ferne rückte – Erdogan führte zwar die Verhandlungen mit
Brüssel brav weiter, legte allerdings auch einen forschen Tonfall
gegenüber den Europäern an den Tag. Gab es im Osten nicht längst
auch lukrative Märkte zu erschließen?
Hinter der AKP stand nicht nur der »kleine Mann«, sondern
auch Unternehmerverbände, Industrielobbyisten, aufstrebende
Konzerne, Großhändler und Baulöwen in der Provinz. Und nirgendwo lässt sich diese Spezies so gut beobachten wie in Kayseri. Rund
800 Kilometer von Istanbul entfernt, im Zentrum Anatoliens, liegt
die religiös geprägte Industriestadt, die mit der Metropole am
Bosporus noch weniger gemein hat als Ludwigshafen mit Berlin-Mitte. Ein Bier nach Feierabend trinkt dort anscheinend niemand, und manche Beobachter gestehen den fleißig-frommen Bewohnern Kayseris schon eine »protestantische Arbeitsethik« zu.
Mustafa Boydak, ein kleiner, dicker Mann mit Igelfrisur und Vor-
GESCHÄFTSKLIMA · TÜRKEI · WIRTSCHAFT
liebe für grell gemusterte Krawatten, ist dort Präsident der Handelskammer und Vizechef der Boydak Holding mit ihren Möbelmarken Bellona und Istikbal: billiger als Ikea und vom Design her
den Geschmack des Verbrauchers in Nahost, Zentralasien und der
Ukraine treffend.
Inzwischen haben die Boydaks auch Metall- und Textilfabriken sowie eine Bank, die nach islamischen Grundsätzen wirtschaftet. Mustafa Boydak Senior war Tischler und konnte 1957, als er
den ersten Laden öffnete, weder lesen noch schreiben. Seine Söhne lernten es. Die erste Werkstatt war 35 Quadratmeter groß, heute produziert man auf 1,25 Millionen Quadratmetern. »Fromme
Menschen sind fleißiger – abgesehen davon, dass wir fünfmal täglich beten«, sagt Boydak. Für seine Stadt sei Arbeit eine Art Gottesdienst.
Doch die islamischen Kapitalisten von Kayseri sind auch pragmatisch – sie profitierten von den Ost-Exporten, hatten aber
gleichwohl nichts gegen einen EU-Beitritt der Türkei. Schon 1976
reisten die Brüder Boydak zu Messen nach Europa erkannten dort
die Chancen der industriellen Möbelfertigung. Im selben Jahr entstand in Kayseri das erste Industriegebiet. Finanziell gesehen
müssen die Boydaks keine Komplexe gegenüber den GlamourClans vom Bosporus haben: Mit einem Jahresumsatz von zuletzt
5,3 Milliarden Türkische Lira spielen sie heute in derselben Liga.
Ob die Tage der europäisch-orientierten, alten Clans angesichts der Konkurrenz der neuen Schwergewichte aus Anatolien
gezählt sind?
Sumru Altug von der Privatuniversität Koc hält die Debatte
um den Kulturkonflikt zwischen alten und neuen Eliten oder Ostund Westanbindung ihrer Heimat für erledigt: »Am Ende bekommen die Islamisten der AKP ihre Wählerstimmen nicht wegen ihrer konservativen Ideologie, sondern weil sie die wirtschaftlichen
Bedürfnisse der Bevölkerung erfüllen«, erklärt sie. Zudem habe
der Aufstieg der neuen Akteure nicht nur interne Gründe, sondern
hänge mit den Erkenntnissen des internationalen Wettbewerbs
zusammen. »Nachdem die Türkei etwa der Europäischen Zollunion beitrat, mussten türkische Unternehmen plötzlich lernen, in
einem internationalen Markt mit anderen zu konkurrieren«. Nicht
nur der »Aufbruch nach Osten« türkischer Firmen habe neue Akteure hervorgebracht, sondern das Bewusstsein, dass man im
Wettbewerb bestehen kann.
Zu den türkischen Exportschlagern der letzten Jahre gehören
übrigens nicht nur Windeln oder Haushaltselektronik, sondern
aufwendig produzierte Herzschmerz- und Heldenserien: Rund 150
türkische Soaps werden derzeit in 73 Länder verkauft – vor allem
nach Asien, Nordafrika und in die arabische Welt. Im Abspann stehen dabei nicht selten Namen von Produktionsfirmen der Dogan
Medya Holding.
Der Boom begann 2008 mit der türkischen Serie »Gümüs«,
die in der arabischen Welt Quotenrekorde brach. Seitdem hat sich
die Zahl der Besucher aus dem Nahen Osten an den Originalschauplätzen Istanbuls angeblich vervierfacht: »Soap-Tourismus« heißt
das im Fremdenverkehrswesen. Und manche gehen sogar so weit,
den türkischen Serien einen politischen Einfluss zuzusprechen:
Der Kulturexport mache die Türkei jenseits ihrer Grenzen überaus beliebt und vermittle türkische Tugenden: In Gümüs verlieben sich zwei junge, schöne Menschen und führen eine Beziehung
auf Augenhöhe – allerdings erst nach ihrer Zwangsheirat. Es geht
)"źLJ,!(1#źLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJ
LJ
LJ
LJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJƀ
77
Die islamischen Kapitalisten von Kayseri
sind nicht gegen einen EU-Beitrtt. Aber
sie glauben nicht daran.
Industrielle Fertigung in Anatolien. Eine fast »protestantische« Arbeitsethik
bescheinigen manche Beobachter den neuen »Ruhrbaronen« der Türkei.
78
WIRTSCHAFT · TÜRKEI · DATEN
Diese Zahlen sind nicht getürkt
26%
25%
10%
ANTEIL DER TÜRKISCHEN
FRAUEN, DIE NICHT LESEN
UND SCHREIBEN KÖNNEN
ANTEIL DER FRAUEN AN DEN FÜHRUNGSKRÄFTEN IN DER TÜRKEI
ANTEIL DER BERUFSTÄTIGEN FRAUEN AN
DER WEIBLICHEN GESAMTBEVÖLKERUNG
22,9
IMPORTVOLUMEN DER
TÜRKEI IN MILLIARDEN
DOLLAR (1992)
152,6
271,8
IMPORTVOLUMEN DER TÜRKEI
IN MILLIARDEN DOLLAR (2012)
14,7
EXPORTVOLUMEN DER
TÜRKEI IN MILLIARDEN
DOLLAR (1992)
27,02
EXPORTVOLUMEN DER
TÜRKEI IN DEN NAHEN OSTEN
IN MILLIARDEN DOLLAR (2012)
2,3 1,2
EXPORTVOLUMEN DER TÜRKEI
IN MILLIARDEN DOLLAR (2012)
58,02
MILLIARDEN EURO
JAHRESUMSATZ DER
BOYDAK HOLDING
(2012)
Redaktion: yer
MILLIARDEN EURO JAHRESUMSATZ
DER DOGAN HOLDING (2011)
Illustration: LeSprenger
EXPORTVOLUMEN DER
TÜRKEI NACH EUROPA IN
MILLIARDEN DOLLAR (2012)
45
%
DATEN · TÜRKEI · WIRTSCHAFT
973 TL
(408 EURO) GESETZLICH FESTGELEGTER
BRUTTO MINDESTLOHN IN DER TÜRKEI
894 TL
(375 EURO) Ø MONATSEINKOMMEN
IN K AYSERI (2010)
1429 TL
(598 EURO) Ø MONATSEINKOMMEN
IN ISTANBUL (2010)
901 TL
(377 EURO) Ø MONATSEINKOMMEN
IN K AYSERI (2010)
2622 TL
(1100 EURO) Ø LEBENSHALTUNGSKOSTEN
IN DER TÜRKEI IN DEN STÄDTEN:
1670 TL
(700 EURO) Ø LEBENSHALTUNGSKOSTEN
IN DER TÜRKEI AUF DEM LAND
1500 TL
(628 EURO) Ø MONATSGEHALT
EINES LASTWAGENFAHRERS
4000 TL
(1675 EURO) Ø GEHALT EINES
KRANKENHAUSARZTES
45000 TL
(18853 EURO) MONATSGEHALT VON IBRAHIM TURHAN,
VORSTANDSCHEF DER ISTANBUL STOCK EXCHANGE UND
EINER DER BESTVERDIENENDEN MANAGER DER TÜRKEI
79
DER TÜRKEN GEBEN ANGEBLICH MEHR GELD AUS,
ALS SIE VERDIENEN
11,6
Mio
MENSCHEN IN DER TÜRKEI LEBEN
UNTERHALB DER ARMUTSGRENZE (2011)
80
WIRTSCHAFT · TÜRKEI · LEISTUNGSBILANZ
Ein riskanter Höhenflug
Die türkische Wirtschaft ist über die letzten Jahre so erstarkt, dass
Deutschland Ende letzten Jahres die bilaterale Entwicklungskooperation mit der Türkei beendete. Doch die Zahlen trügen:
Das Land kann schnell in eine Strukturkrise geraten
VON WOLFGANG MOUSIOL
ƀLJ(.,LJ,LJ!#,/(!LJ,)!(LJ".LJ#LJį,%#LJ#(LJ(/-LJ
Selbstbewusstsein gewonnen – nicht nur in der internationalen Politik. Kontinuierliches Wirtschaftswachstum
in der letzten Dekade hat weltweit Ökonomen veranlasst,
eine strahlende Zukunft für die türkische Volkswirtschaft zu prognostizieren. Problematisch dabei ist jedoch,
dass das Wachstum sich nicht gleichmäßig über die gesamte Türkei verteilt. So gibt es nicht nur starke regionale Disparitäten in Wirtschaftsstruktur und Wachstumsentwicklung zwischen Westen und Osten des Landes, sondern auch zwischen ländlichen Gebieten und urbanen
Ballungszentren. Am wenigsten profitieren die ländlichen
Gebiete und die Osttürkei vom Aufschwung. Im Vergleich
mit anderen OECD-Staaten ist die Türkei Spitzenreiter
in der Kategorie »nachhaltige regionale Unterschiede«,
was sich auf die Verteilung der Produktionsstrukturen
zurückführen lässt: Industrie im Westen, Verwaltung im
Zentrum und Landwirtschaft im infrastrukturell schwachen Osten.
Die türkische Landwirtschaft leistet einen Beitrag
von 9 Prozent zum BIP – sehr viel mehr als in den europäischen Nachbarländern. Trotzdem wird der Sektor häufig übersehen, liegt der Fokus der Politik doch auf der Industrialisierung. Die Vernachlässigung durch die Politik
hat ihren Preis: Der Agrarsektor ist geprägt von Subsistenzwirtschaft und einer sehr geringen Produktivität.
Dem Mangel an Lagerungs- und Veredelungskapazitäten
kann das Land nur durch kapitalintensive Investitionen
entgegentreten. Doch genau an Kapital fehlt es; die Landwirtschaft ist somit ohne europäische Unterstützung
langfristig nicht konkurrenzfähig.
Eine weitere Schwäche des türkischen Wirtschaftswachstums offenbart sich im durchschnittlichen Einkommen: Trotz stetigen Wachstums seit 2001 betrug das
kaufkraftbereinigte Pro-Kopf-Einkommen des Jahres
2009 gerade einmal 45 Prozent des europäischen Durch-
schnitts. So verdienten lediglich 3,5 Prozent der Türken
1.500 Euro und mehr, 70 Prozent verdienten 500 Euro
und 27 Prozent der Arbeitnehmer hatten ein Einkommen
von weniger als 250 Euro. Die offizielle Armutsrate für das
Jahr 2010 lag bei 16,9 Prozent, die Dunkelziffer dürfte jedoch weit höher sein. Auch hier werden regionale Unterschiede deutlich: In der Region Istanbul erreicht man etwa drei Viertel des europäischen Durchschnitts, in der
Osttürkei lediglich ein Sechstel. Die Armutsrate liegt in
Ost- und Südostanatolien bei 46,6 Prozent.
Die türkische Landwirtschaft ist ohne
europäische Unterstützung langfristig
nicht konkurrenzfähig
Eine der Ursachen für Armut und hohe Arbeitslosigkeit
besonders unter Jugendlichen sind das unzureichende
Bildungswesen und die geringe Sensibilisierung für Forschung und Entwicklung in der Türkei. Der aktuelle
Fachkräftebedarf wird auf 400.000 geschätzt. Sollte sich
das Wirtschaftswachstum wie bisher entwickeln, weist
die Türkei bald einen mittelfristigen Fachkräftebedarf
von über einer Million auf. Speziell in Technik- und Ingenieurwesen fehlt es an Nachwuchskräften, woran besonders die Innovationskraft der türkischen Wirtschaft
leidet.
Wirft man einen Blick auf das Verhältnis von Importen und Exporten, ist festzustellen, dass die Türkei seit
Jahren mehr Güter importiert, als sie ausführt. Dies führt
zu einem jährlich wachsenden Leistungsbilanzdefizit und
einem enormen Abfluss dringend benötigter Devisen.
Dass die türkische Wirtschaft trotz geringer Exporte
wächst, erklärt sich aus einer überhitzten Binnennachfrage nach Konsumgütern, die mangels Eigenkapital fremd-
LEISTUNGSBILANZ · TÜRKEI · WIRTSCHAFT
finanziert werden muss; die Gelder hierfür stammen aus
dem Ausland. Die Wirtschaftskrisen der Jahre 2001 und
2008 waren unter anderem eine Folge des Abzugs ausländischen Kapitals aus der türkischen Wirtschaft. So beruhten 2001 rund 40 Prozent des türkischen BIP-Wachstums
auf Krediten. Schon damals finanzierten die türkischen
Konsumenten ihren privaten Verbrauch mit aus dem Ausland zur Verfügung gestelltem Fremdkapital.
6, 2
5,3
9,4
8,4
6,9
4,5
1,1
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2, 2
– 5,7
2000
– 3,7
6,8
BIP — ENTWICKLUNG (RATE)
Quelle: Trade & Invest
2009
2010
11,5
2006
2007
2008
2009
10,33
10,1
2005
10,1
9,9
2004
2011
2012
9,8
10,6
2003
11,9
10, 2
2002
14,8
10,5
ARBEITSLOSENENTWICKLUNG (QUOTE)
Quelle: Statista (Jahre 2011 und 2012 geschätzt)
2010
43, 3
54
2004
2005
2006
2007
105,8
34
2003
71,6
22,1
2002
38,8
15,5
2001
70
10,1
LEISTUNGSBILANZDEFIZIT IN MRD. US-DOLLAR
Quelle: EUROSTAT, Germany Trade & Invest
(Daten für 2011 geschätzt)
2008
2009
2010
2011
4
BILECIK
IZMIR
DÜZCE
MERSIN
3,9
6, 2
ANK ARA
6,5
ISTANBUL
6,6
8,5
27, 2
ANTEIL AUSGEWÄHLTER REGIONEN AM BIP IN PROZENT
BURDUR
AUSGABEN (IN PROZENT VOM BIP 2011)
Quelle: Germany Trade & Invest
Bruttoinvestitionen
20,5
Staatskonsum
13
Privatverbrauch
66,5
Der Konsum wird mit ausländischem
Kapital finanziert – das macht
die Wirtschaft sehr verletzlich
Der Staatshaushalt finanziert sich hauptsächlich aus Einkommens- und Konsumsteuer. Die zukünftige Höhe der
Einkommensteuer ist abhängig von einem weiteren Wirtschaftswachstum und der Schaffung neuer Arbeitsplätze.
Da die türkische Wirtschaft jedoch immer noch stark binnenmarktorientiert ist, hängen Arbeitsplätze an einer zunehmenden Nachfrage im Konsumbereich. Genau dieser
ist allerdings durch die fremdfinanzierte Beschaffung für
private Haushalte krisenanfällig. Dies um so mehr, als das
benötigte Fremdkapital aus dem Ausland kommt. Ziehen
die ausländischen Kapitalgeber ihr Geld zurück, bricht der
Konsummarkt zusammen – die erforderliche Nachfrage
bleibt dementsprechend aus und die Steuereinnahmen gehen zurück.
Zusätzlich wird der türkische Staatshaushalt durch
die Transferzahlungen ins Ausland stark belastet. Grund
ist die kurzfristige Auslandsverschuldung, die im Jahr
2010 um 58 Prozent stieg. Diese hohe Abhängigkeit von
kurzfristigem ausländischem Kapital macht die Türkei
besonders empfindlich. 2009 lagen die türkischen Vermögenswerte bei rund 29 Prozent des BIP, wohingegen sich
die Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausland auf über 70
Prozent der Gesamtwirtschaftsleistung beliefen. Damit
zählt die Türkei global zu den Ländern mit dem höchsten
ausländischen Finanzierungsbedarf. All dies spricht dafür, dass die türkische Wirtschaft »überhitzt« ist. Es hat
sich eine »Blase« gebildet, die sich nur über Ausweitungen
der Exporte, eine gleichzeitige Dämpfung der Inlandsnachfrage nach Konsumgütern sowie eine verstärkte Investitionstätigkeit in allen Sektoren schadensfrei verkleinern kann.
Will der anatolische Tiger nicht nur maunzen, sondern sich an die Spitze der aufstrebenden Industriestaaten setzen, muss er also schleunigst in eine nachhaltige
gesamtwirtschaftliche Entwicklung investieren, die eine
Umstrukturierung des Bildungssystems, eine Modernisierung der Landwirtschaft, die Ausbildung von qualifizierten Arbeitskräften und eine Anpassung des privaten
)(-/'-LJ/' --(LJ-)&&.źLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJLJƀ
Prof. Wolfgang Mousiol ist Wirtschaftswissenschaftler, Politologe und Studiendekan an der European Management School
(EMS) in Mainz.
81
82
WIRTSCHAFT · SEKRETÄR
BERICHT AN DEN VORSTAND
Jobwunder Iran?
Der Sekretär
IHRE TERMINE
DAG Wirtschaftsfrühstück
5. April, Berlin, PWC Building, Potsdamer
Platz 11
Angesichts der saudischen Hochbau-Projekte
ist der von Renzo Piano entworfene debis-Tower in Berlin eine passende Location: Um 9 Uhr
morgens laden die Deutsch-Arabische Gesellschaft und PricewaterhouseCoopers zu einem
Wirtschaftsfrühstück mit Experten aus Riad:
Es geht um Steuerrecht und Vertragsgestaltung im Königreich. »Nur Rüstungsgeschäfte
werden bei uns nicht verhandelt«, kommentiert DAG-Generalsekretär Harald Moritz Bock.
d-a-g.org
Turkish-Arab Economic Forum
4. und 5. April, Istanbul, Türkei
Nach Deutschland ist der Irak der wichtigste
Handelspartner der Türkei. Türkische Unternehmen haben den Arabischen Frühling gut
überstanden – die Konkurrenz kritisiert allerdings das burschikose Geschäftsgebaren der
Anatolier, die angeblich sehr flexibel mit Compliance-Regeln umgehen. Premier Erdogan
lädt persönlich ein. Es lohnt sich ein Blick hinter die Kulissen des türkischen Exportwunders. Auf der Website wird das Event im Four
Seasons Hotel als »most excited« – also:
»höchst aufgeregt« – beworben.
turkisharabeconomicforum.com
Business and Investment in Qatar Forum
15.- 16. April, Berlin
»Wenn alle kommen, die angekündigt sind,
wird Doha an diesen Tagen kaum regierungsfähig sein«, heißt es aus Kreisen der Veranstalter. Tatsächlich wartet die Roadshow der Kataris in Berlin mit höchster Prominenz auf: Katars
Premier Hamad Bin Jassim soll gemeinsam mit
der Bundeskanzlerin eröffnen. Auch viele Minister sind mit von der Partie. Bilateraler Gedankenaustausch steht jedoch nicht im Vorder-
grund: »Die Kataris werden dort zeigen, was
sie alles vorhaben«, ist zu vernehmen. Katars
Außenministerium, die Bundesregierung und
die Qatari Businessmen Association veranstalten das Event, Partner ist unter anderem die
Deutsch-Arabische Handelskammer Ghorfa.
ghorfa.de | qatarberlinforum.com
Iraq Healthcare Conference und Iraq Medicare
27. bis 29. Mai, Erbil, Irak
Der Irak will im Jahr 2015 mehr Geld für Gesundheit ausgeben als Saudi-Arabien – 2012
erklärte der irakische Gesundheitsminister im
zenith-Interview, dass die Städte bereits um
die besten Versorgungszentren und Zuwendungen der Zentralregierung wetteifern. Die
staatliche Agentur KIMADIYA für Einkauf und
Distribution von Medikamenten und Equipment rückt in den Fokus von Unternehmen.
Während der Messe Medicare findet erstmalig eine Healthcare-Konferenz für Experten
statt. Mancher stößt danach im »Deutschen
Hof« zu Erbil an. Denn (frei nach Heinrich Lübke) können die Kurden auch Oberbayern sein.
www.iraqhealthcareconference.com
7. Deutsch-Afrikanisches Energieforum
7. bis 10. April in Hamburg und Hannover
Der Afrika-Verein der deutschen Wirtschaft
rechnet mit 500 Teilnehmern, darunter Staatssekretäre und Verbandsfunktionäre aus den
Ländern, die zu den rohstoffreichsten der Welt
gehören: Nigeria, Algerien, Angola. Der blutige Anschlag auf eine Gas-Förderanlage im algerischen In Amenas steckt der traditionellen
risikofreudigen Öl- und Gas-Branche allerdings
noch in den Knochen. Neben den fossilen Bodenschätzen stehen auch neue Themen wie
Energy IT und „ländliche Elektrifizierung“ auf
dem Programm.
energyafrica.de
Schreiben Sie uns: [email protected]
In den »aktuellen Hinweisen« an seine Mitglieder präsentierte der Nah- und Mittelostverein (Numov) jüngst einige erfreuliche
Meldungen aus der iranischen Wirtschaft.
Erstaunlich: Die Arbeitslosigkeit sei gar gesunken. »Sie lag im Herbst 2012 bei 11,2
Prozent, während sie ein Jahr zuvor noch
bei 11,8 Prozent lag«, verkündete der Numov unter Berufung auf die Nachrichtenagentur MehrNews. Wenn Unternehmen
solche Meldungen ungefiltert als Indiz für
ein vorgeblich besseres Wirtschaftsklima
präsentiert bekommen, lohnt sich ein Blick
auf die Hintergründe. Gewiss hat die Islamischen Republik kein Monopol auf das
Schönfärben von Arbeitsmarktstatistiken
– aber derzeit einigen Grund dazu.
Laut der iranischen Statistikbehörde
stieg die Quote der Erwerbslosen im Sommer 2012 im Vergleich zum Vorjahr in insgesamt zwei Drittel der Provinzen – und in
traditionellen Wirtschaftszentren: OstAserbaidschan mit der Metropole Tabriz
(von 7,5 auf 14,8 Prozent), Ardebil (von 8,5
auf 13,6 Prozent), Teheran (von 10,8 auf 12,2
Prozent), Khuzestan (von 9,3 auf 13,2 Prozent), Zanjan (von 7,5 auf 13,6 Prozent), Isfahan (leicht von 13,9 auf 14,3 Prozent).
Zehn Provinzen, darunter Gilan und Mazandaran, Sistan-Belutschistan und Hormozgan am Persischen Golf, verbuchten
laut Statistik einen Rückgang.
Die iranischen Behörden haben indes
eher eigenwillige Interpretation der Standards der International Labor Organization (ILO): Kinder über zehn Jahren, die verstärkt im Niedrigstlohnsektor arbeiten,
zählen in Iran zur wirtschaftlich aktiven
und damit erwerbstätigen Bevölkerung.
Dazu kommt: Eine einzige bezahlte
Wochenstunde Arbeit genügt, um als beschäftigt zu gelten. Insgesamt wächst die
Zahl derjenigen rapide, die sich aufgrund
der desolaten Lage überhaupt nicht mehr
um Jobs bemühen – da sie auf kaum Unterstützung hoffen können, melden sie sich
nicht als arbeitssuchend und verschwinden
aus der Statistik. Hochqualifizierte Kräfte
wie Ingenieure und mittleres Management
wurden in zahlreichen privaten Unternehmen auf Teilzeit umgestellt – sofern sie die
Entlassungswellen der vergangenen Monate überstanden haben.
Raha Namwar
MACHTKAMPF IN SANAA
WIE ARCHAISCH IST DER JEMEN?
TANGENTE
MÄRZ / APRIL 2013
DER PREIS DES ERFOLGS
WAS DIE TÜRKEI SICH LEISTET
SINDBAD VS. SIEGFRIED
WAGNER UND DIE ARABER
WWW.ZENITHONLINE.DE
01 / 2013 UNSICHTBARE GEGNER WARUM ES IN ÄGYPTEN IMMER WIEDER KNALLT
In der Tradition von Eames: GOOD DESIGN Award für Tangente Datum. Wie bereits im Vorjahr
ging der weltweit angesehenste Preis für Produktdesign auch diesmal an NOMOS Glashütte.
Der GOOD DESIGN Award, von Charles und Ray Eames, Eero Saarinen und Edgar Kaufmann, Jr.
1950 erstmals vergeben, schmückt bis heute nur weltbeste Formen. Mit entsprechenden
inneren Werten: feinsten Kalibern aus Glashütter NOMOS-Manufaktur.
Tangente-Modelle gibt es ab 1180 Euro etwa bei: Augsburg: Bauer & Bauer; Berlin: Christ KaDeWe, Lorenz; Bielefeld: Böckelmann; Bonn: Hild; Bremen: Meyer; Darmstadt: Techel;
Dortmund: Rüschenbeck; Dresden: Leicht; Düsseldorf: Blome; Erfurt: Jasper; Hamburg: Becker; Koblenz: Hofacker; Köln: Berghoff, Kaufhold; Ludwigsburg: Hunke; Lübeck:
Mahlberg; München: Bucherer, Fridrich, Kiefer; Münster: Freisfeld, Oeding-Erdel; Ulm: Scheuble. Überall: Wempe. www.nomos-store.com und www.nomos-glashuette.com
UNSICHTBARE
GEGNER
WARUM ES IN ÄGYPTEN IMMER WIEDER KNALLT
DEUTSCHLAND EURO 8,20 | ÖSTERREICH EURO 8,90 | BENELUX EURO 8,90 | SCHWEIZ SFR 13,50
ISSN 1439 9660