welt-sichten 2-2015, Februar
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5,20 € | 7,80 sFr www.welt-sichten.org 2-2015 februar EBOLA: Die reichen Länder haben versagt NORDKOREA: Aufschwung in der Diktatur VENEZUELA: Die Krankenhäuser siechen dahin Magazin für globale Entwicklung und ökumenische Zusammenarbeit wohnen Alle ab ins Hochhaus ? IM URLAUB DEN BLICK SCHÄRFEN mit taz-KorrespondentInnen auf Reisen gehen Seit 2008 organisiert die Berliner Tageszeitung „taz“ Studienreisen in Begleitung ihrer AuslandsmitarbeiterInnen. Diese haben persönliche Kontakte zu Menschen, die sich in Projekten und Bürgerinitiativen engagieren. Bei Begegnungen mit solchen Akteuren der Zivilgesellschaft lernen Sie das Urlaubsland und seine gesellschaftliche Dynamik intensiver kennen – und natürlich bleibt auch Zeit für schöne Landschaften, geschäftige Märkte und beeindruckende Bauwerke. Im Angebot 2015 gibt es u. a.: TUNESIEN MIT EDITH KRESTA U. RENATE FISSELER-SKANDRANI Tunis – Kairouan – Sidi Bouzid – Douz – Dahargebirge – Mahdia 30. März bis 11. April sowie 19. bis 31. Oktober 2015; ab 1.380 € (DZ/HP/ohne Anreise) PALÄSTINA/JERUSALEM MIT GEORG BALTISSEN Nablus – Ramallah – Jenin – Jericho – Jerusalem – Hebron – Bethlehem 29. März bis 8. April sowie 4. bis 14. Oktober 2015; ab 2.450 € (DZ/HP/Flug) Istanbul In Kooperation mit medico international ISTANBUL MIT JÜRGEN GOTTSCHLICH UND NIHAT GENÇOSMAN Mit Bosporus-Fahrt bis zum Schwarzen Meer 29. März bis 8. April sowie 14. bis 22. November 2015; ab 1.140 € (DZ/3 x HP, 5 x ÜF/ohne Anreise) CHINA spezial MIT YANG LIAN UND YO YO (IN ENGLISCHER SPRACHE) Kultur und Kulinarik bei Treffen mit chinesischen Künstlern Peking – Yanghzou – Yellow Mountains – Hogcun – Shanghai 9. bis 23. Mai 2015; ab 3.480 € (DZ/HP/Flug) Westjordanland BOSNIEN UND HERZEGOWINA MIT ERICH RATHFELDER UND AMELA MALDOSEVIC Sarajevo – Mostar – Prijedor – Jajce – Banja Luka – Visegrad 23. bis 31. Mai 2015; ab 1.480 € (DZ/HP/ohne Anreise) 2015 werden insgesamt 28 Reiseziele angeboten. Sie finden alle Informationen (Programme, taz-Reiseleiter, Preise und Leistungen, Kontakt zu den Reiseveranstaltern) im Internet: www.taz.de/tazreisen oder [email protected] | T (030) 25 90 21 17 Bosnien editorial Liebe Leserinnen und Leser, Bernd Ludermann Chefredakteur der schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier propagierte seit den 1920er Jahren in Europa einen neuen Baustil. Ausgerechnet in Indien konnte er seine Vision für die Stadt der Zukunft in die Tat umsetzen: Ende der 1950er Jahre entstand unter seiner Leitung auf freiem Feld Chandigarh, die Hauptstadt des Bundesstaates Punjab. Bald könnten die Stahlbeton-Bauten dort zum Weltkulturerbe gehören; Indien hat im Januar zusammen mit sechs anderen Staaten beantragt, das Werk Le Corbusiers in die Liste der UNESCO aufzunehmen. Doch so künstlerisch wertvoll Chandigarh sein mag: Es war an den Bedürfnissen der Bewohner vorbei geplant, erklärt Einhard Schmidt-Kallert in unserem Schwerpunkt. Bis heute orientiert sich die Stadtplanung in Entwicklungsländern an europäischen Vorbildern. Sie prägen in Daressalam die Erwartungen gut situierter Tansanier an eine moderne Wohnung, berichtet die Architektin Comfort Badaru. In Indien liegt das Bauen mit Glas voll im Trend, obwohl solche Gebäude für tropisches Klima kaum geeignet sind, beklagt Sunita Narain. Ein Teil dieser Bauten erhält zweifelhafte Statt den Armen Eigenheime zu versprechen, sollten die Regierungen ihnen helfen, ihre Siedlungen selbst zu verbessern. Öko-Zertifikate und wird vom Staat noch gefördert. In vielen wachsenden Städten im Süden ist Wohnraum allerdings knapp und die Mehrheit lebt nicht in modernen Glaspalästen, sondern in selbst errichteten Hütten. Ihr wollen viele Regierungen in Lateinamerika mit Darlehen und sozialem Wohnungsbau zu „richtigen“ Eigenheimen verhelfen. Das nutzt den Armen wenig, schreibt Alan Gilbert. Besser sollte man mit den Bewohnern zusammen ihre Siedlungen verbessern und sie mit Strom, Wasser und guten Straßen versorgen. Mit Nordkorea verbindet man als erstes Stalinismus und Atombomben. Das ist nur die halbe Wahrheit, schreibt Rüdiger Frank, der das Land aus eigener Anschauung kennt: Er berichtet von zaghaften Reformansätzen und einem wirtschaftlichen Aufschwung. Davon kann Venezuela angesichts des Ölpreisverfalls nur träumen; Hanna Silbermayr schildert, wie Geldmangel dort das Gesundheitswesen dahinsiechen lässt. Vom Siechtum des Ganges, der stellenweise einer Kloake gleicht, berichtet Rainer Hörig – und von Plänen, die Verschmutzung des heiligen Flusses zu bekämpfen. Eine anregende Lektüre wünscht | 2-2015 3 inhalt Jorge Silvas/Reuters 4 12 Wohnen ist ein Menschenrecht. Doch in den schnell wachsenden Städten im Süden sind Wohnraum und Bauland knapp. Häufig müssen gewachsene Wohnviertel den modernen Wohnprojekten weichen – wie hier in Schanghai in der Volksrepublik China. In Las Mayas am Rande von Venezuelas Hauptstadt Caracas leben die Menschen in selbst gezimmerten Holzhütten. Wer die Wohnungsnot lindern will, sollte auf ihre Selbsthilfe setzen. Schwerpunkt wohnen Lucas Schifres/Getty Images 12 Weniger Reißbrett, mehr Fantasie Stadtplaner orientieren sich oft an Vorbildern aus reichen Ländern statt an den Bedürfnissen der Bevölkerung Einhard Schmidt-Kallert 17 Grüne Mogelverpackung Energieeffizientes Bauen ist ein Streitthema in Indien Sunita Narain 20 Schwimmende Häuser in der Lagune Einen Slum in Lagos bedrohen der Meeresspiegelanstieg – und die Behörden Sam Olukoya 22 „Gebäude müssen ins Umfeld passen“ Gespräch mit der Architektin Comfort Badaru aus Tansania 24 Zuhause im Ziegenhaarzelt Viele Nomaden müssen ihr mobiles Leben aufgeben Meike Meerpohl 26 Die Illusion vom Eigenheim Die Regierungen in Lateinamerika folgen den falschen Strategien gegen die Wohnungsnot Alan Gilbert Ein Teil der Auflage enthält je eine Beilage des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung und von Litprom sowie eine . Bestellkarte von 2-2015 | 26 Reuters/KCNA inhalt Standpunkte 6 Die Seite Sechs 7 Leitartikel: Mehr Kratzbürste, weniger Schmusekatze. Im Entwicklungsjahr 2015 geht es auch um die Glaubwürdigkeit der Zivilgesellschaft Tillmann Elliesen 8Kommentar: Im Kampf gegen Ebola muss unseren Politikern mehr Druck gemacht werden Paul Vallely 10 Kommentar: Je suis Baga! Die falschen Freunde der Meinungsfreiheit Tillmann Elliesen Nordkoreas Staatschef Kim Jong-un will die Wirtschaft des Landes voranbringen. Eine kleine Mittelschicht ist inzwischen entstanden, die sich hier im Wasserpark in Pjöngjang vergnügt. 30 10 Kommentar: Das Folterverbot gilt absolut – und muss durchgesetzt werden Gesine Kauffmann 11 Herausgeberkolumne: Ethik hat kein Verfallsdatum. Im Kampf gegen Korruption sind Verbote und Strafen nicht genug Patrick Renz welt-blicke Journal 30 Nordkorea: Aufschwung in der Diktatur Von Demokratie ist in Nordkorea keine Rede, doch die Wirtschaft wächst 46 E ntwicklungshilfe: Neue Regeln für die Anrechnung Rüdiger Frank 35 Venezuela: Patient Krankenhaus Leere Medizinschränke, nicht versorgte Patienten – dem Gesundheitswesen geht das Geld aus Hanna Silbermayr 38 Waldschutz: Zum Nutzen auch der Waldbewohner Programme, die für Walderhaltung zahlen, helfen den Menschen und dem Klima Karl-Heinz Stecher 40 Philippinen: Vertrauen dringend gesucht Der Friedensschluss für Mindanao soll in den Dörfern verankert werden Ralf Leonhard 43 Indien: Rettet den Ganges! Der heilige Fluss verkommt zur giftigen Kloake 47 Studie: Anleitung zum Plündern 49 Berlin: Keine Wende beim Waffenhandel 51 Brüssel: Die EU will ein Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen 52 Schweiz: Kein Protest mehr in Davos 54 Österreich: Mäßiges Zeugnis von der OECD für die Entwicklungspolitik 55 Kirche und Ökumene: Regeln für einen evangelischen Exorzismus 57 Global Lokal: Neue Länder-Leitlinien im Entwicklungsjahr 2015 59 Personalia Rainer Hörig service 60 Rezensionen 65 Termine Kommentieren Sie die Artikel im Internet: www.welt-sichten.org | 2-2015 65 Impressum 5 standpunkte die seite sechs Reife Leistung Chappatté in „NZZ am Sonntag“, Zürich, www.globecartoon.com 6 Das Gerücht hält sich hartnäckig, Kinder seien die besseren Menschen. Das glaubt man jetzt offenbar auch im Deutschen Institut für Entwicklungspolitik in Bonn, einer bislang durchaus seriösen Einrichtung. Vor der vergangenen Klimakonferenz in Lima schrieb eine wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Kommentar, es gäbe kein Klimaproblem, wenn unsere Kinder das Sagen hätten. Sie wünsche sich, dass die Länder „mit dem Drang zu gewinnen“ verhandeln – „so wie meine Tochter begeistert losstürmt, wenn ich frage, wer die meisten Bauklötze wegräumt“. Wer ist’s? „Die Gefahr ist überall dort groß, wo es Dschihadisten gibt. Und dort, wo es mehr gibt, ist sie ein bisschen größer.“ Guido Steinberg, Terrorexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik, zur Frage, wo islamistische Anschläge drohen. „Ich wollte etwas machen, das er ein Modell, mit dem er das Bestand hat“, hat er in einem Bildungsdefizit in seinem HeiInterview seine Berufswahl be- matdorf beheben wollte. Mit gründet. Nach jeder Regenzeit traditionellen Baumaterialien hätten sie in seiner Kindheit und einheimischen Arbeitern ihre Häuser ausbessern müs- – sie mussten nur lernen, eine sen. Für sein Vorhaben muss- Handsäge und einen Schweißte er seine Heimat verlassen, apparat zu bedienen – wurde es doch ist er immer wieder dort- verwirklicht. Inzwischen hat es hin zurückgekehrt – gleich mit sich im ganzen Land verbreitet, seinem ersten Projekt noch und er erhielt dafür einen der während des Studiums. Ge- wichtigsten Architekturpreise boren wurde er in einem afri- der Welt. Längst hat er sein eikanischen Dorf. Als Sohn des genes Büro und betreut ProjekDorfchefs war er das erste Kind, te auf der ganzen Welt. Bei seidas zur Schule gehen durfte – ner bekanntesten Arbeit hat er er sollte für den Vater Briefe mit einem renommierten Relesen und übersetzen; doch gisseur zusammengearbeitet, dafür musste er zu seinem On- der inzwischen gestorben ist. kel in die Stadt ziehen. Nach In diesem Jahr begeht er seinen der Schule lernte er zunächst 50. Geburtstag. Wer ist’s? ein Handwerk, bevor er mit einem Stipendium ins Ausland Auflösung aus Heft 12-2014/ ging. Mit 30 Jahren schließ- 1-2015: Gesucht war der Chemiker lich konnte er sich für sein Justus von Liebig, der unter Traumstudium einschreiben, anderem den Phosphatdünger vier Jahre später entwickelte entwickelt hat. Wie niedlich. Allerdings weit weg von der Wirklichkeit, wie ein Versuch beweist: Wir haben sechs Vorschulkinder aus aller Welt gebeten, mal ein neues Klimaschutzabkommen auszuhandeln. Mit dabei: Der dreijährige Barack, die fünfjährige Angela, der vierjährige Jean-Claude, der ebenso alte Jinping aus Peking, der dreijährige Narendra aus Indien und das Nesthäkchen Mizengo aus Tansania (zwei Jahre). Ein Protokoll des Scheiterns: Barack (grinst breit): Puuuups! Jinping: Barack ist ein Stinker! Barack ist ein Stinker! Jean-Claude: Was man sagt, das ist man selber…. Angela (genervt): Jungs sind so dooof. Barack: Puuuups! Mizengo: Ich will auch mal… Narendra: Mamaa, Barack hat mir meine Entwicklungschancen weggenommen! Jean-Claude: Heulsuse, Heulsuse. Angela: Jungs sind so dooof. Barack: Puuuups! Mizengo: Jetzt bin ich aber mal… Jinping: Klappe, du Baby. Komm, Barack, wir spielen allein. Narendra: Mamaa, Jinping mobbt mich und Mizengo! Jean-Claude (mit hochrotem Kopf): Puuuu… Angela: Jungs sind so dooof. Barack: Puuuuuuup… Aua! Daddy, Angela hat mir einen Bauklotz an den Kopf geworfen. 2-2015 | leitartikel standpunkte Mehr Kratzbürste, weniger Schmusekatze Im Entwicklungsjahr 2015 geht es auch um die Glaubwürdigkeit der Zivilgesellschaft Von Tillmann Elliesen E in Problem der Entwicklungspolitik ist, dass sie solche Sprecher wie den irischen Rockstar Bono hat: Ständig wollen sie uns weismachen, es müsse der Weltuntergang verhindert werden. Auch zum Start des Entwicklungsjahres 2015 hat der singende Entwicklungsguru wieder das größte Geschrei gemacht, dieses Mal unterstützt von einem BackupChor aus mehr oder weniger prominenten Leuten aus Politik, Gesellschaft und Showbusiness: 2015 sei „das wichtigste Jahr dieses Jahrtausends, um Entscheidungen mit globaler Wirkung zu treffen“, heißt es in einem offenen Brief der illustren Koalition an die „sehr geehrten Staats- und Regierungschefs“. Was dieses Jahr beschlossen werde, „wird die Weichen für das Schicksal der Welt in den nächsten Jahrzehnten stellen“. Zur Erinnerung: In der Klimapolitik wurde in der vergangenen Dekade jedes zweite Jahr zu einem solchen „Schicksalsjahr“ erklärt. Für die entwicklungspolitische Kärrnerarbeit zeigt der Minister wenig Interesse – und manchmal auch wenig Verständnis. Tillmann Elliesen . ist Redakteur bei | 2-2015 Worum geht es 2015 tatsächlich? Dieses Jahr stehen drei globale Konferenzen an, die nicht über das Schicksal der Welt entscheiden, wohl aber über die Glaubwürdigkeit internationaler Entwicklungs- und Umweltpolitik. Es geht los mit der Konferenz über Entwicklungsfinanzierung im Juli in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba. Das wird die leichteste Übung sein, denn großzügige, aber unverbindliche Geldversprechen gehen den Regierungen noch am ehesten über die Lippen. Der härteste Brocken steht am Jahresende mit der Klimakonferenz in Paris, auf der ein neues Klimaschutzabkommen verabschiedet werden soll. Ein Erfolg ist nicht ausgeschlossen, derzeit sieht es aber mehr nach einem Scheitern aus. Das jedoch wäre fatal für das dritte Großereignis im Entwicklungsjahr 2015: die Verabschiedung der globalen Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDG) in New York wenige Wochen vor der Klimakonferenz. Sollten die Klimaverhandler ohne Ergebnis aus Paris abreisen, würde das die SDGs sofort schwächen: Welchen Wert hat ein Katalog von Nachhaltigkeitszielen, der für eine saubere, friedliche und gerechte Welt sorgen soll, wenn sich die Regierungen gleich beim ersten und derzeit drängendsten globalen Umweltproblem nicht auf eine Lösung einigen können? Es steht einiges auf dem Spiel, denn so wie das Klimaprotokoll sind auch die Nachhaltigkeitsziele selbst noch nicht in trockenen Tüchern. Die aufstrebenden Schwellenländer wie China oder Brasilien können nicht viel mit ihnen anfangen, England mit seinem einflussreichen staatlich-nichtstaatlichen Entwicklungshilfekomplex möchte lieber eine Fortsetzung der alten UN-Millenniumsziele, bei denen die Reichen den Armen helfend unter die Arme greifen. Und auch die Bundesregierung ist sich intern offenbar noch keineswegs einig über ihre Position. Die entwicklungspolitische Zivilgesellschaft ist gespalten, wie stark sie sich für die SDGs engagieren soll. Wenn sie sich mit ihrem ganzen Gewicht in die Verhandlungen einbringt, riskiert sie, für einen faulen Kompromiss mit in Haftung genommen zu werden. Die nichtstaatliche Entwicklungsszene in Deutschland hat diese Erfahrung gerade gemacht: Bereitwillig hat sie sich im vergangenen Jahr vor den Karren der sogenannten Zukunftscharta spannen lassen, die das Entwicklungsministerium im Eiltempo aus dem Boden gestampft hat. Und jetzt werden die Gesichter immer länger, da sich herausstellt, dass das Ministerium wohl vor allem an der Hochglanzbroschüre interessiert war, auf die die Charta gedruckt wurde, weniger aber an der Frage, wie sie sich denn verwirklichen ließe. Das entspricht dem Politikstil des amtierenden Entwicklungsministers in seinem ersten Amtsjahr: Mit viel Schwung stößt Gerd Müller eine Initiative nach der anderen an und dreht gern das ganze große Rad. Aber für die entwicklungspolitische Kärrnerarbeit, die danach getan werden muss, zeigt er wenig Interesse – und manchmal auch wenig Verständnis. Das unterscheidet ihn von seiner Vor-Vorgängerin Heidemarie Wieczorek-Zeul: Auch die hatte stets die großen Zusammenhänge „globaler Strukturpolitik“ im Blick, wusste das aber meistens mit den Erfordernissen und Bedingungen der entwicklungspolitischen Praxis zu verbinden. Der anfänglichen Euphorie in der Zivilgesellschaft über Gerd Müller nach den bleiernen NiebelJahren folgen zunehmend Zweifel und Ernüchterung. Das wird auch höchste Zeit. Denn die Art und Weise, wie der CSU-Politiker die entwicklungspolitische Szene bisher bei Laune gehalten hat, kann man auch einfach das nennen, was sie ist: Populismus. Im Entwicklungsjahr 2015 sollte sich die deutsche Zivilgesellschaft deshalb von ihrem Schmusekurs gegenüber dem Entwicklungsministerium verabschieden und häufiger wieder etwas kratzbürstiger werden. 7 8 standpunkte kommentar Krankheit der Armen Im Kampf gegen Ebola muss unseren Politikern mehr Druck gemacht werden Von Paul Vallely Die Bundesregierung hat ihr Versprechen gebrochen. Sie wollte die ärmsten Länder der Welt stärker unterstützen. Die Ebola-Krise in Westafrika wäre nicht so fatal, wenn sie das getan hätte. Das rückt der Rockstar und Aktivist Bob Geldof in den Blick, der mit seinem Musikprojekt Band Aid 30 einen neuen Spendenrekord aufgestellt hat. Wäre Ebola eine Krankheit der Reichen, hätte die Pharmaindustrie schon vor Jahrzehnten ein Gegenmittel entwickelt. Die Einzelfälle in Dallas, Madrid oder London konnten schnell eingedämmt werden. Andere afrikanische Länder wie Nigeria und Uganda bekamen die Krankheit ebenfalls in den Griff. In Sierra Leone, Liberia und Guinea allerdings weitete sie sich zur Epidemie aus. Im Gegensatz zu Nigeria und Uganda haben diese Länder kein stabiles Gesundheitssystem. Ebola ist eine Krankheit der Armen. Band Aid verfolgt zwei Ziele. Das erste ist es, Geld zu sammeln und dorthin spenden, wo Bedarf herrscht. Aber: Geldof und seine Kollegen wissen, dass sogar mit dem Spendenrekord nur ein Bruchteil dessen zusammengekommen ist, was gebraucht wird. Der Großteil dieses Geldes muss von den Regierungen weltweit kommen. Warum, fragt Geldof, gibt Deutschland mehr Geld für ein einziges WM-Stadion aus als für den Kampf gegen Ebola? Das ist das zweite Ziel: Band Aid ist medientauglich und steht im Rampenlicht – gleichzeitig mit den Politikern, die ihren Hilfseinsatz versäumt haben. Je mehr Aufnahmen Band Aid verkauft, desto mehr Druck wird auf diese Politiker ausgeübt. Und umso ernster werden sie den Kampf gegen Ebola nehmen. Das Rockkonzert Live8 hat schon im Jahr 2005 gezeigt: Je lauter die Menge brüllt, desto stärker zittern die Politiker. Das ist der Grund, warum Geldof vor Weihnachten Band Aid 30 in Deutschland und Frankreich neu aufgelegt hat. Er findet, die Regierungen der beiden großen europäischen Staaten zeigen zu wenig Einsatz bei der Ebola-Epidemie. Das war auf dem G8-Gipfel in Gleneagles 2005 anders. Hier brachten die beiden Länder wichtige Entscheidungen voran. Mehr Entwicklungshilfe, Schuldenerlass, Ausbau guter Regierungsführung in Afrika und vieles mehr. Einige politische Versprechen wurden eingehalten. Aber nicht alle. Die Gesundheitssysteme in Liberia, Guinea und Sierra Leone sollten ausgebaut werden. Das ist nicht passiert. In dem Sektor stehen pro Jahr und Kopf nur 20 Dollar zur Verfügung. In Liberia und Sierra Leone gibt es pro 100.000 Einwohner nur rund zwei Ärzte, in Deutschland sind es 380, laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sollten es mindestens 230 sein. Das sind die Gründe, warum die Infektionskrankheit sich zur tödlichen Seuche entwickeln konnte. Die betroffenen Länder stehen ganz unten auf dem Index der Vereinten Nationen für menschliche Entwicklung (HDI). Rund 60 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Viele Menschen sind unterernährt und gehören zu besonders verletzlichen Gruppen. Sogar in guten Zeiten sind die Gesundheitssysteme überlastet. Sie können eine Epidemie dieser Größenordnung kaum bewältigen. Deshalb gehen die Folgen von Ebola weit über die tödliche Krankheit selbst hinaus. Sanitäter Ebola bald besiegt? Der Höhepunkt der EbolaInfektionen ist überschritten. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab es Ende Januar noch 145 bestätigte Fälle in Guinea, Liberia und Sierra Leone. Die Generaldirektorin der WHO, Margaret Chan, sagte: „Wir haben eine Trendwende geschafft, den schlimmsten Fall verhindert“. Dennoch ist die Lage laut WHO-Vizedirektor Bruce Aylward weiterhin „extrem alarmierend“. Bislang sind seit Ausbruch der Seuche knapp 9000 Menschen an dem Virus gestorben, insgesamt 22.000 waren infiziert. berichten aus Ebola-Ländern über einen Anstieg von Masern und Lungenentzündungen, zwei der häufigsten Todesursachen in Afrika. Impfsysteme brechen zusammen. Immer mehr Mütter sterben bei der Geburt, weil die Kliniken mit Ebola beschäftigt sind. Die Unterernährung bei Kindern nimmt zu. All das droht die entwicklungspolitischen Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte zunichte zu machen. „Hätten die Regierungen ihre Versprechen von 2005 eingehalten, wären auch die Gesundheitssysteme besser und Ebola könnte wie in Nigeria und Uganda eingedämmt werden“, sagte Adrian Lovett, ein führender Aktivist der internationalen Lobby- und Kampagnenorganisation One. Bob 2-2015 | 9 wolfgang ammer kommentar standpunkte Paul Vallely ist Gastprofessor für Öffentliche Ethik an der University of Chester. Unter der Regierung Tony Blairs in Großbritannien war er Co-Autor des Reports der „Kommission für Afrika“. | 2-2015 Geldof habe diese gebrochenen Versprechen zurück auf die Agenda geholt. In Deutschland hat Geldof eine große Debatte ausgelöst: Er hatte öffentlich Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisiert und der Regierung vorgeworfen, die Armen wiederholt im Stich zu lassen. Er verstehe nicht, wieso Deutschland mehr Geld für ein einziges WM-Stadion ausgebe als für den Kampf gegen Ebola. In Großbritannien wiederum bemängelten Kritiker den Text von Band Aid 30: Er verstärke koloniale Stereotype, genau wie das Original. Den Charity-Song „Do They Know It’s Christmas“ brachte Geldof 1984 heraus, um Geld für die Opfer der Hungersnot in Äthiopien zu sammeln. Kritiker von Auslandshilfe wiederholen oft veraltete Klischees von Verschwendung, Korruption und afrikanischen Diktatoren, die während des Kalten Krieges eingesetzt und jetzt von einer neuen Generation abgelöst werden. Die Wahrheit ist: Alle wichtigen Studien beweisen das Gegenteil. Auslandshilfe rettet Leben, verringert Armut, erhöht ausländische Investitionen und fördert das Wirtschaftswachstum. Es gibt immer Fälle, in denen das anders ist. Aber das sind die Ausnahmen. Meistens wollen die Spötter mit ihrem moralischen Unterton nur die eigene Untätigkeit verteidigen. Bob Geldof hat vielleicht Recht, wenn er reichen Ländern Selbstzufriedenheit vorwirft. Die Website der Organisation ONE hat sechs Millionen Mitglieder. Sie verfügt über einen Ebola-Reaktions-Tracker, der auswertet, wie viel jedes Land im Verhältnis zu seiner Wirtschaftleistung im Kampf gegen Ebola ausgeben will. Deutschland steht auf Platz 11, Frankreich auf Platz 13. Und der Senegal auf Platz 7 (Stand Ende Januar). „Egal ob Zufall oder nicht“, sagte Geldof, „als Band Aid 30 auf Platz Eins landete, warf die Bundesregierung plötzlich 44 Millionen Euro zusätzlich in die EbolaKasse.“ Bei Band Aid 30 geht es nicht nur ums Geldsammeln. Die wirkliche Mission ist es, den Politikern ein wenig Feuer unterm Hintern zu machen. Aus dem Englischen von Hanna Pütz. 10 standpunkte kommentar Je suis Baga! Die falschen Freunde der Meinungsfreiheit Tote mit schwarzer Hautfarbe zählen in unseren Medien weniger als solche mit weißer Haut. Nach dem Attentat in Paris trat diese Ungleichbehandlung derart krass zutage, dass man sich schämen musste als Angehöriger der westlichen Journalistenzunft. Am selben Tag, an dem die Redakteure und Karikaturisten von „Charlie Hebdo“ ermordet wurden, überfielen islamistische Terroristen die Stadt Baga im Nordosten von Nigeria und töteten vermutlich Hunderte Menschen. Trotz dieser unglaublichen Zahl kam dieser Anschlag in den deutschen Nachrichten praktisch nicht vor. In der Aufregung und der allumfassenden Trauer um die Opfer in Paris war es dann auch nur eine Randnotiz wert, dass in den folgenden Tagen in Nigeria noch das eine oder andere Kind als Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt wurde und weitere Dutzende Tote zu beklagen waren. Ich will auch deshalb nicht Charlie, sondern lieber Baga sein, weil der allgemeinen Solidarisierung mit dem französischen Satiremagazin etwas Verlogenes anhaftet. „Charlie Hebdo“ war bisher ein Außenseiterblatt. Es steht für eine radikale Form der Meinungsfreiheit, der nichts heilig ist und mit der viele, die jetzt „Je suis Charlie“ sagen, bisher wohl eher wenig anfangen konnten. Die Redaktion musste sich ihre Freiheit, zu schreiben und zu zeichnen, was sie will, gegen allerlei gesellschaftliche Kräfte und Politiker vor Gericht immer wieder neu erstreiten. Einer der überlebenden Redakteure von „Charlie Hebdo“ sagte nach dem Anschlag sinngemäß, bis zum 7. Januar sei es eher einsam um sie herum gewesen. Er rechne damit, dass das in wenigen Wochen wieder genauso sein werde. Besonders grotesk ist, dass ausgerechnet die Spießer von der Pegida in Dresden sich nach dem Attentat mit den anarchistischen Komikern aus Paris solidarisierten. Unter diesen Zukurzgekommenen, die wochenlang für mehr Piefigkeit und mehr Intoleranz in Deutschland demonstriert haben, sind vermutlich etliche, die selbst auf Mordgedanken gekommen wären, hätten sie gewusst, wie respektlos „Charlie Hebdo“ mit den Insignien des christlichen Abendlandes zuweilen umspringt. Und schlichtweg infam war es, dass Pegida auch über die Terroropfer in Nigeria meinte Krokodilstränen vergießen zu müssen. Nur eine Woche vor den Anschlägen hatte Pegida-Gastredner Udo Ulfkotte in Dresden zum Thema Flüchtlinge noch gesagt: „Flüchtlinge? Ich sehe nur kräftige junge Männer, die sich auch vorher möglicherweise an den Kriegen beteiligt haben.“ Der einzige Trost ist, dass sich in der hitzigen Debatte um Islamismus und Islamophobie seit den Anschlägen die Pegida endlich selbst zerlegt. Tillmann Elliesen Die Leiche im eigenen Keller Das Folterverbot gilt absolut – und muss durchgesetzt werden Der CIA-Folterreport und das Guantanamo-Tagebuch von Mohamedou Ould Slahi machen hilflos und wütend. Die öffentliche Empörung bleibt jedoch weitgehend aus. Doch sie wäre dringend nötig, um die Regierungen in den USA und Europa zum Handeln zu zwingen. Schlafentzug, Zwangsernährung, sexuelle Übergriffe: Nüchtern beschreibt Mohamedou Ould Slahi, wie er im US-amerikanischen Militärgefängnis Guantanamo gefoltert worden ist. So lange, bis er alles Mögliche erzählte, was sich in den Ohren seiner Peiniger gut anhörte – nur der Wahrheit entsprach es nicht. Sein Tagebuch, mit zehn Jahren Verspätung Ende Januar erschienen, macht wütend und hilflos. Es gibt dem CIA-Folterreport ein Gesicht. Man wünscht sich, Zehntausende würden auf die Straße gehen und für die Abschaffung der Folter demonstrieren – so wie gegen den islamistischen Terror nach den Anschlägen in Paris. Aber das passiert nicht. Die öffentliche Empörung beschränkt sich auf Medienberichte und Blogeinträge und wird sonst denen überlassen, die sich schon laut Mandat damit befassen: Amnesty International, dem Berliner Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck, der das deutsche Folteropfer Khaled al-Masri vertritt, oder dem Juristen Wolfgang Nescovic, der den CIA-Folterreport auf Deutsch herausgegeben hat. Ein Grund könnte sein, dass der islamistische Terror plötzlich ganz nah scheint, während Folter in dunklen Geheimverliesen stattfindet, weit weg vom eigenen Alltag. Hinzu kommt: Die Ansicht ist weit verbreitet, wer auf solche Weise behandelt wird, muss wohl irgendwie Dreck am Stecken haben. Die „speziellen Verhörmethoden“ der CIA im Kampf gegen den internationalen Terrorismus finden zwar unter Deutschen weitaus weniger Zustimmung als bei den Amerikanern. Doch immerhin 15 Prozent glauben laut einer aktuellen Forsa-Umfrage hierzulande, dass bei der Folter der Zweck die Mittel heiligt. Auch wenn im CIA-Report deutlich wird, dass die Quälerei ihren Zweck, verwertbare Informationen zu erhalten, um Anschläge zu vereiteln oder Diktatoren zu stürzen, gar nicht erfüllt. Und selbst wenn sie es täten: Das Verbot der Folter gilt absolut. Denn sie missachtet die Würde des Menschen, die unantastbar ist. Dieses Verbot durchzusetzen, ist Aufgabe der Regierungen. Washington müsste die Verantwortlichen für die Folterpraktiken bestrafen; die Europäer müssten ihre Beteiligung an dem CIA-Programm offenlegen und Verantwortung dafür übernehmen. Doch bislang bewegt sich da wenig. Und auf öffentlichen Druck ist nicht zu hoffen. (gka) 2-2015 | herausgeberKolumne standpunkte Ethik hat kein Verfallsdatum Im Kampf gegen Korruption sind Verbote und Strafen nicht genug Unternehmen, die im internationalen Geschäftsverkehr ethisch verantwortlich handeln wollen, brauchen entsprechend sensibilisierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Diese müssen über Gesetze und Verbote informiert werden, sie müssen aber auch darin geschult werden, was ethisch geboten ist. Eine Chance für die Zivilgesellschaft. Von Patrick Renz Ich schulde ihm eine Million für seine freiwilligen Dienste, scherzte mein Mitgründer einer Stiftung für wirkungsorientiertes Management. Das einzige, was wir verhandeln müssten, sei das Valutadatum, also das Datum, an dem der Betrag fällig werde. Und die Währung, fügte ich bei. Wir mussten uns nie einigen: Unsere jahrzehntelange Zusammenarbeit in oft schwierigsten Situationen hat ein grundtiefes Vertrauen und gegenseitige Solidarität geschaffen. Ethisch zu handeln heißt oft, Spannungen auszuhalten, Handlungsoptionen abzuwägen und nicht einfach davonzulaufen. Patrick Renz ist Direktor von Fastenopfer in Luzern. | 2-2015 Dem Valutadatum verwandt ist das Verfallsdatum. Das gibt es nicht nur bei Lebensmitteln. So ist etwa das Verfallsdatum einer Geschäftspraxis seit mehr als einem Jahrzehnt abgelaufen, die ich Ende der 1980er Jahre bei renommierten Buchhaltungsprofessoren gelernt habe: nämlich dass auf der linken Seite der Buchhaltung alle geschäftsrelevanten Aufwände inklusive Bestechungsgelder im Ausland aufgeführt werden können. Ende der 1990er Jahre nahmen die OECDMitglieder die Konvention gegen Bestechung von ausländischen Amtsträgern im internationalen Geschäftsverkehr an. Die Mitgliedstaaten wurden verpflichtet, die Konvention in der nationalen Gesetzgebung zu verankern. Ethik kennt weder Valutanoch Verfallsdaten. Im Gegenteil: Ethisch zu handeln heißt oft, Spannungen über eine längere Zeit auszuhalten, Handlungsoptionen abzuwägen und nicht einfach davonzulaufen. In der Unternehmensethik bietet die Unterscheidung von Compliance und Integrität Hilfe. Compliance-Programme haben zum Ziel, von außen vorgegebene Standards und Gesetze einzuhalten. Sie gehen davon aus, dass der Mensch von materiellen Interessen motiviert wird; das Ziel solcher Programme ist es, das Verhalten von Mitarbeitenden durch Schulung, Einschränkung der Handlungsspielräume, Kontrollen und Strafen zu beeinflussen. Integritätsprogramme zielen hingegen auf die moralische Selbststeuerung der Mitarbeitenden. Sie sollen befähigt werden, ethisch reflektiert zu handeln. Es braucht beides: Compliance-Programme, etwa um innerbetrieblich über gesetzliche Regelungen aufzuklären und diese durchzusetzen, und Integritätsprogramme, um die moralische Kompetenz der Mitarbeitenden in Dilemma-Situationen zu fördern. Gerade in großen, multinationalen Unternehmen ist Förderung von Integrität nicht leicht. Aus wissenschaftlichen Untersuchungen wissen wir: Erstens, je größer die geographische und kulturelle Distanz vom Mutterhaus zu dessen Niederlassungen, desto größer ist die Gefahr von sogenannten Governance-Gaps: Gemeint ist, dass Steuerungsvorgaben aus der Zentrale unten in den Niederlassungen nicht umgesetzt oder umgekehrt dass lokale Be- sonderheiten oben in der Zentrale nicht reflektiert werden. Zweitens, ein Großteil der Führungskräfte nennt „Vertrauen haben“ als wichtigstes Kriterium in der Führung von Niederlassungen. Letztere erfreuliche Aussage hat zugleich etwas Fatalistisches: „Ich kann gar nicht anders, als nur Vertrauen haben.“ Das bedeutet: Unternehmen sind gefordert, ihre gesellschaftliche Verantwortung über Compliance hinaus wahrzunehmen, indem sie die Integritätskompetenz der Mitarbeitenden stärken. Compliance oder Integrität? Die Unterscheidung lässt auch erkennen, welche Organisationen gesellschaftliche Verantwortung wirklich ernst nehmen und welche bloße Konformität zu ihrem ethischen Ziel machen und damit ihre Verantwortung so klein wie möglich halten. Vorsichtig zuversichtlich stimmt mich die Erfahrung als langjähriger Ausbilder von Führungspersonal: Bei vielen Führungsleuten auf mittlerer Ebene habe ich ein sehr kritisches, ethisch ringendes Bewusstsein entdeckt, auch gegenüber den Praktiken der eigenen Arbeitgeber. Uns als Zivilgesellschaft ist damit die Möglichkeit gegeben, neue „Spielvarianten“ im Austausch mit dem Privatsektor auszuarbeiten, etwa die mittlere Managementebene als Eingangstür hin zu verantwortlicherem Handeln anzusprechen. Oder denen, die Korruption für unvermeidlich halten, mit dem Argument zu begegnen, dass das früher oder später hart bestraft werden wird. Von ethisch handelnden Unternehmen – von der Zentrale bis zur Niederlassung – profitiert nicht nur die Zivilgesellschaft; auch die Unternehmen selbst werden effizienter. Neue Gedanken, bereits verfallene oder liegt ihr Wert erst in der Zukunft? Liebe Leserinnen und Leser, ich wünsche Ihnen ein verantwortungsvolles Jahr 2015! 11 12 schwerpunkt wohnen Weniger Reißbrett, mehr Fantasie In den Ländern des Südens orientieren sich Stadtplaner oft an Modellen aus den reichen Ländern. Sie sollten besser auf die Bewohner ihrer eigenen Städte hören. Von Einhard Schmidt-Kallert D ie europäische Stadtplanung knüpft seit ihren Anfängen an die Praxis aus dem Mittelalter, zuweilen auch aus der Antike, an. Zudem ließen sich Stadtplaner in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Utopien aus dem 19. Jahrhundert inspirieren. Auf welchen Vorrat an Konzepten, Ideen und Visionen aber greifen Planer in Asien, Lateinamerika und Afrika zurück? Stehen sie noch ganz im Bann ihrer kolonialen und postkolonialen Lehrmeister oder haben sie eigene, ihrer Kultur angepasste Maßstäbe und Ideen entwickelt? In Asien sind viele alte, auch städtische Hochkulturen entstanden. Auf dem indischen Subkontinent gibt es sie, die großartigen vorkolonialen Städte etwa in Rajasthan. Aber sie haben die indischen Stadtplaner nicht inspiriert. Für sie sind kolonial geprägte Städte wie Mumbai und die Ideen der internationalen Moderne wichtigere Anknüpfungspunkte. Es ist symptomatisch, dass die erste neugegründete Stadt nach der Unabhängigkeit, Chandigarh nahe der pakistanischen Grenze, Anfang der 1950er Jahre im Auftrag der indischen Regierung von Le Corbusier entworfen wurde, einem der bekanntesten Vertreter der westlichen Moderne im Städtebau. Erst nach Fertigstellung der ersten Wohnblocks erwies sich, dass die Stadt vollkommen an den Bedürfnissen ihrer Bewohner vorbei geplant war. Die Planer und Architekten hatten sich weder um Familienzusammenhänge in der indischen Kastengesellschaft 2-2015 | wohnen schwerpunkt Brasiliens Hauptstadt Brasília ist auf dem Reißbrett entstanden. Die Entwürfe für alle öffentlichen Gebäude – hier die Nationalbibliothek – stammen von dem brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer. Gulliver Theis/laif noch um Alltagsroutinen im Wohnviertel gekümmert, etwa um die Frage, wie in Indien Mahlzeiten zubereitet werden. Aber es herrschte auch Aufbruchstimmung unter asiatischen Planern in der postkolonialen Phase – wie in Malaysia, wo ich Anfang der 1970er Jahre Entwicklungshelfer in der Planungsbehörde war. Die ungleiche Entwicklung zwischen Stadt und Land und die ungleichen Chancen für die Angehörigen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen des Landes trieben politisch engagierte Intellektuelle damals um. Ein engagiertes Team junger Stadtplaner leitete daraus eine Forderung an die eigene Zunft ab: Eine in die Zukunft weisende Raumplanung müsse die als rückständig betrachtete überwiegend malaiische Dorfbevölkerung urbanisieren. Die Planung von Brasília hat einer eigenständigen lateinamerikanischen Stadtbaukultur keine Impulse gegeben. Und so wurden auf dem Reißbrett in bis dahin von Urwald bedeckten Landesteilen Neusiedlerstädte entworfen. Im Kern waren dies Agrostädte, deren Einwohnern der Staat frischgerodete Kautschuk- und Ölpalm-Flächen zur Bewirtschaftung zur Verfügung stellte. Aber anders als die malaiischen Dörfer sollten diese neuen Städte von vornherein mit Infrastruktur wie Oberschulen, Berufskollegs und Krankenhäusern ausgestattet sein; für die spätere Ansiedlung von Industrie wurden Flächen ausgewiesen. Was ist knapp 40 Jahre später aus diesem ambitionierten Programm geworden? Die Städte seien wie geplant mit allen Einrichtungen gebaut worden und funktionierten gut, sagte mir unlängst ein Kollege von damals. Nur seien sie ein wenig langweilig, und | 2-2015 13 14 schwerpunkt wohnen es habe sich weniger Industrie angesiedelt als erhofft. Die Kinder der ursprünglichen Siedler wandern deshalb nach ihrem Schulabschluss so schnell wie möglich in die Zentren an der Westküste wie Kuala Lumpur oder Penang ab. Fazit: Es ist ein schöner, aber unerreichbarer Traum geblieben, mit der Gründung neuer urbaner Zentren den Gegensatz zwischen Stadt und Land zu überwinden. China hat in den vergangenen 30 Jahren einen in der Menschheitsgeschichte vorher nie da gewesenen Urbanisierungsschub durchlebt und ist zugleich ein Land mit einer alten städtebaulichen Tradition. Aber die Art und Weise, wie in Guangzhou, Chongqing und vielen anderen Megastädten über Jahrhunderte gewachsene Wohnquartiere, in Peking die legendären Hutongs, gesichtslosen Hochhausblöcken Platz machen mussten, spricht nicht für historisches Bewusstsein unter Stadtplanern. Nach eigenen, chinesischen Wegen im Städtebau muss man denn auch lange suchen. Da passt die Idee des früheren Schanghaier Oberbürgermeisters ins Bild, europäische Planungsbüros einen Ring von neun Satellitenstädten rund um Schanghai entwerfen zu lassen. Dazu zählen Thames-Town, im TudorStil von britischen Planern entworfen, und Anting beziehungsweise German Town, das ein bekanntes deutsches Planungsbüro als erste chinesische Ökostadt konzipiert hat. Anting hat bis heute nicht die geplante Größe erreicht: Zu teuer, zu ungewöhnlich erscheinen potenziellen Hauskäufern die aufwendigen Recyclinganlagen und die mehrfach verglasten Fenster. Das Konzept sei zu früh gekommen, zu früh für ein Land, in dem das Umweltbewusstsein erst ganz allmählich erwache, meinen Fachleute. Erst spät, fast zu spät, regte sich unter Planern, Architekten und zivilgesellschaftlichen Organisationen Protest gegen den Abriss der letzten Hutongs in Peking. Mit der Wiederentdeckung der traditionellen Baukultur traten auch die besonderen Qualitäten dieser Wohngebiete für das soziale Leben im Viertel und für das Leben in Mehrgenerationen-Haushalten stärker ins Blickfeld der Planer. Um Schanghai herum ließ man europäische Planer Satellitenstädte errichten wie eine deutsche Öko-Stadt – in der jetzt viele Häuser leerstehen. Und jüngere chinesische Stadtplaner wollen keineswegs mehr nur die westliche Moderne kopieren. Das Interesse an der eigenen Städtebaugeschichte ist neu erwacht, genauso wie die Neugier auf Erfahrungen mit nachhaltigem Städtebau und „Smart Cities“. Zugleich hat die Debatte um Chinas künftigen Kurs in der Urbanisierung – mehr Megastädte oder eher Förderung von mittelgroßen Städten? – höchste Parteikader erreicht. Zu den besonderen Herausforderungen Chinas gehört es, menschenwürdigen Wohnraum für die 250 Millionen Wanderarbeiter in den großen Städten bereitzustellen. Lateinamerika kennt so gut wie keine Siedlungskontinuität seit der vorkolonialen Zeit. Alle Metro- 2-2015 | wohnen schwerpunkt 15 Neubau auf dem freien Feld: In den 1950er Jahren lässt Indien den Schweizer Architekten Le Corbusier die Stadt Chandigarh planen – hier das Verwaltungsgebäude. Dennis Lee Royle/picture alliance/ap images Brasília, eine der ersten nachkolonialen Stadtgründungen auf der Südhalbkugel, ist anders, verbindet repräsentative Sichtachsen mit Respekt für die Topographie. Aber die Planung von Brasília war Teil der globalen Moderne, sie hat einer eigenständigen lateinamerikanischen Stadtbaukultur keine Impulse gegeben. Viel wichtiger für Stadtentwicklung auf dem Kontinent sind die unzähligen informellen Siedlungen, der Gestaltungswille der Erbauer und Bewohner der Barrios von Caracas und der Favelas von Rio. Der englische Architekt John Turner beschrieb vor 40 Jahren – zugegebenermaßen in etwas sozialromantischer Verklärung – die enge Verbindung zwischen unmittelbaren Wohnbedürfnissen einer Familie, Architektur und Städtebau als besondere Qualitäten des Selbstbaus in diesen informellen Siedlungen. Das gilt auch heute noch. Es ist sicher kein Zufall, dass es in Rio für Angehörige der Mittelschicht schick geworden ist, in (modernisierte und legalisierte) Favelas zu ziehen. polen sowie Klein- und Mittelstädte sind aus kolonialen Gründungen entstanden, die nach einem spanisch-portugiesischen Renaissance-Grundriss angelegt waren. Daran orientiert sich der Städtebau auf dem Kontinent bis heute. Überall, von Mexiko bis Chile, entstehen Neubausiedlungen für die Mittelschicht, die überwiegend einem wenig phantasievollen schachbrettartigen Straßenmuster folgen. A frika ist der am wenigsten urbanisierte Kontinent der Erde, hat aber heute einige Städte mit zweistelligen jährlichen Wachstumsraten. Ein aufschlussreiches Beispiel für Stadtentwicklung ist Bahir Dar, eine schnell wachsende Stadt am Tana-See im äthiopischen Hochland, heute die drittgrößte Metropole des Landes. Eine großzügig angelegte Allee mit hohen, Schatten spendenden Bäumen führt von Süden nach Norden in gerader Achse Anzeige Kaffee solidarisch. Kaffee für einen gerechteren Welthandel. n Selbstbestimmung der Kaffeekooperativen gegen korrupte Regierungen und ausbeuterische Handelsstrukturen n Aufbau alternativer Handelsstrukturen gegen Profitgier von Handelskonzernen und Großröstern n Unterstützung bäuerlicher Strukturen und emanzipatorischer Prozesse in den Herkunftsländern besser solidarisch! | 2-2015 onlinellen beste jito.de www.el-ro 16 schwerpunkt wohnen Als Kulisse wird ein Teil der alten Bauten noch gebraucht: Vor den Olympischen Spielen in Peking 2008 reparieren Arbeiter ein Dach in einem der traditionellen HutongViertel von Peking. Reinhard Krause/Reuters Einhard Schmidt-Kallert war bis 2014 Leiter des Fachgebiets Raumplanung in Entwicklungsländern der TU Dortmund. auf den Tana-See zu. Banken, ein paar Textilkaufhäuser, Autohäuser, Restaurants, hier und da ein Internet-Café säumen die Prachtstraße des Ortes. Die Gebäude sind nichts Besonderes, wie überall in schnell wachsenden Städten in Afrika dominieren mehrstöckige Geschäftshäuser in Stahlskelettbauweise, die architektonischen Formen bleiben nicht im Gedächtnis. Die Lage der Stadt am größten See des äthiopischen Hochlandes hat von Generation zu Generation immer wieder politische Visionäre, Utopisten und Planer beflügelt. Als Italien 1936 Äthiopien eroberte, war Bahir Dar eine wichtige Etappe. Die Militärverwaltung ließ sogleich einen ersten Stadtentwicklungsplan ausarbeiten. Anfang der 1950er Jahre plante Kaiser Haile Selassie, die Hauptstadt des Landes von Addis Abeba nach Bahir Dar zu verlegen. Diese Idee wurde bald begraben, und 1960 sollte der deutsche Stadtplaner Max Guther einen bescheideneren Stadtentwicklungsplan für ein modernes Bahir Dar entwerfen. Auch dieser Plan ist lange vergessen. Vor vier Jahren erhielt ein kanadisches Planungsbüro den Auftrag, ein neues Entwicklungskonzept für Bahir Dar vorzubereiten. Diesmal wollten die Planer ihre Ideen nicht nur am Reißbrett, sondern im Dialog mit der Bevölkerung ausarbeiten. Die hochfliegenden Pläne haben in der Wirklichkeit nur wenige Spuren hinterlassen. Denn afrikanische Städte entwickeln sich anders. Man braucht nur von der asphaltierten Allee in eine der unbefestigten Nebenstraßen oder einen der Trampelpfade einzubiegen. Kaum 30 Meter hinter den gepflegten Fassaden beginnt das andere Bahir Dar, die Stadt der Zuwanderer aus den Dörfern. Auf den ersten Blick erscheinen diese Stadtviertel wie ein planloses Gewirr aus eingeschossigen Lehmhäusern, mehrstöckigen Mietshäusern aus Zementblöcken und kleinen Werkstätten. Zwischen den Schlaglöchern und den Pfützen, die der letzte Regen hinterlassen hat, spielen Kleinkinder, laufen Schulkinder zum Unterricht, treiben Männer und Frauen ihre mit Feuerholz und anderen Lasten schwer bepackten Maulesel an und bahnen sich ihren Weg zwischen Ziegen, Hühnern und anderem Vieh. In den schmalen Lücken zwischen den Häusern haben die Bewohner Gemüsebeete angelegt und Obstbäume gepflanzt. In Wirklichkeit geschieht auch hier nichts ohne Plan. Aber der hat wenig mit den Konzepten der Stadtplaner zu tun, er entwickelt sich in den Köpfen der Menschen, die aus dem Dorf kommen, Arbeit gesucht haben, mit Glück ihre Nische gefunden haben und sich nun in ihrem Viertel einrichten. S o treffen wir auch hier, wie fast überall in den Ländern des globalen Südens auf den Dualismus zwischen formeller Stadtplanung und informeller Stadtentwicklung an den Rändern und in den Nischen der geplanten Stadt. Einige Beobachter haben die informellen Siedlungen einfach als Dörfer in der Stadt beschrieben, in die die Dorfbewohner ihren Lebensstil und ihre Art, Häuser zu bauen und Siedlungen anzulegen, mitgebracht haben. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die informellen Siedlungen in Bahir Dar sehen anders aus als die Dörfer im äthiopischen Hochland. Sie sind dichter, kompakter. In Wahrheit haben die Bewohner informeller Siedlungen einen hybriden Lebensstil entwickelt, der Elemente des Städtischen mit dem Ländlichen verbindet. Und dazu gehört auch eine ganz neue Form von Städtebau. Das ist häufig provisorisch, nicht immer langlebig und zukunftsfähig. Aber er entspricht den Bedürfnissen der Bewohner. Daraus ergibt sich die wichtigste Anforderung an gute, zukunftsfähige Stadtplanung in den Ländern des globalen Südens: Sie muss die Bedürfnisse aller Stadtbewohner, der Mittelschicht wie der städtischen Armen in den informellen Siedlungen, in ein gesamtstädtisches Konzept integrieren. 2-2015 | wohnen schwerpunkt Grüne Mogelverpackung In Indien wird über energieeffizientes Bauen gestritten. Die bisherigen Regeln gehen in die falsche Richtung. Von Sunita Narain Neubau eines Büro-Hochhauses in Mumbai. Glasfassaden gelten in Indien als schick und umweltfreundlich. Doch ihre Energiebilanz ist umstritten. Subhash Sharma/Polaris/laif | 2-2015 E s steht außer Frage, dass in Indien und in anderen Schwellenländern „grün“ gebaut werden muss. Die Bauwirtschaft trägt durch Baumaterial, den Verbrauch von Energie und Wasser sowie die die Abfallentsorgung zum Klimawandel und zur Zerstörung der Umwelt bei. Doch es gibt auch Grund zu hoffen: Der größte Teil der weltweit für die wachsende Bevölkerung benötigten Bauten existiert noch gar nicht – in Indien etwa sind mehr als zwei Drittel des Bedarfs noch nicht gedeckt. So gibt es hier im Unterschied zu den bereits entwickelten Ländern die Chance, anders zu bauen – effizient und nachhaltig. „Grünes“ Bauen bedeutet, so weit wie möglich Materialien aus der Region zu verwenden und den Verbrauch an Energie, Wasser und anderen Ressour- cen möglichst gering zu halten. In der traditionellen indischen Architektur war die Bauweise den natürlichen Umständen angepasst und die Rohstoffe wurden effizient eingesetzt. Jede Gegend hatte ihren eigenen Baustil, und diese kreative Vielfalt verdankte sich den unterschiedlichen Umweltbedingungen. In heißen und trockenen Regionen etwa wurden Luftströmungen mit Hilfe von Korridoren eingefangen, die für Kühlung sorgten. Diese kulturelle Überlieferung muss mit den Errungenschaften der modernen Architektur verknüpft werden – doch sie ist in Vergessenheit geraten. Moderne Gebäude orientieren sich an Vorbildern aus nördlichen Ländern, wo Glasfassaden zum Klima passen und gut aussehen. Doch es ist nicht 17 18 schwerpunkt wohnen Straßenszene in der Altstadt von Jodhpur, der „blauen Stadt“. Die traditionelle Bauweise ist an das heiße und trockene Klima angepasst, sie sorgt für Belüftung und Kühlung. Eitan Simanor/picture alliance sinnvoll, das in Indien nachzuahmen. Im milden, aber feuchten und windigen Bangalore ebenso wie im heißen und trockenen Gurgaon – überall ist Glas angesagt. Die Bauten heizen sich auf, und sie lassen sich nicht auf natürliche Weise kühlen, weil man die Fenster nicht öffnen kann. Deshalb müssen Heizungen und Klimaanlagen eingebaut werden. Dennoch gelten viele dieser Gebäude offiziell als „grün“. Wie ist das möglich? Die indische Regierung hat 2007 den Energy Conservation Building Code (ECBC) beschlossen, der Richtlinien zur Energieeinsparung in der Bauwirtschaft vorgibt. Dieser Katalog nennt Kriterien für energieeffizient gestaltete Fassaden. Baustoffe mit guten Dämmeigenschaften verringern den Wärmeverlust, und wenn genügend Tageslicht einfällt, wird weniger Energie verbraucht. Deshalb ist es wichtig, dass für die Außenhaut der Gebäude die richtigen Materialien verwendet werden. Viele Gebäude, die als ökologisch zertifiziert sind, verschlingen in Wahrheit große Mengen von Energie und Wasser. Doch laut den Richtlinien dürfen knapp zwei Drittel der Fassade mit Glas bedeckt sein. Ein mit Glas verkleidetes Gebäude wird demnach als energieeffizient und „grün“ betrachtet. Außerdem legt der Kriterienkatalog fest, wie das Gebäude isoliert werden soll und welche energiesparenden Eigenschaften das zu verwendende Glas aufweisen muss. Wegen seiner wärmeregulierenden Eigenschaften wird aus zwei oder drei Scheiben bestehendes Isolierglas empfohlen. Damit wird der Eindruck erweckt, hochwertiges Glas sei in Ordnung, weil es verhindert, dass sich die Gebäude aufheizen. Mit ihren Richtlinien unterstützt die Regierung den massenhaften Einsatz von Glas. Zugleich wirbt sie für wertvolles und teures Isolierglas, das nur wenige Unternehmen für zahlungskräftige Kunden herstellen. Selbst dies könnte noch angehen, wenn die Vorschriften eingehalten würden. Doch erstens scheuen viele Bauherren die Investition in teures Isolierglas, und weil normales Glas die Hitze speichert, müssen mehr Klimaanlagen eingebaut werden. Dadurch steigt der Energieverbrauch. Zweitens hält offenbar auch eine Doppel- und Dreifachverglasung die extreme Hitze in Indien nicht ausreichend ab. Laut Untersuchungen des indischen Institutes für Technologie von Gebäuden in Jodhpur, Neu-Delhi und Chennai nahm der Energiebedarf proportional zu der Menge der verglasten Flächen zu – unabhängig davon, welche Art Glas verwendet wurde. Mit Fassaden aus teurem Isolierglas wurde nicht mehr Energie eingespart als mit einfachem Glas. In Indien scheint zudem die Sonne viel greller als in vielen westlichen Ländern, in denen große Fenster den Energieaufwand für eine künstliche Beleuchtung reduzieren. Im Prinzip ist es sinnvoll, das Tageslicht mit Hilfe von Glas möglichst gut zu nutzen, doch kommt es darauf an, wo, wie und in welchem Umfang es verwendet wird. An Süd- und Westfassaden heizt jede Art von Glas die Innenräume auf. Und selbst getöntes Glas, das 50 Prozent der Sonnenhitze abhält, lässt immer noch einen großen Teil des grellen Tageslichts durch. Deshalb braucht man Jalousien und wieder mehr künstliches Licht; die Energiekosten steigen. Es wäre vorteilhafter, eine direkte Sonneneinstrahlung von vorneherein zu verhindern. Genau das taten die Architekten früher – mit Fensterläden. Die sind aber inzwischen verpönt, weil sie nicht zum Image moderner, westlich geprägter Bauten passen. Dass wir für eine grüne Zukunft anders bauen müssen, liegt auf der Hand. Doch ohne ausreichendes Wissen darüber, was ökologisch sinnvoll ist, und ohne Vorschriften, die zu Ressourcen schonendem Bauen anhalten, können alle Bemühungen zu den falschen Ergebnissen führen. Das geschieht derzeit in Indien. Zwar soll mit Hilfe der ECBC-Richtlinien die Energiebilanz der Gebäude um 40 bis 60 Prozent verbessert werden. Doch sie erweisen sich bislang zumeist als kontraproduktiv – wie ausgeführt – oder zumindest wirkungslos. Selbst wenn sie bei der Planung berücksichtigt werden, haben sie keine direkte Auswirkung darauf, wie viel Energie die Gebäude de facto verbrauchen. Die Energieeffizienz wird zudem für verschiedene Klimazonen unterschiedlich berechnet. So dürfen in den Trockengebieten im Westen Indiens pro 2-2015 | wohnen schwerpunkt Quadratmeter 180 Kilowattstunden Strom jährlich verbraucht werden, in Regionen mit feuchtwarmem Klima dagegen 200 Kilowattstunden. Außerdem bietet die Regierung ein freiwilliges Rating-System für vier Kategorien von Zweckbauten an: Krankenhäuser, Einkaufszentren, Büros, die nur tagsüber genutzt werden, und Firmenräume von IT- und Outsourcing-Unternehmen, die für ihre internationalen Auftraggeber rund um die Uhr arbeiten. Doch dieses System ist nicht mit den ECBC-Richtlinien verlinkt, und deshalb gibt es keine Informationen darüber, wie sich die Baupläne in der Praxis bewähren, und kein Feedback, das aufgrund der praktischen Erfahrung dazu beitragen könnte, die Planung zu verbessern. Z wei weitere Institutionen bewerten in Indien die Gebäude nach ihrer Umweltfreundlichkeit. Der Indian Green Building Council (IGBC) ist aus einer amerikanischen Initiative hervorgegangen, doch ist er inzwischen zu einer rein indischen Institution geworden, die von einer Unternehmervereinigung getragen wird. Der IGBC bewertet Neubauten nach unterschiedlichen Kriterien und vergibt die Gütesiegel „Platin“, „Gold“ oder „Silber“. Das Energy and Resources Institute (TERI) in Delhi zertifiziert nach einem Bewertungssystem namens Green Rating for Integrated Habitat Assessment (GRIHA). In vielen indischen Bundesstaaten gibt es Steuervergünstigungen, wenn man solche Zertifizierungen vorlegt, und man darf Grundstücke kompakter bebauen. Doch diese Bewertungen werden vorgenommen ohne den konkreten Nachweis, dass die fertigen Gebäude ihrem Anspruch gerecht werden. Bis vor kurzem wurden keine Angaben über die tatsächliche Energiebilanz der „grünen“ Bauten veröffentlicht. Und nach den Daten, die nun vorliegen, wird die Behauptung der Ranking-Agenturen, die Gebäude würden 30 bis 50 Prozent Energie einsparen und 20 bis 30 Prozent weniger Wasser verbrauchen, nicht bestätigt. Nach einer aktuellen Untersuchung des Zentrums für Wissenschaft und Umwelt verschlangen viele Gebäude mit Spitzenbewertungen in Wirklichkeit große Mengen an Energie und Wasser. „Grünes Bauen“ ist nur möglich, wenn allen Bauherren verbindliche Maßstäbe gesetzt werden und der Energieverbrauch pro bebautem Quadratmeter streng begrenzt wird. Architekten und Immobilienentwickler werden anders vorgehen und von Anfang an effizient bauen, wenn sie andernfalls investieren müssten, um die Objekte nachträglich umweltgerechter zu machen. Dann werden sie sich auch wieder an die traditionellen Methoden erinnern, wie man passive Energie und das Tageslicht am besten nutzt, wie man die Luftzirkulation fördert und die Hitze fernhält. Außerdem müssen Richtlinien für den Wasserverbrauch und das Abfallmanagement in den ECBCKatalog aufgenommen werde, damit weniger Wasser durch die Toiletten fließt und alle Institutionen und großen Wohnanlagen zum Recycling ihrer Abwässer | 2-2015 gezwungen werden. Doch zuallererst muss Indien die Mülltrennung einführen, so dass kompostierfähige, wiederverwendbare und nicht mehr verwendbare Abfälle separat eingesammelt werden. All dies ist aber nur der Anfang: Die einzelnen Gebäude können nur so grün sein wie die Städte insgesamt. Wenn die Wohnungen nicht an den öffentlichen Nahverkehr angeschlossen werden, müssen wir weiter in einer braunen und schmutzigen Umwelt leben, auch wenn wir grün bauen. Und der Einsatz energiesparender Technologien darf die Baukosten nicht derart hochtreiben, dass die neuen Wohnungen für die meisten Inder unbezahlbar werden. In Ländern wie Indien müssen die Baurichtlinien vernünftiges und kostensparendes Bauen gewährleisten. „Grüne“ Architektur darf die wirtschaftliche Entwicklung nicht behindern und muss allen zugutekommen. Sunita Narain leitet das Zentrum für Wissenschaft und Umwelt in Neu-Delhi. Aus dem Englischen von Anna Latz. Anzeige jetzt Informieren! Kostenlos und Unverbindlich! FERNSTUDIUM NEBEN DEM BERUF NACHHALTIGE ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT AUSZUG DER STUDIENINHALTE Ernährungssicherheit und Wassermanagement Evaluierung von Nachhaltigkeit Good Governance & Civil Society Nachhaltigkeit im regionalen Kontext Sozial- und Umweltstandards Nachhaltiger Tourismus u. a. m. Jetzt informieren: www.zfuw.de 19 20 schwerpunkt wohnen Schwimmende Häuser in der Lagune Die Einwohner von Makoko in Lagos sind doppelt bedroht: vom steigenden Meeresspiegel und von den Behörden. Schwimmende Bauten könnten ihre Lage deutlich verbessern. Text: Sam Olukoya, Fotos: Iwan Baan M akoko in Lagos ist zweifellos der eindrucksvollste Slum in Nigeria: Er wird auch „Afrikas Venedig“ genannt. Seine Einwohner leben wie in der italienischen Stadt auf dem Wasser, in der Lagune von Lagos, die sich in den Atlantik erstreckt. Doch während Venedig schön und reich ist, sind in Makoko die Armen zu Hause. Sie leben in kleinen Holzhäusern, die sich auf Pfählen knapp über den Wasserspiegel erheben. Es gibt keine Straßen, keine Autos, keine Fahrräder. Die Menschen bewegen sich in Kanus über die Wasserwege – Kinder fahren damit zur Schule, Händler betreiben darauf ihre Geschäfte, in denen sie ihre Waren verkaufen. Zu manchen Zeiten gleicht Makoko einer schwimmenden Stadt aus Booten. die Kochtöpfe sind dann voll mit schmutzigem Wasser.“ Manchmal müsse sie eine Woche warten, bis das Wasser zurückgeht, bevor sie ihren Betrieb wieder aufmacht. „Niemand möchte zum Essen kommen, solange überall die dreckige Brühe herumschwappt.“ Die alleinerziehende Mutter von fünf Kindern gerät dann in Existenznöte: „Wenn ich keine Geschäfte machen kann, habe ich kein Geld, um meine Kinder zu versorgen.“ Wie ihr geht es in Makoko vielen. Die wachsende Bevölkerung von Lagos, das als Geschäfts- und Handelsmetropole viele Menschen anzieht, erhöht den Druck, mehr Wohnraum zu schaffen. Laut offiziellen Angaben liegt die Einwohnerzahl zurzeit bei 21 Millionen, bis 2020 soll sie auf 25 Millionen wachsen. Doch der verfügbare Grund und Boden ist begrenzt, und so versucht die Stadtverwaltung, an der Küste gelegenes Land wieder zurückzugewinnen. Das größte dieser Projekte soll für 400.000 Menschen Arbeitsplätze und Unterkünfte bieten. Umweltschützer kritisieren jedoch, die Rückgewinnung von Küstenland habe den Druck des Meeres auf das Land verändert. Die Wellen seien stärker und höher geworden und gefährdeten die Gemeinschaften, die an der Küste leben. Und sie sind noch von einer anderen Seite bedroht: In den vergangenen Jahren sind einige Slums zerstört worden, weil die Stadtverwaltung Lagos in das Modell einer „Mega-Stadt“ verwandeln will. Viertel wie Makoko haben darin keinen Platz. „Wir müssen die Slums aufwerten oder die Menschen umsiedeln“, sagt Bosun Jeje, der Beauftragte für Wohnungsbau. In der Praxis halten die Behörden diese Versprechen allerdings nicht. Meistens wird das Land an Wohlhabende oder Investoren verkauft – vor allem Die Verschmutzung des Wassers ist für die Behörden Grund genug, den Slum räumen zu lassen. Die meisten Einwohner verdienen ihr Einkommen mit Fischfang, und dafür ist die Nähe zum Ozean ideal. Seit mehr als 100 Jahren geht das Leben hier seinen gewohnten Gang; doch in jüngster Zeit ist die Gemeinschaft mehr und mehr bedroht. So wird die Küstenstadt Lagos wegen heftigen Regenfällen und dem steigenden Meeresspiegel immer häufiger überflutet. Makoko ist niedrig gelegen und deshalb besonders gefährdet. Das Meteorologische Institut von Nigeria macht dafür den Klimawandel verantwortlich. Die Überflutungen richten wirtschaftliche Schäden an. „Sie sind ein großes Problem“, sagt Dupe Faseun, die in Makoko ein Restaurant betreibt. „Sogar 2-2015 | wohnen schwerpunkt wenn es sich am Meeresufer in der Nachbarschaft reicher Viertel wie Ikoyi und Victoria Island befindet. Ein solches Schicksal befürchten auch die Einwohner von Makoko. Schon im Juni 2012 sollte der Slum geräumt werden. Doch einer der Führer der Gemeinschaft kam dabei gewaltsam zu Tode. Das zog lautstarke öffentliche Kritik nach sich, und so gab die Regierung ihren Versuch auf. In Makoko wehren sich die Menschen außerdem stärker als andere Slumbewohner von Lagos gegen ihre Vertreibung. Die meisten von ihnen sind Fischer und könnten nirgends anders leben. Viele sind hier geboren, manche stammen von Zuwanderern aus Benin und Togo ab, haben aber keine Verbindung mehr zu diesen Ländern. „Unsere Familie lebt hier seit Jahrzehnten“, sagt etwa Comfort Paul. „Sie sagen, wir sollen verschwinden, aber wo sollen wir denn hingehen?“ O bwohl Makoko bereits so lange existiert, hat die Regierung die Infrastruktur vernachlässigt – weil sie sagt, die Einwohner hätten keine offiziellen Landtitel. „Sie sollten gar nicht hier sein“, sagt Prince Adedegun Oniro von der Infrastrukturbehörde. „In diesem Gebiet hat niemand eine feste Adresse.“ Die fehlende Abwasserentsorgung ist das größte Problem. „Die Häuser haben keine Toiletten, die Menschen erleichtern sich direkt in das Wasser unter ihrem Fußboden“, berichtet Anwohner Joseph Blabo. Das Wasser sieht aus wie schwarze Tinte. Die Verschmutzung ist für die Behörden ein guter Grund, den Slum räumen zu lassen. Die Einwohner halten dagegen. Die Stadtverwaltung solle sich lieber darum kümmern, Makoko zu einem lebenswerten Ort Schulboot statt Schulbus: In Makoko lebt man auf dem Wasser. Die auf P lastikfässern schwimmende Schule hebt und senkt sich mit dem Meeresspiegel. Sie soll zum Vorbild für die Häuser werden, die bisher auf P fählen stehen. zu machen, fordern sie. „Sie sollten uns sagen, welche Art Häuser wir bauen sollen, damit sie in ihren Mega-City-Plan passen“, erklärt Lucky Usa. „Wir werden uns an die Vorgaben halten.“ Kunlé Adeyemi, gebürtiger Nigerianer und Gründer der Architektur- und Designfirma NLE in den Niederlanden, weiß, wie solche Häuser aussehen könnten. Ihr Fundament ruht auf Plastikfässern, sie können auf dem Wasser treiben und sich so dem steigenden Meeresspiegel anpassen – im Gegensatz zu den bisherigen Pfahlbauten, die eine feste Höhe haben und von Überflutungen bedroht sind, wenn sich der Wasserstand erhöht. Für den Bau könnten lokale Materialien und Kräfte genutzt werden, betont der 38-Jährige. Als erstes Gebäude dieser Art ist in Makoko mit Hilfe des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) und der deutschen Heinrich-BöllStiftung eine Grundschule entstanden – weithin bekannt als die schwimmende Schule von Makoko. Und Adeyemi träumt von mehr. „Als nächstes würden wir gerne ein Gemeinschaftszentrum bauen, ein paar neue Klassenzimmer, eine Klinik, einen Markt und Häuser – alles schwimmend.“ Die schönen Gebäude aus Holz und Bambus sollen das Viertel in ein wirkliches afrikanisches Venedig verwandeln. „In nur anderthalb Jahren könnten all die hässlichen Fassaden ersetzt werden“, sagt der Architekt. Doch damit er seine Pläne verwirklichen kann, müsste ihn die Stadtverwaltung von Lagos unterstützen. Die hat bislang wenig Begeisterung für das Modell gezeigt – weder in Makoko noch in anderen Vierteln, die vom steigenden Meeresspiegel bedroht sind. Aus dem Englischen von Gesine Kauffmann. | 2-2015 Sam Olukoya ist freier Journalist in Lagos (Nigeria). 21 22 schwerpunkt wohnen „Gebäude müssen ins Umfeld passen“ Die Architektin Comfort Badaru wundert sich über den Trend zu Glasbauten in Daressalam Gespräch mit Comfort Badaru Tansanias Hautstadt wächst rasant. Eigentlich bräuchte die Stadt eine dem Klima angepasste grüne Architektur, findet Comfort Badaru. Doch moderne Bauten mit viel Glas und Klimaanlagen seien gefragt – nicht zuletzt aus Prestigegründen. In Daressalam boomt die Baubranche. Alle paar Monate wird ein neuer Büro- und Apartmentkomplex fertig. Ist das nur erfreulich oder gibt es auch eine Kehrseite? Abgesehen davon, dass der Bauboom erfreulich ist, ist er auch unvermeidbar. Unsere Bevölkerung wächst rapide. Die Anzahl der Menschen in Daressalam nimmt jedes Jahr um eine Million zu. Die Frage muss lauten: Was ist der richtige Ansatz, mit diesem Wachstum umzugehen? Im Stadtzentrum, in Kariakoo – einem sehr dicht besiedelten, betriebsamen Ort – wird vor allem in die Höhe gebaut. Aber das hilft nicht wirklich weiter. Ich würde vorschlagen, dass man neue Stadtgebiete oder Städte schafft. Das wäre ein besserer Ansatz. Die Regierung hat das bereits versucht. „In den Nobelvierteln hat jedes Haus, jedes Apartment, jeder Raum eine Klimaanlage. Das ist auch eine Prestigefrage.“ Doch der Tansanier möchte erst einmal da bleiben, wo er ist und immer war. Wer möchte schon der erste sein an einem neuen Ort? Es ist einfacher, nachzuziehen, wenn der Anfang gemacht ist. Doch langsam verstehen die Leute, dass das Arbeiten von der Vorstadt aus die bessere Option ist, als ins Stadtzentrum zu pendeln. Der Verkehr hinein und zurück ist wirklich verrückt. Mittlerweile wird auch außerhalb des Stadtzentrums mehr gebaut. Entwerfen und bauen tansanische Architekten und Unternehmen diese Gebäude, oder kommen die Planer aus dem Ausland? Abgesehen von ein paar Ausländern, die hier in Tansania leben und arbeiten, sind das hauptsächlich tansanische Architekten und Organisationen. Die Bauvorhaben werden aber vor allem von chinesischen Bauunternehmen ausgeführt. Die Chinesen arbeiten zu schnell und zu billig. Gibt es unter diesen tansanischen Architekten einen mit Vorbildfunktion für Tansania und Ostafrika? Für mich ist es wichtig, dass die Architektur in Zusammenhang mit dem Umfeld steht. Und dafür gibt es vor allem einen tansanischen Architekten: Nadir Tharani. Seine Entwürfe sind einzigartig. Seine Gebäude entsprechen der Situation hier. Er berücksichtigt Sonnenschutz, Lüftung, hohe Decken und all die Elemente einer funktionalen Tropenbauweise. Dann gibt es John Kelly, einen Engländer, der seit 1993 für IPA Architects London das Büro in Daressalam leitet. Oder Epitome Architects – die haben eine Akkreditierung für nachhaltiges Bauen bekommen. Und natürlich Anthony B. Almeida. Er hat die St. Peters Kirche in Masaki gebaut und einige Gebäude der Universität Daressalam. Er respektiert auf jeden Fall den tansanischen Kontext. Heute ist er 93 Jahre alt und arbeitet immer noch. Wie würden Sie den gegenwärtigen Bauboom beschreiben? Kann man von einem tansanischen Baustil sprechen? Momentan muss alles voll im Trend sein, zum Beispiel die schi- cken Glasgebäude. Wer will heutzutage noch Betongebäude? Ein modernes Leben in einer modernen Stadt führen, das ist hier gerade der Leitspruch. Dazu gehören Gebäude, wie sie global im Trend liegen. Was in Dubai funktioniert, kann in Daressalam auch funktionieren. Nur: Diesen Gebäuden fehlt der Bezug zum Umfeld und dadurch eine Identität. Es gibt keinen modernen tansanischen Baustil. Im Stadtzentrum von Daressalam sieht man heute keine Gebäude, die charakteristisch für Tansania sind. Die Swahili-Architektur sieht man noch in den informellen Siedlungen. Hier stehen die Häuser in engen Straßenzügen nah beieinander. Dies entspricht dem Gemeinschaftsgedanken der Swahili-Kultur und dient außerdem der Beschattung. Die Gebäude haben eine niedrige Deckenhöhe und eine spezielle Belüftung. Das ist aber schwer übertragbar auf zwanzigstöckige Gebäude. Auch in den boomenden, mittelständischen Vorstädten wird man die Swahili-Bauweise nicht mehr finden. Doch es sollte einen Weg geben, eine Architektur zu entwerfen, die für Tansania kennzeichnend ist. Wir brauchen eine Architektur, die zu unserem tropischen Klima passt. Am besten nachhaltige, grüne Gebäude mit ausreichend Belüftung. Wurde das in Ihrem Architekturstudium gelehrt? Auf jeden Fall! In einem Fach, das Umweltwissenschaften heißt, lernt man, Umwelteinflüsse auf Bauen und Wohnen zu verstehen. Wie müssen zum Beispiel Fenster ausgerichtet werden, um eine an- 2-2015 | Comfort Badaru hat in Daressalam Architektur studiert und das Architektur-Magazin ANZA mit gegründet. Die gebürtige Uganderin vertritt den Architekturverband Tansanias in einem Projekt zum Architektur-Erbe Daressalams. Enge Straßenzüge prägen das Bild von Stone Town auf der Insel Sansibar. Sie sind charakteristisch für die traditionelle SwahiliBauweise, die in großen Städten kaum noch anzutreffen ist. Sven Torfinn/laif BarbarA Off wohnen schwerpunkt „Wenn man eine Familie gründet, lebt man in einem Haus. Apartments sind nur eine Zwischenlösung.“ genehme Wohntemperatur zu haben? Leider wenden die Architekten hier dieses Wissen in der Praxis nicht an. Das soll einer verstehen! Jeder Architekt weiß, wie das Klima hier ist und welche Bauweise das erfordert. Aber die meisten Menschen wollen ein modernes, schönes Haus mit maximaler Ausstattung mit Klimaanlagen. Nicht alle Häuser haben solche Anlagen. Das ist auch eine Frage des Geldes. In den Mittelklassegegenden wie Sinsa haben die Häuser normale Fenster und Ventilatoren. In den Nobelvierteln hat jedes Haus, jedes Apartment, jeder Raum eine Klimaanlage. Das ist auch eine Frage des Prestiges und des Wohlstandes. Wer das nötige Kleingeld hat, bewegt sich hauptsächlich an gekühlten Orten. Geht der Trend eher zum gemieteten Apartment oder zum Eigenheim? Mein Traum ist ein eigenes Haus mit einem Tor und einem eigenen Garten statt einer Wohnung in einem Apartmentkomplex. Und wenn ich mich so umsehe, ist das die Richtung für jeden in Tansania, vielleicht sogar in Afrika. Man beendet die Schule, bekommt einen guten Job, und dann baut man ein Haus. Das ist eine Prestigefrage. Wenn man eine Familie gründet, lebt man in einem Haus. Apartments sind nur eine Zwischenlösung. Wie teuer ist es denn ungefähr, eine Wohnung in Daressalam zu mieten? Das hängt natürlich von Größe und Ausstattung der Wohnung und vom Stadtviertel ab. Es beginnt zwischen 100 und 800 USDollar pro Monat und kann bis zu 2500 oder gar 4000 US-Dollar für die schicken Apartments und großen Häuser gehen. Normalerweise muss man die Miete ein halbes bis ein Jahr im Voraus bezahlen. Ausnahmen werden zum Beispiel für Austauschstudenten und Ausländer gemacht, die hier arbeiten. Wir zahlen nur Strom und Wasser monatlich. Strom kauft man im Voraus und verbraucht ihn dann. In Makongo, wo ich wohne, muss ich das Wasser extra kaufen und lagern – in Kanistern für 300 Tansanische Schilling (14 Eurocent) das Stück. Meine Nachbarn, zwei junge Frauen, verbrauchen beispielsweise pro Woche Wasser im Wert von 15.000 Schilling (etwa 7,25 Euro). Welche Ausstattung sollte ein Haus oder ein Apartment heutzutage haben? Die Hauptsache ist, dass es im ganzen Haus Bodenfliesen hat. Die Leute schauen auch darauf, dass jedes Schlafzimmer sein eigenes Bad hat plus eine Gästetoilette. Apropos Toilette: Wenn man eine Sitztoilette im europäischen Stil hat, dann ist das auch ein Plus. Billiger, weil wassersparender, sind die Stehtoiletten. Und wenn es eine Klimaanlage gibt, ist es natürlich top. Die Innenausstattung hängt vom Einzelnen und seinem Geschmack ab, hier gibt es keinen speziellen tansanischen Stil. Man muss eigentlich nur in die Möbelgeschäfte schauen, dann weiß man, wie die Häuser innen aussehen. Das Gespräch führte Barbara Off. | 2-2015 23 24 schwerpunkt wohnen Zuhause im Ziegenhaarzelt Nomaden wohnen traditionell in Unterkünften, die perfekt an die unwirtlichen Umstände in der Wüste angepasst sind. Ihre Lebensweise ist zunehmend bedroht. Text und Fotos: Meike Meerpohl M ehr als ein Drittel der Landmasse der Erde besteht aus Wüste. Gleißende Sonne, Hitze, Trockenheit, Sandstürme, klirrende Kälte in der Nacht – die klimatischen Bedingungen sind extrem. Trotzdem leben hier seit Jahrhunderten Menschen mit ihren Viehherden. Sie haben sich dem Rhythmus der Jahreszeiten, den stark schwankenden Regenfällen und den spärlichen Ressourcen angepasst. Ihren Lebensunterhalt bestreiten die meisten Gruppen mit Viehhaltung, denn die Tiere können aus knappen Ressourcen hochwertige Nahrungsmittel produzieren. Die spärlichen Weidegründe erfordern jedoch Mobilität der ganzen Familie, um Futter und Wasser für die Tiere zu finden. Manche Gruppen, die Nomaden, sind ganzjährig unterwegs, andere, sogenannte Halbnomaden, leben einen Teil des Jahres in einer Siedlung. Eine Gruppe von ihnen sind die Beduinen, die in den Wüsten des Nahen Ostens, der Arabischen Halbinsel und Nordafrika zu Hause sind. Voraussetzung für ein mobiles Leben ist eine Unterkunft, die ebenso schnell auf- wie abgebaut und auf Tieren transportiert werden kann. Beduinen wohnen traditionell in einem schwarzen Ziegen- haarzelt. Es spendet Schatten, schützt vor Kälte, Wind, Sand und Staub und schafft eine Privatsphäre für seine Bewohner. Die Zelte der Beduinen werden von den Frauen hergestellt. Im Frühjahr scheren sie die Wolle der Schafe und Ziegen, spinnen sie zu gleichmäßigen Fäden und weben sie zu Bahnen. Der Webrahmen liegt als flexible Konstruktion auf dem Boden, ist leicht zusammenzusetzen und schnell abzubauen, wenn die Wüstenbewohner ihren Lagerplatz wieder verlassen. Die Frauen weben die Zeltbahnen wie einen dicken Teppich in variierenden Längen von bis zu 45 Metern bei einer Breite von etwa 80 Zentimetern. Sie werden mit Pfosten und Leinen zu einem Zeltsystem zusammengesetzt. Holzstangen an den äußeren Ecken und als Innenpfosten werden mit Stricken und Seilen so verspannt, dass sich ein schattiger Innenraum bildet. Die Größe der Zelte lässt sich mit zusätzlichen Innenpfosten anpassen. Ein durchschnittliches Ziegenhaarzelt hat eine Länge von vier bis fünf Metern, ein großes Zelt kann bis zu 50 Meter lang sein. Die lockere Webstruktur lässt bei Tag Licht hinein, in den heißen Tagesstunden kann der Wind zirkulieren und zugleich kann der Rauch aus der Feuerstelle im Innenraum entweichen. Bei Regen dagegen quillt die Wolle durch die Feuchtigkeit auf und macht die Außenhaut des Zeltes dichter. Das natürliche Öl der Wolle lässt das Wasser abperlen. Der Innenraum bleibt trocken und warm. Das Zelt, dessen Innenraum meist durch einen Vorhang zweigeteilt ist, bildet die Wohnstätte einer Kernfamilie. Der größere Raum ist tagsüber vorwie- 2-2015 | wohnen schwerpunkt Gemacht für das mobile Leben: Beduinenzelte sind stabil, aber schnell auf- und abzubauen und einfach zu transportieren. gend den Frauen vorbehalten. In diesem Bereich spielt sich das Familienleben ab, hier wird die Hausarbeit verrichtet und geschlafen. Im kleineren Bereich werden Gäste empfangen; alte Männer nutzen ihn auch als Schlafplatz. Eine Trennung zwischen privat und öffentlich wird nur dann vorgenommen, wenn männliche, nicht zur Familie gehörende Gäste anwesend sind. Die Unterteilung wird nicht als Ausgrenzung der Frauen verstanden, sondern als Zeichen des Respekts und des Schutzes. A Meike Meerpohl ist Ethnologin und war in der Vergangenheit für unterschiedliche Forschungsprojekte in verschiedenen Ländern des Nahen Ostens und Afrikas unterwegs. Zurzeit arbeitet sie an der Universität Köln. | 2-2015 uch die Arbeiten sind bei den Beduinen traditionell nach Geschlechtern geteilt. Die Frauen sind für die Ziegen und Schafe verantwortlich: Sie hüten und scheren sie, produzieren aus ihrer Wolle Zeltbahnen und Teppiche, gewinnen aus ihrer Milch Käse und Joghurt, holen Wasser, kochen die Mahlzeiten und versorgen den Haushalt. Den Männern obliegt die Viehzucht: Sie hüten und trainieren die Kamele, sie gehen auf den Markt, um Produkte zu kaufen und zu verkaufen. Felder – falls vorhanden – werden ebenfalls von den Männern bestellt. Sie kümmern sich außerdem um einen neuen Siedlungsplatz, wenn die Zeit gekommen ist, weiter zu wandern – abhängig vom Zustand der gegenwärtig genutzten Flächen, ertragreicheren Alternativen sowie möglichen, weiter entfernt liegenden Wasserstellen und Weideplätzen. Ist die Entscheidung getroffen, so werden das Zelt sowie sämtliche Haushaltsgegenstände und Lebensmittel innerhalb weniger Stunden abgebaut und auf den Lasttieren verstaut. Im vergangenen Jahrhundert hat sich das Leben vieler Nomaden stark verändert. Die Festlegung von Staatsgrenzen erschwerte die Wanderbewegungen, der Bau von Straßen und Eisenbahnen hat dem Karawanenhandel und -transport seine Bedeutung entzogen. Regierungen versuchen zunehmend, no- madische Gruppen sesshaft zu machen, um sie besser zu kontrollieren, aber auch, um ihnen einen Zugang zu Schulen und Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Aus Sicht vieler politischer Entscheidungsträger sollen Nomaden ihre „primitive“ Lebensweise zugunsten eines moderneren Lebensstils aufgeben und Staatsbürger werden. Manche Nomaden – in weiten Teilen Afrikas – siedeln sich freiwillig in der Nähe von Städten an, andere werden im Rahmen von staatlichen Programmen dazu gezwungen. Das geschah etwa in den 1960er und 1970er Jahren in vielen Regionen des Nahen Osten, um Modernisierungs- und Entwicklungsprozesse zu beschleunigen und um die Wüsten besser kontrollieren zu können. Einige dieser Ansiedlungen, etwa im israelischen Beer Sheva oder im jordanischen Um Saihun, gleichen Reservaten. Sesshaft gemacht im urbanen Umfeld, fehlt der nomadischen Bevölkerung jegliche wirtschaftliche Grundlage. Die sozialen Veränderungen führen zu Arbeitslosigkeit, Armut und Kriminalität bis hin zu Alkohol- und Dogenabhängigkeit. Nur wenigen Gruppen gelingt es, ein nomadisches oder halbnomadisches Leben fortzusetzen. Für die meisten wird es immer schwieriger, als Viehzüchter zu überleben, so dass sie gezwungen sind, sich neue Erwerbsquellen zu suchen. Neue Arbeitsplätze, die Trennung der Familien sowie der Zugang zu anderen Regionen, Gruppen und Lebensweisen beeinflussen alle Lebensbereiche der nomadischen Gesellschaften und verändern auch ihre Art zu wohnen. Die Ziegenhaarzelte werden vielfach von mobilen, jedoch stabileren Behausungen oder festen Hütten und Häusern abgelöst. Im Zuge der forcierten Ansiedlung reduzierte sich der Bestand an Ziegen, das Ziegenhaar und die Zelte wurden teurer. Viele Beduinen waren gezwungen, ihre Zelte mit Jute und Plastikplanen auszubessern oder ganz daraus herzustellen. Die Zeltstangen wurden durch fest im Boden verankerte Balken ersetzt, der Boden wurde zementiert und die Trennwände bestehen nun aus Holz, so dass sich die Zelte immer mehr den Wohnräumen der sesshaften Lebensweise anpassen. Der Umgang mit Nomaden in den einzelnen Staaten hängt ab von der politischen Ausrichtung der Regierung, der Größe des Landes und der Bevölkerung, den potenziellen Weideflächen sowie tribalen, regionalen oder überregionalen Konflikten. Die israelische Regierung etwa hat in Teilen des Landes das Grasen von Ziegenherden verboten, so dass die nomadische Lebensweise dort aufgegeben werden musste. In Jordanien setzt man auf mehr Kontrolle, im Sudan oder im Tschad ist eine Koexistenz verschiedener Lebensformen möglich. In vielen Regionen des Nahen Ostens jedoch sind nomadische Behausungen wie das Ziegenhaarzelt der Beduinen mittlerweile eher ein Symbol für die traditionelle Lebensweise in der Wüste, denn in den meisten Gebieten sind die Zelte Betonsiedlungen gewichen – oder dienen vereinzelt nur noch als Attraktion für die Touristen. 25 26 schwerpunkt wohnen Die Illusion vom Eigenheim Viele Regierungen in Lateinamerika fördern das Wohneigentum. Das hilft der Mittelschicht, beendet aber nicht die Wohnungsnot und das Wachstum der Armensiedlungen. Die Selbsthilfe in diesen Slums kann bei der Lösung helfen. Text: Alan Gilbert, Fotos: Jorge Silva/Reuters M ehr als 50 Millionen Familien leben in Lateinamerika in Behausungen, die aus unstabilem Material zusammengestückelt oder nicht an die Infrastruktur angeschlossen sind. Ärmliche Wohnverhältnisse waren auf dem Land schon immer ein Problem. Und die Abwanderung in die Städte hat dort die ausgedehnten Favelas, Barriadas und Colonias Clandestinas hervorgebracht, über die so häufig berichtet wird. In den vergangenen Jahren haben viele Regierungen versucht, hier Abhilfe zu schaffen. Doch den meisten Programmen war kein großer Erfolg beschieden. Ob öffentliche Wohnungen gebaut wurden, Investitionen in Immobilien subventioniert, Elendsviertel saniert oder den Bewohnern Eigentumsrechte zugestanden – unterschiedliche Ansätze haben die Lage meist nur geringfügig verbessert. Der einzige Fortschritt in der gesamten Region ist, dass jetzt sehr viel mehr Häuser als zuvor an die Strom- und Wasserversorgung und die Kanalisation angeschlossen sind. Seit Jahren verspricht jede lateinamerikanische Regierung, sie wolle das Wohneigentum fördern; in Kolumbien war das erklärte Ziel gar eine „Nation von Hausbesitzern“. Wenn ich zuständige Beamte in der Region fragte, warum ihre Regierung keine Mietwohnungspolitik hatte, erklärten sie stets, der Wunsch nach einem Eigenheim sei in der lateinamerikanischen Kultur tief verwurzelt. Das stimmt ziemlich sicher nicht – nicht mehr als in England, bevor dort eine Regierung nach der anderen den Wunsch nach Wohnbesitz stimulierte. 1918 wohnten rund 90 Prozent aller Familien in Großbritannien zur Miete und noch 1970 mehr als die Hälfte. Doch übertrieben großzügige Darlehensangebote, die unzureichende Besteuerung von Immobiliengeschäften und die Vernachlässigung von Mietwohnungen heizten das Interesse an, Wohnungen zu kaufen. 2-2015 | wohnen schwerpunkt schuss hoffen. Weil dieser plus die Ersparnisse nicht die gesamten Baukosten deckten, sollten zusätzlich Darlehen aufgenommen werden. Dieses sogenannte ABC-Modell – von Ahorro (Ersparnisse), Bono (Zuschüsse), Credito (Darlehen) – übernahmen viele lateinamerikanische Länder in modifizierter Form. Das System war einleuchtend: Mit ihren Sparanstrengungen mussten sich die Familien der Zuschüsse würdig erweisen, dank derer sie ein Haus kaufen konnten. Dank der Kredite musste der Staat pro Wohneinheit weniger zuschießen, und mehr Familien konnten berücksichtigt werden. D Der Slum Las Mayas in der venezolanischen Hauptstadt Caracas erstreckt sich über einen steilen Hügel (links und Mitte). Die kleinen Holzhäuser lassen wenig Raum für Privatsphäre (rechts). Die Regierungen Lateinamerikas verfolgen jetzt dieselbe falsche Strategie. Vielen Familien bringt Wohneigentum nichts und sie würden gern zur Miete wohnen. Menschen ohne festen Job, Studenten, neu Zugezogene und frisch Getrennte oder Geschiedene brauchen befristete Unterkünfte. Familien ohne Kinder mögen lieber da wohnen, wo sie arbeiten, als in einer Vorstadtsiedlung ohne Infrastruktur. In Lateinamerika können sich Mittelschichtsfamilien in der Regel mit Hilfe eines Darlehens ein Heim kaufen. Aber weniger Begüterte können das nicht, weil reguläre Häuser zu viel kosten und wenige Banken bereit sind, ihnen ein Darlehen zu gewähren. Lange Zeit versuchten die Regierungen dieses Problem mit sozialem Wohnungsbau zu lösen. Das hat nicht viel geholfen, weil mit den vorhandenen Mitteln nicht einmal ein Bruchteil der benötigten Wohnungen gebaut werden konnte. Wer kostenlos Wohnraum zur Verfügung stellt, macht sich beliebt. Doch viele Nutznießer bleiben so arm wie zuvor. Die Regierung Pinochet in Chile ging anders vor: Um dem Sozialismus den Boden zu entziehen, das Baugewerbe zu fördern und die ärmere Bevölkerung unterzubringen, führte das Ministerium für Bauwesen 1977 Kapitalzuschüsse ein. Die Planung und der Bau aller Sozialwohnungen wurde dem privaten Baugewerbe überlassen. Um die Nachfrage zu stimulieren, sollten diejenigen armen Familien subventioniert werden, die sich selbst zu helfen versuchten – das heißt, die eigene Ersparnisse ansammelten. Je länger sie gespart hatten und je höher ihre Rücklagen waren, desto eher konnten sie auf einen Zu- | 2-2015 och leider lag hier ein entscheidender Fehler: Die meisten Familien waren zu arm, um genügend sparen zu können, und ihr Einkommen war zu gering, als dass die Banken ihnen ein Darlehen gewährt hätten. Manche Regierungen erhöhten deshalb für Arme die Zuschüsse stark, und einige stellen den Ärmsten jetzt Wohnraum kostenlos zur Verfügung. In Venezuela sorgte Hugo Chávez dafür, dass die Opfer von Naturkatastrophen Wohnungen bekamen, für die sie zunächst gar nichts zahlen mussten – auch keine Miete. Und 2012 gab die kolumbianische Regierung bekannt, sie werde pro Jahr für 100.000 Familien kostenlose Wohnungen bereitstellen. Diese Politik war natürlich sehr populär: Die erste Begünstigte kniete weinend vor dem Bauminister nieder und dankte Gott für ihre neue Unterkunft. Wenn man Häuser kostenlos verteilt, macht man sich beliebt und schafft Arbeitsplätze im Baugewerbe. Doch die Nutznießer bleiben so arm wie zuvor. Oft haben sie Probleme, Steuern und Dienstleistungen zu bezahlen, ganz zu schweigen von der Instandhaltung ihrer Wohnungen. Es gibt Hinweise darauf, dass Arme öfter krank werden, nachdem sie in regulären Wohnungen untergebracht wurden: Sie müssen mehr für die Miete oder die Abzahlung ihres Darlehens ausgeben und behalten für Lebensmittel und für die medizinische Versorgung weniger übrig. Wenn man Wohnungen scheinbar umsonst anbietet, ist dies der Knackpunkt: Die Ursache des Problems ist die Armut, und an der ändert sich nichts. In jedem Fall ist der Mangel an Wohnraum zu groß, als dass er durch kostenlose Wohnungen wesentlich gelindert werden könnte. In Kolumbien sind rund 1,2 Millionen Familien ohne angemessene Unterkünfte. Selbst wenn die Nachfrage konstant bliebe, würde es zwölf Jahre dauern, den Mangel zu beheben. Doch alljährlich suchen zusätzlich 300.000 Haushalte eine Wohnung, weil immer mehr Menschen in den Städten Arbeit suchen und die Veränderung der Lebensgewohnheiten es mit sich bringt, dass viele allein leben wollen. Hierzu trägt auch die Zunahme an Scheidungen und Trennungen bei. In einer idealen Welt müssten die Armen ihre Behausungen nicht selbst errichten, wie es so viele in Lateinamerika tun. In einem Verschlag zu leben, bis das Haus fertig ist, und jahrelang auf reguläre Infrastruktur und leicht erreichbare Schulen, medizinische Einrichtungen und Verkehrsmittel zu verzichten, ist schlimm genug. Noch dramatischer wird es in 27 28 schwerpunkt wohnen einer Umgebung, in der man ständig von Stürmen, Erdbeben und Überschwemmungen bedroht ist. Und doch haben zahllose Lateinamerikaner mangels besserer Alternativen genau das geschafft und sind zum Erstaunen Vieler gut zurechtgekommen. In den meisten Städten haben sie solide gemauerte Häuser mit mindestens zwei Stockwerken errichtet. Die nachträglich sanierten Siedlungen an den Hängen von Bogotá, Caracas und Rio de Janeiro zeugen von dem Fleiß und der Eigeninitiative ihrer Erbauer. Diese Leistung haben die meisten lateinamerikanischen Regierungen in der Vergangenheit nicht anerkannt. Vor allem die autoritären Regime in Argentinien, Brasilien und Chile versuchten, Siedler zu vertreiben. Inzwischen haben die meisten Regierungen widerstrebend eingesehen, dass es besser ist, solche Siedlungen zu sanieren und nur die zu räumen, die an besonders gefährdeten Orten errichtet wurden. Deshalb wurde in die Infrastruktur und in verbesserte Dienstleistungen investiert. In Bogotá und Medellín hat fast jeder Zugang zu Strom, Wasser und Kanalisation, und auch in den meisten kleineren kolumbianischen Städten verbessert sich die Situation zusehends. D . ie nachträgliche Sanierung ist wie ein Wundpflaster, während die Lateinamerikaner eigentlich weniger Wunden brauchen. Leider haben zu wenige Regierungen begriffen, dass aus notdürftigen Behausungen reguläre Häuser werden können und das Bauen in Eigenregie eine zwangsläufige Folge der Armut in den Städten ist. Sie sollten die weitere Zunahme der spontanen Ansiedlungen in die Planung aufnehmen. Dabei müssen sie erstens illegale Landbesetzungen verhindern, vor allem dort, wo Gefahren für Wohnsiedlungen drohen, wo die Infrastruktur zu kostspielig wäre oder wo bereits eine öffentliche Nutzung vorgesehen ist. Zweitens sollten sie alternative Standorte für spontane Besiedlung anbieten. Sie müssen noch nicht komplett erschlossen sein, sollten aber die Voraussetzung bieten, um alle Infrastruktur-Dienste nachträglich kostengünstig aufzubauen. Dann könnten arme Familien ordentliche Unterkünfte billiger und schneller errichten als bisher, vor allem wenn man ihnen technische Beratung und Kleinkredite zur Verfügung stellt und die Kosten des Baumaterials niedrig gehalten werden. Die Regierungen armer Länder können die Wohnungsnot nicht beheben, weil die Armut insgesamt zu groß ist. Überdies verwenden die lateinamerikanischen Regierungen einen zu kleinen Anteil des Bruttoinlandsprodukts für die Schaffung von Wohnraum; in den Jahren 2008 und 2009 gaben nur Brasilien und Nicaragua mehr als zwei Prozent davon für den sozialen Wohnungsbau aus. Das wird üblicherweise mit dem Mangel an Geld begründet. Das überzeugt nicht ganz, weil die meisten lateinamerikanischen Länder wenig Steuern eintreiben und es beträchtliche Spielräume für ein höheres Steueraufkommen gibt. Steuern auf Wertzuwächse und Kapitaleinkommen könnten die öffent- lichen Kassen füllen, werden aber selten erhoben. Zum Beispiel erklärte mir der damalige Bürgermeister von Quito, dass die Grundsteuer im Jahr 2011 im Schnitt nur 25 US-Dollar pro Haushalt eingebracht habe. Es liegt auf der Hand: Die Landflucht macht Immobilienbesitzer reich, und zu wenig von ihren Kapitalgewinnen wird besteuert. Wenn die Regierungen wirklich mehr in den sozialen Wohnungsbau investieren wollten, hätten sie die Möglichkeit dazu. Viele glauben, der peruanische Wirtschaftswissenschaftler Hernando de Soto habe die Lösung für die Probleme der Wohnungsnot und sogar der Arbeitslosigkeit und des Entwicklungsrückstands in Lateinamerika gefunden. In seinem 2000 erschienenen Buch „Freiheit für das Kapital“ erklärt er, dass die Armen in der Lage sind zu sparen. Aber ihre Werte seien juristisch schlecht abgesichert: „Ihre Häuser stehen auf Grundstücken, für die sie keinen Besitzanspruch nachweisen können, ihre Unternehmen sind nicht registriert und die Haftung ist nicht ge- Die Landflucht macht Immobilienbesitzer reich, aber deren Kapitalgewinne werden viel zu wenig besteuert. klärt, ihre Produktionsstätten bleiben für Geldgeber und Investoren unsichtbar.“ Weil ihr Besitz nicht adäquat dokumentiert sei, könnten sie ihn nicht leicht zu Kapital machen und produktiv einsetzen. Laut de Soto belief sich das tote Kapital, über das die Armen in zwölf lateinamerikanischen Ländern verfügen, auf satte 1,2 Billionen US-Dollar. Er hält es für die wichtigste Aufgabe der Regierungen, den informellen Sektor auf eine gesetzliche Basis zu stellen. Wenn die Häuser in den spontan er- 2-2015 | wohnen schwerpunkt Ordentliche Häuser, befestigte Straßen: Venezuelas verstorbener Präsident Hugo Chávez wollte mit einem großen Bauprogramm bezahlbare Wohnungen für die Armen schaffen. Die sozialistische Stadt „Cacique Tiuna“ – hier Bilder vom April 2011 – ist eines der Vorzeigeprojekte. richteten Siedlungen im Grundbuch eingetragen wären, könnten sie gekauft und verkauft werden und ihre Eigentümer könnten Bankkredite aufnehmen. Doch obwohl Eigentumsnachweise manchmal die Lage der Armen verbessern können, ist de Soto zu optimistisch. Besitztitel können die Wohnungssituation in der Dritten Welt nicht grundsätzlich verändern, denn es gibt ganz einfach zu viele sehr arme Familien, die sich keine regulären Wohnungen leisten können und klug genug sind, keine großen Kredite aufzunehmen. Wo bittere Armut herrscht, hilft es den Hausbesitzern wenig, wenn ihr Eigentum legalisiert wird, und den Millionen von Mietern nützt es gar nichts. D ass in armen Ländern mit hoher sozialer Ungleichheit die Wohnungsnot beseitigt werden könnte, ist eine völlig verfehlte Vorstellung. Mit vernünftigen Maßnahmen können Regierungen die Lage verbessern helfen, aber populistische Versprechen, den Mangel an Wohnraum zu beenden, sind illusorisch. Genau dies behaupten aber viele lateinamerikanische Regierungen: Schon bald werden alle in schönen Häusern wohnen, die ihnen gehören! Es ist an der Zeit, dass die Regierungen mutiger und ehrlicher werden. Sie müssen die Immobilien- | 2-2015 spekulation erschweren und die Gewinne aus Grundund Wohneigentum höher besteuern. Mit den höheren Einnahmen könnten mehr informelle Siedlungen an die Wasserversorgung und die Kanalisation angeschlossen werden. Doch die Regierungen sollten zugeben, dass der Mangel an Wohnraum in Lateinamerika und mehr noch in Afrika und großen Teilen Asiens ein unüberwindbares Problem darstellt. Sie sollten nicht länger vorgeben, dass ihre Programme – auch wenn manche durchaus Anerkennung verdienen – mehr erreichen können, als die Wohnungsnot und den informellen Siedlungsbau in Grenzen zu halten. In Wirklichkeit brauchen die Armen Lebensmittel und medizinische Versorgung dringender als hochwertige Wohnungen. Die ganz Armen sind für ihr Überleben sogar auf einfachste Unterkünfte angewiesen, die nicht viel kosten. Gibt es die nicht, dann werden sie entweder obdachlos, oder sie drängen sich in hoher Zahl in den preiswertesten Wohnungen zusammen. Manchmal steht die Verbesserung der Wohnqualität im Widerspruch zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen. Slums zu beseitigen hilft nicht gegen die Armut. Doch die Armut zu lindern, wird mit ziemlicher Sicherheit auch die Wohnungssituation der Armen verbessern. Alan Gilbert ist emeritierter Professor für Geografie am University College London und Experte für Stadtentwicklung in Lateinamerika. 29 30 In Nordkorea hat sich eine kleine Mittelschicht herausgebildet. Zu ihr gehören die Besucher des Wasserparks Rungna in Pjöngjang. welt-blicke xxx Reuters/KCNA Aufschwung in Nordkorea Nordkoreas Führer Kim Jong-un will die Wirtschaft seines Landes ankurbeln. Erste Schritte hat er getan – vor allem will er die erdrückende Abhängigkeit von China verringern. Von Rüdiger Frank N ordkorea erfreut sich hierzulande großen Interesses, und das trotz – oder wegen? – eher kritischer Schlagzeilen in den Medien. Bizarrer Führerkult, Menschenrechtsverletzungen, Hunger, der mutmaßliche Hacker-Angriff auf die SonyFilmstudios und Kriegsdrohungen gegen die USA: Das bringt Aufmerksamkeit. Das Wissen darüber, was tatsächlich in Nordkorea vor sich geht, ist hingegen vergleichsweise spärlich. Dafür gibt es gute Gründe, allen voran die Informationspolitik der nordkoreanischen Regierung, die Ausländer nur unter Auflagen und mit strikter Bewachung ins Land lässt. Individuelle Reisen oder gar Feldforschung sind unmöglich. Offizielle Statistiken, selbst geschönte, sind Mangelware. Ein weiteres Hindernis ist der Versuch, eine komplexe Gesellschaft entlang eines vereinfachten GutBöse-Gegensatzes zu erklären. Der zweifellos berechtigte Abscheu, den Berichte über Menschenrechtsverletzungen hervorrufen, verstellt häufig den Blick auf die Fortschritte, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten erzielt worden sind. Wer sich ernsthaft darüber Gedanken macht, wie das vom Atomprogramm ausgehende sicherheitspolitische Risiko verringert und die Lage der Menschen in Nordkorea verbessert werden kann, muss die komplexe, oft widersprüchliche Realität betrachten. Nordkorea stand nach der Teilung des Landes 1948 zunächst auf der Sonnenseite. Auch der zerstörerische Korea-Krieg konnte nicht verhindern, dass der wirtschaftliche Vorsprung, den die Nordhälfte Koreas unter der japanischen Kolonialherrschaft errungen hatte, zunächst erhalten blieb. Hinzu kam umfangreiche Hilfe aus China und der Sowjetunion. Zwar wurde Nordkorea in den 1970er Jahren vom durch die USA geförderten Südkorea wirtschaftlich überholt, doch der Staat konnte noch immer eine stabile Versorgung mit elementaren Gütern gewährleisten. 2-2015 | nordkorea welt-blicke Straßenszene in Pjöngjang. Auch Autos werden im Land hergestellt. Rüdiger Frank Vladivostok Nordkorea © RUSSLAND 100 km CHINA Rason OSTASIEN Japanisches Meer NORDKOREA 122.762 km2 Fläche: Einwohner: Pjöngjang Kaesong Seoul Gelbes Meer 24,8 Mio. Lebenserwartung: 69, 81 Jahre Analphabetenrate: < 1% Pro-Kopf-Einkommen (Kaufkraftparitäten): ca. 2000 US-$ SÜDKOREA Quellen: CIA World Factbook, 2014 / Auswärtiges Amt, 2011 Das änderte sich schlagartig, als die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten kollabierten. Als Industrieland ist Nordkorea vom Außenhandel abhängig – trotz allen Geredes der Führung über Autarkie. Der Handel hatte immer eine starke politische Komponente: Die sozialistischen „Bruderländer“ kauften Nordkorea neben dringend benötigen Gütern wie Bodenschätze auch solche Waren ab, die eigentlich niemand wollte. Importe, etwa von Erdöl oder Maschinen, fanden zu Freundschaftspreisen und in virtuellen Währungen wie dem Transferrubel statt. Damit war Anfang der 1990er Jahre Schluss. | 2-2015 Viele Betriebe, die auf Absatzmärkte im Ostblock orientiert waren, siechten vor sich hin, ihre Produktion war nur noch zu einem Drittel oder weniger ausgelastet. In der Landwirtschaft wirkte sich das Fehlen von Düngemittel, Treibstoff für Maschinen und Strom für Bewässerungsanlagen besonders desaströs aus. In Kombination mit den regelmäßig auftretenden Dürren im Frühjahr und Überschwemmungen während der sommerlichen Monsunsaison kam es zu einer Reihe von Missernten. Die Folge war eine mehrjährige Hungersnot ab 1995, die in Nordkorea heute euphemistisch „Schwerer Marsch“ genannt wird. Im Westen tauchten Fotos von unterernährten Kindern auf, die noch heute das Bild des Landes prägen. D er wirtschaftliche Zusammenbruch führte auch dazu, dass die staatliche Kontrolle der Gesellschaft aufweichte. Viele Menschen flohen über die Grenze nach China und brachten von dort nicht nur Essen, sondern auch Informationen mit. Manche blieben und gelangten nach Südkorea oder in den Westen, wo sie Erschreckendes über die Lage in Nordkorea berichteten. Die Führung musste reagieren. Sie tat es spät, was am Tod des fast fünf Jahrzehnte herrschenden Staatsgründers Kim Il-sung im Sommer 1994 lag, aber auch daran, dass man bewusst den Erhalt des Regimes über die Grundversorgung der Bevölkerung stellte. Lieber arm und stolz als reich und geknechtet, hieß es. Die Menschen fügten sich dieser Logik solange, 31 32 welt-blicke nordkorea Links: Frauen auf dem Weg zur Arbeit in der Sonderwirtschaftszone Kaesong, wo sie bei südkoreanischen Betrieben beschäftigt sind. Nordkorea hat inzwischen auch eine eigene Produktion aufgebaut, unter anderem von Mobiltelefonen (Mitte). Der Staatschef Kim Jong-un selbst überzeugt sich von der Qualität der im Land gefertigten Strümpfe und Socken (rechts). rüdiger Frank (2); Reuters/KcNA bis ihre Kinder und Eltern vor ihren Augen zu sterben begannen. Das Land drohte auseinanderzubrechen. Der ab 1994 amtierende neue Führer Kim Jong-il begann mit zaghaften Veränderungen. Dazu zählte die offizielle Anerkennung von Strukturen und Aktivitäten, die bereits spontan entstanden waren. Die nichtstaatlichen Märkte, auf denen sich Preise nach Angebot und Nachfrage herausbilden konnten, erlangten eine größere Bedeutung für die Versorgung. Insbesondere kam es zu einer Re-Monetarisierung der Gesellschaft: Geld, das aufgrund eines umfassenden Rationierungs- und Verteilungssystems fast völlig seine Funktionen verloren hatte, erlebte eine Renaissance. Die Beziehungen zu Russland sind in den vergangenen Jahren wiederbelebt worden. Moskau hat Pjöngjang Schulden erlassen. Der Außenhandel wurde neu aufgebaut, dieses Mal nach rein marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten. Parallel dazu versuchte die Führung allerdings, die alte Strategie des politischen Wirtschaftsaustausches fortzusetzen. Da China und Russland nur noch mäßig interessiert waren, wurde Südkorea in der Hoffnung auf Annäherung und Wiedervereinigung zum neuen Partner. Auf das historische erste Gipfeltreffen der zwei Staatsführer im Juni 2000 folgte eine Vielzahl von Projekten. Der Tourismus von Süd nach Nord wurde intensiviert und brachte Pjöngjang Hunderte Millionen Dollar ein. An der innerkoreanischen Grenze bei Kaesong wurde eine gemeinsame Sonderwirtschaftszone er- richtet. Heute verkauft der nordkoreanische Staat dort die Arbeitskraft von über 50.000 gut ausgebildeten Arbeiterinnen an die Kapitalisten aus Südkorea, die sonst angesichts des hohen Lohnniveaus im eigenen Land ihre Betriebe längst hätten schließen und nach China oder Südostasien auslagern müssen. B is zum Frühjahr 2003 gab es eine Reihe von bemerkenswerten Reform-Maßnahmen. Die bis dahin bestehenden drei Landeswährungen wurden zu einer verschmolzen, der Wechselkurs zum Dollar wurde deutlich realistischer, Subventionen wurden abgebaut. An die Stelle von bürokratischen Anweisungen und zentraler Planwirtschaft traten hier und da Versuche einer indirekten makroökonomischen Steuerung, zum Beispiel die Ausgabe von staatlichen Schuldscheinen zur Abschöpfung von Liquidität oder eine Währungsreform zur Bekämpfung der Inflation. Die Betriebe erhielten etwas mehr Entscheidungsfreiheit, blieben allerdings staatlich. Das Land befand sich im Aufbruch, die Führung experimentierte. Dies tat sie sehr vorsichtig, hatte sie doch das Schicksal der Sowjetunion und Michail Gorbatschows vor Augen, der mit bester Absicht die einstige Großmacht in kürzester Zeit dem Zerfall und dem Spott ihrer einstigen Gegner preisgegeben hatte. Auch das Schicksal des rumänischen Diktators Nicolae Ceauşescu, der 1989 hingerichtet wurde, wollte die Familie Kim nicht teilen. Man kann heute spekulieren, ob die ersten zaghaften Veränderungen zu echten Reformen nach chinesischem Vorbild hätten führen können. Erfahrungsgemäß bereitet der Erfolg einer Reform den Weg für eine weitere. Doch dazu kam es nicht. Der 1994 beigelegte Atomstreit mit den USA flammte Ende 2002 unter 2-2015 | nordkorea welt-blicke gegenseitigen Schuldzuweisungen wieder auf. Mit Washingtons Einmarsch im Irak im März 2003 erlosch die wirtschaftspolitische Risikobereitschaft der nordkoreanischen Führung. Denn Nordkorea wurde von den USA zur „Achse des Bösen“ gezählt, und die USA hatten bewiesen, dass sie keine leeren Worte machten. Kein Wunder also, dass die neue Politik „Militär zuerst“ lautete. Weitere Reformvorhaben wurden vertagt, bestehende Projekte verlangsamt, obgleich nicht alle beendet. Japan, bis 2002 der Haupthandelspartner Nordkoreas, stellte den Außenhandel mit dem Land fast vollständig ein. An seine Stelle trat China, mit dem Pjöngjang heute fast 90 Prozent seines jährlich steigenden Warenaustauschs abwickelt. Ideologisch und wirtschaftspolitisch kam es zu einer neokonservativen Phase, in der sich Nordkoreas Führung auf die alten, klassisch sozialistischen Werte und Politiken rückbesinnen wollte. Hatte Kim Jong-il noch im Januar 2001 sein Volk aufgefordert, nach neuen Wegen zu suchen, so wurden nun die Funktionäre der alten Schule erneut als Vorbilder propagiert. 2006 führte Nordkorea seinen ersten unterirdischen Atomtest durch. Dieser verschaffte dem Land nun endgültig mediale Aufmerksamkeit im Westen, erschwerte aber auch die wirtschaftliche Kooperation erheblich – das ging bis zur Weigerung der Schweiz im Jahr 2013, Skilifte nach Nordkorea zu liefern. Es folgten zwei weitere Atomtests 2009 und 2013; der nächste wird nicht lange auf sich warten lassen, da das Regime den Besitz dieser Waffen als eine Art Lebensversicherung ansieht. Vor diesem Hintergrund wird Nordkoreas Führung nicht bereit sein, auf die atomare Abschreckung zu verzichten. Realistisch sind hingegen ein Teststopp, ein Einfrieren des Atomprogramms sowie Maßnahmen zur Verhinderung | 2-2015 von Proliferation und zur Verbesserung der Reaktorsicherheit. Dass sich der Westen bislang weigert, Nordkorea als Atommacht anzuerkennen, ist der Erreichung dieser Ziele nicht förderlich. Kim Jung-un, der seit dem Tod seines Vaters Ende 2011 Staatschef ist, hat die Macht fest in der Hand und gibt sich volksnah. Sein erklärtes Ziel ist es, das „Lebensniveau des Volkes“ zu heben. Wenn man heute durch Nordkorea reist, sieht man auf Schritt und Tritt wirtschaftliches Treiben, das es vor 20 Jahren nicht gegeben hat. Restaurants und Geschäfte reihen sich aneinander, auf dem Land findet sich fast an jeder Straßenkreuzung ein Verkaufsstand. E s hat sich ein neuer Mittelstand aus Staatsbediensteten und Händlern herausgebildet, der seinen Wohlstand stolz zur Schau trägt. Seine Größe kann man grob anhand der Zahl der Mobiltelefone abschätzen; landesweit sind davon 2,5 Millionen in Betrieb. Nordkorea produziert in einem Joint Venture mit Südkorea Automobile der Marke „Peace Motors“ und in zwei Fabriken bei Pjöngjang eigene Tablet-Computer. Wer Geld hat, zahlt mit vier verschiedenen Geldkarten. Überall im Land gibt es Märkte, auf denen Waren von der Banane bis zum Kühlschrank gehandelt werden. Der Zugang zu Produkten ist längst kein Problem mehr – was zählt, ist wie im Westen der Inhalt des Geldbeutels. Der chinesische Yuan hat sich vielerorts zu einer Parallelwährung entwickelt. Die Zahl der Touristen steigt, wobei China ebenso die Mehrheit stellt wie bei den Ausstellern auf Messen oder bei Joint-Venture-Partnern. Unter dem Motto „Die Füße auf dem eigenen Boden verankert, die Augen auf die Welt gerichtet!“ bemüht sich die nordkoreanische Führung trotz der jüngst noch einmal 33 34 welt-blicke nordkorea verschärften Sanktionen der USA und eigener Vorbehalte, die Wirtschaftskooperation mit dem Ausland zu intensivieren und die erdrückende Abhängigkeit von China zu verringern. Z Rüdiger Frank ist Professor und Vorstand des Instituts für Ostasienwissenschaften an der Universität Wien. Er beschäftigt sich seit mehr als zwanzig Jahren mit Nordkorea. 2014 ist von ihm das Buch „Nordkorea: Innenansichten eines totalen Staates“ (DVA-Verlag) erschienen. u den bis 2013 bestehenden vier Sonderwirtschaftszonen sind auf Initiative vom Kim Jongun 19 neue hinzugekommen. Ohne eine grundlegende Verbesserung der Beziehungen zu den USA werden diese aber weitgehend China vorbehalten bleiben. Japan und Südkorea sind zwar aus ökonomischen wie politischen Gründen sehr an einer Wirtschaftskooperation mit Nordkorea interessiert, doch stehen beträchtliche politische Vorbehalte im Weg. Viele europäische Unternehmen fürchten Vergeltungsmaßnahmen durch die USA, wenn sie wissentlich oder unwissentlich gegen bestehende Sanktionen verstoßen. So bleibt China unangefochten der wichtigste externe Partner Nordkoreas. Sein politischer Einfluss auf das Regime in Pjöngjang ist dabei erstaunlich gering. Nicht zuletzt durch sein Atomprogramm hat es Nordkorea geschafft, sich den großen und immer mit Misstrauen betrachteten Nachbarn vom Leibe zu halten. Die Beziehungen zu Russland haben in den vergangenen Jahren eine gewisse Renaissance erfahren. Moskau hat Nordkorea Altschulden in Höhe von zehn Milliarden US-Dollar erlassen, einen der drei Piers im Hafen von Rason für 50 Jahre gemietet und einen 54 Kilometer langen Eisenbahnabschnitt von diesem Hafen bis nach Russland modernisiert. Im Herbst 2014 ging von Rason aus die erste Schiffsladung von per Zug dorthin gelieferter russischer Kohle an einen Stahlproduzenten in Südkorea. Mit dem Ausbau seiner Beziehungen zu Chinas wichtigstem regionalem Konkurrenten wiederholt Pjöngjang eine schon in den 1950er Jahren erfolgreiche Strategie und reduziert damit Pekings Einfluss weiter. China muss gute Miene zum bösen Spiel machen, denn einen Kollaps des Nachbarstaates kann es sich nicht leisten. Ein vereinigtes Korea wäre nach heutigem Stand eine Domäne der USA – für Peking ein Alptraum. Nordkoreas Führung weiß das und nutzt diesen Umstand mit brutaler Härte. Zunehmend frustriert, hat China kürzlich sogar seine PR-Politik geändert und lässt auch kritische Töne hören. Doch das ist lediglich eine Formalie. Aus strategischen Gründen hat China derzeit keine Wahl – Nordkorea, so wie es ist, ist das kleinere Übel. Auch bei den innerkoreanischen Beziehungen deutet derzeit alles eher darauf hin, dass der Status quo beibehalten wird. Bei den vollmundigen Ankündigungen zur Dialogbereitschaft, die beide Seiten in schöner Regelmäßigkeit machen, handelt es sich um ein Ritual und den Versuch, die andere Seite moralisch unter Druck zu setzen. Vor allem gegenüber der eigenen Bevölkerung müssen Seoul und Pjöngjang ernsthafte Bemühungen erkennen lassen, schließlich ist ein einiges Korea das erklärte Hauptziel. Doch keine Seite ist bereit, die eigenen Interessen dabei zu verletzen. So wird es wohl auch in diesem Jahr wieder bei gegenseitigen Schuldzuweisungen bleiben. Nordkorea ist heute wirtschaftlich und auch gesellschaftlich ein völlig anderes Land als noch vor 25 Jahren. Das politische System mitsamt der Repression ist jedoch unverändert, und das Atomprogramm ist als neuer außenpolitischer Faktor hinzugekommen. Der wachsende neue Mittelstand übt impliziten Druck auf die Führung aus, seinen Wohlstand zu bewahren und auszubauen. Wie geht es weiter? Kim Jong-un wird mit seiner bisher vorsichtig-progressiven Wirtschaftspolitik bald an die Grenzen des Systems stoßen. Ob er sich dann für echte Reformen entscheiden wird und wie sie ausgehen werden, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Anzeige BIO FAIR REGIONAL Heldenmarkt MESSE FÜR NACHHALTIGEN KONSUM 21./22. FEBRUAR | Hamburg | Cruise Center Altona 2-2015 | Samstag 10 – 20 Uhr | Sonntag 10 – 18 Uhr | Eintrittspreise: 8 EUR | ermäßigt 6 EUR | Kinder bis 14 Jahre frei Online-VVK: 7 EUR | 5 EUR ermäßigt venezuela welt-blicke Patient Krankenhaus Krankenhäuser wie die Universitätsklinik von Caracas haben viel zu wenig M edikamente und Geräte. Oft müssen sie sogar lebenswichtige Operationen absagen. Venezuela steckt fast zwei Jahre nach dem Tod von Hugo Chávez in einer tiefen Krise. Die Mangelwirtschaft hat auch das Gesundheitssystem erreicht. Text und Fotos: Hanna Silbermayr A m Haupteingang zum Universitätskrankenhaus von Caracas stehen drei Männer in Uniform. Sie kontrollieren jede Person, die das Gebäude betreten will. Da taucht ein großgewachsener Mann in weißem Kittel auf. Mit der Hand signalisiert er uns, ihm unauffällig zu folgen. Er überquert den Vorplatz, geht einen schmalen Weg entlang und verschwindet in einer Unterführung. Im Schutz des Dunkels bleibt er schließlich stehen, dreht | 2-2015 sich um und stellt sich vor: Ricardo Strauss, Assistenzarzt für Innere Medizin. „Wir müssen sehr vorsichtig sein“, sagt er. Journalisten sind hier nicht gern gesehen. Fast zwei Jahre nach dem Tod von Präsident Hugo Chávez steckt Venezuela in einer tiefen Krise. Lebensmittelmangel, hohe Inflation und eine lahmende Wirtschaft machen dem südamerikanischen Land zu schaffen. Chávez’ Nachfolger Nicolás Maduro schafft es nicht, die angespannte Lage unter Kontrolle zu bringen. Dabei sind viele Bereiche des täglichen Lebens davon betroffen, jetzt auch der Gesundheitssektor. „Die Regierung möchte das am liebsten vertuschen“, erklärt Strauss. Doch inzwischen gehe es um Leben oder Tod. Man dürfe nicht länger schweigen. Auch deshalb schleust er immer wieder Medienvertreter vorbei am Sicherheitspersonal in das Krankenhaus ein. Im Inneren des Gebäudes herrscht reges Treiben. Vor dem Lift hat sich eine lange Schlange gebildet, viele gehen deshalb die Treppe. Seit dem Jahr 2000 wird das in den 1950er Jahren erbaute Krankenhaus als UNESCO-Weltkulturerbe geführt. Doch das Gebäude wirkt heruntergekommen und vernachlässigt. Die langen Gänge sind nur schwach beleuch- 35 36 welt-blicke venezuela tet, neben den offenen Türen der Krankenzimmer sammelt sich Müll. Es zieht in den Fluren, es fehlt der typische Geruch nach Reinigungs- und Desinfektionsmitteln. Doch das, sagt Ricardo Strauss, seien die geringsten Probleme. Ende August 2014 forderte der Verband der Kliniken und Kran- ben große Demonstrationen organisiert, doch gebracht hat das wenig. Jagd nach dem Antibiotikum Im dritten Stock des Krankenhauses werden Herz-Kreislauferkrankungen behandelt. Dort sitzt Jesús Ojeda in einem der langgezogenen Krankenzimmer neben Jesús Ojeda muss wegen seiner Herzkrankheit teure Tabletten nehmen. Für die Studiengebühren seines Sohnes ist kein Geld mehr da. kenhäuser AVCH die Regierung in einem offenen Brief auf, eine „humanitäre Notlage“ im Gesundheitsbereich auszurufen. Der Grund: In den Kliniken fehlt es an Medikamenten, Arbeitsutensilien wie Latexhandschuhen, Gesichtsmasken, Spritzen und medizinischem Gerät. Inzwischen müssen selbst lebenswichtige Operationen abgesagt werden. „Uns sterben die Patienten unter den Händen weg“, sagt Ricardo Strauss. 400 Operationen werden im Universitätskrankenhaus für gewöhnlich pro Jahr vorgenommen. Bis Mitte 2014 waren es gerade einmal 90, und auf der Warteliste stehen 800 Patienten. Mehr als 100 Frauen und Männer sind während der Wartezeit gestorben. Ärzte und Krankenhausangestellte wollen diese Situation nicht mehr hinnehmen. Sie ha- seinem Bett. An seinem linken Arm klebt ein weißes Pflaster, darunter zeichnet sich eine Kanüle ab. Er gehört zu jenen Patienten, die die Fehler im System mit voller Wucht zu spüren bekommen. Der 43-Jährige erhielt einen Herzschrittmacher. Die Operation gehört in modernen Krankenhäusern eigentlich zur Routine, doch bei Ojeda traten Probleme auf. Er hatte sich Bakterien eingefangen, die zur Gefahr für sein Herz wurden. Die Krankheitserreger können grundsätzlich mit Antibiotika abgetötet werden, doch die gab es im Krankenhaus nicht mehr. „Das hat mich beinahe das Leben gekostet“, sagt Ojeda. Den Ärzten sind in solchen Situationen die Hände gebunden. „Wir tun alles Menschenmögliche, um den Patienten zu helfen“, sagt Ricardo Strauss. Doch ohne Medikamente und Geräte könnten sie nur noch versuchen, das Schlimmste zu verhindern. Laut der Medizinervereinigung FMV erhalten die Krankenhäuser in Venezuela oft nur noch einen Bruchteil der sonst üblichen Wareneingänge. „Es fehlt an den einfachsten Dingen. Manchmal haben wir zum Beispiel keine LatexHandschuhe oder Gesichtsmasken“, erzählt der 28-jährige Assistenzarzt. Auch Anästhetika, Injektionsspritzen oder Kanülen sind rar. Um ausreichend behandelt zu werden, müssen Patienten und ihre Angehörigen inzwischen Eigeninitiative ergreifen. „Ich musste die notwendigen Medikamente selber besorgen“, erklärt Jesús Ojeda. Viereinhalb Monate suchte er im ganzen Land nach dem Antibiotikum, das als einziges sein Leben retten konnte – und bekam es nicht. Als ehemaliger Fernfahrer hatte er dann Glück im Unglück: Ein Kollege trieb das Medikament in Kolumbien auf. Doch nicht alle Patienten haben die Möglichkeit, ins Ausland zu reisen. Jesús Oveda deutet auf ein Bett am anderen Ende des Krankensaales. „Dort ist vor kurzem ein junger Mann gestorben“, erzählt er. 23 Jahre wurde er alt. Seine Familie schaffte es nicht rechtzeitig, Medikamente und Arbeitsutensilien für seine Operation zu besorgen. „Die Ärzte haben alles getan“, sagt Oveda. Sie hätten sogar kleine Medikamenten-Proben organisiert und dem jungen Mann verabreicht. Doch das war zu wenig, um sein Leben zu retten. Die Regierung schiebt die Schuld auf die USA Obwohl Ärzte und Personal privater und öffentlicher Krankenhäuser seit Monaten auf die prekäre Lage im Gesundheitswesen aufmerksam machen, reagiert die venezolanische Regierung kaum oder abweisend. „Die Demonstration im März wurde von der Nationalgarde blockiert“, erzählt Ricardo Strauss, der die Proteste von Beginn an mit organisiert. Das Argument der Regierung: Die Demonstration sei nicht angemeldet gewesen. Mitunter macht 2-2015 | venezuela welt-blicke sie auch die Vereinigten Staaten oder die Opposition für die gravierenden Mängel im Gesundheitswesen verantwortlich. Dabei liegt das Problem vermutlich in den schwindenden Devisenvorräten des südamerikanischen Landes. Venezuela produziert nicht genug Waren des medizinischen Bedarfs, um die Krankenhäuser damit zu versorgen. Deshalb muss ein Großteil importiert werden, doch es fehlt das Geld, um Geräte und Medikamente zu bezahlen. Ende August gab der Verband der Medizintechnikvertreter AVEDEM bekannt, dass sich die Schulden bei ausländischen Lieferanten inzwischen auf 350 Millionen US-Dollar belaufen. Produkte können deshalb nicht mehr auf Kredit, sondern nur noch gegen Vorkasse und in ausländischer Währung erstanden werden. Doch Venezuela gibt USDollar aufgrund seiner strengen Devisenkontrollen nur nach hohem bürokratischen Aufwand und in geringen Mengen frei – immer mehr Importeure haben deshalb Schwierigkeiten, Medikamente und Waren ins Land zu bringen. Anfang Dezember hat die Hälfte der Importunternehmen ihre Mitarbeiter freigestellt, weil es keine Arbeit mehr für sie gibt. Patienten lassen ihre Wut an den Ärzten aus Hanna Silbermayr ist freie Journalistin aus Österreich. Sie berichtet für deutschsprachige Zeitungen und Magazine über und aus Lateinamerika. | 2-2015 Ricardo Strauss kann die Reaktion der venezolanischen Regierung auf diesen Missstand nicht verstehen. Mittlerweile bringe sie nicht nur Patienten sondern auch Ärzte in Gefahr. „Wenn wir einem Patienten oder seinen Familienangehörigen mitteilen, dass wir ihn nicht behandeln können, rasten viele aus“, erzählt er. Die Wut kann Strauss nachvollziehen. In einem Land mit einer der höchsten Mordrate weltweit kann sie aber auch tödlich enden. „Die Reaktion ist sehr oft gewalttätig“, sagt Strauss und zählt Fälle von ermordeten Kollegen in verschiedenen Kliniken von Caracas auf. Er selbst ist ebenfalls schon bedroht worden – allerdings nicht von Patienten, sondern von den Sicherheitsleuten des Klinikdirektors. „Das Krankenhaus ist ein Spiegelbild der venezolanischen Gesellschaft“, erklärt er. Regierungstreue Mitarbeiter auf der einen, Kritiker auf der anderen Seite. Strauss, der bei Protesten immer an vorderster Front mit dabei war, gilt als Störenfried. „Im Frühjahr, als ich nach der Arbeit auf dem Weg zu meinem Wagen war, folgten mir ein paar Männer“, sagt er. Sie hätten auf die Waffen unter ihren Jacken gezeigt und ihm klar gemacht, dass er dann das Motorrad und zuletzt hat sein 22-jähriger Sohn das Studium abgebrochen und zu arbeiten begonnen. „Das alles zerrt an den Nerven der gesamten Familie“, sagt Ojeda. Während Jesús Ojeda noch zwei weitere Monate im Krankenhaus verbringen muss und Ricardo Strauss auf der Straße und in sozialen Netzwerken auf die Missstände im Gesundheitswesen aufmerksam macht, verkündete die venezolanische Regierung Ende Oktober, dass sie in einer La- Ricardo Strauss macht die Missstände im Gesundheitssystem bekannt, obwohl er dafür bedroht wird. sein Engagement besser beenden solle. „Sie sagten, sie würden mich umbringen, wenn ich weitermache.“ Auch wenn Ricardo Strauss Angst um sich und seine Familie hat, will er sich nicht einschüchtern lassen. „Wir Ärzte sind die einzigen, die auf diese Missstände hinweisen. Wir können uns den Mund nicht einfach verbieten lassen“, sagt er. Denn dann wäre das Gesundheitswesen Venezuelas wirklich verloren. Jesús Ojeda hat das Gröbste inzwischen überstanden. Zwar sollte er seine Tabletten täglich einnehmen, doch er schluckt nur jeden zweiten Tag welche – auch weil das Medikament 18.000 Bolivares kostet, umgerechnet 2270 Euro. Um sich das leisten zu können, hat der Vater von zwei Kindern zuerst sein Auto verkauft, gerhalle im Bundesstaat Aragua gehortete Waren des medizinischen Bedarfs beschlagnahmt hat: zwölf Millionen Spritzen, sieben Millionen Handschuhe, Mullbinden, Medikamente und chemische Lösungen sowie 5000 Rollstühle. Gesundheitsministerin Nancy Pérez bot sich damit die Gelegenheit, die Verantwortung für die Misere zumindest ein Stück weit von sich zu weisen. Sie sprach von einem „Verbrechen am venezolanischen Volk“, das Unternehmer mit dem einzigen Ziel begangen hätten, das Vaterland zu ruinieren. Die Mitarbeiter des Universitätskrankenhauses sind Mitte November schließlich in Streik getreten – weil die Regierung außer Schuldzuweisungen keine Antwort auf die Mängel im Gesundheitswesen findet. 37 38 welt-blicke waldschutz Zum Nutzen auch der Waldbewohner Waldschutz trägt zum Klimaschutz bei. Internationale Programme sollen deshalb für im Wald gebundenen Kohlenstoff zahlen, damit Tropenländer die Abholzung bremsen. Kriritker sagen, das mache die Natur zur Ware und schaffe Schlupflöcher für große Klimasünder. Doch das ist falsch. Von Karl-Heinz Stecher D ie Idee, Entwicklungsländer dafür zu bezahlen, dass sie Tropenwälder schützen und so weniger Treibhausgase durch Abholzung freisetzen, wird erst seit 2007 intensiv diskutiert. Der Ansatz ist als REDD (Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degradation) bekannt und hat schnell Hoffnungen geweckt, man könne damit bis zu einem Drittel der Emissionsminderungen bewirken, die zur Erreichung des Zwei-Grad-Zieles notwendig sind. Die Idee hat Kritiker auf den Plan gerufen. Sie fürchten, dass sich Industrieländer von ihren Reduktionsverpflichtungen zu Hause freikaufen, sobald die mittels REDD bewirkten Emissionsminderungen auf einem globalen Kohlenstoffmarkt gehandelt werden: Industrieländer könnten dort Zertifikate kaufen, die ihnen zusätzliche Emissionen aus Energiewirtschaft und Verkehr erlauben würden. Diese Kritik hatte ihren Höhepunkt 2008-09. Seitdem ist sie abgeebbt, weil mit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise die Aussichten auf eine schnelle Einigung bei den UN-Klimaverhandlungen gesunken sind. Zudem herrscht im europäischen Emissionshandel ein Überangebot von Zertifikaten und die Preise sind sehr niedrig; daher ist das Ziel, REDD-Zertifikate auf den Markt zu bringen, selbst für diejenigen, die dieses Ziel verfolgten, in weite Ferne gerückt. Im Artikel „Rechenspiele mit dem Wald“ (11/2014) feiert nun diese Kritik fröhliche Urstände. Das von der KfW mit Mitteln des Bundesentwicklungs- und des Bundesumweltministeriums (BMZ und BMUB) geförderte REDD-Vorhaben im Bundesstaat Acre in Der Waldschutz geht nicht auf Kosten der Gummizapfer: Ein Arbeiter sammelt Kautschuk für die Firma Natex, die daraus Verhütungsmittel herstellt. Jeroen van Loon/Hollandse Hoogte/laif Brasilien muss als Beleg herhalten. Die Kritik lautet, REDD laufe erstens zwangsläufig auf handelbare Emissionszertifikate hinaus und kommerzialisiere zweitens die Natur, wobei vor allem Kleinbauern, Kautschuksammler und Indigene den Kürzeren zögen. Einer sorgfältigen Analyse hält diese Argumentation für den Bundesstaat Acre nicht stand. Das von der KfW geförderte REDD Early Movers Programm (REM) generiert keine handelbaren Zertifikate – dies ist vertraglich ausgeschlossen. Die vergüteten Emissionsminderungen werden in ein Kohlenstoffregister eingetragen, damit sie nicht erneut verkauft werden können, und auf Dauer aus dem Verkehr gezogen. Das REM ist eine ergebnisbasierte Form klassischer Entwicklungszusammenarbeit. Der Artikel suggeriert weiter, dass Emissionsreduktionen nicht nachprüfbar seien. Das ist falsch. Satellitendaten zeigen eindeutig, dass die Entwaldung in Acre in den vergangenen Jahren zurückgegangen ist. REM vergütet die Erfolge dieser Emissi- 2-2015 | waldschutz welt-blicke onsminderung auf der Ebene des Bundeslandes. Für die Berechnung werden 123,5 Tonnen Kohlenstoff pro Hektar erhaltener Waldfläche zugrunde gelegt, das ist konservativ verglichen mit den Standardwerten des Weltklimarates IPCC für südamerikanischen Tropenwald (141 Tonnen pro Hektar). Für jede Tonne, die REM vergütet, legt der Bundesstaat Acre eine weitere still und trägt sie in das Kohlenstoffregister ein. Einer der größten Verdienste von REM ist es, dass durch die Kooperation mit dem bundesstaatlichen Umweltdienstleistungssystem SISA ein verbindlicher Referenzrahmen für ein sehr konservatives Kohlenstoffbuchhaltungssystem geschaffen wurde, an dem sich auch andere orientieren. Der Vergütung von „heißer Luft“ ist dadurch ein Riegel vorgeschoben. halt ziehen wie Kautschukzapfer und Indigene. REDD lebt vom Ineinandergreifen von Umweltkontrolle, Landtitelvergabe, finanziellen Anreizen und spezifischen Förderprogrammen, in denen Acre Pionier ist. Im Rahmen von SISA sind weder die kleinbäuerliche Landwirtschaft noch der Wanderfeldbau verboten. Waldschutz wurde nicht auf dem Rücken von Kleinbauern betrieben, sondern der Bundesstaat wie auch die brasilianische Zentralregierung sind konsequent gegen illegale Abholzung für die Viehzucht vorgegangen. Das hat dazu geführt, dass die Entwaldung in Amazonien zwischen 2004 und 2014 um 83 Prozent und in Acre um 57 Prozent zurückging. In Acre sind heute kaum noch große Abholzungen zu sehen. Satellitendaten zeigen eindeutig, dass die Entwaldung in Acre in den vergangenen Jahren zurückgegangen ist. REM treibt auch nicht die Kommerzialisierung des Waldes voran. Die Bezahlung von Umweltdienstleistungen wird gezielt unterstützt, um Einkommen ohne steigenden Flächenverbrauch zu schaffen. Die Verwertung der Ressourcen Wald und Boden läuft unabhängig von REDD auf Hochtouren. In vielen Teilen der Welt geschieht dies in Wildwest-Manier. Gerade in Acre haben die sozialen Kämpfe seit dem 1988 ermordeten Waldschützer Chico Mendes dazu beigetragen, dass den Cowboys einige Fußfesseln angelegt wurden. Es gibt Gesetze, die die Landnutzung neu regeln und die Teilhabe von Kautschukzapfern und Indigenen erhöhen. Das SISA-Gesetz von 2010 ist auf die Förderung von alternativen Einkommensmöglichkeiten gerichtet und steht in einer Tradition der Einhegung des „wilden Kapitalismus“ in Amazonien. D Karl-Heinz Stecher ist Koordinator des globalen Programms „REDD für Early Movers“ in der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). | 2-2015 ie Kritik an der Kommerzialisierung des Waldes führen die Kritiker selbst ad absurdum, indem sie einen höheren Preis für vermiedene Emissionen fordern. Im genannten Artikel heißt es, dass mit fünf US-Dollar pro Tonne keine Wirkung erzielt werden könne. Es ist klar, dass finanzielle Anreize allein viele Waldzerstörer nicht stoppen können. Dies gilt insbesondere für die Soja- oder Palmölproduktion, die hohe Gewinne pro Hektar abwerfen. Beide Kulturen spielen in Acre aber keine Rolle. Nur die Opportunitätskosten – also die Ertragseinbußen, die ein Verzicht auf Waldnutzung bedeutet – zu kompensieren, wäre noch aus anderen Gründen problematisch. Es wäre schlicht unfair, wenn diejenigen, die in der Vergangenheit viel entwaldet haben, am meisten von REDD profitieren würden. Unter REM werden sowohl Akteure unterstützt, die bisher Treiber der Entwaldung waren (Viehzucht, Landwirtschaft) und Opportunitätskosten geltend machen könnten, als auch solche, die traditionell den Wald schützen und aus ihm ihren Lebensunter- REM-Gelder fördern unter anderem traditionelle Gummizapfer mittels eines Preisaufschlags für Naturkautschuk sowie Pflanzungen auf degradierten Flächen, die zur Diversifizierung der Einkommen von Kleinbauern beitragen. Beides hat nichts mit industriellen Kautschukplantagen zu tun – die werden nicht über REM gefördert. REM unterstützt dagegen den Transport von Kautschuk aus abgelegenen Waldgebieten zur Kondomfabrik in Xapuri. Damit wird eine beispielhafte Wertschöpfungskette gefördert, die von den traditionellen Kautschukzapfern bis zur Verteilung der Kondome zur Aids-Prävention in den Großstädten Brasiliens reicht. Private REDD-Projekte fördert die KfW nicht. Der Fall des Purus-Projektes, das Emissionszertifikate an die FIFA verkauft hat, zeigt aus unserer Sicht die Kontrollfunktion des bundesstaatlichen Umweltdienstleistungssystems SISA: Das Purus-Projekt wurde nicht ins SISA aufgenommen, weil die Landrechte nicht ausreichend geklärt waren. Für solche privaten Projekte, die voraussichtlich auch in Zukunft einen sehr geringen Umfang haben werden, wurde in Acre eine großzügige Reserve für jährliche Emissionsminderungen in Höhe von zehn Prozent eingeplant. Somit wird eine Doppelzählung von Emissionsreduktionen vermieden, auch wenn ein Projekt nicht im SISA registriert ist. SISA und REM leisten einen Beitrag dazu, dass REDD nicht unreguliert über private Projekte, sondern in einem transparenten gesetzlichen und ordnungspolitischen Rahmen vonstatten geht. Gleichzeitig werden neben Kleinbauern auch Kautschukzapfer und Indigene begünstigt, die den Wald in der Vergangenheit geschützt haben und dies auch weiterhin tun sollen. SISA und REM sind Teil einer innovativen Lösung, um den Lebensraum für indigene Völker und waldabhängige Familien in Acre langfristig zu sichern. 39 40 welt-blicke philippinen Vertrauen dringend gesucht Im Süden der Philippinen wird 2016 die muslimische Autonomieregion Bangsamoro errichtet. Manche Christen sehen das mit Sorge. Text und Fotos: Ralf Leonhard R und 30 Frauen und Männer haben sich im Kindergarten von Nalapaan in kleine Plastiksessel gezwängt. Sie sitzen hinter den niedrigen Tischen und hören gespannt zu, was Toto Gamboa und Maggie Laus zu erzählen haben. Denn ab 2016 wird ihr Heimatort im Süden der philippinischen Insel Mindanao in der neugegründeten autonomen Region Bangsamoro liegen – und Gamboa und Laus bemühen sich, ihnen den geschichtlichen Hintergrund dieser Entwicklung zu erklären. Mindanao, die zweitgrößte Insel der Philippinen, sei doppelt so groß wie die Schweiz oder dreimal so groß wie Belgien, erfahren die Bauern, von denen die meisten bisher noch nie von diesen Ländern gehört haben. Noch vor weniger als hundert Jahren waren die Muslime auf Mindanao in der Mehrheit. Für die spanischen Eroberer, die die Inselgruppe 1565 im Namen des Habsburger-Königs Philipp II. als Kolonie in Besitz nahmen, waren sie Mauren – auf Spanisch „Moros“. Der Name blieb, doch unterwerfen konnten die Spanier diese von arabischen Händlern islamisierten Ureinwohner nicht. Sie mussten sich damit begnügen, die Inseln im Norden zu missionieren. Ihre Militärpräsenz auf Mindanao blieb auf die Festung El Pilar in der Stadt Zamboanga beschränkt. In den 1950er Jahren förderte die Zentralregierung in Manila die Zuwanderung von Christen nach Mindanao; damit wurden die muslimischen Einwohner zur Minderheit. Die christlichen Zuwanderer beanspruchten immer mehr Land, was in den 1970er Jahren zum Widerstand der Muslime führte: Bis vor kurzem tobte ein blutiger Konflikt zwischen den Rebellen der Moro Islamischen Befreiungsfront (MILF), die für einen eigenen Staat kämpften und den Truppen der philippinischen Regierung. Im März 2014 unterzeichneten die Rebellen ein Friedensabkommen mit der Regierung von Präsident Benigno Aquino III, das den Muslimen weitgehende Autonomierechte überträgt. Ein Teil von Zentralmindanao sowie die Inseln Basilan, Jolo, Sulu und Tawi-Tawi sollen ein autonom verwaltetes Gebiet mit muslimischer Mehrheit werden. Bei den Schulungen in den Dörfern erklären Toto Gamboa und Maggie Laus den Menschen, was auf sie zukommt und welche Rechte sie haben wer- den. Und sie versuchen, den Christen, die in einem muslimischen Autonomiegebiet leben werden, die Angst zu nehmen. So soll die Scharia, das traditionelle islamische Recht, nur für die muslimische Bevölkerung gelten. Christen sind als Minderheit geschützt, sie genießen Religionsfreiheit und das Recht auf Eigentum. Was sie mit legalen Mitteln erworben haben, wird nicht angetastet. So steht es im Bangsamoro-Grundgesetz, dem Autonomiestatut, das in diesem Jahr vom Kongress in Manila und durch ein regionales Referendum abgesegnet werden muss. Auch der Schutz der indigenen Stammesgebiete ist garantiert. D Maggie Laus erklärt den Einwohnern von Nalapaan, was der Friedensschluss zwischen der Regierung und den Rebellen für das Dorf bedeutet. ie Muslime sind in Nalapaan in der Mehrheit, auch einzelne christliche Familien leben hier. Der 60jährige Dionesio Catanus hat das Seminar im Kindergarten besucht. Der Christ blickt zuversichtlich in die Zukunft. Er verstehe sich gut mit den muslimischen Nachbarn. Das Seminar habe ihm geholfen, die Geschichte besser zu verstehen, sagt er. Doch die ist von Feindschaft zwischen Christen und Muslimen geprägt. Abdullah Gandewaly etwa hat in seinen 73 Jahren viel Leid erlebt. „Das Schlimmste war, als wir in den 1970er Jahren vor Ilaga fliehen mussten. Ständig waren wir auf der Flucht. Meine Rinder und mein Wasserbüffel wurden geraubt.“ Illaga war eine paramilitärische Organisation der christlichen Siedler. Sie vertrieben vor bald 50 Jahren muslimische Gemeinschaften von ihrem ange- 2-2015 | philippinen welt-blicke Philippinen Grafik 3842 SÜDOSTASIEN Luzon Baguio stammten Land. In Nalapaan erinnert man sich an abgehackte Gliedmaßen und organisierten Raub. Auch die Moros setzten sich damals mit bewaffneten Gruppen zur Wehr. Die Barracudas und die Black Shirts leisteten Widerstand gegen organisierten Landraub. Das war während der Herrschaft von Diktator Ferdinand Marcos von 1965 bis 1986. Quezon City Manila PHILIPPINEN Mindoro | 2-2015 Samar Panay Iloilo Palawan Das Grundgesetz für Bangsamoro garantiert die Religionsfreiheit. Das islamische Recht soll nur auf Muslime angewandt werden. Vor dem Büro der Organisation OMI-IRD in Pikit, für die auch Gambao und Laus arbeiten, weicht die Tageshitze den angenehmen Abendtemperaturen. In den Nachbargärten krähen die Kampfhähne, nebenan läuft im Fernsehen eine Telenovela. OMI steht für den Oblatenorden der Unbefleckten Jungfrau Maria, IRD für Interreligiösen Dialog. Robert Layson, den alle nur Father Bert nennen, kennt die Geschichte von Mindanao aus eigenem Erleben. „Anfangs begrüßten die muslimischen Bauern die Neuankömmlinge“, erzählt der Pater, der selbst als elfjähriges Kind mit den Eltern von der Insel Negros zuwanderte. Die Stimmung schlug um, als die Siedler nicht mehr nur Brachland beanspruchten, sondern begannen, den Muslimen deren Ackerland durch Tricks und PA Z I F I K Negros Cebu Sulusee Zamboanga Mindanao Jolo MALAYSIA Leyte Davao Sulu-Archipel Celebessee 300 km Gewalt wegzunehmen. Erst mit den Siedlern wurde das Grundbuch eingeführt. Und wer seinen Landtitel eintragen ließ, konnte den bisherigen Besitzer vertreiben. Diktator Marcos in Manila förderte das; und in den frühen 1970er Jahren eskalierte die Gewalt. D ass heute ein Vertrauensverhältnis zwischen den einst verfeindeten Gruppen besteht, ist auch der Arbeit von Father Bert zu verdanken. Im Jahr 2000 beherbergte er monatelang muslimische Flüchtlinge in seiner Kirche in Pikit. Bei Nacht und Nebel half er, Tausende Frauen und Kinder vor einem drohenden Angriff der Armee zu evakuieren. „Wir sind unparteiisch“, stellt er klar: „Es geht uns nur darum, im Krieg die Menschlichkeit zu wahren und das Leben der Zivilbevölkerung zu schützen.“ Layson ist ein Pionier des interreligiösen Dialogs, der vor gut 20 Jahren von Pater Angel Calvo in Zamboanga ins Leben gerufen wurde. „Wir müssen erkennen, was uns eint und nicht was uns trennt. Wir glauben alle an einen Gott und sind für den Frieden“, sagt der Claretinerpater. Er lebt seit 40 Jahren in der Region und versteht sich bestens mit aufgeklärten Muslimen wie dem Islamprofessor Ali Yacub. Der muss sich häufig mit fundamentalistischen Glaubensbrüdern auseinandersetzen. Viele hätten im Sudan studiert und seien mit radikalen Ansichten zurückgekehrt. „Sie predigen einen neuen Islam, der alle anderen Religionen ausschließt“, sagt Yacub. „Das ist falsch.“ Er begegne ihnen mit dem Koran – denn dieser belege, dass das Christentum dem Islam von allen Religionen am nächsten steht. Schwierigkeiten gibt es aber auch auf Seiten der Christen. Viele protestan- 41 42 welt-blicke philippinen tische Pastoren hielten nichts vom interreligiösen Dialog, weil sie ihren Glauben als den allein richtigen betrachten, sagt der Presbyterianer Badi Alfaro von der Christian Missionary Alliance. Er selbst habe sich von Pater Angel Calov überzeugen lassen. Dennoch bleibt diese Offenheit eine Minderheitenposition unter christlichen wie muslimischen Geistlichen. Und so seien viele Christen verunsichert, sagt Pilgrim Bliss Gayo, die Vertreterin des deutschen Kinderhilfswerks Terre des Hommes auf den Philippinen. Vor allem die Landfrage treibe sie um: Muss Land, das von den Vätern zu Unrecht erworben wurde, zurückgegeben werden? Außerdem sei in dem BangsamoroAbkommen nicht geregelt, wie Kriegsopfer entschädigt werden und was mit Kriegswaisen und Kindersoldaten geschehen soll. Unter christlichen wie muslimischen Geistlichen zeigt sich nur eine Minderheit offen für die jeweils andere Religion. Ralf Leonhard ist freier Journalist in Wien und ständiger Korrespondent von welt-sichten. Miriam Coronel-Ferrer, die Leiterin des Beratungsbüros des Präsidenten für den Friedensprozess, kann darin kein Problem erkennen. Jeder Landkonflikt müsse gesondert verhandelt werden: „Wir streben eine Justizverwaltung an, die die verschiedenen Rechtssysteme berücksichtigt. Da ist das säkulare nationale Recht neben dem Gewohnheitsrecht und der Scharia.“ Daneben gebe es noch verschiedene Mechanismen der außergerichtlichen Konfliktlösung. Coronel-Ferrer ist optimistisch, dass mit dem Frieden Mindanao auch wirtschaftlich wieder auf die Beine kommt. Die Moro-Rebellen fordern keinen eigenen Staat mehr und bescheiden sich mit einer weitgehenden Autonomieregelung. Dafür konnten sie eine großzügige Lösung für den Reichtum der Region aushandeln. Der autonome Bangsamoro-Staat darf über die gesamten nichtmineralischen Rohstoffe verfügen, etwa über die Fischbestände, und über drei Viertel der metallischen Bodenschätze. An den Gewinnen aus der Förderung von Erdöl und Erdgas wird er zur Hälfte beteiligt. Bislang ruhen viele dieser Schätze noch im Boden, da der Konflikt Explorationen verhindert hat. So wird nun mit steigenden Einnahmen aus Rohstofferlösen gerechnet. Die Zentralregierung in Manila und das autonome Bangsamoro würden gleichermaßen profitieren, meint Miriam Coronel-Ferrer. Und um die bewaffneten Gruppen, die manche Gegenden noch immer verunsichern, müsse sich die autonome Bangsamoro-Polizei kümmern, fügt sie hinzu. Zu diesen Gruppen gehören die Bangsamoro Islamic Freedom Fighters (BIFF), eine vor allem von jungen Rebellen getragene Organisation, die sich mit den Zugeständnissen der Regierung im Friedensund Autonomieabkommen nicht zufrieden gibt. Die BIFF haben Solidarität mit der Terrormiliz IS im Nahen Osten bekundet und wollen einen islamischen Staat auf Mindanao ausrufen. Die Anführer der MILF, Veteranen jenseits der 60, geben sich aber zuversichtlich, dass sie die rebellische Jugend zur Vernunft bringen werden. Schließlich ist auch die Bevölkerung kriegsmüde. Doch dann gibt es da noch die Moro National Liberation Front (MNLF). 1968 in Manila von muslimischen Studenten um Nur Misuari gegründet, stritt sie für ein unabhängiges Mindanao, allerdings unter sozialistischem, nicht unter islamischem Vorzeichen. Schon Diktator Marcos konnte 1976 ein Abkommen mit diesen Rebellen schließen. Seine demokratisch gewählte Nachfolgerin Corazon Aquino unterzeichnete eine weitere Vereinbarung, laut der die Anführer der MNLF wichtige Verwaltungsposten erhielten. Diese Regelung provozierte die Abspaltung der radikaleren MILF, die mehr wollte und den alten Kameraden Korruption vorwarf. M NLF-Chef Nur Misuari dürfte sich vom Abkommen der MILF mit der Regierung übergangen gefühlt haben. Ein halbes Jahr bevor der Autonomiedeal unterzeichnet wurde, marschierte er mit fünf Hundertschaften bewaffneter Kämpfer in der Stadt Zamboanga ein. Angeblich wollten sie nur ihre Fahne auf dem Rathaus hissen, um Präsenz zu zeigen. Es folgte ein dreiwöchiges Blutbad, dem Dutzende Rebellen und zahlreiche Zivilisten zum Opfer fielen. Mehr als 100.000 Menschen verloren ihr Heim, weil die philippinische Armee die auf Stelzen errichteten Holzhäuser muslimischer Familien abfackelte. Noch immer werden nach der blutigen Schlacht vor mehr als einem Jahr Straßen repariert, kaputte Häuser wieder instandgesetzt. An vielen Fassaden sind noch die Einschusslöcher zu sehen. Die Obdachlosen wurden auf mehrere Massenlager verteilt. Im Stadion von Zamboanga leben mehr als 1400 Familien in primitiven Unterkünften; zwischen den Bretterbuden versickert das Abwasser. „Etwas Vergleichbares habe ich in keinem der Lager für die Opfer des Taifuns Hayan gesehen“, sagt Bliss Goyo von Terre des Hommes. Ob und wann die Obdachlosen neue Häuser erhalten, sei völlig unklar. Das Blutbad von Zamboanga war für die MNLFRebellen nicht nur eine militärische, sondern auch eine politische Schlappe. Über 200 Kämpfer sitzen in Manila im Gefängnis. Anführer Nur Misuari ist auf Basilan oder Jolo untergetaucht. Doch immerhin hat die Führung der MNLF mit den Kommandanten der MILF das Gespräch gesucht. Im vergangenen November trafen sie sich in Manila und stimmten in den meisten Punkten überein. Das Abkommen mit der Regierung soll schließlich für alle gelten. Die Zukunft Bangsamoros bleibt dennoch von mehreren Unbekannten überschattet: Werden die Moros imstande sein, ihren Autonomiestaat zum Modell zu machen – oder setzen sich die alten, von Korruption und den Interessen von Familienclans geprägten Strukturen wieder durch? Und wie wird die christliche Mehrheit der Philippinen mit Bangsamoro umgehen? Präsident Aquino drückt jedenfalls aufs Tempo. Bevor er im Juni 2016 aus dem Amt scheidet, will er vollendete Tatsachen schaffen. 2-2015 | indien welt-blicke Rettet den Ganges! Die indische Regierung unternimmt einen neuen Anlauf, um den heiligen Fluss wiederzubeleben. Bei der Pilgerstadt Varanasi ist er zur Kloake verkommen. Pilger drängen sich in Varanasi zum heiligen Bad. Der Schmutz im Fluss ist für sie kein Thema. Rainer Hörig Von Rainer Hörig E in milder Wintertag geht in der Pilgerstadt Rishikesh zu Ende. Der Himmel färbt sich gelb, dann rot, sein Licht spiegelt sich im Wasser des Ganges. Rund 100 Menschen sitzen andächtig auf den Stufen, die hinunter zum heiligen Fluss führen. Mit ein paar Holzscheiten wird ein Feuer entfacht, eine Musikgruppe stimmt traditionelle Lieder an. Sie preisen den Fluss, den sie Mutter Ganga nennen: Die Flussgöttin spende Leben und geistige Erlösung, tröste die Seele und inspiriere den Geist. Jeden Abend wird das Feuerritual zelebriert. Etwa 150 Kilometer Luftlinie entfernt, im Himalaja-Gebirge in rund 3900 Metern eisiger | 2-2015 Höhe, strömt der Ganges aus dem Tor des Gangotri-Gletschers und stürzt sich in ein von hohen, dichtbewaldeten Bergen eingezwängtes Tal gen Süden. Bei Rishikesh tritt er aus dem Gebirge in die nordindische Schwemmlandebene, die er in Jahrmillionen durch Sedimentablagerungen mitgeformt hat. In einem weiten Bogen wendet er sich Richtung Osten und durchquert ganz Nordindien. Mehr als 2500 Kilometer legt der Fluss zurück, bevor er sich südlich der Hafenstadt Kolkata in den Golf von Bengalen ergießt. Zusammen mit dem gewaltigen Brahmaputra und dem Meghna bildet er das größte Flussdelta der Erde, die Sumpflandschaft der Sundarbans. Auch die indische Hauptstadt Neu-Delhi liegt im Einzugsgebiet des Ganges, genauer an seinem wichtigsten Nebenfluss, der Yamuna. Aber der Fluss, der die Stadt von Nord nach Süd durchquert, ist eine Kloake. „Eigentlich gibt es in Delhi keinen Fluss, nur einen großen Abwasserkanal“, sagt Manoj Mishra, der sich seit acht Jahren für die Wiederbelebung der Yamuna einsetzt. Seine Organisation „Yamuna Jiye Abhiyan“ versucht mit Petitionen vor Gericht und Expertisen Behörden und Parlamente für das Anliegen zu gewinnen. Am Wehr von Wazirabad im Norden von Neu-Delhi, das den Wasserstand des Flusses regu- 43 44 welt-blicke indien liert, bedeckt eine dicke Schicht von buntem Plastikmüll die Wasseroberfläche. Ein Fischer sitzt gelangweilt auf seinem hölzernen Kahn am Ufer. Je näher man dem Hauptstrom kommt, der in der Mitte des mehr als einen Kilometer breiten sandigen Flussbetts vor sich hin schwappt, desto durchdringender wird ein faulig-süßer Geruch. Manoj Mishra weist auf eine Bachmündung am gegenüberliegenden Ufer hin. Eine dickflüssige, schwarzbraune Flüssigkeit fließt in den Fluss. „Die ungeklärten Abwässer der nördlichen Stadtbezirke“, erklärt er. „Dieses Wasser enthält keinen Sauerstoff, es gibt kein Leben darin. Früher lebten jede Menge Fische im Fluss, sogar Krokodile gab es“, erzählt Mishra. Die Wäscher und Fischer, die einst vom Fluss lebten, seien verschwunden. An einigen Stellen im Flussbett werde noch Gemüse angebaut, aber „das Zeug ist hochgradig giftig“. Mishra war leitender Forstbeamter, bevor er nach mehr als 20 Jahren im Staatsdienst in die Zivilgesellschaft wechselte, zur Umweltorganisation WWF. Vor acht Jahren rief er die Kampagne für die Yamuna ins Leben. Es sei göttliche Eingebung gewesen, sagt er. Seither hat er den Fluss in seiner gesamten Länge studiert, hat sich nicht nur mit Politikern und Richtern gestritten, sondern auch in zahlreichen Dörfern die Bauern zur Rettung des Flusses organisiert. Sie werden darin geschult, Toiletten zu bauen und auf biologische Landwirtschaft umzustellen. Auf die Frage nach den Ursachen für die Misere der Yamuna in Delhi gibt er eine verblüffend simple Antwort: „Ungefähr 200 Kilometer flussaufwärts, nahe der Stadt Yamunanagar, blockiert ein Staudamm den Flusslauf. Dort wird während der Trockenzeit das gesamte Wasser in Kanäle abgeleitet, um die Felder zu bewässern und die Städte zu versorgen. Das Flussbett unterhalb des Dammes bleibt neun Monate im Jahr trocken. Erst in Delhi füllt es sich wieder ein wenig – mit Abwasser.“ Eine kleine Gruppe älterer Damen nähert sich mit Blumengebinden, Kokosnüssen und Glitzer- schmuck. Am Ufer legen sie ihre Opfergaben nieder, entzünden ein paar Räucherstäbchen und falten, dem Wasser zugewandt, die Hände zum Gebet. Mit der hohlen Hand schöpfen sie „heiliges Wasser“ aus dem Fluss und trinken es, bevor sie sich auf den Heimweg machen. Zurück bleibt ein Haufen Abfall, der irgendwann vom Fluss fortgetragen werden wird. „Das Wasser, das wir hier in Delhi verbrauchen, stammt zwar aus der Yamuna, aber nicht von hier“, erklärt Manoj Mishra. „Es fließt vom Staudamm durch einen Kanal zu uns. Ein weiterer Kanal bringt Wasser vom TehriDamm am Ganges, hoch oben im Himalaja, und ein dritter versorgt die Stadt aus dem Bhakra-NangalStausee am Fluss Sutlej.“ Neu-Delhi bekomme also aus drei Flüssen Wasser – und scheide etwa 80 Prozent davon als stinkende Brühe wieder aus. Inzwischen hat Mishra in seinem Kampf einen ersten Erfolg erzielt: Das Nationale Grüne Tribunal hat Mitte Januar die Entsorgung von Müll in die Yamuna unter Strafe gestellt. zum Meer muss der heilige Fluss die ungeklärten Abwässer aus Millionen von Haushalten verdauen, die giftigen Beiprodukte von Ledergerbereien, Kohlekraftwerken, Eisenhütten und eines Atomkraftwerks mitnehmen. Von den Feldern vieler Bauern rinnen die Rückstände reichlich versprühter Pestizide in das weitverzweigte Flusssystem. In Varanasi erreicht die Wasserqualität einen Tiefstand. Ein Beispiel: ColiformBakterien, die aus Fäkalien stammen. Der gesetzliche Grenzwert für Wasser, das noch zum Baden Enrico Fabian/Nyt/Redux/laif Der Ganges H i m a un m Ya s nge Ga a l a j a CHINA o Tsangp N E PA L Neu-Delhi Kathmandu I N D I EN Das rituelle Bad schenkt Erlösung und Seelenfrieden Ortswechsel. Wenn in der heiligen Stadt Varanasi die Sonne über dem Ganges aufgeht, strömen die Pilger zum Flussufer, zum heiligen Bad. Fromme Hindus aus nah und fern steigen die Stufen hinunter, die Stimmung ist heiter und freundlich. Für sie erfüllt sich hier und heute ein Lebenstraum. Das rituelle Bad im Ganges bedeutet Erlösung und Seelenfrieden. Anjani Kumar Singh etwa, der in einem Dorf an der Grenze zu Nepal ein Fotostudio betreibt, hat seine gesamten Ersparnisse geopfert, um nach Varanasi reisen zu können: „Hier am Ganges herrscht eine besondere Atmosphäre. All die vielen Leute hier wollen diese Magie erfahren, dafür nehmen sie auch Unannehmlichkeiten in Kauf.“ So innig, wie die Inder ihren Fluss verehren, so rücksichtslos quälen sie ihn auch. Immer mehr Staudämme versperren ihm in den engen Tälern des Himalaja den Weg. Auf seinem langen Weg Ein Junge balanciert über einen offenen Kanal in Neu-Delhi. Auch in Indiens Hauptstadt fließt ein Teil des Abwassers ungeklärt in die Yamuna. Ganges BA Varanasi Länge: 2525 km Quelle: Gangotri-Gletscher, Himalaya, Indien Kalkutta Mündung: Gangesdelta (Indien/Bangladesch), Golf von Bengalen Einzugsgebiet : ca. 975.000 km² Quelle: www.wikipedia.de Ga 300 km geeignet ist, liegt bei 500 Bakterien pro 100 Milliliter. Kurz vor Varanasi weist der Ganges mit 60.000 Bakterien bereits das 120-fache des Grenzwertes auf. Wenn er die Stadt verlässt, ist der Messwert auf eineinhalb Millionen angestiegen. Unter den Treppen der Badestellen treffen fast 30 Abwasserkanäle auf den Fluss und leiten die ungeklärten Abwässer von eineinhalb Millionen Menschen ein. An einigen Orten riecht es wie in einer Kloake. Doch für die meisten Pilger ist der Schmutz kein Thema. Sie glauben fest daran, dass das hei- 2-2015 | indien welt-blicke © ASIEN BHUTAN tra apu m h Bra NGLADESCH Dhaka BIRMA n ge dun mün nges Golf von Bengalen (Indischer Ozean) Rainer Hörig ist freier Journalist in Pune (Indien). | 2-2015 lige Bad sie seelisch reinigt. Kiran Kumar, die gemeinsam mit ihrem Mann aus dem Nachbarstaat Bihar angereist ist, sagt fröhlich: „Nein, das Wasser des Ganges ist nicht schmutzig. Wenn die Leute ein bisschen aufpassen, kann nichts passieren. Im Gegensatz zu normalem Wasser kann man Gangeswasser jahrelang in einer Flasche aufbewahren, es wird nicht schlecht und riecht nicht. Es muss also etwas Besonderes sein!“ Umweltschützer Himanashu Thakkar sieht das etwas anders. Er beklagt die Verschmutzung des Ganges und kritisiert, dass er von der Politik nur als Wasserlieferant gesehen wird. Thakkar ist Chemieingenieur und hat das „Südasiatische Netzwerk für Dämme, Flüsse und Menschen“ ins Leben gerufen. Besucher empfängt er in seinem Büro im MittelklasseWohnviertel Shalimar Bagh im Norden Delhis. Der Ganges werde durch seine Zuflüsse mit Mineralien und Lebewesen aus anderen Regionen befruchtet, sagt er. Er nähre Pflanzen und Tiere, transportiere Sedimente aus dem hohen Himalaja bis zum Meer und düngt so die Felder und Äcker an seinen Ufern. Diese wichtigen Funktionen fänden „bei unserer Bürokratie und in der Politik aber leider keine Berücksichtigung“. Immerhin hatte der damalige Premierminister Rajiv Gandhi bereits 1986 einen Aktionsplan zur Rettung des Ganges initiiert. Mit wenig Erfolg, wie Sunita Narain, Direktorin des Zentrums für Wissenschaft und Umwelt in Neu-De- lhi kritisiert. In den vergangenen Jahren seien „gewaltige Geldsummen in die Flussreinigung“ investiert worden. „Trotzdem müssen wir leider konstatieren, dass die Verschmutzung weiter zunahm.“ Die wenigsten Städte Indiens verfügten über ein funktionierendes, unterirdisches Kanalsystem, erklärt Narain, die zeitweise die Regierung für die Sanierung des Flusses beraten hat. Selbst in der Hauptstadt werde nur die Hälfte der Abwässer erfasst und in Kläranlagen gereinigt. Darüber hinaus nutzten die meisten Anlagen aufgrund von Missmanagement und Energieknappheit nur einen Teil ihrer Kapazitäten. Die neue indische Regierung hat nun die Reinigung des Ganges zur Priorität erhoben. „Das ist wunderbar“, meint die prominente Umweltschützerin: „Bleibt nur zu hoffen, dass sie nicht die alten Fehler wiederholt. Wir müssen das Reinigungsprogramm gründlich überdenken und neu erfinden.“ Noch hat die Regierung ihre Versprechen nicht eingelöst Premierminister Narendra Modi hatte schon im Wahlkampf versprochen, den heiligen Fluss der Hindus wiederzubeleben, und bestimmte symbolträchtig die Stadt Varanasi zu seinem Wahlkreis. Zu Beginn seiner Amtszeit ordnete er die Zuständigkeit für die Säuberung der Flüsse dem Ministerium für Wasserressourcen zu, das von der tief religiösen Ministerin Uma Bharati geführt wird. Die lud schon bald religiöse Autoritäten, Wandermönche, Bürokraten und Experten der Zivilgesellschaft zu einem öffentlichen Brainstorming ein. Unter den Teilnehmern war auch Himanshu Thakkar: „Die neue Regierung hat große Versprechen gemacht, aber wir haben bislang noch keine konkreten Schritte gesehen, die zur Rettung des Flusses führen könnten.“ Thakkar bemängelt, die bislang bekannt gewordenen Vorschläge der neuen Regierung seien im technokratischen Denken verhaftet: neue Staudämme, noch mehr Kläranlagen. Dieser Lösungsansatz sei jedoch gründlich gescheitert. Flüsse müssten als lebendige Ökosysteme behandelt werden, fordert er. Sunita Narain mahnt konkrete Schritte an. Es müsse sichergestellt werden, dass die Flüsse genug Wasser führen. Da nicht überall in kurzer Zeit ein unterirdisches Kanalsystem errichtet werden könne, müsse das Abwasser der offenen Kanäle gereinigt und vor Ort, etwa für die Bewässerung von Feldern oder die Stadtreinigung, verbraucht werden. Es dürfe nicht, wie bislang üblich, wieder in dieselben Kanäle zurückgeleitet und mit neuem Abwasser vermischt werden. Und schließlich müssten strikte Kontrollen für Industriebetriebe eingeführt werden, „damit sie nicht länger sorglos ihre Abwässer in den nächsten Fluss leiten“. Die Wiederbelebung des Ganges ist eine gewaltige Aufgabe, die nicht nur technische Infrastruktur, sondern auch ein Umdenken in vielen Teilen der Gesellschaft nötig macht. Der Ganges steht beispielhaft für die meisten anderen Flüsse des Subkontinents, die in einem ähnlich miserablen Zustand sind. Eine Generationenaufgabe, für die Indien auf technische und finanzielle Hilfe angewiesen ist. Deutschland hat bereits seine Unterstützung angeboten und ist damit auf positive Resonanz gestoßen, wie Michael Steiner, der deutsche Botschafter in Neu-Delhi bestätigt: „Ich ziehe gerne eine Parallele zwischen Mutter Ganges und Vater Rhein. Der Rhein war noch in den 1980er Jahren tot, heute kann man wieder darin schwimmen und fischen. Die Reinigung brauchte 30 Jahre, viel Geld und eine gute Koordination zwischen den beteiligten Akteuren.“ Wie der Botschafter berichtet, hat sich eine Expertenkommission aus Deutschland am Ganges ein Bild der Lage gemacht. Die beteiligten Wissenschaftler arbeiten nun zusammen mit indischen Kollegen Vorschläge aus, die später in Projekte der Entwicklungszusammenarbeit einfließen sollen. Das deutsche Angebot beziehe sich in erster Linie auf technische Beratung, sagt der Botschafter – auf Aufträge für deutsche Firmen hofft man aber auch. 45 46 journal oda-reform Strengere Regeln für Entwicklungskredite Der OECD-Entwicklungsausschuss legt neu fest, was als Hilfe gerechnet wird Westliche Geberländer, darunter auch Deutschland, wollen künftig ihre Zuschüsse, die anders als Kredite nicht zurückgezahlt werden müssen, stärker auf die bedürftigsten Länder konzentrieren. Das sagte der Staatssekretär im Entwicklungsministerium (BMZ), Thomas Silberhorn, bei einer Aussprache des Fachausschusses im Deutschen Bundestag im Dezember. Aber für die finanzstärkeren Länder werde Deutschland die Kreditvergabe tendenziell ausbauen. Silberhorn ging auf die jüngste Sitzung des Entwicklungsausschusses (DAC) der Industrieländerorganisation OECD in Paris ein. Dieser hat Mitte Dezember erste Eckpunkte einer Reform beschlossen, welche öffentlichen Ausgaben Mitgliedsländer als staatliche Entwicklungsfinanzierung (ODA) anrechnen dürfen. Eine solche Reform wird seit längerem diskutiert, weil bei vielen Ausgaben, die als ODA angerechnet werden dürfen, umstritten ist, wie sinnvoll sie aus entwicklungspolitischer Sicht sind. Dazu zählen etwa die Ausgaben für die Unterbringung von Flüchtlingen oder für Studenten aus Entwicklungsländern. Umge- kehrt ignoriert das ODA-Konzept Leistungen, die zu Entwicklung beitragen können, etwa staatliche Garantien für entwicklungsfördernde Privatinvestitionen. Zudem hält der DAC eine Reform für erforderlich, weil nach 2015 neue Nachhaltigkeitsziele die bisherigen Millenniumsziele ablösen werden. Die neuen Ziele reichen viel weiter als die alten Entwicklungsziele und erfordern daher aus Sicht der Geber ein breiteres Verständnis von Entwicklungsfinanzierung. Der Ausschuss will deshalb ein neues Instrument mit dem Titel „Total Official Support for Sustainable Development“ (TOSD) ausarbeiten, das die Geberleistungen erfasst, die nicht im engeren Sinne Entwicklungshilfe sind. Dazu zählen etwa Ausgaben für globale öffentliche Güter wie den Klimaschutz oder Frieden und Sicherheit. Die bisherige ODA wird dann ein Teil davon sein. Die Reform ist ein Kompromiss zwischen den Gebern Als erstes Ergebnis der ODA-Reform hat der DAC festgelegt, wie in Zukunft so genannte konzessionäre Darlehen behandelt werden. Die DAC-Mitglieder haben sich da- Steuerungsstelle eines Wasserkraftwerks in Uganda. Deutschland fördert solche Vorhaben mit verbilligten Krediten. kfw-bildarchiv/auslöser photografie rauf verständigt, dass ab 2018 nur noch der Zuschussanteil eines Kredits als ODA verbucht werden darf. Das ist als Kompromiss zu verstehen zwischen Gebern wie England oder den skandinavischen Ländern, die ihre Hilfe nur in Form von Zuschüssen vergeben, und Ländern wie Deutschland oder Frankreich, die auch Kredite vergeben. Das wird weiterhin möglich sein, nur sinkt der Betrag, den sich diese Geber als ODA an- Was künftig als Hilfe gilt Derzeit dürfen die Geberländer Kredite an Entwicklungsländer in voller Höhe als Entwicklungshilfe verbuchen und auf ihre ODA-Quote anrechnen, sobald die Kredite einen nicht rückzahlbaren Zuschussanteil von mindestens 25 Prozent haben. Diese Praxis wird von Fachleuten – und auch von einzelnen DAC-Mitgliedern – schon länger unter anderem deshalb kritisiert, weil sie Kredite in gleicher Höhe gleich behandelt, selbst wenn der Zuschussanteil unterschiedlich hoch ist. Ab 2018 soll deshalb nur noch der Zuschussanteil als Entwicklungshilfe verbucht werden dürfen. Dieser wird aus mehreren Faktoren errechnet wie der Laufzeit des Kredits, der Verzinsung und dem sogenannten Abzinsfaktor, der die potenzielle Rendite bemisst, die ein Kreditnehmer aus dem Kapital erzielt. Der DAC hat zudem beschlossen, bei der Berechnung des Zuschussanteils das Risiko zu berücksichtigen, dass ein Entwicklungsland einen Kredit nicht zurückzahlen kann. Weil damit das Ausfallrisiko schon bei der Berechnung des ODA-Anteils eines Kredits eingepreist ist, dürfen die Geber nach Inkrafttreten des neuen Verfahrens Schuldenerlasse nicht mehr wie bisher als Entwicklungshilfe verbuchen. (ell) rechnen dürfen. Um zu verhindern, dass sich vor allem sehr arme Länder mit Entwicklungskrediten zu hoch verschulden, muss der Zuschussanteil in Krediten an sie in Zukunft mindestens 45 Prozent betragen. Für Länder mit mittlerem Einkommen gelten Schwellenwerte von zehn beziehungsweise 15 Prozent. Staatssekretär Silberhorn begrüßte im Ausschuss die Neuerung. Die Finanzierung der Post2015-Agenda für neue Nachhaltigkeitsziele werde allein mit öffentlichen Mitteln nicht zu stemmen sein, betonte er. Kredite seien ein wichtiges Instrument und für die Empfängerländer durchaus „kein Nullsummenspiel“. Die gewährten Zinsen lägen immer unter Marktniveau und der Empfänger profitiere zudem von einer verbesserten Bonität, welche wiederum andere Geldgeber anziehe. Laut einem BMZ-Sprecher hat Deutschland 2012 über die KfWEntwicklungsbank ODA-Darlehen von insgesamt 1,362 Milliarden US-Dollar brutto vergeben. Im selben Jahr flossen 1,034 Milliarden US-Dollar geliehenes Geld zurück. Daraus ergibt sich netto eine Entwicklungshilfe aus Darlehen in 2-2015 | Studien journal Höhe von 328 Millionen Dollar. Die deutsche ODA betrug im selben Jahr insgesamt knapp 13 Milliarden Dollar. Deutschland vergibt unterschiedlich „weiche“ Kredite. Bei zinsreduzierten Darlehen etwa werden Haushaltsmittel genutzt, um den Zinssatz zu vergünstigen. Der Löwenanteil davon geht nach Asien. Geringere Bedeutung haben Haushaltsmittel-Darlehen ohne Marktanteile und Förderdarlehen aus KfW-Mitteln ohne Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt. Die Opposition kritisiert dieses Geflecht als undurchsichtig und fordert eine transparentere Darstellung. Sie moniert zudem, dass Deutschland in den vergangenen zehn Jahren den Anteil von Krediten an seiner Entwicklungshilfe stetig erhöht hat. Noch bedeutender sind die Vorteile, die Unternehmen in der nationalen Besteuerung in den EU-Staaten gewährt bekommen. Dazu zählt, dass die Regierungen die undurchsichtige Praxis der sogenannten Transferpreise zwischen Unternehmensteilen tolerieren: Gewinne werden mittels der Rechnungen für Waren und Dienstleistungen an die steuertechnisch günstigste Stelle verschoben. Deutsche Regierungen taten sich laut der Studie besonders hervor, zaghafte Ansätze zu mehr Gleichheit vor der Steuerbehörde in der EU zu blockieren. Dabei sind diese EU-Ansätze allemal nur auf das Modell gerichtet, das sich die OECD-Länder selbst gegeben haben. Demnach sollen Unterneh- mensgewinne aus Entwicklungsländern mit höchstens fünf Prozent versteuert werden. (hc) Marina Zapf/Tillmann Elliesen studien Anleitung zum Plündern LuxLeak, die Veröffentlichung der Absprachen von Banken und Großfirmen mit Luxemburgs Finanzamt, hat für einige Aufregung gesorgt. Aber die gilt fast ausschließlich dem Umstand, dass damit anderen EU-Ländern Steuereinnahmen verloren gehen. Ignoriert wird, dass viele EU-Staaten ihren global operierenden Firmen über Steuerregeln beim Plündern der Staatskassen von Ländern des globalen Südens helfen. EURODAD, ein Zusammenschluss von Entwicklungsorganisationen der EU, wirft Licht auf diese Praxis. Fünfzehn EU-Länder wurden daraufhin durchleuchtet, wie sie die Gewinne steuerlich veranschlagen, die ihre Unternehmen in Entwicklungsländern erzielen. Aus den Analysen geht hervor, dass alle untersuchten Staaten in ihren bilateralen Verträgen mit Entwicklungsländern Vergünstigungen durchgesetzt haben, die ihre Unternehmen besser stellen als die dortigen inländischen Firmen. Allein auf dieser Basis entstehen den Ländern im Süden erhebliche Verluste an Steuereinnahmen; eine erste Rechnung 2008 der Organisation Chistian Aid hatte sie auf 120 Milliarden Euro jährlich geschätzt – mehr als die gesamte Entwicklungshilfe der Industriestaaten zusammen; jüngere Berechnungen von UN-Organisationen kommen auf das Vierfache. Besonders eifrig bemüht um solche Absprachen sind Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien, die Niederlande und Belgien. EURODAD: Hidden profits The EU’s role in supporting an unjust global tax system 2014 EURODAD, Brüssel 2014, 100 Seiten www.eurodad.org Das Gewohnheitstier verstehen Menschen entscheiden selten rational. Sie reagieren spontan, richten sich nach sozialen Normen oder folgen gewohnten Denkmustern. Soziale und psychologische Faktoren sollten deshalb laut Weltentwicklungsbericht 2015 stärker in den Kampf gegen die Armut einfließen. Die Weltbank vollzieht damit eine Abkehr vom Modell des „homo oeconomicus“, der vor einer Entscheidung alle Alternativen sorgfältig abwägt, ihre Folgen bedenkt und dann die – nach seinen Präferenzen – beste Möglichkeit wählt. Die Autoren des Berichts führen drei Prinzipien aus, die das Denken und Handeln beeinflussen: spontane Reaktionen, soziale Normen sowie Überzeugungen, die sich über die Zeit in Gemeinschaften gebildet haben. In der | 2-2015 Konsequenz heißt das, weniger vorgefertigten Lösungen und stärker einem „learning by doing“Ansatz zu folgen. Der Bericht listet eine Reihe von Beispielen auf, in denen die Erkenntnis bereits umgesetzt wurde, dass Menschen soziale Wesen sind und sich andere zum Vorbild nehmen. Nach mehreren erfolglosen Versuchen, die Einwohner zum Wassersparen zu animieren, veröffentlichte die Stadtverwaltung der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá die Namen derer in den Medien, die sich während einer Dürre im sparsamen Umgang mit Wasser hervorgetan hatten. Daraufhin sank in der ganzen Stadt der Wasserverbrauch. In eine ähnliche Richtung geht der Ansatz, Bildung mittels Unterhaltung zu fördern. So ließen sich die Zuschauer der TV-Seifenoper „Scandal!“ in Südafrika mit Hilfe der Protagonisten beibringen, wie sie besser mit Geld umgehen können. Der Bericht enthält darüber hinaus einen kritischen Blick auf die Denk- und Entscheidungsmuster von Weltbank-Mitarbeitern. Laut einer Umfrage unterstellten sie armen Menschen in Jakarta und Lima weitaus stärkere Gefühle der Hilflosigkeit und mangelnder Kontrolle über die Zukunft, als diese selbst zum Ausdruck brachten. Mitarbeiter von Entwicklungsorganisationen seien nicht vor Fehlinterpretationen aufgrund von sozialen Normen und althergebrachter Überzeugungen gefeit, bilanzieren die Autoren. Sie müssten sich diese Gefahren stärker bewusst machen; Entwicklungsorganisationen soll- ten – nicht näher bezeichnete – Methoden entwickeln, mit denen solche Verzerrungen reduziert werden können. (gka) World Bank World Development Report 2015 Mind, Society, and Behavior World Bank, Washington DC 2014, 236 Seiten www.worldbank.org 47 48 journal berlin berlin „Minister Müller hat uns nicht ermutigt“ Gespräch mit Helmut Asche, dem früheren Direktor des Deutschen Evaluierungsinstituts Überraschend wurde Helmut Asche im vergangenen Sommer von seinem Posten als Direktor des Deutschen Evaluierungsinstitutes der Entwicklungszusammenarbeit (DEval) abberufen. Das Entwicklungsministerium (BMZ) nannte keine Gründe, es hieß aber, man sei unzufrieden mit seiner Leistung. Asche selbst sagt im Interview, im Ministerium habe es von Beginn an Widerstand gegen ein unabhängiges Institut gegeben. Und das hätten er und sein Team auch zu spüren bekommen. Herr Asche, warum sind Sie von Ihrem Posten abberufen worden? Mehr als das, was allen anderen gesagt wurde, weiß ich auch nicht: dass es an Strategie fehle und das Institut zu langsam Berichte produziere. Ich habe diesen Vorwurf der neuen BMZ-Leitung von Anfang an als ausgesprochen unaufrichtig empfunden, denn uns wurden nie die erforderlichen Mittel zur Verfügung gestellt, um eine Strategie zu entwickeln und die Berichte im verlangten Ausmaß zu produzieren. Das heißt, das Institut hat in den zwei Jahren Ihrer Amtszeit weniger Berichte vorgelegt als geplant? Ja, weil wir in einer Situation waren, mit der wir nicht gerechnet hatten. Das DEval hat eine wunderbare Schar von engagierten und qualifizierten jungen Mitarbeitern, aber wir haben aus unterschiedlichen Gründen nie das volle Personal des Stellenplans zur Verfügung gestellt bekommen. Es gibt immer noch einen Stellenstopp bei den Abteilungsleitungen und das Ministerium war in zwei Jahren nicht in der Lage, diesen Missstand zu beheben. Zudem ist die ganze Konstruktion des Instituts verkorkst. Inwiefern? Das DEval ist eine Gesellschaft im Besitz des Bundes, vertreten zum Entwicklungsministerium herauszukommen. Das entspricht auch der Tatsache, dass die deutsche Entwicklungszusammenarbeit längst breiter als nur im BMZ verankert ist. Helmut Asche war von 2012 bis 2014 Leiter des Evaluierungsinstituts DEval in Bonn. Er ist seit 2011 unter anderem Honorarprofessor an der Universität Mainz. privat durch einen einzigen Gesellschafter, nämlich das Entwicklungsministerium, von dem es zugleich Zuwendungen erhält. GmbH- und Zuwendungsrecht sind aber ein Einfallstor für tagtägliches Mikromanagement. Hat Ihnen das Ministerium in die Arbeit des Instituts hineingeredet? Ja, es hieß zum Beispiel, diese Evaluierung nicht jetzt, jene nicht so oder nicht in diesem oder jenem Land, für die nächste Evaluierung müssten erst noch bestimmte Referate im BMZ gehört werden, bevor eine Zeile veröffentlicht wird, und so weiter. Für die Mitarbeiter des Instituts ist eine solche Detailsteuerung in der Gründungsphase vielleicht hilfreich gewesen, aber unterm Strich kann die in den zwei dürren Worten „wissenschaftliche Unabhängigkeit“ garantierte Handlungsfreiheit in der Evaluierung so nicht funktionieren. Meines Erachtens gehört zu einer tragfähigen Lösung, die Zahl der bestimmenden Gesellschafter mindestens um das Auswärtige Amt und das Umweltministerium zu erweitern, um aus dieser dominanten Partnerbeziehung Vor zwei Jahren, als Sie Ihren Posten angetreten haben, habe ich Sie in einem Interview nach der finanziellen Abhängigkeit vom Ministerium gefragt. Sie antworteten, Unabhängigkeit bedeute nicht, völlig losgelöst zu sein. Mir schien damals, dass das kein Problem für Sie ist. Die Grundaussage, dass Unabhängigkeit nicht bedeutet, völlig losgelöst zu sein, stimmt immer noch. Es ist vernünftig, dass das Institut grundsätzlich auf Nachfrage des Ministeriums evaluiert, natürlich auch auf Nachfrage aus dem Parlament oder den Entwicklungsorganisationen. Diese Art Bindung ist in Ordnung. Es ist aber eine ganz andere Frage, wie man mit einer solchen Bindung im alltäglichen Betrieb und bei der Durchführung von Evaluationen umgeht. riums gewährt. Das wirkt sich natürlich auf die Arbeit aus. Eine solche Freigabe hätte schon bei der Gründung vorliegen und allen betroffenen Institutionen verbindlich mitgeteilt werden müssen. Warum haben Sie den Posten des Geschäftsführers angesichts dieser vielen Konstruktionsfehler von Beginn an überhaupt angenommen? Ich bin als Gründungsdirektor voller Optimismus und voller Zuversicht in die Handlungsfähigkeit und den Handlungswillen des Entwicklungsministeriums in diese Aufgabe gegangen. Da bin ich allerdings bitter enttäuscht worden, und damit meine ich nicht die damalige Leitung unter Minister Niebel, sondern eine breite mittlere Lehmschicht im BMZ. In unserem Interview Ende 2012 haben Sie gesagt, die Probe der Unabhängigkeit des Instituts werde darin bestehen, ob Sie die Evaluierungen frei durchführen können. Das war nicht der Fall? Richtig, die unsäglichen Mühen der Ebene erlauben die Aussage nicht mehr, dass wir frei und uneingeschränkt arbeiten konnten. Sie haben nach dem Regierungswechsel 2013 noch ein gutes halbes Jahr unter dem amtierenden Entwicklungsminister Gerd Müller gearbeitet. Hat sich der Wechsel auf das Institut ausgewirkt? Ich kann wirklich nicht sagen, dass das DEval und ich von Minister Müller in der Arbeit ermutigt wurden. Im Gegenteil: Es werden Aussagen von ihm zitiert, dass ihm das Institut nicht besonders wichtig sei. Ich erlebe seinen entwicklungspolitischen Ansatz und seine Initiativen ohnehin nicht so, dass für ihn eine strikte Wirkungsorientierung im Vordergrund steht. Gibt es darüber hinaus aus Ihrer Sicht weitere Hinweise, die zeigen, dass das BMZ an einem unabhängigen Institut nicht wirklich interessiert ist? Ja. Bis heute gibt es nach meiner Kenntnis keine Regelung, die dem Institut den uneingeschränkten Zugang zu Daten und Dokumenten der zu prüfenden Organisationen und des Ministe- Wie meinen Sie das? Das Afrikakonzept des BMZ etwa wurde letztes Jahr an der geplanten gemeinsamen Afrikapolitik der Bundesregierung vorbei aus dem Boden gestampft, und in Bezug auf zentrale Punkte wird es fast ausgeschlossen sein, das später zu evaluieren. Was etwa hat man sich unter den zehn geplanten Agrarzentren vorzustellen 2-2015 | berlin journal und – vor allem – was sollen sie genau bewirken? Die sogenannte Zukunftscharta enthält eine Menge interessanter Ideen. Aber die handfeste operationale Bedeutung steht in den Sternen. Wie geht es aus Ihrer Sicht jetzt weiter mit dem Institut? Meine Befürchtung ist, dass das Ministerium das DEval an die Wand fährt. Die Grundprobleme sind nicht gelöst, und die im Dezember im Entwicklungsausschuss des Bundestages präsentierten „Strategie“-Elemente lassen befürchten, dass der Auftrag verwässert wird und das DEval ir- gendwann als kleine Abteilung im BMZ oder im Deutschen Institut für Entwicklungspolitik endet. Ich hoffe, dass ich damit falsch liege, weil ich das Institut weiterhin für ein großartiges Projekt halte, das auch international große Beachtung gefunden hat. Ich hoffe, dass meine Intervention, aber auch die von Bundestagsabgeordneten und Mitgliedern des DEval-Beirats, dazu beitragen kann, dass sich die BMZ-Spitze und die Arbeitsebene in Bewegung setzen und wenigstens einige der Probleme zügig beseitigt werden. Das Gespräch führte Tillmann Elliesen. berlin Keine Wende beim Waffenhandel Kirchen kritisieren Rüstungsexporte aus Deutschland Die Bundesregierung hat zwar Zurückhaltung versprochen, trotzdem erklären sich die Kirchen in Deutschland weiter besorgt über die deutschen Rüstungsexporte. Vor allem Lieferungen in Konfliktländer und die gestiegenen Ausfuhren von Kleinwaffen kritisiert die Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE), die im Dezember in Berlin ihren 18. Rüstungsexportbericht vorgestellt hat. bare Raketenwerfer – wird gegenwärtig auf 875 Millionen Stück geschätzt. Nur jede vierte dieser Waffen befindet sich laut dem Bericht in staatlichem Besitz. Das Beispiel Libyen zeige, wie schwierig es sei, Waffenbestände zu kontrollieren. Nach dem Sturz von Diktator Gaddafi 2011 verbreiteten sich die riesigen libyschen Waffenbestände über die gesamte Sahelzone. „Die illegale Weitergabe von Kleinwaffen stellt ein weltweites Risiko dar; und nicht selten beginnt sie mit einem legalen Export“, mahnte Jan Grebe vom Internationalen Konversionszentrum Bonn (BICC), der Vorsitzende der GKKE-Fachgruppe Rüstungsexporte. Unter den Abnehmern befänden sich zahlreiche Drittstaaten außerhalb von EU und Nato – oft auch Länder in Spannungsgebieten oder mit problematischer Menschenrechtslage. Dazu zählt die GKKE Algerien, Indonesien, Saudi-Arabien, Singapur und die Vereinigten Arabischen Emirate sowie Israel. Erst wenn solche Lieferungen „signifikant und anhaltend zurückgehen, werden wir von einem vollzogenen Politikwechsel oder einer Kehrtwende sprechen“, sagte der katholische Vorsitzende der GKKE, Prälat Karl Jüsten. Deutschland exportierte 2013 Kleinwaffen im Wert von 80 Millionen Euro. Das war mehr als je zuvor. Das weltweite Kleinwaffen arsenal – Pistolen, Gewehre, trag- 2014 wurden weniger Exporte von Kleinwaffen genehmigt | 2-2015 Der Bericht würdigt zwar, dass Lieferungen von Kleinwaffen in Drittstaaten im ersten Halbjahr 2014 unter Aufsicht der Großen Koalition deutlich zurückgegangen sind: von 18 Millionen Euro im ersten Halbjahr 2013 auf 1,4 Millionen Euro im entsprechenden Zeitraum 2014. Der Wert von Genehmigungen für künftige Kleinwaffenexporte sei im selben Zeitraum von 39,5 auf 21,3 Millionen Euro gesunken. Die GKKE ergänzt ihr Lob für diesen „schönen Erfolg“ aber mit einer Mahnung: Strengere Maßstäbe für den Export und Schritte zu einer wirksameren Endverbleibskontrolle müssten, wie angekündigt, schnell umgesetzt werden. Es müsse verhindert werden, dass Empfängerstaaten Waffen aus Deutschland einfach weiterverkaufen. Die Bundesregierung verlangt dafür bislang nur eine schriftliche Zusage. Der Widerruf der Ausfuhrgenehmigungen für ein Übungs- Scharfschütze einer Rebellengruppe in Libyen. Gewehre, Pistolen und andere Kleinwaffen aus dem umkämpften Land haben die gesamte Region geflutet. Benjamin Lowy/getty images zentrum an Russland ist für die Kirchenvertreter in Berlin „ein Signal, dass ein Politikwechsel machbar ist“. Für den Verkauf von Patrouillenbooten an Saudi-Arabien, der mit Verweis auf die hohe beschäftigungspolitische Bedeutung mit einer Hermes-Bürgschaft abgesichert wurde, rügte der evangelische Prälat Martin Dutzmann die Regierung wegen falscher Prioritäten. Als „nicht hinnehmbar“ kritisierte Jüsten den steigenden Anteil von Liefergenehmigungen in Drittstaaten für sämtliche Rüs- tungsgüter. Der lag im ersten Halbjahr 2014 bei 63,5 Prozent. Es bestehe zudem die Gefahr, dass Waffenlieferungen aus ökonomischen Gründen genehmigt würden. Der evangelische Prälat Dutzmann betonte: „Rüstungsexporte müssen zuerst unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, welche Auswirkungen sie für die Menschen in den Empfängerländern, für die Stabilität von Regionen, für die Sicherheit Deutschlands oder sogar für deutsche Soldaten in Auslandseinsätzen haben.“ Marina Zapf 49 50 journal berlin berlin Die CDU blockiert ein Gesetz für das Menschenrechtsinstitut Unionsabgeordnete im Bundestag wollen keine Untersuchungen in Deutschland Bis März muss eine gesetzliche Grundlage für die Arbeit des Deutschen Menschenrechtsinstituts in Berlin her. Andernfalls erhält es keine Akkreditierung bei den Vereinten Nationen. Ein von Justizminister Heiko Maas (SPD) vorgelegter Entwurf wird jedoch von einer konservativen Gruppe der CDU/ CSU-Fraktion blockiert. Die Koalitionäre streiten sich um die Aufgaben des Instituts. Das als Verein organisierte Menschenrechtsinstitut (DIMR) kümmert sich seinem Auftrag gemäß um Menschenrechtsverletzungen, die in Deutschland stattfinden oder von Deutschland aus im Ausland entstehen. Es beobachtet, klärt auf und dokumentiert, bietet Bildungsmöglichkeiten an und berät Politik und Justiz. Es geht um deutsche Verantwortung – seien es Übergriffe der Polizei, der Umgang mit Flüchtlingen und Asylbewerbern oder das Verhalten deutscher Unternehmen in anderen Ländern. Um von den Vereinten Nationen als „vollwertige Nationale Institution“ anerkannt zu werden, bedarf es einer Akkreditierung. Und die ist für März geplant. Wegen des Widerstands der Union hängt das dafür nötige Gesetz aber fest. Eine Arbeitsgruppe der Koalition konnte zuletzt keinen Kompromiss finden und übergab die Sache an die Fraktionsführungen. Dabei hatte Justizminister Maas seine Vorlage schon mit allen Ressorts abgestimmt. Aber offenbar fühlte sich die menschenrechtspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion, Erika Steinbach, übergangen. Schon in der vorherigen Koalition mit der FDP hatte Steinbach einen entsprechenden Vorstoß vereitelt. Die Union begründet ihren Widerstand damit, sie wolle das Institut pluralistischer und transparenter aufstellen. Beteiligte erklären Steinbachs Haltung aber eher damit, dass ihr das Institut grundsätzlich missfalle, weil es heimische Zustände anprangert, an denen es aus ihrer Sicht nichts zu kritisieren gibt. Deshalb sei das Institut auch schon mal als Nestbeschmutzer verunglimpft worden, sagt sein stellvertretender Direktor Michael Windfuhr. Steinbach sehe in Deutschland kaum Menschenrechtsverletzungen, schon gar nicht bei den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten oder in Form von Rassismus. Konkret streitet die Koalition darüber, ob das Institut weiter als Verein aufgestellt bleiben soll. Der Union wäre es lieber, die Menschenrechtler wären als Anstalt des öffentlichen Rechts beim Auswärtigen Amt angesiedelt und würden sich Unrechtsstaaten wie Nordkorea sowie dem Erbe der beiden Diktaturen in Deutschland zuwenden. Zum anderen schwebt der Union vor, das Steuerungsgremium des Instituts erheblich zu erweitern, auch um zusätzliche Regierungsvertreter. Gedacht ist offenbar an eine Art Rundfunkrat der Menschenrechte, der die Agenda des Instituts verbindlich bestimmen soll. Aus all diesen Gründen bangt Windfuhr um die Unabhängigkeit: „Derzeit haben Institut und Vorstand freie Wahl, welche Themen das Institut aufgreift und wie es arbeitet.“ Die Qualität und Rechenschaftslegung allerdings würden regelmäßig vom Kuratorium überwacht. Die Autonomie des Instituts sei ein Kernanliegen der sogenannten Pariser Prinzipien von 1993, in denen die Vereinten Nationen die Kriterien formu- liert haben, denen nationale Menschenrechtsinstitute genügen müssen, um bei den UN akkreditiert zu werden. Nach diesen Prinzipien soll sich das DIMR als nationale Menschenrechtsinstitution um die Durchsetzung der Menschenrechte in und durch Deutschland kümmern. So will es auch die SPD. Das Institut könnte sein Rederecht bei den UN verlieren Windfuhr fürchtet zudem einen Verlust an internationaler Anerkennung: Die Union blockiert die UN-Akkreditierung ausgerechnet in dem Jahr, in dem Deutschland beim UN-Menschenrechtsrat in Genf den Vorsitz führt. Dort droht das DIMR sein Rederecht zu verlieren, schlägt die Akkreditierung bis März fehl. Bislang war das Menschenrechtsinstitut nur vorläufig als vollwertiges unabhängiges Gremium anerkannt, das Länder wie die Niederlande, Belgien und Schweden gerade erst schaffen. Die Pariser Standards sehen vor, die Institute vor der Regierung gesetzlich zu schützen, damit diese nicht über die Existenz, Zusammensetzung und Zuständigkeit entscheiden. Das zivilgesellschaftliche Forum Menschenrechte appellierte in einem Brief an die Bundeskanzlerin, alles zu tun, um den Angriff auf die Arbeit des Instituts abzuwehren. Marina Zapf Asylbewerber in der Flüchtlingsunterkunft in Burbach. Hier wurden Bewohner von Wachpersonal gequält – solche Missstände gibt es laut CDU in Deutschland nicht. picture alliance/dpa 2-2015 | brüssel journal brüssel Ölspur von Ottawa über Washington nach Brüssel Die EU gibt die Einfuhr von Treibstoffen aus Teersand frei Das EU-Parlament hat im Dezember eine Richtlinie der EU-Kommission zur Qualität von Treibstoffen gebilligt. Damit steht dem Import von Öl aus Teersand, vor allem aus Kanada, nichts mehr im Weg. Umweltschützer schlagen Alarm, denn diese Form der Ölgewinnung ist besonders umwelt- und klimaschädlich. Die Richtlinie klassifiziert die Klimaschädlichkeit verschiedener Treibstoffe. Zu diesem Zweck sollte eigentlich auch festgehalten werden, wie viel Treibhausgase bei der Produktion von Rohöl aus unterschiedlichen Quellen anfallen. Doch darauf hat die Kommission am Ende verzichtet, da sie sich mit den EU-Mitgliedstaaten nicht auf die Messmethoden einigen konnte. Im Entwurf, den die Kommission Ministerrat und Parlament vorgelegt hat, wird die Herkunft des in Europa eingeführten Öls nicht mehr gesondert aufgelistet. Alle damit befassten Ausschüsse des Parlaments lehnten die Vorlage zwar ab, aber im Plenum fehlten zwölf Stimmen für die nötige Mehrheit dagegen. Einzelne Abgeordnete der größeren Fraktionen sprachen von einem Dilemma: Der Verzicht auf die Klassifizierung nach Treibhausgasausstoß bei der Ölgewinnung sei schlecht, aber ohne diese Qualitätsrichtlinie sei die EU noch schlechter dran. Nur die Grünen stimmten geschlossen gegen die Vorlage. Vorgesehen war die Richtlinie schon seit 2011, denn im Rahmen der Klimapolitik der EU sollte der Ausstoß von Treibhausgasen (THG) aus Transport und Verkehr bis 2020 um sechs Prozent gegenüber 1990 vermindert werden. Berücksichtigt man auch die Produktionsbedingungen, dann haben Öl und Gas aus Teersand oder Schiefergestein einen deutlich größeren ökologischen Fußab- | 2-2015 druck als herkömmliches Rohöl und Erdgas, kanadisches Teersand-Öl zum Beispiel plus 23 Prozent nach Rechnung der Kommission. Mit seinem Votum hat das Parlament den Weg frei gemacht für das „schmutzige“ Öl. Das freut die Branche, die dem Teersand-Öl eine große Zukunft voraussagt. Große Vorkommen gibt es im Nordwesten von Südamerika, im nördlichen und westlichen Afrika und im Regenwald des Kongobeckens; auf Madagaskar hat die französische Ölgesellschaft Total mit Probebohrungen begonnen. Der Abbau von Teersand, unvermeidlich im Tagebau, verwüstet enorme Flächen und vergiftet ganze Flussgebiete. Die Mondlandschaften der kanadischen Provinz Alberta bieten das Musterbeispiel zum Anschauen. Die kanadische Öl-Lobby und die Regierung in Ottawa übten starken Druck auf Brüssel aus, auf die Etikettierung von Teersand-Öl zu verzichten. Die Umweltorganisation Friends of the Earth hat über hundert Treffen von kanadischen Lobbyisten mit Kommissionsbeamten belegt; die Kanadier hatten dafür eigens eine Einsatztruppe namens „Pan-European Oil Sands Team“ aufgestellt. Entscheidend war am Ende jedoch, dass Kanada und die USA warnten, eine Diskriminierung des kanadischen Öls verstoße gegen Handelsrecht und gefährde den Abschluss der geplanten Freihandelsverträge TTIP und CETA. Die Branche sagt eine große Zukunft für Teersand-Öl voraus Kanada exportiert sein Öl nicht direkt, sondern verkauft es zunächst an Raffinerien in Texas. Dort wird es mit Rohöl aus anderen Quellen gemischt, verarbeitet und exportiert, nach Europa etwa als Diesel oder Kerosin. Würde die EU die Treibstoffe auch nach Her- kunft klassifizieren, wären die Raffinerien in den USA verpflichtet, ihre Mischungen zu deklarieren. Der bis November 2014 amtierende Kommissionspräsident José Manuel Barroso gab seinem Handelskommissar Karel De Gucht daraufhin grünes Licht, alle Hindernisse für die geplanten Handelsabkommen aus dem Weg zu räumen, entzog den bis dahin zuständigen Kommissionsmitgliedern Heedegard (Klima) und Öttinger (Energie) die Zuständigkeit für die Treibstoff-Richtlinie und übergab sie seiner Generalsekretärin Catherine Day. Im vorbereitenden Ausschuss der Ständigen Vertreter der EU-Mitgliedstaaten im EU-Ministerrat drängten Briten, Niederländer und Spanier ebenfalls darauf, das TeersandEtikett zu streichen mit der Begründung, die Freihandelsverträge hätten Vorrang. Und so geschah es dann auch. Heimo Claasen brüssel Freie Fahrt für Spekulanten Die EU forciert ein Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen Im Dezember haben Tausende in Brüssel gegen die Freihandelsabkommen TTIP, CETA und das Dienstleistungsabkommen TISA demonstriert. Letzteres beachtet die Öffentlichkeit bisher kaum. Dabei könnte TISA die Einführung der geplanten Finanzmarktsteuer verhindern. TISA – Trade in Services Agreement – heißt das Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen, über das eine Gruppe von 23 Ländern, zumeist Industriestaaten, seit 2012 verhandelt. Es geht darin um Bereiche wie Finanzdienstleistungen, Versorgung mit Energie und Wasser, Gesundheit, Bildung bis hin zum Betrieb von Gefängnissen. Die ersten Treffen in Hinterzimmern der Welthandelsorganisation (WTO) in Genf wurden zunächst geheim gehalten. Seit Juni 2013 treffen sich die Regierungen regelmäßig in der australischen UN-Botschaft ebenfalls in Genf. In ihren Dokumenten nennen sie sich die „really good friends of services“ – die „wirklich guten Freunde von Dienstleistungen“. Offiziell soll TISA die mit der sogenannten Doha-Runde festgefahrenen WTO-Verhandlungen um ein Dienstleistungsabkommen GATS vorantreiben. Doch tatsächlich geht es wohl eher darum, eine Alternative zu schaffen: Die „guten Freunde“ streben an, TISA eines Tages in die Welthandelsorganisation zu integrieren. Die große Mehrheit der 155 WTOMitglieder dürfte damit allerdings kaum einverstanden sein. Und auch unter den „guten Freunden“ herrscht nicht in allen Punkten Einigkeit: Vor allem die USA und die EU haben – soweit das bisher durchgesickert ist – Vorschläge eingebracht, die für 51 52 journal brüssel | schweiz den Rest der WTO-Handelswelt unannehmbar wären. Der Kern von TISA ist die grundsätzliche Gleichstellung von auswärtigen Unternehmen mit inländischen Anbietern für Dienstleistungen. Die Gewerkschaften in vielen Ländern sehen darin einen Generalangriff auf die öffentlichen Dienste schlechthin. Im vorigen Oktober unternahmen sie in Genf unter ihrer Dachorganisation Public Services International eine Bestandaufnahme und riefen zu Widerstand auf. Bis dahin hatte TISA kaum öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Die im November neu bestallte EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström gelobt denn auch mehr Transparenz. Erstmals unterrichtet – allerdings nur unvollständig – wurde das EU-Parlaments von ihrem Vorgänger, Handelskommissar Karel De Gucht, im Juli 2014. Dies war bereits mehr als zwei Jahre nach Beginn der Genfer Geheimverhandlungen und erst nachdem die Webseite WikiLeaks ein Paket von TISA-Texten zu Finanzdienstleistungen veröffentlicht hatte. Seitdem hat sich das Parla- Studie: TTIP „relativ harmlos“ Ein transatlantisches Abkommen (TTIP) zwischen der EU und den USA würde sich laut einer neuen Studie kaum auf die meisten Entwicklungsländer auswirken. Die Folgen wären „relativ harmlos“, erklären die Ökonomen vom Münchner ifo-Institut. Arme Länder könnten von TTIP profitieren, da das Abkommen in Europa und den USA zu Einkommenszuwächsen führen werde, die eine erhöhte Nachfrage nach Produkten aus anderen Ländern zur Folge hätten, heißt es in der Studie. Andererseits könne der Handel zulasten von Entwicklungsländern umgelenkt werden. Davon werden laut der Studie vor allem die Länder Südostasiens betroffen sein, die Güter exportieren, die auch in den USA und in Europa ment allerdings nicht allzu interessiert gezeigt am Fortgang der Verhandlungen. Dem für Handelsfragen zuständigen Abgeordneten der Grünen, Jan-Philipp Albrecht, etwa wurde der Zugang zu den von der Kommission bisher ans Parlament überstellten vertraulichen Akten schlicht verwehrt. hergestellt werden. Es werde Gewinner und Verlierer geben, sagte der Leiter der Studie, Gabriel Felbermayr vom ifo-Institut in München. Das Bundesentwicklungsministerium hatte das Gutachten vor drei Monaten in Auftrag gegeben. Die Autoren empfehlen, die Entwicklungsländer in die weiteren Verhandlungen über TTIP möglichst weit einzubinden und ihnen eine Beitrittsperspektive zu eröffnen. Aus der Zivilgesellschaft kommt Kritik an der Studie: Die Auswahl der Daten sei zweifelhaft, heißt es vom Dachverband der Entwicklungsorganisationen Venro. Und Oxfam moniert, in der Studie werde nicht untersucht, ob TTIP die Ungleichheit in und zwischen Staaten verschärfen werde. (ell) Laut dem TISA-Entwurf dürfen die Vertragspartner keine neuen Regeln einführen, die den internationalen Handel behindern. Das könnte auch die von elf EU-Mitgliedern geplante Steuer auf Finanzmarktgeschäfte treffen. Der Kommissionsentwurf dazu liegt seit fast einem Jahr im EUMinisterrat auf Eis, und es ist zweifelhaft, dass die Länder, die die Steuer im Prinzip einführen wollen, in den kommenden zwei Jahren eine Entscheidung dazu treffen. Sollte TISA bis 2017 unter Dach und Fach sein, wie die Kommission das anstrebt, und die Finanzmarktsteuer bis dahin nicht verabschiedet worden sein, hat sie sich erledigt. Heimo Claasen gen wie die nach rechtlich verbindlichen Regeln für soziale und ökologische Sorgfaltspflichten von Schweizer Unternehmen, begründet der Sprecher der Erklärung von Bern (EvB), Oliver Classen, den Schritt. „Politische Forderungen gehören vor demokratisch legitimierte Institutionen“. Zudem ist die Schweiz, wie alle UN-Mitglieder, aufgefordert, die Ruggie-Leitlinien für Wirtschaft und Menschenrechte auf nationaler Ebene umzusetzen. „Wir wollen auf der gesetzlichen Ebene etwas bewirken“, sagt Classen. Die EvB war eine der Trägerorganisationen des „Public Eye“ und hatte zudem vor gut drei Jah- ren zusammen mit 50 anderen nichtstaatlichen Organisationen die Kampagne „Recht ohne Grenzen“ ins Leben gerufen. Die Forderungen des größten Bündnisses dieser Art, das es in der Schweiz je gab, sind klar: Bundesrat und Parlament sollen mit gesetzlichen Bestimmungen dafür sorgen, dass Firmen mit Sitz in der Schweiz weltweit Menschenrechte und Umwelt respektieren müssen. Zudem sollen Opfer von Menschenrechts- und Umweltverstößen durch solche Firmen, ihre Niederlassungen und Zulieferer, in der Schweiz auf Wiedergutmachung klagen können. Um dieses Ziel zu erreichen, will das NGO- schweiz Abschied von Davos Schmähpreis „Public Eye“ zum letzten Mal verliehen Der texanische Ölkonzern Chevron hat den Preis am Rande des Weltwirtschaftsforums (WEF) erhalten. Die Bedeutung des Wirtschaftsgipfels schwindet – auch für die Schweizer Globalisierungsgegner. Sie machen künftig lieber Politik in Bern. Chevron wurde für sein „unternehmerisches Lebens(un)werk“ ausgezeichnet. An der Online-Abstimmung hatten sich mehr als 60.000 Personen beteiligt. Auf der Liste der Anwärter für den „Lifetime Award“ standen sechs bekannte Firmen, die bereits in früheren Jahren einen Schmähpreis erhalten hatten. Dazu gehör- ten neben Chevron der US-Konzern Dow Chemical, der russische Energieriese Gazprom, die US-Investmentbank Goldman Sachs, der Schweizer Rohstoffkonzern Glencore sowie der weltgrößte Einzelhändler Walmart. Chevron war 2006 mit einem „Public Eye Award“ bedacht worden - für die Verschmutzung großer Teile noch unberührten Urwalds im Norden Ecuadors. Der Award wurde in diesem Jahr zum letzten Mal verliehen. Künftig will das „Public Eye“ den Fokus seiner Arbeit auf Bern, den Sitz von Bundesrat und Parlament, richten. Davos sei der falsche Ort für politische Forderun- 2-2015 | schweiz journal Die Kampagne „Recht ohne Grenzen“ übergibt im Sommer 2012 der Bundesverwaltung in Bern ihre Petition, mit der sie eine verbindliche menschenrechtliche Sorgfaltspflicht für Unternehmen fordert. Eliane Baumgartner, SWISSAID Bündnis nun eine Volksinitiative lancieren. Der Schmähpreis hat seinen Zweck erfüllt Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass der Schmähpreis des „Public Eye“ in Davos den Weg für diese Volksinitiative geebnet hat. „Das Vorgehen von Public Eye in Davos war visionär“, bilanziert Classen: Nicht nur wegen der „Auszeichnung“, sondern auch, weil sich das „Public Eye“ nie an den Krawallen auf der Straße be- teiligte und von Anfang an mit seinen Online-Abstimmungen stark aufs Internet setzte. An der Geschichte des „Public Eye“ würden die verschiedenen Taktiken des Protestes im 21. Jahrhundert deutlich, kommentiert der Journalist und WEF-Beobachter Constantin Seibt den Rückzug aus Davos. Zwar seien während der ersten Jahre des Anti-WEF in Davos die Kameras vor allem auf die Krawalle gerichtet gewesen. Die seriösen Panels des „Public Eye“ mit Informationen statt An- ekdoten hätten wenig mediale Aufmerksamkeit erfahren. Doch 2005 folgte der Durchbruch. Das Herzstück des Strategiewechsels war die Verleihung des „Public Eye Awards“, eines Preises, den niemand wollte. Die Idee entstand, weil beim WEF die umsatzstärksten internationalen Unternehmen präsent sind. Der Award sollte auf unverantwortliches Geschäftsgebaren in einem konkreten Fall aufmerksam machen. Über seine Vergabe konnte online abgestimmt werden. Rezepte für einen bewussten und nachhaltigen Konsum. Zudem sammeln die beiden Hilfswerke zusammen mit rund 50 weiteren Organisationen Unterschriften für eine Umwelt-Petition. Angesichts der UN-Klimakonferenz im Dezember in Paris verlangen sie von der Schweizer Regierung ein klares Engagement für mehr Klimagerechtigkeit. (tp) und Besucher aus Wasserhähnen lokales Trinkwasser abzapfen können. Präsenz Schweiz, die PRAgentur des Schweizer Außendepartementes, reagiert damit auf die Kritik von Politikern und nichtstaatlichen Organisationen, die sich an der Beteiligung von Nestlé stören (siehe „welt-sichten“ 12-2014/1-2015). Der Nahrungsmittelkonzern steuert drei Millionen Franken (2,97 Millionen Euro) zum Schweizer Gesamtbudget von 23,1 Millionen Franken (22,9 Millionen Euro) bei. (tp) „Der Schmähpreis richtete den Fokus auf das heutige Topthema der Unternehmensverantwortung, das bis dahin wenig bis gar keine Aufmerksamkeit in der politischen Öffentlichkeit fand“, sagt EvB-Sprecher Classen. In der Vergangenheit hatte „Public Eye“ mit der Auszeichnung einigen Erfolg. Die britische Bank Barclays wurde 2012 für die Spekulation mit Lebensmitteln angeprangert. Im Februar 2013 gab sie bekannt, aus diesem Geschäft auszusteigen – sie sah ihren guten Ruf in Gefahr. Der Schweizer Pharmakonzern Roche erhielt den Schmähpreis 2010 wegen unethischer Medikamententests in China. Die international tätige Triodos Bank strich den Konzern darauf aus ihrem Anlageportfolio. Die Versuche seien inakzeptabel und entsprächen nicht den vorgegebenen Menschenrechtsstandards, so die Begründung. Zudem hatte der Schmähpreis eine Art Domino-Effekt: In den vergangenen zehn Jahren wurde durch seine Verleihung immer wieder die Forderung nach rechtlich verbindlichen Regeln für Unternehmen thematisiert. Das klassische Web-basierte „Naming and Shaming“ spurte den politischen Weg vor und sensibilisierte die Öffentlichkeit für das Thema. Kathrin Ammann schweiz – kutz notiert „Weniger für uns, genug für alle“: Mit ihrer diesjährigen ökumenischen Kampagne rufen Fastenopfer und Brot für alle die Schweizerinnen und Schweizer zu einem nachhaltigen Umgang mit Nahrung auf. Das biblische Bild der Tischgemeinschaft zeige, statt Überfluss auf der einen und Mangel auf der anderen Seite sei ein „Genug für alle“ möglich, erklären die kirchlichen Hilfswerke. Wenn die Bevölkerung in der Schweiz den durchschnittlichen Pro-KopfKonsum von einem Kilo Fleisch pro Woche halbieren würde, müssten weder Fleisch noch Futtermittel importiert werden. Im traditionellen Kalender zur vorösterlichen Fastenzeit finden sich | 2-2015 www.sehen-und-handeln.ch Wasserhähne statt Nestlé-Flaschen: Bei der Weltausstellung Expo 2015 in Mailand wird der Schweizer Wasserturm nicht wie ursprünglich geplant mit Wasserflaschen von Nestlé gefüllt. Stattdessen sollen die Besucherinnen „Herein. Alle(s) für die Zuwanderung“: Diesen provozierenden Titel hat die Caritas Schweiz für ihren Sozialalmanach 2015 gewählt, dem Jahrbuch zur sozialen Lage in der Schweiz. Caritas legt damit angesichts der „einseitigen und festgefahrenen Diskussion“ zur Zuwanderung ein Bekenntnis ab zu einer Migrationspolitik, die soziale Chancengerechtigkeit zum Ziel hat. 20 Vertreter von Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur legen im Jahrbuch ihre Gründe dar, warum sie für eine Schweiz der offenen Türen eintreten. Man könne von der Bevölkerung nicht mehr Toleranz erwarten, wenn man aus Einwanderern Bürger zweite Klasse mache, schreibt etwa Martine Brunschwig Graf, die Präsidentin der eidgenössischen Kommission gegen Rassismus. (tp) 53 54 journal österreich österreich Nicht gerade ein Musterschüler Die OECD erteilt Österreichs Entwicklungspolitik ein mäßiges Zeugnis Die Regierung in Wien hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht: Die meisten Empfehlungen aus dem entwicklungspolitischen Prüfbericht der OECD von 2008 hat sie ignoriert. Und schon liegt ein neuer Bericht mit weiteren Aufgaben vor. Da ist Nachsitzen angesagt. „Österreich hat viel getan, sollte aber mehr tun.“ Mit dieser diplomatischen Floskel eröffnete Erik Solheim seine Präsentation des sogenannten Peer Review der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit Mitte Januar in Wien. Solheim, früher norwegischer Entwicklungs- und Umweltminister, ist seit zwei Jahren Vorsitzender des Entwicklungshilfekomitees (DAC) der OECD. In den Peer Reviews bewerten die Geberländer ihre Entwicklungszusammenarbeit gegenseitig. Um die teils heftigen Kritikpunkte des Berichts, für den Deutschland und die Schweiz verantwortlich zeichnen, machte Solheim einen vornehmen Bogen. Man solle doch den Bericht lesen. Darin wird zum Beispiel ein verbindlicher Stufenplan gefordert, wie Österreich das Ziel erreichen will, seine Hilfe auf 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens zu steigern. Derzeit liegt Wien mit 0,28 Prozent am unteren Ende der Liste der Geberstaaten. Zudem solle Österreich mehr Hilfe für die am wenigsten entwickelten Länder geben. Deren Anteil ist in den vergangenen Jahren gesunken, denn Österreich hat viel in neue Schwerpunktländer im Kaukasus und der Schwarzmeerregion investiert. Insgesamt sei das Kernbudget der bilateralen Länderhilfe mit 15 Prozent von den Gesamtleistungen äußerst niedrig. Der Löwenanteil fließt an multilaterale Organisationen wie die Weltbank und die UN-Organisationen. Der DAC-Durchschnitt liegt bei 55 Prozent. Peter Launsky-Tieffenthal, Sprecher des Außenministeriums, dankte indes den lobenden Worten Solheims: „Sie haben bewirkt, dass wir uns gut und stolz ob unserer Leistungen fühlen.“ Und er kündigte an, die Regierung werde Entschuldungen künftig erst dann in die Entwicklungshilfe einrechnen, wenn sie Wien kürzt die Hilfe doch nicht Kurz vor Weihnachten verkündete Außenminister Sebastian Kurz die Frohbotschaft: Die Entwicklungshilfe wird 2015 doch nicht gekürzt. Die Austrian Development Agency kann für 2015 wie im vergangenen Jahr mit 68,23 Millionen Euro operativem Budget und mit 8,80 Millionen Euro für Verwaltungskosten rechnen. Die vorgesehenen Kürzungen von insgesamt 16,60 Millionen Euro – davon 15,35 Millionen Euro für Programme und Projekte und 1,25 Millionen Euro für deren Abwicklung – sind vom Tisch. Werner Kerschbaum, Generalsekretär des Roten Kreuzes, nannte das ein „ermutigendes Signal“ und einen „Schritt in die richtige Richtung“. Auch die entwicklungspolitischen Organisationen zeigten sich erleichtert. Seit 2009 befindet sich Österreichs Entwicklungshilfe im Sinkflug. Weitere Kürzungen stehen im Raum. (rld) Wohin fließt Österreichs Hilfe? 2013 nach Regionen in Prozent nicht zuzuordnen © 23 26,7 Gesamt 1,17 Mrd. US-$ Europa 23,1 4,8 5,2 Quelle: OECD die Schulden tatsächlich abgeschrieben habe. In der Vergangenheit wurden häufig bereits bevorstehende Umschuldungen als Hilfe verbucht. Für derlei Kosmetik war Österreich sowohl von zivilgesellschaftlichen Organisationen als auch vereinzelt von anderen Gebern kritisiert worden. In Österreich sind neun verschiedene Ministerien und Regierungsstellen für Entwicklungszusammenarbeit zuständig. Die Koordinierung obliegt dem Außenministerium, das aber nur fünf Prozent der Mittel verwaltet. Der größte Teil der Hilfe kommt aus dem Finanzministerium, das die multilaterale Hilfe leistet. Wien solle dafür sorgen, dass die unterschiedlichen Stellen einander nicht in die Quere kommen und gemeinsame Entwicklungsziele definieren, heißt es in dem Bericht. Auch mit der entwicklungspolitischen Kohärenz – also mit der entwicklungsfördernden Ausrichtung der gesamten Regierungspolitik – sei es nicht zum Besten bestellt. Der DAC vermisst eine klare Strategie, um Inkohärenz zu beseitigen – obwohl das Entwicklungshilfegesetz dafür die Handhabe liefere. Die Prüfer loben indes die zunehmende Einbindung privater Geldgeber in die Entwicklungspolitik. Allerdings seien – außer in Subsahara-Afrika Süd- und Zentralasien 11,1 6,1 übriges Asien Naher Osten und Nordafrika Lateinamerika und Karibik der Arbeit der Österreichischen Entwicklungsbank – die Ziele und erhofften Ergebnisse nicht klar definiert. Petra Bayr, die entwicklungspolitische Sprecherin der SPÖ, moniert, es sei nicht sichergestellt, dass die Aktivitäten des Privatsektors tatsächlich der Armutsminderung dienen. Nicht zufrieden sind die Prüfer mit dem Stellenwert der Querschnittsthemen Gender und Umwelt in der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit. Der Anteil der bilateralen Hilfe dafür schrumpfe und liege „weit unter dem DAC-Durchschnitt“. Die humanitäre Hilfe aus Wien wird als zu fragmentiert kritisiert. In sehr diplomatischen Worten bescheinigt der Bericht Österreich, seit dem DAC-Review von 2008 „Anstrengungen unternommen“ zu haben. Im Klartext heißt das aber, dass nur jede fünfte Empfehlung von damals umgesetzt wurde. Annelies Vilim, die Geschäftsführerin des NGODachverbands AG Globale Verantwortung, sieht den Bericht „bestenfalls als genügendes Zeugnis“ für die Regierung. Seit der letzten Analyse seien nur sieben Prozent der Empfehlungen vollständig umgesetzt worden. Offenbar mangele es der Bundesregierung an politischem Willen. Ralf Leonhard 2-2015 | kirche und ökumenE journal kirche und ökumenE Regeln für einen evangelischen Exorzismus Kirchengemeinschaft unterstützt Programme zur Befreiung von bösen Mächten gelegt, dass die jeweils höhere Kircheninstanz das Vorgehen vor Ort kontrollieren muss. Wer sich nicht an diese Regeln hält, muss mit Disziplinarmaßnahmen rechnen. In der evangelischen Theologie kommen Hexen und Dämonen eigentlich nicht vor. Doch was tun, wenn das Zusammenleben beeinträchtigt wird, weil Menschen an böse Mächte glauben? Die afrikanischen und asiatischen Mitgliedskirchen der Vereinten Evangelischen Mission (VEM) haben sich auf ein Verfahren geeinigt – das nicht unumstritten ist. Auf Aberglaube hat die evangelische Theologie im Grunde nur eine Antwort: Aufklärung durch Predigt und Bildungsarbeit. Entsprechend groß war das Unverständnis der deutschen VEM-Kirchenvertreter, als ihre afrikanischen und asiatischen Kollegen forderten, dem Thema Hexen und Dämonen theologisch nachzugehen. Doch anders als in Europa ist in afrikanischen und asiatischen Gesellschaften der Glaube an böse Mächte weit verbreitet. Und wenn die Menschen bei evangelischen Pfarrern keine verständliche Antwort auf ihre Probleme bekommen, gehen sie eben zu Fetischpriestern oder in Pfingstkirchen. Als im Mai 2010 auf der indonesischen Insel Sumatra eine der Hexerei verdächtigte Familie gelyncht wurde und sich an dem Mord auch Kirchenälteste aus drei lutherischen VEM-Kirchen beteiligten, wurde auch den Skeptikern endgültig klar, dass das Thema nicht länger ignoriert werden kann. Die VEM organisierte zwei theologische Konsultationen, eine für Afrika und eine für Asien, um einen evangelischen Zugang zu Magie, Hexerei und Dämonenglauben zu finden. Die deutschen Vertreter hätten dabei vor allem zugehört und gelegentlich kritische Fragen gestellt, sagt Claudia Währisch-Oblau, die bei der VEM die Abteilung Evangelisation leitet. „Wir haben bewusst keine Debatten darüber geführt, ob es Dämonen wirklich gibt, son- | 2-2015 Kritiker sagen, es bestehe „theologischer Klärungsbedarf“ Magische Kräfte am Werk: Ein Zauberer aus Kenia sagt mit Hilfe von zwei Muscheln den Ausgang der Präsidentenwahl von 2012 in den USA voraus. Thomas Mukoya/reuters dern uns vor allem auf die realen Konsequenzen des Dämonenglaubens konzentriert und uns gefragt, wie wir als Pfarrer damit umgehen können.“ Die Teilnehmenden der Konsultationen verständigten sich auf zwei Dokumente, die laut Währisch-Oblau Grundzüge einer theologischen Basis und pastorale Richtlinien für eine protestantische Befreiung von Dämonen enthalten. „Wir sind uns einig, dass man nicht an Dämonen glauben muss, um sie auszutreiben.“ Kirchen bieten ihren Pfarrern Trainings für Exorzismus an Die Diskussion in der VEM hat in den afrikanischen und asiatischen Mitgliedskirchen Dämme gebrochen. Einige Kirchen bieten jetzt ihren Pfarrern und Evangelisten Trainings für Dämonenaustreibung an, andere veranstalten Workshops und Seminare für Ortsgemeinden. Die Baptistische Gemeinschaft in Zentralafrika hat ein Video über Besessenheit und Befreiungsdienst produziert. Die Evangelisationsabteilung der VEM fördert diese Programme. Die Evangelische Kirche von Kamerun (EEC), ebenfalls Mit- glied der VEM, ist noch einen Schritt weitergegangen: Sie hat Dämonenaustreibung offiziell legitimiert. „Bisher wussten unsere Pfarrer nicht, was sie tun sollten, wenn Menschen wegen paranormaler Phänomene zu ihnen kamen“, sagt Nghane Ngouaba von der EEC. „Sie mussten sie entweder wegschicken oder aber Sanktionen der eigenen Kirche fürchten, wenn sie einen Exorzismus durchführten.“ Das Dokument, das Dämonenaustreibung als ein pastorales Amt bezeichnet, habe nun endlich Klarheit geschaffen. Nach den neuen EEC-Regularien dürfen entsprechend fortgebildete Pfarrer nach vorgegebenen Regeln Menschen von bösen Mächten befreien. Unterstützung bekommt der Pfarrer von Gebetsgruppen und Laien; die Befreiungsliturgie ist ganz auf die Bibel und das Gebet ausgerichtet, ein Dialog mit Dämonen und Geistern ist ausdrücklich verboten. Sollte keine Heilung eintreten, ist der Pfarrer angehalten, andere Wege zu finden, wie den Menschen geholfen werden kann, zum Beispiel zusammen mit Ärzten, Psychiatern oder Psychologen. Die EEC hat außerdem fest- Währisch-Oblau bezeichnet das Papier aus Kamerun als „weltweit einmalig“. Es biete einen eindeutig evangelischen Blick auf das schwierige Thema; Heilung und Dämonenaustreibung würden als Teil eines ganzheitlichen Seelsorgekonzepts gesehen. Außerhalb der VEM stößt das Vorgehen des Kirchenverbunds allerdings auf Kritik. Für die Evangelische Zentrale für Weltanschauungsfragen (EZW) ist die Forderung der beiden VEM-Konsultationen, protestantische Angebote der Dämonenbefreiung zu installieren, „aus europäischer Sicht unvorstellbar“. Es bestehe „theologischer Klärungsbedarf“, heißt es von Seiten der EZW. Dem hält Währisch-Oblau entgegen, es gehe nicht darum, „ob wir an Dämonen glauben oder nicht. Es geht darum, wie wir Menschen helfen können“. Auch in Westeuropa gebe es Psychiatrie-Patienten, die glauben, von Dämonen besessen zu sein. Sie bekomme immer wieder Anfragen von Pfarrern aus evangelischen Landeskirchen, die von Gemeindegliedern mit dem Thema konfrontiert würden. „Westliche Seelsorgepraxis kann hier möglicherweise etwas von den Kirchen in Afrika lernen. Schließlich glauben auch im säkularen Westen mehr Menschen an Geister und Dämonen, als evangelische Pfarrer meinen“, sagt Währisch-Oblau. Katja Dorothea Buck Das EEC-Dokument kann auf der Homepage der VEM eingesehen werden unter: www.vemission.org/en/ about-uem/downloads.html 55 56 journal kirche und ökumene kirche und ökumenE Neustart im arabischen Winter Der Nahöstliche Kirchenrat hat das Vertrauen seiner Geldgeber zurückgewonnen Vor sechs Jahren war der Middle East Council of Churches (MECC) totgesagt. Wegen anhaltender Misswirtschaft hatten sich alle westlichen Geldgeber zurückgezogen. Mit schlankeren Strukturen und einem neuen Profil gilt der Kirchenrat bei westlichen Hilfswerken nun wieder als förderungswürdig. Den Gnadenstoß verpasste dem MECC der Evangelische Entwicklungsdienst (EED) Ende 2009. Jahrelang hatte der Kirchenrat Gelder veruntreut, konnte keine transparenten Abrechnungen liefern und zahlte keine Sozialversicherungsbeiträge für seine Teilzeitangestellten. Als sich der EED als größter Geldgeber endgültig zurückzog, war der Rat mit Sitz in Beirut pleite und musste seine 25 Angestellten entlassen. Zurück blieb ein Schuldenberg von rund zwei Millionen US-Dollar. Zurück blieben aber auch ein paar überzeugte Kämpfer für die nahöstliche Ökumene. Zusammen mit einigen Partnern aus dem Westen setzten sie sich in den vergangenen Jahren immer wieder zusammen, um neue, schlankere Strukturen zu erarbeiten, ei- nen realistischen Tilgungsplan aufzustellen und klare Managementregeln mit entsprechenden Kontrollmechanismen festzulegen. Das ist ihnen offenbar gelungen. Seit Ende vergangenen Jahres laufen bei Michel Jalakh, dem neuen Generalsekretär des MECC, wieder Finanzierungszusagen aus aller Welt ein, darunter auch von Brot für die Welt/Evangelischer Entwicklungsdienst. Das Hilfswerk hat dem Kirchenrat unlängst 90.000 Euro für den Doppelhaushalt 2014/2015 bewilligt. Die Förderung sei mit Auflagen versehen, es herrsche aber Zuversicht, dass ein Neuanfang gelingen könne, sagt Ilonka Boltze, die bei Brot für die Welt das Referat Naher Osten, Süd-Kaukasus, Zentralasien leitet. Ein lokaler Berater, der auch mit anderen Partnerorganisationen in der Region an Fragen wie Management und Transparenz arbeitet, werde den MECC dabei unterstützen. Nirgendwo ist Ökumene schwieriger als im Nahen Osten Die nächsten zwei Jahre werden für den MECC entscheidend sein. Das sehr viel kleinere Team muss nun zeigen, dass es verantwortlich mit dem Geld umgeht. Außerdem muss es den Kirchenrat zu einer funktionierenden ökumenischen Plattform machen, die alle nahöstlichen Kirchenleitungen an einen Tisch bringt und nach gemeinsamen Nennern sucht. In keiner anderen Weltregion ist das schwieriger als im Nahen Osten. Hier sind alle großen Kirchentraditionen mit zum Teil starken theologischen Differenzen vertreten. Trotzdem hält auch Owe Boersma, Nahostreferent beim Evangelischen Missionswerk Deutschland (EMW), den neuaufgestellten MECC für zukunftsfähig. Boersma hat als einer der wenigen westlichen Vertreter den Kirchenrat bei seinem Umbau begleitet. „Als Missionswerk steht für uns die Beziehung zu den Kirchen im Nahen Osten an erster Stelle. Und die wollten wir aufrechterhalten trotz der Finanzmisere“, sagt er. Besonders seit Beginn des arabischen Frühlings sei immer deutlicher geworden, wie sehr die Kirchen im Nahen Osten ein gemeinsames Gremium brauchen, das mit einer Stimme spre- KirchE und Ökumene – kurz notiert Die kongolesischen Steuerbehörden haben zum 31. Dezember 2014 alle Konten des PanziHospitals in Bukavo im Osten Kongos beschlagnahmt. Weltweit bekannt wurde das Hospital durch seinen Gründer und Direktor Denis Mukwege. Der Gynäkologe kümmert sich seit mehr als 15 Jahren um Frauen und Mädchen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind. Damit hat er in den vergangenen Jahren das internationale Bewusstsein für das Thema Vergewaltigung als Kriegswaffe geschärft. Der Krankenhausverwaltung wird vorgeworfen, Steuern von umgerechnet 40.000 Euro nicht gezahlt zu haben. Mit der Sperrung der Konten ist die Einrichtung zahlungsunfähig und kann nur noch einen Notdienst anbieten. Das Krankenhaus bezeichnete das Vorgehen der Steuerbehörde als diskriminierend. „Kein einziges öffentliches Krankenhaus zahlt bis zum heutigen Tag Steuern in der DR Kongo“, sagte der Anwalt des Krankenhauses. Auch der belgische Entwicklungsminister, Alexander de Croo, setzte sich bei der Regierung in Kinshasa dafür ein, dem Krankenhaus die Steuerschuld zu erlassen. Für sein Engagement ist Denis Mukwege mehrfach ausgezeichnet worden. 2013 erhielt er den Alternativen Nobelpreis und im vergangenen Jahr den Sacharow-Preis des EU-Parlaments. In seiner Heimat zieht er mit seiner Kritik an der Regierung, die zu wenig gegen Gewalt und die extreme Armut tue, immer wieder den Unmut der Machthabenden auf sich. Vor drei Jahren war der Arzt nur knapp einem Anschlag entgangen. (kb) Gottesdienst zum Epiphaniasfest am 6. Januar in der Markuskirche von Alexandria. Anadolu Agency/Getty Images chen kann. Es sei erfreulich, dass sich die 27 Mitgliedskirchen jetzt wesentlich stärker mit dem MECC identifizierten, als dies bis 2009 noch der Fall war. Zur Tilgung des Schuldenbergs hätten die nahöstlichen Kirchen bereits 800.000 US-Dollar beigesteuert und wollten sich auch künftig stärker an der Finanzierung des MECC beteiligen. Dadurch habe der Kirchenrat international wieder an Glaubwürdigkeit gewonnen. Anfang November 2014 brachte schließlich ein offizieller Bittbrief des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) in Genf das Eis zwischen dem MECC und den westlichen Geldgebern vollends zum Schmelzen. Der MECC habe eine erstaunliche und vielversprechende Umstrukturierung durchlaufen und volle Transparenz zugesagt, schreibt der ÖRK-Generalsekretär Olav Fykse Tveit darin. „Die Kirchen im Nahen Osten erleben gerade schwere Zeiten. Noch nie war der MECC als ein ökumenisches und einigendes Forum so wichtig wie jetzt.“ Katja Dorothea Buck 2-2015 | global lokal journal global lokal Neue Leitlinien für das Entwicklungsjahr 2015 Bundesländer stecken ihre Entwicklungspolitik neu ab Leitlinien stecken den politischen Rahmen für die Entwicklungszusammenarbeit eines Bundeslandes ab. Inhaltlich orientieren sich die bereits bestehenden Leitlinien zum Beispiel aus NordrheinWestfalen oder Baden-Württemberg an den Millenniumszielen und dem Leitbild von nachhaltiger Entwicklung. Daneben benennen sie einzelne Handlungsfelder wie Bildung, Wirtschaft und regionale Schwerpunkte für die internationale Zusammenarbeit. Rheinland-Pfalz hat bereits im Jahr 2010 Leitlinien herausgegeben; nach dem Auslaufen der Millenniumsziele in diesem Jahr will sich das Bundesland in seiner Entwicklungszusammenarbeit neu aufstellen und die Leitlinien so überarbeiten, dass die Verantwortung des Nordens stärker in den Blick kommt. Das Innenministerium hat die entwicklungspolitischen Organisationen sowie Vertreter von Wirtschaft und Kirchen im Bundesland zu einer Fachtagung am 27. Februar eingeladen, auf der Arbeitsgruppen thematische Bausteine erarbeiten sollen. Diese will die Fachstelle im Innenministerium zu einem Entwurf zusammenführen, der nach erneuter Diskussion im Herbst 2015 verabschiedet werden soll. In Schleswig-Holstein hat das Bündnis Entwicklungspolitischer Initiativen (BEI) Leitlinien angeregt und dabei den Kirchlichen Entwicklungsdienst der Nordkirche und den Städteverband Schleswig-Holstein mit ins Boot geholt. Sie werden gemeinsam einen Entwurf formulieren, der Mitte des Jahres entweder der Landesregierung übergeben oder | 2-2015 über eine der Fraktionen im Kieler Landtag eingebracht werden soll. Im Saarland haben die entwicklungspolitischen Organisationen aus dem Netzwerk Entwicklungspolitik im Bundesland einen Entwurf für Leitlinien erarbeitet. Seit Januar 2015 geht dieser Entwurf durch die Ministerien der Landesregierung und soll bis zum Jahresende verabschiedet sein. In Niedersachsen geht es auch um die Agrarpolitik Weniger offen verläuft der Prozess in Niedersachsen. Hier hat der Verband Entwicklungspolitik Leitlinien angeregt, der Entwurf wird aber in der Staatskanzlei formuliert und soll dann öffentlich diskutiert werden. Spannend wird sein, inwieweit der Bereich Agrarpolitik berücksichtigt wird. Niedersachsen ist das Zentrum der deutschen Fleischindustrie. Auch Hessen und die Hansestadt Bremen planen Leitlinien unter Mitarbeit interessierter Bürger. Welchen Sinn haben diese zum Teil aufwendigen Verfahren? Ulrike Dausend vom Netzwerk Entwicklungspolitik im Saarland hält es für wichtig, dass die entwicklungspolitischen Organisationen mit der Landesregierung in Dialog treten. Man habe dann ein Papier, auf das sich alle Akteure beziehen könnten, wenn Entscheidungen anstehen. Sobald es ein offizielles Dokument zur Entwicklungszusammenarbeit gibt, werde nachgefragt, welche Ergebnisse tatsächlich erzielt wurden, sagt Dausend. Brandenburg hat zum Beispiel mit seinen Leitlinien im Jahr 2012 einen jährlichen Runden Tisch für den Austausch über die Entwicklungszusammenarbeit in dem Bundesland etabliert. Auf Online-Befragungen will keines der Bundesländer zurückgreifen. Die Kosten seien relativ hoch, ein eigenes Budget dafür nicht vorhanden, sagt Inga Steffen von der Staatskanzlei in Niedersachsen. Außerdem sei das Internet nicht ausschlaggebend für die inhaltliche Qualität der Entscheidungsfindung. Nordrhein-Westfalen hatte seine Bürger im Jahr 2011 aufgerufen, online an den Leitlinien mitzuarbeiten. Mit rund 1500 Kommentaren hatten sich Interessierte aus der Zivilgesellschaft an der neuen Eine-Welt-Strategie des Landes beteiligt. Auch an der Formulierung der Zukunftscharta des Bundesentwicklungsministeriums konnten sich die Bürger per Internet einbringen. Hier gab es ebenfalls rund 1500 Anmerkungen und Kommentare; der Online-Dialog für die Zukunftscharta kostete den Steuerzahler 138.000 Euro. Die bisher breiteste Konsultation gab es in Baden-Württemberg. An den über ein Jahr lang dauernden Beratungen mit zahlreichen Fachveranstaltungen beteiligten sich rund 1500 Bürger und etwa 120 Verbände. Sie durften sogar die Endfassung der Leitlinien beschließen, die für die rotgrüne Landesregierung verbindlich ist. Claudia Mende global lokal Zukunft in Holz In Berlin schreinern Flüchtlinge Möbel aus Lampedusa-Schiffen Flüchtlingspolitik anders gestalten – das ist das Ziel von Cucula. Der Berliner Verein hat deshalb mit fünf Flüchtlingen eine Möbelmanufaktur gegründet. Aus Teilen alter Boote entstehen Tische, Betten und Schränke – Möbel mit Geschichte. verena brüning Für dieses Jahr haben sechs Bundesländer neue oder überarbeitete Entwicklungspolitische Leitlinien angekündigt. Alle wollen die Zivilgesellschaft einbinden, gehen dabei aber unterschiedlich weit. Konzentriert beugt sich Ali Maiga Nouhou über die Werkbank und jagt Nägel in ein Stuhlbein. Es riecht nach Kiefernholz, die Luft ist trocken vom Holzstaub, der wie ein Nebelschleier im Raum hängt. Sein Kollege fährt wieder und wieder mit einer laut brummenden Schleifmaschine über ein Brett, ein anderer feilt an etwas, das ein Schrank werden soll. „Bin gleich fertig“, sagt Ali. Die Werkstatt von Cucula, der „Refugees Company for Crafts and Design“, liegt direkt an der Spree in Alt-Treptow, Berlin. Hinter der 57 58 journal global lokal orangenen Eisentür bauen sich Flüchtlinge ihre berufliche Zukunft. Viele Geschichten fließen hier zusammen. Eine ist die eines erfolgreichen Start-Ups. Eine andere ist die von Ali. Sie beginnt mit einer Busfahrt. Ali ist zwölf, als er in den Bus steigt. In Mali, seiner kriegsgeschädigten Heimat, hat er keine Zukunftsperspektive. Über Algerien gelangt er nach Libyen, seine Mutter hat ihm dazu geraten, dort sei es sicherer. Im Februar 2011 bricht der Bürgerkrieg aus. Ein paar Wochen später sitzt Ali in einem Flüchtlingsboot. Es ist überfüllt, drei Mal kehrt es nach ein paar Stunden wieder um, weil der Motor kaputt ist. Nicht alle überleben diese Strapazen. „Ich habe viele Leute sterben sehen“, sagt der 22-Jährige mit einer Handbewegung, die aussieht, als würde er die Erinnerung schnell wieder wegwischen wollen. Mehr als 1500 Flüchtlinge ertranken 2011 bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) bezeichnete es als das „tödlichste Jahr“, seit es solche Statistiken erhebt. Im selben Jahr strandeten allein auf der italienischen Insel Lampedusa fast 48.000 Flüchtlinge – darunter Ali. Er bleibt nur 24 Stunden, dann wird er aufs italienische Festland geschickt. Irgendwann drückt ihm ein italienischer Polizist 500 Euro „Ausreisegeld“ und eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung in die Hand. Damit kann er bis zu drei Monate lang frei durch Europa reisen. Wieder fährt Ali Bus, dieses Mal – über viele Umwege – nach Berlin. Die Geschichte von Cucula beginnt auf dem Oranienplatz Es ist Vorweihnachtszeit. Durch die großen Fenster der Werkstatt fällt das kalte Licht der Dezembersonne. An der Wand hängt ein Adventskalender aus recycelten Butterbrotbeuteln, auf dem Holztisch steht eine Thermoskanne mit Tee. Ali zeigt auf einen Schrank direkt am Eingang der Werkstatt. „Das war mein erstes Möbelstück“, sagt er. „Den habe ich letztes Jahr im November gebaut.“ Von Werkstattleiter Sebastian Däschle haben Ali Maiga Nouhou und seine Mitstreiter gelernt, Möbel zu bauen. Verena Brüning ten noch eine Ausbildung machen dürfen, kriegen sie Praktikumsverträge. Einer von ihnen kommt auf die Idee, Überreste der Wracks von Lampedusa zu verarbeiten: als Stuhlbein oder Lehne. Die erste Reisetasche mit Bootsplanken holen Cucula-Mitarbeiter selbst vom Schiffsfriedhof am Hafen auf Lampedusa ab. Freunde schicken ihnen weitere Überreste von der Insel. Erste Fördermittel für das Vorhaben kommen von der 82-jährigen Sozialarbeiterin Annelise Bödecker, die „noch ganz andere Herausforderungen mit großen Flüchtlingszahlen nach dem Krieg erlebt“ hat. Das angeschlossene Schulprogramm Cucula Education wird vom Fonds Soziokultur und der Stiftung Pfefferberg finanziert. Per Crowdfunding hat das Cucula-Team Geld für fünf bezahlte Ausbildungsplätze gesammelt. Damit würden die Chancen der Flüchtlinge wachsen, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen: Noch sind sie alle von Abschiebung bedroht. 150.000 Euro sollten bis zum 1. Januar zusammenkommen. Jetzt kann Ali in Berlin bleiben – doch die Familie fehlt ihm Noch im Oktober 2013 lebt Ali im Flüchtlingscamp auf dem Oranienplatz in Berlin. Dort beginnt für ihn bereits der zweite Winter – und gleichzeitig beginnt dort die Geschichte von Cucula. Das JugendKunstund Kulturhaus „Schlesische27“ hat für fünf der Oranienplatz-Flüchtlinge ein Kälteobdach eingerichtet. Barbara Meyer, die Direktorin, holt Ali und vier weitere Flüchtlinge am Oranienplatz ab. Sie kennen sich von einem Schreinerworkshop in der „Schlesischen27“. Die Zimmer, die sie bekommen, sind leer. Also fangen sie mit Hilfe von Werkstattleiter und Designer Sebastian Däschle an, selbst zu bauen, was sie brauchen. Das Schreinern klappt gut. Die Probleme bleiben: Keiner von ihnen hat eine Arbeitserlaubnis. Ali landet zwischendurch für fast zwei Wochen in Abschiebehaft in Eisenhüttenstadt, weil er einen Freund zum Flughafen BerlinSchönefeld begleitet hat. Der liegt in Brandenburg und er darf Berlin nicht verlassen. Aus dem Dilemma, in dem sie alle stecken, entsteht eine Idee, die so einfach wie gewagt ist. Mit Sebastian Däschle, Barbara Meyer, der Designerin Corinna Sy und der Sozialpädagogin Jessy Medernach gründen sie den Verein Cucula. „Wir wollen zeigen, wie man Flüchtlingspolitik anders und besser gestalten kann“, sagt Corinna Sy. „Durch die direkte Zusammenarbeit entstehen ganz neue Lösungsmodelle.“ Eine Möbelmanufaktur soll aufgebaut werden, in der die fünf Flüchtlinge zunächst hospitieren. Weil Flüchtlinge ohne Aufenthaltsgenehmigung weder arbei- Wenige Tage später wird das Ergebnis über den Cucula-Newsletter und die sozialen Netzwerke verbreitet: Immerhin 123.556 Euro Startkapital sind zusammengekommen, „als Grundlage für den Aufbau der Cucula-Company, für die umfassenden Bildungsprogramme, an denen auch andere Flüchtlinge teilnehmen werden, und für die fünf Ausbildungsstipendien der Cucula-Trainees.“ Für Ali Maiga Nouhou bedeutet das: Er kann in Berlin bleiben. Seine Familie fehlt ihm zwar. Der Onkel, die Mutter, die ältere Schwester – es ist fast unmöglich, sie zu erreichen, er weiß nur wenig darüber, was aus ihnen geworden ist. Aber er kommt seinem Berufsziel näher: „Lehrer für Deutsch“, hatte er im Dezember auf dem Weg zum Sprachkurs gesagt. Vielleicht auch Programmierer, oder – und das ist er jetzt schon fast – Tischler. Hanna Pütz 2-2015 | personalia journal Anzeige Heinz-Werner Kubitza DER DOGMENWAHN Jetzt lieferbar im Tectum Verlag Scheinprobleme der Theologie 19,95 Euro, 396 Seiten, Hardcover www.dogmenwahn.de Probleme und Scheinprobleme der Theologie Bibel, Bekenntnisse und heute kaum noch zu vermittelnde Dogmen hindern eine realistische Weltsicht. Ist Theologie überhaupt noch intellektuell redlich möglich? Kritische Anmerkungen eines Theologen ... personalia KfW-Entwicklungsbank Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) Michael Wehinger leitet seit Januar die Abteilung „Westafrika“ im Länderbereich Afrika. Sein Vorgänger Thomas Wollenzien ist in den Ruhestand gegangen. Neuer Leiter des Teams „Grundsätze und Verfahren der Finanziellen Zusammenarbeit“ ist seit Jahresanfang Jens Ochtrop. Er war zuletzt als Senior-Referent im Team „Förderpolitik und Kommunikation“ tätig. Silvia Paschke wurde zum gleichen Zeitpunkt das Team „Finanzsystementwicklung“ übertragen. Sie war zuvor als Länderbeauftragte im Länderteam Nordafrika und Nahost tätig. Das Team Finanzsystementwicklung wird seit Januar von Markus Aschendorf geleitet. Er war bisher Leiter des Teams „Energie Südasien“. Die vormalige Leiterin des KASBüros in Rom, Katja Plate, ist seit Oktober 2014 in der Stabsstelle Evaluierung der KAS in Berlin tätig. Neue Leiterin des Rom-Büros mit der Verantwortung für die Projekte in Italien und die Kooperation mit dem Vatikan ist Caroline Kanter. Sie war bisher in der KAS-Zentrale für den Bereich Asien zuständig. Seit Januar leitet Christian Hübner das lateinamerikaweite Regionalprogramm Klima/ Umwelt/Energiesicherheit mit Sitz in Lima/ Peru. Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) Seit Herbst 2014 hat Merin Abbas die Stiftungsvertretung in Tunis/ Tunesien von Elisabeth Braune übernommen, die jetzt im Inland für die FES tätig ist. Neuer Repräsentant in Seoul/Korea wurde zum gleichen Zeitpunkt Sven Schwersensky. Sein Vorgänger Christoph Pohlmann ist nach Peking/VR China gewechselt. Das Büro in Amman/Jordanien hat jetzt eine Doppelspitze: Anja Wehler-Schöck teilt sich die Arbeit mit Richard Probst. Schweiz Brot für alle Der Theologe Bernard DuPasquier wird im Herbst neuer Geschäftsleiter des Hilfswerks Brot für alle. Er übernimmt diese Aufgabe von Beat Dietschy, der im Septem- FES-Menschenrechtspreis 2014 Fartuun Adan aus Somalia hat im vergangenen Dezember den Menschenrechtspreis der Friedrich-Ebert-Stiftung 2014 erhalten. Die Direktorin des Elman Peace and Human Rights Centers in der somalischen Hauptstadt Mogadischu wurde für ihr Engagement für Frauenrechte in dem von langjährigen Bürgerkriegen heimgesuchten Land ausgezeichnet. Das Elman Peace and Human Rights Center ist die erste zivilgesellschaftliche Einrichtung in Somalia, die Frauen in Not rechtlich und psychologisch unterstützt, gesundheitlich versorgt und ihnen Zuflucht bietet. Fartuun Adan hat das Zentrum 1991 gemeinsam mit ihrem Ehemann Elman Ali Ahmed gegründet, der fünf Jahre später ermordet wurde. Nach seinem Tod emigrierte sie mit ihren Töchtern nach Kanada. 2007 kehrte sie trotz andauernder Konflikte nach Mogadischu zurück, um die gemeinsam begonnene Arbeit für Frieden und Versöhnung fortzuführen. | 2-2015 ber in den Ruhestand geht. Der 43-jährige DuPasquier ist seit 2012 bei Brot für alle, davor war er acht Jahre beim Hilfswerk HEKS tätig. Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) Thomas Greminger wird neuer stellvertretender Direktor sowie Leiter des Bereichs Regionale Zusammenarbeit der DEZA in Bern. Der Diplomat ist derzeit Chef der Schweizerischen Delegation bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sowie Chef der Ständigen Vertretung der Schweiz bei den Vereinten Nationen in Wien. Greminger folgt auf Maya Tissafi, die als Botschafterin in die Vereinigten Arabischen Emirate geht. Volker Faigle erhält Verdienstorden Der Sudan-Beauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Volker Faigle, hat im Dezember den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland erhalten. Faigle war bis zu seinem Ruhestand 2013 Stellvertreter des EKD-Bevollmächtigten in Berlin. Er ist weiterhin ehrenamtlicher Sudan-Beauftragter der EKD. Faigle erhielt den Orden vom Bundespräsidenten im Rahmen des Tags des Ehrenamts am 5. Dezember. 59 60 service rezensionen rezensionen Die Geheimnisse der Muslimbrüder Die Muslimbrüder sind zu Shootingstars der internationalen Literaturszene avanciert. Seit sie 2012 in Ägypten an die Macht kamen und ein Jahr später wieder entthront wurden, sind sie nicht nur für Journalisten und Politologen ein interessantes Studienobjekt geworden. Auch Verlage sehen in ihnen ein Potenzial für Verkaufsschlager. Annette Ranko Die Muslimbruderschaft – Porträt einer mächtigen Verbindung Edition Körber-Stiftung Hamburg 2014, 163 Seiten, 14 Euro Petra Ramsauer Muslimbrüder – Ihre geheime Strategie, ihr globales Netzwerk Molden Verlag, Wien 2014 208 Seiten, 19,99 Euro Hazem Kandil Inside The Brotherhood Polity Press, Cambridge 2015, 221 Seiten, ca. 25 Euro In den vergangenen Monaten sind zahlreiche Bücher über die Bruderschaft erschienen und alle rühmen sich damit, unbekannte Einblicke in ihr Innenleben zu geben. Annette Ranko, Petra Ramsauer und Hazem Kandil setzen vor allem auf Interviews mit und Porträts von Mitgliedern der Muslimbruderschaft. Dafür haben sie sich viel Zeit genommen – und das ist gut so. Wer gerne Biographisches und Persönliches liest, dem seien alle drei Bücher gleichermaßen empfohlen. Wer aber darüber hinaus einen Erkenntnisgewinn haben will, wird von Ranko, Ramsauer und Kandil unterschiedlich gut bedient. Die Politologin Ranko legt eine solide politikwissenschaftliche Studie vor zum Aufstieg und Fall der Muslimbrüder. Flüssig geschrieben und gut strukturiert spannt sie den Bogen von den Anfängen der Bewegung Ende der 1920er Jahre bis in die Gegenwart, wobei sie ihren Schwerpunkt auf die Zeit von 2011 bis nach dem Fall des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Mohammed Mursi legt. Unaufgeregt analysiert sie die Stationen in der jüngsten Geschichte der Muslimbruderschaft, in denen die Organisation mal Spielball der Mächtigen, mal selbst politischer Drahtzieher war. Lesenswert ist vor allem ihr Schlusskapitel, in dem sie der Frage nach dem wahren Gesicht der Muslimbrüder nachgeht. Kann man ihrer 1981 bereits offiziell verkündeten Absage an die Gewalt glauben? Ranko erliegt nicht der Versuchung einer schnellen und endgültigen Antwort. Sie lässt die Frage bewusst offen und bewertet auch nicht, wie im politischen Feuilleton üblich, das drakonische Vorgehen der neuen Regierung unter Abdel-Fattah AlSisi gegen die Muslimbrüder. Vielmehr plädiert sie dafür, es „allein dem Land am Nil zu überlassen, auf welchem Wege und mit welchen Umwegen“ es Rechtstaatlichkeit und Demokratie erreichen will. Auch Petra Ramsauer will mit ihrem Buch über die Muslimbrüder nur Fakten präsentieren. Wer ihr Buch lese, um Vorurteile bestätigt zu finden, werde enttäuscht werden, schreibt sie gleich zu Beginn. Enttäuscht wird aber auch, wer sich wenigstens eine Einordnung der jüngsten Entwicklungen rund um die Muslimbrüder erhofft hat. Über die Erkenntnis eines eingangs zitierten Verfassungsschützers, dass der Wunsch, die Bruderschaft einzuordnen dem Unterfangen gleich komme, einen Pudding an die Wand zu nageln, kommt das Buch nicht hinaus. Am Ende lässt die Autorin den Finanzchef der Organisation sprechen, der ihr in den Block diktierte: „Nichts, was jemals über die Muslimbruderschaft geschrieben worden ist, stimmt. Das Netzwerk ist nicht zu verstehen.“ Das führt zwangsläufig zu der Frage, warum man überhaupt die knapp 200 Seiten gelesen hat. Haften bleibt das Kapitel, in dem Ramsauer auf die Rolle der Frauen bei den Muslimbrüdern eingeht. Darüber gibt es bisher nicht viel. Und als Verdienst ist ihr ebenfalls anzurechnen, dass sie einen besonderen Fokus auf Libyen wirft, wo der Machtkampf noch offen ist. Auch für die Muslimbrüder ist das ressourcenreiche Nachbarland interessant. Als Highlight auf dem politischen Büchermarkt darf dagegen Hazem Kandils „Inside the Brotherhood“ gesehen werden. Der ägyptischstämmige Soziologe verlässt in seinem Buch die ausgetretenen Pfade der Politikwissenschaft und hält sich nicht mit der Analyse von offiziellen Grundsätzen, Organisationsstruktur und politischen Aktionsmustern auf. Er geht der Frage nach, inwiefern die eigene Ideologie für den Aufstieg und Fall der Muslimbrüder verantwortlich ist. Er möchte wissen, wer sie wirklich sind und wie sie ihre Beziehung zum Göttlichen sehen. Diese Fragestellung ist neu und sticht bei allem, was bisher über die Muslimbrüder geschrieben wurde, wohltuend heraus. Seit ihrer Gründung im Jahr 1928 wirbt die Muslimbruderschaft mit dem Slogan „Der Islam ist die Lösung“. Religiöser Determinismus bestimmt ihre Ideologie: Weltlicher Erfolg hängt von der religiösen Hingabe des einzelnen ab. Gutes kann demnach nur guten Menschen passieren, was sich in der Lesart der Muslimbrüder auf den Glaubenssatz reduziert, dass nur von guten Muslimen Gutes ausgehen kann. Auf dieser ideologischen Grundlage konnten die Muslimbrüder über Jahrzehnte hinweg in der Bevölkerung ihren Ruf als politische und soziale Alternative aufbauen. Es sei bemerkenswert, schreibt Kandil, wie sie dann in weniger als einem Jahr diesen Ruf wieder verspielt haben. In Ägypten habe der Islamismus seine historischen Wurzeln und zugleich habe ihm hier zum ersten Mal in der Geschichte eine breite Masse die rote Karte gezeigt. Einmal an der Macht wurde den Muslimbrüdern die eigene Ideologie zum Verhängnis. Sie waren unfähig, mit Andersdenkenden Koalitionen und Kompromisse zu schließen. Kandil zeigt damit einen neuen Weg im Umgang mit den Muslimbrüdern auf. Es geht nicht darum, Menschen oder Organisationen zu verurteilen oder sich mit ihnen zu solidarisieren, sondern vielmehr darum, ideologische Engführungen offenzulegen und zu überwinden. Entsprechend hat er sein Buch all den Muslimbrüdern gewidmet, „die die Kraft hatten, Mauern hochzuklettern, um auf die andere Seite zu schauen“. Katja Dorothea Buck 2-2015 | rezensionen service Holprige Wege zum Klimaschutz Die Dezember-Ausgabe der „Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt“ widmet sich den Themen Klima und Energie. Im Mittelpunkt der Debatte stehen „grüne Wachstumsstrategien“. Deren Ziel ist es, die ökologische und wirtschaftliche Nachhaltigkeit miteinander zu versöhnen, ohne die Gesellschaftsordnung grundlegend zu verändern. Peripherie Nr. 136 Klima und Energie Westfälisches Dampfboot Münster 2014, 155 Seiten, 15 Euro Die Beiträge machen deutlich, wie schwierig es ist, die Minderung der Emission von Treibhausgasen politisch voranzutreiben. Viele Anpassungsstrategien gelten dem Anstieg des Meeresspiegels, der durch die Erderwärmung verursacht wird. Michael Spies zeigt am Beispiel der indonesischen Hauptstadt Jakarta, dass vor allem auf technische Maßnahmen wie Dämme oder Deiche gesetzt wird. Entgegen diesen eindimensionalen und entpolitisierten Konzepten plädiert er für eine gemeindebasierte Anpassung, die sich an den Prioritäten der Bevölkerung orientiert. Rosa Lehmann beschäftigt sich mit Konflikten infolge der Errichtung von Windparks in der mexikanischen Provinz Oaxaca. Sie hängen unter anderem mit der wachsenden Beteiligung privater, vor allem auch internationaler Firmen an der Nutzung von Fördermitteln für den Klimaschutz sowie dem Aufbau der Netze zusammen. Lehmann kritisiert, dass Anwohner und lokale Firmen zu wenig an den Entscheidungen über die Projekte beteiligt und die sozioökonomischen Folgen vernachlässigt würden. Alexander Brand und Wolfgang Muno befassen sich mit der Klimapolitik in Gesellschaften, die, wie Venezuela, vom Rohstoffexport abhängen. Die Einkünfte aus dem Ölsektor dienten unter Hugo Chávez dazu, die soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Doch während in Ecuador und Bolivien auch darüber diskutiert wird, auf die Förderung von Rohstoffen zu verzichten, bleibt die venezolanische Regierung der Idee des „Sembrar el Petróleo“ (Das Öl aussäen) verhaftet. Das Ausbleiben einer Klimawende wird hingenommen. In einen weiteren Beitrag reflektiert Ingolf Diener die zwiespältigen Erfahrungen mit Strategien der Umweltschonung durch den Verzicht auf die Ausbeutung von Ressourcen in Nationalparks in Ecuador (Yasuní) und der Demokratischen Republik Kongo (Virunga). Jonas Hein beleuchtet kritisch die Strategien zur Reduktion von Emissionen aus Entwaldung und der Schädigung von Wäldern, die seit 2005 im Kontext der Klimarahmenkonvention entwickelt wurden (REDD). Abgesehen von Bedenken hinsichtlich der klimapolitischen Effektivität thematisiert er vor allem die Einschränkung des gewohnheitsrechtlichen Landzugangs indigener Gruppen sowie Fragen der lokalen Nahrungsmittelproduktion. Man mag den Aussagen einzelner Beiträge zustimmen oder nicht – insgesamt ist das Heft eine Bereicherung und eine anregende Lektüre. Es hilft, eigene Argumente und Standpunkte zu hinterfragen. Dieter Hampel Gewalt und Schönheit in Lateinamerika Der österreichische Journalist Erhard Stackel hat eine Auswahl sehr lesenswerter Reportagen lateinamerikanischer Kollegen herausgegeben. Sie zeichnen ein realistisches, buntes und einprägsames Bild des Subkontinents. Erhard Stackl (Hg.) Atención. Die besten Reportagen aus Lateinamerika Czernin Verlag, Wien 2014 208 Seiten, Euro 19,90 | 2-2015 Wie unterscheidet man einen seriösen Menschenschmuggler von einem gewissenlosen Seelenverkäufer, der seine Klienten in der Wüste aussetzt oder an die mexikanische Drogenmafia verkauft? Ein guter „Coyote“ ist teuer, denn er hat auch das Schutzgeld an die Drogenbanden eingerechnet. Der Gewährsmann des jungen Journalisten Óscar Martínez aus El Salvador ist so einer. Er plaudert aus der Schule und erzählt, was einem auf der gefährlichen Reise von Zentralamerika in die USA alles widerfahren kann. Krude Details werden nicht ausgespart. „Die traurige Geschichte des Mannes ohne Papiere, der verraten, erpresst und deportiert wurde“ ist eine von zehn Reportagen lateinamerikanischer Autorinnen und Autoren, die der österreichische Journalist Erhard Stackl gesammelt, ausgewählt und für diesen Band übersetzt hat. Er will zeigen, dass nach den Nobelpreisträgern Gabriel García Márquez und Mario Vargas Llosa, nach den Erfolgsautorinnen Isabel Allende und Gioconda Belli neue Generationen herangewachsen sind, die sich auf das Schreibhandwerk verstehen. Sie stehen eher in der Tradition des US-amerikanischen „New Journalism“ als in der des in Lateinamerika begründeten magischen Realismus. Alberto Salcedo beschreibt, wie der Kuna-Junge Wikdi jeden Tag auf einem acht Kilometer langen Urwaldpfad Kopf und Kragen riskiert, um von seinem Indio-Dorf zur Schule zu gelangen. Vor fünf Uhr muss er bei Dunkelheit los, um rechtzeitig zum Unterricht da zu sein. Zweieinhalb Stunden hin und ebenso lang zurück. Für den begleitenden Journalisten ist das ein Abenteuer, für den kleinen Kuna der Alltag. Die Autoren lassen ihre Protagonisten ausführlich zu Wort kommen oder schildern sie detailgetreu. Es sind keine Helden, sondern Menschen, die niemand kennt. Doch in ihrem Schicksal spiegelt sich die lateinamerikanische Wirklichkeit. Gewalt spielt eine zentrale Rolle. Wie bei der Mexikanerin Yaretzi, 61 62 service rezensionen die im Frauengefängnis sitzt und schon als Mädchen das Töten gelernt hat. Von der Polizeischule kam sie zu den Auftragskillern: „So war die Geschichte, Alter. Seit damals war Töten mein Geschäft.“ Der Tod kann auch langsam und leise daherkommen, wie in der Reportage „Tod im Zuckerrohr“ aus Nicaragua. Da sterben in einer Gemeinde auffällig viele Männer in der Umgebung von Chichigalpa an chronischem Nierenversagen. Die meisten arbeiten auf den Zuckerrohrplantagen des größten Rumfabrikanten. Die Arbeit ist hart, das Klima unerträglich heiß, beißender Rauch nach dem Abfackeln der Felder und Pestizide greifen die Gesundheit zusätzlich an. Der frühe Tod wird als Berufsrisiko in Kauf genommen, denn Alternativen gibt es kaum. Der preis- gekrönte Journalist Carlos Salinas Maldonado verzichtet darauf, das von manchen Medien schnell gefällte Urteil über einen menschenverachtenden Arbeitgeber nachzubeten. Vielmehr versucht er, den vielen Ursachen der mysteriösen Krankheit nachzugehen, und lässt den Leser seine eigenen Schlüsse ziehen. Das engagierte, aber nicht einseitige Schreiben macht die Qualität der Reportagen aus. Die Lektüre lässt einen nicht unbeteiligt. Sie hinterlässt eine dumpfe Ohnmacht gegenüber den alltäglichen Grausamkeiten – aber auch das Gefühl, den Subkontinent mit all seiner Gewalt, seinen Schönheiten und wertvollen Menschen ein kleines bisschen besser verstanden zu haben. Ralf Leonhard Labor zur Krisenbewältigung In der Weltfinanzkrise 2008 und 2009 erschien vielen die G20 als Retter in der Not. Sie vereinbarte Maßnahmen zur Konjunkturbelebung und stellte die Weichen zur Eindämmung der Finanzspekulation und zur Regulierung der Finanzmärkte. Karoline Postel-Vinay von der französischen Eliteuniversität Science Po erklärt, wie es zu der Aufwertung der G20 kam und wie das zu bewerten ist. Karoline Postel-Vinay The G20: A new geopolitical order. Palgrave Macmillan, Basingstoke und New York 2014, 112 Seiten, ca. 50 Euro. Zur Gruppe der Zwanzig zählen die sieben führenden Industrieländer (G7), die Europäische Union, die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) sowie Australien, Südkorea, Indonesien, die Türkei, Saudi-Arabien, Mexiko und Argentinien. Laut Postel-Vinay handelt es sich nicht um ein neues Direktorat zur Gestaltung der Weltordnung. Die Gruppe lässt sich eher als ein „Versuchslabor“ begreifen, in dem in immer neuer Zusammensetzung versucht wird, Lösungen für die Funktions- und Ordnungsprobleme der Weltwirtschaft zu finden. Die Autorin wendet sich damit gegen den Vorwurf, hinter der G20 stecke ein Plan von privilegierten Staaten zur Beherrschung der Welt – ein Vorwurf, der den Gipfeltreffen bislang regelmäßig globalisierungskritische Proteste beschert. Postel-Vinay belegt ihre These zunächst mit Blick auf die historische Entwicklung der G20. Die Entstehung solcher „Gs“ ist nichts grundsätzlich Neues. Sie bilden sich seit mehr als 50 Jahren parallel zur Entwicklung des Multilateralismus, des Systems vertragsbasierter internationaler Organisationen. Postel-Vinay hält sie für anachronistisch, sofern sie als exklusive machtpolitische Allianzen auftreten, wie die G77 in den 1960er Jahren als Kampfinstrument des Südens gegen den Norden oder die sicherheitspolitisch motivierte Erweiterung der G7 um Russland zur G8 von 1998 bis zur Krimkrise 2014. Als Ausdruck von „Netzwerkdiplomatie“ zur schnellen Krisenbewältigung oder als Anstoß für grundlegende Reformen seien die „Gs“ jedoch wichtig, so Postel-Vinay. Die Entstehung der G20 verortet sie in den Kontext der Asienkrise 1997 und 1998. Damals erschütterte eine gigantische Devisenspekulation boomende Staaten Südost- und Ostasiens, und harsche Konditionen für die Rettungskredite des IWF verschärften die Krise. Um eine drohende Konfrontation zwischen „Asien“ und dem „Westen“ zu verhindern und eine gemeinsame Lösung für die global verflochtenen Ökonomien zu finden, versammelten sich die Finanzminister und Zentralbankchefs der wichtigsten Ökonomien von einer G22 bis hin zu einer G33, um schließlich die G20 als geeignetes Forum zu finden. Ein exklusiver Club ist daraus nicht geworden. Mit China und Indien ist bereits ein großer Teil der Weltbevölkerung repräsentiert, Weltbank und Internationaler Währungsfonds arbeiten mit, weitere UN-Organisationen sind mit der Gruppe vernetzt und weitere Länder werden als Gäste zu den Gipfeln eingeladen. Doch nicht ihre Repräsentativität legitimiert die G20, sondern ihr Beitrag zur Lösung von Problemen. Postel-Vinay stellt sie als erste Staatengruppe jenseits des Nord-Süd-Konflikts dar. Sie weist auf die Fragmentierung des Südens hin, auf die unterschiedlichen Entwicklungspfade, die dort beschritten werden, und auf das Herauswachsen der Schwellenländer aus der Gruppe der Entwicklungsländer. Dies erinnert an die These vom Ende der Dritten Welt, die Ulrich Menzel bereits Anfang der 1990er Jahre in der deutschen entwicklungspolitischen Debatte vertreten hat. Zwar existieren innerhalb der G20 vielfältige Spaltungen in politischen Fragen, etwa im Verhältnis zur Demokratie oder zu militärischen Interventionen. Für Postel-Vinay belegt die G20 aber, dass es in der Wirtschaft nicht mehr um Sieg und Niederlage geht. Ob das Wirken der Gruppe nur der Reparatur einer neoliberalen Weltwirtschaftsordnung dient oder die Weichen zur nachhaltigen Reform stellt, wird die Zukunft zeigen. Das Buch liefert dazu auf jeden Fall eine lohnende Lektüre. Hartwig Hummel 2-2015 | rezensionen service Reise in eine blutige Vergangenheit Der kolumbianische Schriftsteller Juan Gabriel Vásquez erzählt von den seelischen Verletzungen, die aus den Jahren des Konflikts mit den Drogenkartellen von Medellín und Cali herrühren. Juan Gabriel Vásquez Das Geräusch der Dinge beim Fallen Schöffling & Co., Frankfurt/Main 2014, 294 Seiten, 22,95 Euro Kleine Ursache, große Wirkung: Da wird eines Tages gemeldet, dass die aus dem früheren Privatzoo des Drogenbosses Pablo Escobar entflohenen Nilpferde erschossen worden seien. Zwar ist Escobar schon seit über eineinhalb Jahrzehnten tot, die Erinnerung an jene Zeit wirkt beim Ich-Erzähler Antonio Yammara jedoch stark nach. Der kurze Zeitungstext aus dem Sommer 2009 schickt ihn auf eine gedankliche Reise in die heiße Phase des Drogenkriegs, der Bandenkriminalität und der alltäglichen Gewalt in Bogotá. Ein weiteres Mal beschäftigt er sich mit dem Tod seines Bekannten Ricardo Laverde. Der wurde auf offener Straße erschossen, während Antonio schwerverletzt mit dem Leben davonkam. Bereits Ende der 1990er Jahre hatte sich Antonio nach Monaten existenzieller Verunsicherung gemeinsam mit Laverdes Tochter Maya Fritts an die Aufgabe gemacht, das Leben des Ermordeten zu rekonstruieren. Davon ausgehend entfaltet sich eine Familiengeschichte, die bis ins Kolumbien der 1930er Jahre zurückreicht. Der aus mehreren zeitlichen Ebenen bestehende Handlungsaufbau erscheint komplex und ambitioniert, ist jedoch glänzend ausgearbeitet und wirkt beim Lesen völlig ungezwungen. Vásquez erzählt von der Beschäftigung der heute 40- bis 50-Jährigen – einer Generation, der er selbst und seine Protagonisten angehören – mit den oft unbewältigten Traumata aus den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Und er konstruiert eine Lebens- und Liebesgeschichte, die zeigt, wie Kolumbien zu einem immer gewaltsameren Ort des Anbaus und Umschlags von Drogen für den nordamerikanischen Markt wurde. Es stellt sich heraus, dass Ricardo Laverde lange Zeit als Drogenkurier in den USA inhaftiert war, ehe er in seine südamerikanische Heimat zurückkehren durfte. Seine Ehefrau Elaine, einst eine freiwillige Helferin der US-Entwicklungshilfeorganisation Peace Corps, hatte ihn verlassen. Bevor die beiden sich erneut begegnen konnten, kam Elaine bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Dessen Ursache bleibt unklar. Antonio und Maya tauschen ihre Informationen aus – und sie lernen, dass sie die Erfahrungen von Angst und Vertrauensverlust miteinander teilen. Seine Generation wolle sich vergewissern, „dass wir nicht alleine sind, wollen es erträglicher machen, dass wir während dieses Jahrzehnts erwachsen wurden, wollen das Gefühl der Verwundbarkeit dämpfen, das uns seitdem begleitet“, so Antonio. So liefert Juan Gabriel Vásquez‘ lesenswerter Roman nicht nur eine aufschlussreiche Geschichtsstunde. Er ist auch ein Plädoyer, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Selbst wenn das zu Entfremdungen führt, weil die Nachgeborenen das Ausmaß der seelischen Verletzungen in der Hochphase des Drogenkriegs nicht nachvollziehen können. Thomas Völkner Zusammenleben nach dem Krieg Die Beiträge von Religionen zur Versöhnung nach Kriegen in Afrika stehen im Zentrum des Sammelbands. Experten aus Europa und Afrika stellen Beispiele vor. Martin Leiner u.a. (Hg.) Societies in Transition Sub-Saharan Africa between Conflict and Reconciliation Vandenhoeck und Ruprecht Göttingen 2014, 242 Seiten, 99,99 Euro | 2-2015 Religiöse Ideologien werden häufig unter den Konfliktursachen auf dem afrikanischen Kontinent verbucht. Zugleich bieten Religionen aber auch Möglichkeiten, Konflikte aufzuarbeiten. Die schauen sich die 16 Autorinnen und Autoren genauer an. Neben Theologen und Religionswissenschaftlern beziehen auch Politologen und Ökonomen Stellung. Am Beispiel einzelner Länder ergründen sie die kontext- und zeitspezifische Bedeutung verschiedener Religionen zur Befriedung von Gesellschaften nach gewaltsamen Konflikten. Christliche Kirchen, der Islam und traditionelle religiöse Überzeugungen werden in die Untersuchungen einbezogen. Die regionalen Beispiele reichen von Äthiopien über Uganda, Ruanda und den Tschad bis nach Simbabwe und Südafrika. Besonders aufschlussreich sind die Erläuterungen des Autorenteams Gladys Ganiel und Joram Tarusarira zu Simbabwe. Sie skizzieren die bisherigen Forschungsdebatten zu Kirchen und Politik in und nach der Kolonialzeit und analysieren, welche Rolle ausgewählte kirchliche Vereinigungen für Versöhnungsprozesse spielen. Angesichts der ausgewogenen Darstellung überzeugt das Resümee, für Versöhnung müssten soziale Beziehungen wiederaufgebaut werden. Gleichzeitig jedoch müssten gesellschaftliche Strukturen verändert werden; das sei im autoritär regierten Simbabwe ungleich schwieriger. Die Friedensforscherin Helen Lamunu hat eine nichtstaatliche, christliche Hilfsorganisation zur Reintegration früherer Kindersoldaten in Uganda geleitet. Sie stellt Erkenntnisse der Trauma-Forschung und vorkoloniale Rituale zur sozialen Wiedereingliederung von Straftätern vor. Lamunu reflektiert über Möglichkeiten und Grenzen, traditionelle Rituale einer Ethnie auf andere ethnische Gruppen zu übertragen. Ihr Fazit: Einige Kinder seien zwar auf diesem Wege leichter in ihre Dörfer zurückgekehrt, doch die Kriegsverbrechen seien nicht durch die Rituale gesühnt worden. Täter und Opfer hätten sich nicht versöhnt. Lamunu plädiert deshalb in ihrem Beitrag für 63 64 service rezensionen umfassendere Versöhnungs- und Wiedergutmachungspraktiken. Der südafrikanische Theologe und Anti-Apartheid-Aktivist Ben Khumalo-Seegelken betrachtet die Versöhnung in seinem Heimatland nicht nur im Lichte der christlich geprägten Wahrheits- und Versöhnungskommission. Zwanzig Jahren nach dem Ende der Rassentrennung bezieht er klar Stellung für deren Opfer und verlangt, frühere Täter und Profi- teure – zu denen auch internationale Konzerne zählten – zur Rechenschaft zu ziehen. Khumalo-Seegelken argumentiert überzeugend unter Bezug auf internationale Menschenrechtsabkommen. Der Sammelband bietet einige Impulse für die Debatte über Versöhnung in Gesellschaften, die unter Gewaltkonflikten gelitten haben. Doch für afrikanische Leser und Bibliotheken ist das völlig überteuerte Buch unerschwinglich. Rita Schäfer Verschwörung der Frauen Die US-amerikanische Autorin Jennifer Clement hat den Mädchen und Frauen, die unter dem Drogenkrieg in Mexiko leiden, einen Roman gewidmet. Er besticht mit seiner einfachen, kraftvollen Sprache, auch wenn der Geschichte nach und nach die Puste ausgeht. Jennifer Clement Gebete für die Vermissten Suhrkamp-Verlag, Berlin 2014, 228 Seiten, 19,95 Euro Wenn die schwarzen Geländewagen der Drogen- und Menschenhändler am Horizont auftauchen, weiß Ladydi, dass es Zeit ist, ins Erdloch zu kriechen. Denn nur so kann ein Mädchen, das in einem Dorf in den Bergen des mexikanischen Bundesstaates Guerrero lebt, dem Schicksal von Entführung und Prostitution entkommen. Hässlichkeit ist ein zusätzlicher Schutz: Ladydi malt ihre Zähne mit schwarzem Filzstift an, damit sie vergammelt aussehen. „Nichts ist abstoßender als ein dreckiger Mund“, meint ihre Mutter. Ladydis Freundin Paula aber nützen alle Vorkehrungen nichts. Eines Tages kommen die Drogenbarone und nehmen sie mit. Zwar gelingt ihr die Rückkehr ins Dorf, doch Körper und Seele sind zerstört. Die US-amerikanische Schriftstellerin Jennifer Clement ist in Mexiko-Stadt aufgewachsen. Für ihren Roman hat sie mehr als zehn Jahre in Mexiko recherchiert und mit Hunderten Mädchen und Frauen gesprochen, deren Leben von Gewalt und Drogen geprägt ist. Ihre Schicksale verdichten sich in der Geschichte von Ladydi, ihrer Mutter und ihrer Freundinnen und machen sie sehr authentisch. Die Lese- rinnen und Leser sehen die Welt mit den Augen der heranwachsenden Ladydi. Sie gehen mit ihr zur Schule, wo die Lehrer es höchstens ein Jahr lang aushalten, sie erleben mit ihr den Verrat des Vaters, den von Hitze durchglühten Alltag in einem Dorf, in dem sich die Frauen mit ihren Töchtern alleine durchschlagen müssen, weil die Männer entweder in die USA ausgewandert oder tot sind. Erzählt wird trocken und lakonisch, in einem Ton, der zwischen Erstaunen und Entsetzen schwanken lässt. Nach dem Ende ihrer Schulzeit tut sich für Ladydi die Chance auf, bei einer reichen Familie in der Hafenstadt Acapulco als Kindermädchen zu arbeiten. Ein junger Mann – der einzige – aus dem Dorf hat ihr die Stelle vermittelt und tatsächlich landet sie in einer Art Paradies. Dort darf sie ein paar Monate leben und lieben, bis die Wirklichkeit sie mit Macht einholt. Dieser zweite Teil der Geschichte trägt weit weniger gut als das Leben auf dem Berg und der Roman büßt spürbar an Kraft ein. Die Menschen, auf die Ladydi trifft, bleiben blass, es gibt zu viele Ungereimtheiten und lose Enden. Die verknüpfen auch die abschließenden Kapitel nicht, die dafür wieder sehr prägnante und farbige Personen- und Milieuschilderungen bieten. Wie es mit Ladydi weitergeht, nachdem die Mutter zu ihrer Rettung geeilt ist, bleibt offen. Angesichts der Umstände besteht aber wenig Anlass zur Zuversicht. Gesine Kauffmann kurzrezension Naturschutz als Landraub Der Journalist und Aktivist Peter Clausing verbindet in diesem Buch ein Plädoyer für kleinbäuerliche und ökologische Landwirtschaft mit einer scharfen Kritik an den Naturschutz-Konzepten der Weltbank und des WWF. Es geht ihm nicht nur um Ökologie, sondern auch um soziale Gerechtigkeit: Kleinbauern sollten ihr Land behalten und davon leben können. Einer der größten Landräuber sei der Naturschutz, betont er. Die Einrichtung von Naturparks gehe noch immer mit der Vertreibung armer Bewohner einher. Daran ändere auch die Zusammenarbeit mit Gemeinden an und in Naturparks wenig: Ihnen brächten die Parks in der Praxis wenig Nutzen. Dabei sind laut Clausen – dies ist die Pointe des Buches – Kleinbauern die besseren Naturschützer. Der Naturschutz à la WWF konzentriere sich auf wenige Großtierarten. Die große Mehrzahl der bedrohten Arten werde besser geschützt, wenn zwischen den Resten ihrer Lebensräume die Agrarlandschaften kleinteilig und ökologisch bewirtschaftet werden. Die Tiere könnten zwischen ihren Refugien wandern – über Großfarmen und giftbesprühte Äcker können sie das nicht. Clausings Argumente sind nicht alle zwingend; so können auch Veränderungen sinnvoll sein, die nicht unmittelbar den Ärmsten nützen. Insgesamt aber ist seine These plausibel und rückt zu Recht Landraub für den Naturschutz in den Fokus. (bl) Peter Clausing Die grüne Matrix. Naturschutz und Welternährung am Scheideweg UNRAST Verlag, Münster 2013 155 Seiten, 13 Euro 2-2015 | termine service termine – veranstaltungen Berlin 6. bis 8. März 2015 Globalisierung und Soziale Demokratie Friedrich-Ebert-Stiftung Kontakt: 0228-883-7104 www.fes-soziale-demokratie.de Karlsruhe Islamischen Staat? Georg-von-Vollmar-Akademie Kontakt: Tel. 08851-780 www.vollmar-akademie.de Evangelische Akademie Tutzing Kontakt: Tel. 08158-251-0 www.ev-akademie-tutzing.de Königswinter 27. Februar bis 1. März 2015 Ist mir nicht Latte Was unser Konsum mit der Welt zu tun hat Frauenbildungs- und Tagungshaus Zülpich Kontakt: Tel. 02252-6577 www.frauenbildungshaus-zuelpich.de Münster Österreich 19. bis 21. Februar 2015 Haben wir einen Plan B für unseren Planeten? Internationale Klimapolitik und die Chance des Climate Engineering Stiftung Christlich-Soziale Politik Kontakt: Tel. 02223-730 www.azk-csp.de 13. bis 15. März 2015 Frauenleben zwischen Bilderverbot und Selfie Mediale Inszenierung des Religiösen und die Darstellung des Weiblichen Evangelische Akademie Baden Kontakt: Tel. 0721-9175-361 www.ev-akademie-baden.de 13. bis 14. März 2015 Welt.Macht.Europa – Die Entwicklungspolitik der EU Eine-Welt-Landeskonferenz 2015 des Eine Welt Netz NRW Akademie Franz Hitze Haus Kontakt: Tel. 0251-4839-0 www.franz-hitze-haus.de Kochel am See 11. bis 13. Februar 2015 Soils, Food Security and Sustainable Land Management 2. bis 6. März 2015 Sonnen-und Schattenseiten des Bioenergiebooms 2. bis 6. März 2015 Vom Arabischen Frühling zum Tutzing 2. bis 3. März 2015 Biopatente – Saatgut als Ware und als öffentliches Gut Impressum Redaktion: Bernd Ludermann (bl, verantwortlich), Tillmann Elliesen (ell), Gesine Kauffmann (gka), Hanna Pütz (hap, Volontärin), Sebastian Drescher (sdr, online) Emil-von-Behring-Straße 3, 60439 Frankfurt/Main; Postfach/POB 50 05 50, 60394 Frankfurt/Main Telefon: 069-580 98 138; Telefax: 069-580 98 162 E-Mail: [email protected] Zülpich Dürnstein 19. bis 21. Februar 2015 Glücksbilder – Die Wirklichkeit der Utopie Stift Dürnstein Kontakt: Tel. +43-2742-27570-0 www.symposiondürnstein.at Wien 6. März 2015 3. Humanitärer Kongress „Humanitarian Aid under Fire“ Austrian Platform for Development and Humanitarian Aid Kontakt: Tel. +43-152244-220 www.humanitariancongress.at www.welt-sichten.org Die Rubrik „Global-lokal“ erscheint in Kooperation mit der Servicestelle Kommunen in der Einen Welt/Engagement Global gGmbH. Anzeigenleitung: Yvonne Christoph, m-public Medien Services GmbH, Zimmerstraße 90, 10117 Berlin, Telefon: 030-325321-433, www.m-public.de Ständig Mitarbeitende: Kathrin Ammann (kam), Bern; Katja Dorothea Buck (kb), Tübingen; Heimo Claasen (hc), Brüssel; Ralf Leonhard (rld), Wien; Claudia Mende (cm), München; Theodora Peter (tp), Bern; Rebecca Vermot (ver), Bern; Marina Zapf (maz), Berlin Druck: Strube Druck&Medien OHG, Stimmerswiesen 3, 34587 Felsberg Ansprechpartner in Österreich: Gottfried Mernyi, Kindernothilfe Österreich, 1010 Wien, Dorotheergasse 18 Verlegerischer Dienstleister: Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik gGmbH, Frankfurt am Main Herausgeber: Verein zur Förderung der entwicklungspolitischen Publizistik e.V. (VFEP), Hans Spitzeck (Vorsitzender), Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst, Caroline-Michaelis-Straße 1, 10115 Berlin Preis der Einzel-Nr.: 5,20 Euro / 7,80 sFr zuzügl. Versandkosten Preis im Jahresabonnement: 47,40 Euro, ermäßigt 35,55 Euro. Preisänderungen vorbehalten. Mitglieder im VFEP: Brot für alle (Bern), Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst (Berlin), ChristoffelBlindenmission (Bensheim), Fastenopfer (Luzern), Kindernothilfe (Duisburg), Misereor (Aachen) | 2-2015 Grafische Gestaltung: Angelika Fritsch, Silke Jarick ist die Nachfolgezeitschrift von „der überblick“ und „eins Entwicklungspolitik“. ISSN 1865-7966 „welt-sichten“ Dienstag, 10. Februar 21:50-22:50, ARTE IS – Die Wirtschaftsmacht der Gotteskrieger. Erdöl, Schutzgelder und Plünderungen – zahlreiche Geldquellen machen den Islamischen Staat (IS) zur bestfinanzierten Terrororganisation der Welt. © ARTE/PAC Presse Bad Boll 6. bis 8. März 2015 Kleinbäuerliche Landwirtschaft – ein ökofaires Zukunftsmodell? Evangelische Akademie Bad Boll Kontakt: Tel.: 07164-79-232 www.ev-akademie-boll.de tv-tipps Mittwoch, 25. Februar 16:20-17:05, ARTE Die Hüter der Kartoffel. In den peruanischen Anden nahe der Stadt Cuzco auf rund 4500 Meter Höhe liegt der wahre Schatz der Inkas: die Kartoffel. Vom Kampf der Andenbauern für das Knollengewächs profitieren alle: Die Kartoffel gehört weltweit zu den wichtigsten Grundnahrungsmitteln. radio-tipps Sonntag, 22. Februar 18:05-19:05, hr2 Fair-giftet. Ein Feature über die Welt der Verbrauchertäuschung. Allein in Deutschland gibt es zwölf „Fair“-Siegel mit sehr unterschiedlichen Ansprüchen. Welche Standards stecken dahinter? Samstag, 28.Februar 18:05-19:05, DRK Feature. Syria FM. Von Julia Tieke. In den vergangenen drei Jahren sind über 20 syrische Radiosender entstanden. Sie wollen dem Klang des Krieges etwas entgegensetzen, die Stimme erheben, informieren, frei sprechen. Weitere TV- und Hörfunk-Tipps unter www.welt-sichten.org 65 66 service termine termine – kulturtipps Bunte Kunst aus Baumrinde Das Münchner Museum Fünf Kontinente zeigt Kunst der Ömie aus Papua-Neuguinea. Präsentiert werden „tapa“: Die Baststoffe werden aus der inneren Schicht der Rinde von Regenwaldbäumen hergestellt und mit traditionellen Mustern verziert. Männer und Frauen tragen die bemalten Stoffe bei zeremoniellen Anlässen. Bei schnellen Tanzbewegungen erzeugen die Muster besondere optische Effekte. Die Rindenbaststoffe sollen außerdem das innerste Wesen der Menschen schützen. Auch im Gabentausch bei der Heirat spielen tapa eine wichtige Rolle. Christliche Missionare hatten den Ömie viele Zeremonien verboten. Dazu zählte auch die Tätowierung des Körpers mit den Mustern einzelner Familienclans. Trotzdem hat die Kunst der tapa- Berlin Stolz auf die Tradition: Ömie-Künstlerin mit ihren Werken. Museum fünf Kontinente abzuwenden und ihre eigene Kultur zu erhalten. Seitdem malen die Ömie-Frauen Motive wieder auf Rindenstoff und übertragen traditionelle Körper-Tattoo-Designs auf die tapa. In der Ausstellung ist eine Auswahl der Rindenstoffmalereien zu sehen. Die Werke können als Unterstützung für die Ömie-Künstlerinnen erworben werden. München Herstellung und Bemalung bei den Ömie-Frauen bis heute Bestand. 1951 hatten Clanälteste einen Vulkanausbruch als Unwillen der Ahnengeister über das Sterben der Traditionen gedeutet. Sie ermutigten die Ömie, sich vom fremden europäischen Einfluss Mannheim Schweiz bis 8. März 2015 Unter dem Vulkan. Kunst der Ömie aus Papua-Neuguinea Museum Fünf Kontinente Kontakt: Tel. 089-210-136-100 www.museum-fuenf-kontinente.de Zürich bis 1. März 2015 Die Roten Khmer und die Folgen In der Akademie der Künste werden Arbeiten vorgestellt, die sich mit der Aufarbeitung der jüngsten Geschichte Kambodschas auseinandersetzen. 2015 jährt sich der Beginn der Schreckensherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha zum 40. Mal. In den darauffolgenden vier Jahren wurden rund 1,7 Millionen Menschen ermordet. Die Ausstellung präsentiert Werke der kambodschanischen Künstler Rithy Panh, Khvay Samnang und Vandy Rattana. Sie versuchen mit ihren Filmen, Videos und Fotografien die kollektive Katastrophe und traumatische Erinnerungen aufzuarbeiten, die von Politik und Gesellschaft verschwiegen werden. Ergänzt werden sie von Arbeiten des Malers und Objektkünstlers Günther Uecker, des Fotografen Tim Page und des Theaterregisseurs Ong Keng Sen. bis 17. Mai 2015 Ägypten Land der Unsterblichkeit In einer Sonderausstellung zeigen die Reiss-Engelhorn-Museen altägyptische Kunst und Kultur. Mehr als 500 Objekte dokumentieren die antike Hochkultur am Nil. Bis zu 6000 Jahre alte Exponate geben einen kulturhistorischen Überblick. Zu sehen ist unter anderem ein mehr als neun Meter langes und rund 3500 Jahre altes Totenbuch. Außerdem sind Särge, Reliefs, Skulpturen und Metallarbeiten, Schmuck und Grabbeigaben ausgestellt. Der Ausstellungsrundgang gliedert sich in die vier Themenkomplexe „Leben am Nil“, „Leben im Tod“, „Götterwelten“ sowie „Neue Herrscher“. Zahlreiche der Exponate stammen aus Tempeln und wurden unter anderem vom Roemer- und Pelizaeus-Museum in Hildesheim sowie Privatsammlern zur Verfügung gestellt. bis 22. März 2015 Flickwerk zur Erleuchtung Das buddhistische Mönchsgewand Im japanischen Buddhismus spielt der aus Flicken zusammengenähte Umhang (japanisch „kesa“) eine wichtige Rolle. Das Kleidungsstück drückt die Zugehörigkeit zu einem buddhistischen Orden aus. In Japan wird es als Zeichen für das vollkommene Verständnis vom Lehrer an den Schüler weitergegeben. Auch in der Politik wurde der Umhang eingesetzt: Mit dem Verleihen der „kesa“ durch den Kaiser wurde zum einen die Macht des Abtes befördert, zum anderen waren damit auch weltliche und steuerliche Privilegien für das Kloster verbunden. Die Ausstellung präsentiert buddhistische Textilien wie Mönchsgewänder sowie Statuen aus den Beständen des Museums sowie Leihgaben. bis 9. August 2015 Klang/Körper Saiteninstrumente aus Indien Die Ausstellung zeigt eine Auswahl von rund 80 Instrumenten aus einer Privatsammlung, Fast alle entstanden im 20. Jahrhundert in Indien und Nepal. Zu sehen sind seltene instrumentale Skulpturen wie die Dhodro Banam („hohles Instrument“) und die Huka Banam („Kokosnuss-Instrument“). Die Holzinstrumente sind an Fäden fixiert wie Noten, die frei durch den Raum schweben. Besucher sollen so auf die Schnitzereien, technischen Bauteile und die Kreativität der Instrumentenbauer aufmerksam gemacht werden. Ergänzt wird die Ausstellung mit Musik. Durch die Kooperation mit dem National Handicraft and Handlooms Museum in Neu-Delhi sollen mehr Informationen über die Geschichte der Instrumente gewonnen werden. Akademie der Künste Hanseatenweg Kontakt: Tel. 030-20057-2000 www.adk.de Reiss-Engelhorn-Museen Kontakt: Tel. 0621-29331-50 www.rem-mannheim.de Museum der Kulturen Basel Kontakt: Tel. +41-61-26656-00 www.mkb.ch Museum Rietberg Kontakt: Tel. +41-044-415-3131 www.rietberg.ch Basel 2-2015 | Verschenken Sie Es lohnt sich! 12-2014 5,20 € | 7,80 sFr ichten www.welt-s 15 | 1-20 dez emb Unser Dankeschön: ar er | Janu .org rkennen ästina ane sollte Pal Horn von Afrika Europa am üchtige Na host: aN d: Poesie Crack-S Arme für soma lil ene Off N: Br asilie 5,20 € | 7,80 sFr Maga glo ba zin für ick le en tw uM un d ök lun g zu saM en ische Früchtedens des Bo dd 1 schlag.in 1412-um sachlich kritisch gründlich www.welt-sichte Mena rbe n.org it 2-2015 febru ar EBO LA: Die reichen Länd NORDKO REA er haben vers : Aufschw agt VEN EZUELA ung in der : Die Kran Diktatur kenhäuser siechen dahi n Mag azin . für glo bale ent wicklu ng und öku Men isch e zus aMM ena rbei t 14 10:58:24 Sie machen mit einem -Abonnement jemandem eine Freude – wir bedanken uns dafür mit einem Buch. Sie haben die Wahl: Lesen Sie den preisgekrönten Roman „Hinter dem Paradies“ aus Ägypten oder den Geschichtenzyklus „Das schlafwandelnde Land“ aus Mosambik, in dem sich ein Junge und ein alter Mann in einem ausgebrannten Autobus aus ihrem Leben erzählen. 24.11.20 w o h n en Alle ab ins Hochhaus ? Sie schenken Denkanstöße: analysiert, hinterfragt, erklärt und macht neugierig. Die Zeitschrift bietet Reportagen, Interviews und Berichte über die Länder des Südens und globale Fragen. Jeden Monat direkt ins Haus. Im nächsten Heft Humanitäre Hilfe Immer öfter treten mehrere große Katastrophen gleichzeitig auf. Ist das System der humanitären Hilfe damit überfordert? Werden manche Notlagen „vergessen“? Warum werden in Bürgerkriegen die Helfer angegriffen und wie können sie sich schützen? Müssen sie sich mit gewaltbereiten Gruppen verständigen, um Zugang zu den Notleidenden zu erhalten, und funktioniert das gegenüber Islamisten? Mexiko Die Casa Xochiquetzal im Mexiko bietet Sexarbeiterinnen im Ruhestand ein Zuhause. Einfach ist ihr Zusammenleben dort nicht. Mia Couto Das schlafwandelnde Land Unionsverlag, 2014 239 Seiten Mansura Essedin Hinter dem Paradies Unionsverlag, 2014 185 Seiten Ihre Bestellmöglichkeiten: Telefon: Fax: E-Mail: Post: Ich bezahle das Geschenkabonnement. 069/58098-138 069/58098-162 [email protected] Einfach den Coupon ausfüllen und abschicken an: Redaktion „welt-sichten“ Postfach 50 05 50 60394 Frankfurt/Main Ausgabe 4-2015 Bitte schicken Sie die Zeitschrift an: Name, Vorname StraSSe, Hausnummer Postleitzahl, Ort „Das schlafwandelnde Land“ von Mia Couto „Hinter dem Paradies“ von Mansura Essedin An diese Adresse erhalte ich meine Buchprämie und die Rechnung: Name, Vorname Ja, ich verschenke ein Jahresabonnement von (12 Ausgaben). Es beginnt mit Ausgabe 3-2015 Es kostet 47,40 Euro inklusive Porto in Deutschland, bei Versand in Europa (Landweg) kommen 12 Euro hinzu. Das Geschenkabonnement läuft ein Jahr und verlängert sich nicht automatisch. Als Dankeschön erhalte ich, sobald das Abonnement bezahlt ist: StraSSe, Hausnummer Ausgabe ___-2015 Postleitzahl, Ort Datum, Unterschrift Sie möchten lieber online bestellen oder per Bankeinzug zahlen? Auf unserer Website www.welt-sichten.org können Sie unter „Abonnement“ ein Abo verschenken. Dort finden Sie ein Formular für ein SepaMandat, mit dem Sie bequem per Bankeinzug bezahlen können. SPINAS CIVIL VOICES Sehen und handeln. Während die einen immer mehr Poulet essen, werden die anderen in Hunger und Armut getrieben. Denn für den Anbau von Soja als Tierfutter wird grossflächig Regenwald abgebrannt und den Einheimischen ihre Lebensgrundlage geraubt. Brot für alle und Fastenopfer kämpfen gegen dieses Unrecht. Helfen Sie mit: sehen-und-handeln.ch