welt-sichten 2-2015, Februar

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welt-sichten 2-2015, Februar
5,20 € | 7,80 sFr
www.welt-sichten.org
2-2015 februar
EBOLA: Die reichen Länder haben versagt
NORDKOREA: Aufschwung in der Diktatur
VENEZUELA: Die Krankenhäuser siechen dahin
Magazin für globale Entwicklung und ökumenische Zusammenarbeit
wohnen
Alle ab ins
Hochhaus ?
IM URLAUB DEN BLICK SCHÄRFEN
mit taz-KorrespondentInnen auf Reisen gehen
Seit 2008 organisiert die Berliner Tageszeitung „taz“ Studienreisen in Begleitung
ihrer AuslandsmitarbeiterInnen. Diese haben persönliche Kontakte zu Menschen, die
sich in Projekten und Bürgerinitiativen engagieren. Bei Begegnungen mit solchen
Akteuren der Zivilgesellschaft lernen Sie
das Urlaubsland und seine gesellschaftliche
Dynamik intensiver kennen – und natürlich
bleibt auch Zeit für schöne Landschaften,
geschäftige Märkte und beeindruckende
Bauwerke. Im Angebot 2015 gibt es u. a.:
TUNESIEN MIT EDITH KRESTA U. RENATE FISSELER-SKANDRANI
Tunis – Kairouan – Sidi Bouzid – Douz – Dahargebirge – Mahdia
30. März bis 11. April sowie 19. bis 31. Oktober 2015;
ab 1.380 € (DZ/HP/ohne Anreise)
PALÄSTINA/JERUSALEM MIT GEORG BALTISSEN
Nablus – Ramallah – Jenin – Jericho – Jerusalem – Hebron – Bethlehem
29. März bis 8. April sowie 4. bis 14. Oktober 2015;
ab 2.450 € (DZ/HP/Flug)
Istanbul
In Kooperation mit medico international
ISTANBUL MIT JÜRGEN GOTTSCHLICH UND NIHAT GENÇOSMAN
Mit Bosporus-Fahrt bis zum Schwarzen Meer
29. März bis 8. April sowie 14. bis 22. November 2015;
ab 1.140 € (DZ/3 x HP, 5 x ÜF/ohne Anreise)
CHINA spezial MIT
YANG LIAN UND YO YO (IN ENGLISCHER SPRACHE)
Kultur und Kulinarik bei Treffen mit chinesischen Künstlern
Peking – Yanghzou – Yellow Mountains – Hogcun – Shanghai
9. bis 23. Mai 2015; ab 3.480 € (DZ/HP/Flug)
Westjordanland
BOSNIEN UND HERZEGOWINA
MIT ERICH RATHFELDER UND AMELA MALDOSEVIC
Sarajevo – Mostar – Prijedor – Jajce – Banja Luka – Visegrad
23. bis 31. Mai 2015; ab 1.480 € (DZ/HP/ohne Anreise)
2015 werden insgesamt 28 Reiseziele angeboten. Sie finden alle Informationen
(Programme, taz-Reiseleiter, Preise und Leistungen, Kontakt zu den Reiseveranstaltern)
im Internet: www.taz.de/tazreisen oder [email protected] | T (030) 25 90 21 17
Bosnien
editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
Bernd Ludermann
Chefredakteur
der schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier propagierte seit den 1920er Jahren
in Europa einen neuen Baustil. Ausgerechnet in Indien konnte er seine Vision für die
Stadt der Zukunft in die Tat umsetzen: Ende der 1950er Jahre entstand unter seiner
Leitung auf freiem Feld Chandigarh, die Hauptstadt des Bundesstaates Punjab. Bald
könnten die Stahlbeton-Bauten dort zum Weltkulturerbe gehören; Indien hat im Januar
zusammen mit sechs anderen Staaten beantragt, das Werk Le Corbusiers in die Liste der
UNESCO aufzunehmen.
Doch so künstlerisch wertvoll Chandigarh sein mag: Es war an den Bedürfnissen der
Bewohner vorbei geplant, erklärt Einhard Schmidt-Kallert in unserem Schwerpunkt. Bis
heute orientiert sich die Stadtplanung in Entwicklungsländern an europäischen Vorbildern. Sie prägen in Daressalam die Erwartungen gut situierter Tansanier an eine moderne
Wohnung, berichtet die Architektin Comfort Badaru. In Indien liegt das Bauen mit Glas
voll im Trend, obwohl solche Gebäude für tropisches Klima kaum geeignet sind, beklagt
Sunita Narain. Ein Teil dieser Bauten erhält zweifelhafte
Statt den Armen Eigenheime zu versprechen,
sollten die Regierungen ihnen helfen,
ihre Siedlungen selbst zu verbessern.
Öko-Zertifikate und wird vom Staat noch gefördert.
In vielen wachsenden Städten im Süden ist Wohnraum
allerdings knapp und die Mehrheit lebt nicht in
modernen Glaspalästen, sondern in selbst errichteten
Hütten. Ihr wollen viele Regierungen in Lateinamerika mit Darlehen und sozialem
Wohnungsbau zu „richtigen“ Eigenheimen verhelfen. Das nutzt den Armen wenig,
schreibt Alan Gilbert. Besser sollte man mit den Bewohnern zusammen ihre Siedlungen
verbessern und sie mit Strom, Wasser und guten Straßen versorgen.
Mit Nordkorea verbindet man als erstes Stalinismus und Atombomben. Das ist nur die
halbe Wahrheit, schreibt Rüdiger Frank, der das Land aus eigener Anschauung kennt: Er
berichtet von zaghaften Reformansätzen und einem wirtschaftlichen Aufschwung.
Davon kann Venezuela angesichts des Ölpreisverfalls nur träumen; Hanna Silbermayr
schildert, wie Geldmangel dort das Gesundheitswesen dahinsiechen lässt. Vom Siechtum
des Ganges, der stellenweise einer Kloake gleicht, berichtet Rainer Hörig – und von
Plänen, die Verschmutzung des heiligen Flusses zu bekämpfen.
Eine anregende Lektüre wünscht
| 2-2015
3
inhalt
Jorge Silvas/Reuters
4
12
Wohnen ist ein Menschenrecht.
Doch in den schnell wachsenden
Städten im Süden sind Wohnraum
und Bauland knapp. Häufig müssen
gewachsene Wohnviertel den
modernen Wohnprojekten weichen
– wie hier in Schanghai in der
Volksrepublik China.
In Las Mayas am Rande von Venezuelas Hauptstadt Caracas leben
die Menschen in selbst gezimmerten Holzhütten. Wer die Wohnungsnot lindern will, sollte auf ihre Selbsthilfe setzen.
Schwerpunkt wohnen
Lucas Schifres/Getty Images
12 Weniger Reißbrett, mehr Fantasie
Stadtplaner orientieren sich oft an Vorbildern aus reichen Ländern statt
an den Bedürfnissen der Bevölkerung
Einhard Schmidt-Kallert
17 Grüne Mogelverpackung
Energieeffizientes Bauen ist ein Streitthema in Indien
Sunita Narain
20 Schwimmende Häuser in der Lagune
Einen Slum in Lagos bedrohen der Meeresspiegelanstieg – und die Behörden
Sam Olukoya
22 „Gebäude müssen ins Umfeld passen“
Gespräch mit der Architektin Comfort Badaru aus Tansania
24 Zuhause im Ziegenhaarzelt
Viele Nomaden müssen ihr mobiles Leben aufgeben
Meike Meerpohl
26 Die Illusion vom Eigenheim
Die Regierungen in Lateinamerika folgen den falschen Strategien gegen
die Wohnungsnot
Alan Gilbert
Ein Teil der Auflage enthält je eine Beilage
des Evangelischen Werks für Diakonie und
Entwicklung und von Litprom sowie eine
.
Bestellkarte von
2-2015 |
26
Reuters/KCNA
inhalt
Standpunkte
6 Die Seite Sechs
7 Leitartikel: Mehr Kratzbürste, weniger
Schmusekatze. Im Entwicklungsjahr 2015 geht
es auch um die Glaubwürdigkeit der
Zivilgesellschaft
Tillmann Elliesen
8Kommentar: Im Kampf gegen Ebola muss unseren Politikern mehr Druck gemacht werden
Paul Vallely
10 Kommentar: Je suis Baga! Die falschen
Freunde der Meinungsfreiheit
Tillmann Elliesen
Nordkoreas Staatschef Kim Jong-un will die Wirtschaft des Landes
voranbringen. Eine kleine Mittelschicht ist inzwischen entstanden,
die sich hier im Wasserpark in Pjöngjang vergnügt.
30
10 Kommentar: Das Folterverbot gilt absolut –
und muss durchgesetzt werden
Gesine Kauffmann
11 Herausgeberkolumne: Ethik hat kein Verfallsdatum. Im Kampf gegen Korruption sind
Verbote und Strafen nicht genug
Patrick Renz
welt-blicke
Journal
30 Nordkorea: Aufschwung in der Diktatur
Von Demokratie ist in Nordkorea keine Rede, doch die Wirtschaft
wächst
46 E ntwicklungshilfe: Neue Regeln für die
Anrechnung
Rüdiger Frank
35 Venezuela: Patient Krankenhaus
Leere Medizinschränke, nicht versorgte Patienten – dem
­Gesundheitswesen geht das Geld aus
Hanna Silbermayr
38 Waldschutz: Zum Nutzen auch der Waldbewohner
Programme, die für Walderhaltung zahlen, helfen den Menschen
und dem Klima
Karl-Heinz Stecher
40 Philippinen: Vertrauen dringend gesucht
Der Friedensschluss für Mindanao soll in den Dörfern verankert
werden
Ralf Leonhard
43 Indien: Rettet den Ganges!
Der heilige Fluss verkommt zur giftigen Kloake
47 Studie: Anleitung zum Plündern
49 Berlin: Keine Wende beim Waffenhandel
51 Brüssel: Die EU will ein Abkommen über den
Handel mit Dienstleistungen
52 Schweiz: Kein Protest mehr in Davos
54 Österreich: Mäßiges Zeugnis von der OECD
für die Entwicklungspolitik
55 Kirche und Ökumene: Regeln für einen
evangelischen Exorzismus
57 Global Lokal: Neue Länder-Leitlinien im
Entwicklungsjahr 2015
59 Personalia
Rainer Hörig
service
60 Rezensionen
65 Termine
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www.welt-sichten.org
| 2-2015
65 Impressum
5
standpunkte die seite sechs
Reife Leistung
Chappatté in „NZZ am Sonntag“, Zürich, www.globecartoon.com
6
Das Gerücht hält sich hartnäckig, Kinder seien die besseren
Menschen. Das glaubt man jetzt
offenbar auch im Deutschen
Institut für Entwicklungspolitik
in Bonn, einer bislang durchaus
seriösen Einrichtung. Vor der
vergangenen Klimakonferenz in
Lima schrieb eine wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Kommentar, es gäbe kein Klimaproblem, wenn unsere Kinder das
Sagen hätten. Sie wünsche sich,
dass die Länder „mit dem Drang
zu gewinnen“ verhandeln – „so
wie meine Tochter begeistert losstürmt, wenn ich frage, wer die
meisten Bauklötze wegräumt“.
Wer ist’s?
„Die Gefahr ist überall
dort groß, wo es Dschihadisten gibt. Und dort, wo
es mehr gibt, ist sie ein
bisschen größer.“
Guido Steinberg, Terrorexperte der
Stiftung Wissenschaft und Politik, zur
Frage, wo islamistische Anschläge
drohen.
„Ich wollte etwas machen, das er ein Modell, mit dem er das
Bestand hat“, hat er in einem Bildungsdefizit in seinem HeiInterview seine Berufswahl be- matdorf beheben wollte. Mit
gründet. Nach jeder Regenzeit traditionellen Baumaterialien
hätten sie in seiner Kindheit und einheimischen Arbeitern
ihre Häuser ausbessern müs- – sie mussten nur lernen, eine
sen. Für sein Vorhaben muss- Handsäge und einen Schweißte er seine Heimat verlassen, apparat zu bedienen – wurde es
doch ist er immer wieder dort- verwirklicht. Inzwischen hat es
hin zurückgekehrt – gleich mit sich im ganzen Land verbreitet,
seinem ersten Projekt noch und er erhielt dafür einen der
während des Studiums. Ge- wichtigsten Architekturpreise
boren wurde er in einem afri- der Welt. Längst hat er sein eikanischen Dorf. Als Sohn des genes Büro und betreut ProjekDorfchefs war er das erste Kind, te auf der ganzen Welt. Bei seidas zur Schule gehen durfte – ner bekanntesten Arbeit hat er
er sollte für den Vater Briefe mit einem renommierten Relesen und übersetzen; doch gisseur zusammengearbeitet,
dafür musste er zu seinem On- der inzwischen gestorben ist.
kel in die Stadt ziehen. Nach In diesem Jahr begeht er seinen
der Schule lernte er zunächst 50. Geburtstag. Wer ist’s?
ein Handwerk, bevor er mit einem Stipendium ins Ausland Auflösung aus Heft 12-2014/
ging. Mit 30 Jahren schließ- 1-2015: Gesucht war der Chemiker
lich konnte er sich für sein Justus von Liebig, der unter
Traumstudium einschreiben, anderem den Phosphatdünger
vier Jahre später entwickelte entwickelt hat.
Wie niedlich. Allerdings weit weg
von der Wirklichkeit, wie ein
Versuch beweist: Wir haben sechs
Vorschulkinder aus aller Welt
gebeten, mal ein neues Klimaschutzabkommen auszuhandeln. Mit dabei: Der dreijährige
Barack, die fünfjährige Angela,
der vierjährige Jean-Claude, der
ebenso alte Jinping aus Peking,
der dreijährige Narendra aus
Indien und das Nesthäkchen Mizengo aus Tansania (zwei Jahre).
Ein Protokoll des Scheiterns:
Barack (grinst breit): Puuuups!
Jinping: Barack ist ein Stinker!
Barack ist ein Stinker!
Jean-Claude: Was man sagt,
das ist man selber….
Angela (genervt): Jungs
sind so dooof.
Barack: Puuuups!
Mizengo: Ich will auch mal…
Narendra: Mamaa, Barack
hat mir meine Entwicklungschancen weggenommen!
Jean-Claude: Heulsuse, Heulsuse.
Angela: Jungs sind so dooof.
Barack: Puuuups!
Mizengo: Jetzt bin ich aber mal…
Jinping: Klappe, du Baby. Komm,
Barack, wir spielen allein.
Narendra: Mamaa, Jinping
mobbt mich und Mizengo!
Jean-Claude (mit hochrotem
Kopf): Puuuu…
Angela: Jungs sind so dooof.
Barack: Puuuuuuup… Aua! Daddy,
Angela hat mir einen Bauklotz an
den Kopf geworfen.
2-2015 |
leitartikel standpunkte
Mehr Kratzbürste, weniger Schmusekatze
Im Entwicklungsjahr 2015 geht es auch um die Glaubwürdigkeit der Zivilgesellschaft
Von Tillmann Elliesen
E
in Problem der Entwicklungspolitik ist, dass sie
solche Sprecher wie den irischen Rockstar Bono
hat: Ständig wollen sie uns weismachen, es
müsse der Weltuntergang verhindert werden. Auch
zum Start des Entwicklungsjahres 2015 hat der singende Entwicklungsguru wieder das größte Geschrei
gemacht, dieses Mal unterstützt von einem BackupChor aus mehr oder weniger prominenten Leuten
aus Politik, Gesellschaft und Showbusiness: 2015 sei
„das wichtigste Jahr dieses Jahrtausends, um Entscheidungen mit globaler Wirkung zu treffen“, heißt
es in einem offenen Brief der illustren Koalition an
die „sehr geehrten Staats- und Regierungschefs“. Was
dieses Jahr beschlossen werde, „wird die Weichen für
das Schicksal der Welt in den nächsten Jahrzehnten
stellen“. Zur Erinnerung: In der Klimapolitik wurde
in der vergangenen Dekade jedes zweite Jahr zu einem solchen „Schicksalsjahr“ erklärt.
Für die entwicklungspolitische Kärrnerarbeit
zeigt der Minister wenig Interesse – und manchmal
auch wenig Verständnis.
Tillmann Elliesen
.
ist Redakteur bei
| 2-2015
Worum geht es 2015 tatsächlich? Dieses Jahr stehen drei globale Konferenzen an, die nicht über das
Schicksal der Welt entscheiden, wohl aber über die
Glaubwürdigkeit internationaler Entwicklungs- und
Umweltpolitik. Es geht los mit der Konferenz über
Entwicklungsfinanzierung im Juli in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba. Das wird die leichteste Übung sein, denn großzügige, aber unverbindliche
Geldversprechen gehen den Regierungen noch am
ehesten über die Lippen. Der härteste Brocken steht
am Jahresende mit der Klimakonferenz in Paris, auf
der ein neues Klimaschutzabkommen verabschiedet
werden soll. Ein Erfolg ist nicht ausgeschlossen, derzeit sieht es aber mehr nach einem Scheitern aus.
Das jedoch wäre fatal für das dritte Großereignis
im Entwicklungsjahr 2015: die Verabschiedung der
globalen Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDG) in New York wenige Wochen vor
der Klimakonferenz. Sollten die Klimaverhandler
ohne Ergebnis aus Paris abreisen, würde das die
SDGs sofort schwächen: Welchen Wert hat ein Katalog von Nachhaltigkeitszielen, der für eine saubere,
friedliche und gerechte Welt sorgen soll, wenn sich
die Regierungen gleich beim ersten und derzeit
drängendsten globalen Umweltproblem nicht auf
eine Lösung einigen können?
Es steht einiges auf dem Spiel, denn so wie das
Klimaprotokoll sind auch die Nachhaltigkeitsziele
selbst noch nicht in trockenen Tüchern. Die aufstrebenden Schwellenländer wie China oder Brasilien
können nicht viel mit ihnen anfangen, England mit
seinem einflussreichen staatlich-nichtstaatlichen
Entwicklungshilfekomplex möchte lieber eine Fortsetzung der alten UN-Millenniumsziele, bei denen
die Reichen den Armen helfend unter die Arme greifen. Und auch die Bundesregierung ist sich intern
offenbar noch keineswegs einig über ihre Position.
Die entwicklungspolitische Zivilgesellschaft ist
gespalten, wie stark sie sich für die SDGs engagieren
soll. Wenn sie sich mit ihrem ganzen Gewicht in die
Verhandlungen einbringt, riskiert sie, für einen faulen Kompromiss mit in Haftung genommen zu werden. Die nichtstaatliche Entwicklungsszene in
Deutschland hat diese Erfahrung gerade gemacht:
Bereitwillig hat sie sich im vergangenen Jahr vor den
Karren der sogenannten Zukunftscharta spannen
lassen, die das Entwicklungsministerium im Eiltempo aus dem Boden gestampft hat. Und jetzt werden
die Gesichter immer länger, da sich herausstellt,
dass das Ministerium wohl vor allem an der Hochglanzbroschüre interessiert war, auf die die Charta
gedruckt wurde, weniger aber an der Frage, wie sie
sich denn verwirklichen ließe.
Das entspricht dem Politikstil des amtierenden
Entwicklungsministers in seinem ersten Amtsjahr:
Mit viel Schwung stößt Gerd Müller eine Initiative
nach der anderen an und dreht gern das ganze große
Rad. Aber für die entwicklungspolitische Kärrnerarbeit, die danach getan werden muss, zeigt er wenig
Interesse – und manchmal auch wenig Verständnis.
Das unterscheidet ihn von seiner Vor-Vorgängerin
Heidemarie Wieczorek-Zeul: Auch die hatte stets die
großen Zusammenhänge „globaler Strukturpolitik“
im Blick, wusste das aber meistens mit den Erfordernissen und Bedingungen der entwicklungspolitischen Praxis zu verbinden.
Der anfänglichen Euphorie in der Zivilgesellschaft über Gerd Müller nach den bleiernen NiebelJahren folgen zunehmend Zweifel und Ernüchterung. Das wird auch höchste Zeit. Denn die Art und
Weise, wie der CSU-Politiker die entwicklungspolitische Szene bisher bei Laune gehalten hat, kann man
auch einfach das nennen, was sie ist: Populismus.
Im Entwicklungsjahr 2015 sollte sich die deutsche
Zivilgesellschaft deshalb von ihrem Schmusekurs
gegenüber dem Entwicklungsministerium verabschieden und häufiger wieder etwas kratzbürstiger
werden.
7
8
standpunkte kommentar
Krankheit der Armen
Im Kampf gegen Ebola muss unseren Politikern mehr Druck gemacht werden
Von Paul Vallely
Die Bundesregierung hat ihr Versprechen gebrochen. Sie wollte die
ärmsten Länder der Welt stärker
unterstützen. Die Ebola-Krise in
Westafrika wäre nicht so fatal,
wenn sie das getan hätte. Das
rückt der Rockstar und Aktivist Bob
Geldof in den Blick, der mit seinem
Musikprojekt Band Aid 30 einen
neuen Spendenrekord aufgestellt
hat.
Wäre Ebola eine Krankheit der
Reichen, hätte die Pharmaindustrie schon vor Jahrzehnten ein Gegenmittel entwickelt. Die Einzelfälle in Dallas, Madrid oder London konnten schnell eingedämmt
werden. Andere afrikanische Länder wie Nigeria und Uganda bekamen die Krankheit ebenfalls in
den Griff. In Sierra Leone, Liberia
und Guinea allerdings weitete sie
sich zur Epidemie aus. Im Gegensatz zu Nigeria und Uganda haben diese Länder kein stabiles Gesundheitssystem. Ebola ist eine
Krankheit der Armen.
Band Aid verfolgt zwei Ziele.
Das erste ist es, Geld zu sammeln
und dorthin spenden, wo Bedarf
herrscht. Aber: Geldof und seine
Kollegen wissen, dass sogar mit
dem Spendenrekord nur ein
Bruchteil dessen zusammengekommen ist, was gebraucht wird.
Der Großteil dieses Geldes muss
von den Regierungen weltweit
kommen.
Warum, fragt Geldof, gibt Deutschland
mehr Geld für ein einziges WM-Stadion
aus als für den Kampf gegen Ebola?
Das ist das zweite Ziel: Band
Aid ist medientauglich und steht
im Rampenlicht – gleichzeitig mit
den Politikern, die ihren Hilfseinsatz versäumt haben. Je mehr
Aufnahmen Band Aid verkauft,
desto mehr Druck wird auf diese
Politiker ausgeübt. Und umso
ernster werden sie den Kampf gegen Ebola nehmen. Das Rockkonzert Live8 hat schon im Jahr 2005
gezeigt: Je lauter die Menge brüllt,
desto stärker zittern die Politiker.
Das ist der Grund, warum Geldof vor Weihnachten Band Aid 30
in Deutschland und Frankreich
neu aufgelegt hat. Er findet, die
Regierungen der beiden großen
europäischen Staaten zeigen zu
wenig Einsatz bei der Ebola-Epidemie. Das war auf dem G8-Gipfel in Gleneagles 2005 anders.
Hier brachten die beiden Länder
wichtige Entscheidungen voran.
Mehr Entwicklungshilfe, Schuldenerlass, Ausbau guter Regierungsführung in Afrika und vieles mehr. Einige politische Versprechen wurden eingehalten.
Aber nicht alle. Die Gesundheitssysteme in Liberia, Guinea
und Sierra Leone sollten ausgebaut werden. Das ist nicht passiert. In dem Sektor stehen pro
Jahr und Kopf nur 20 Dollar zur
Verfügung. In Liberia und Sierra
Leone gibt es pro 100.000 Einwohner nur rund zwei Ärzte, in
Deutschland sind es 380, laut
der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) sollten es mindestens 230
sein. Das sind die Gründe, warum
die Infektionskrankheit sich zur
tödlichen Seuche entwickeln
konnte.
Die betroffenen Länder stehen ganz unten auf dem Index
der Vereinten Nationen für
menschliche Entwicklung (HDI).
Rund 60 Prozent der Bevölkerung
leben unter der Armutsgrenze.
Viele Menschen sind unterernährt und gehören zu besonders
verletzlichen Gruppen. Sogar in
guten Zeiten sind die Gesundheitssysteme überlastet. Sie können eine Epidemie dieser Größenordnung kaum bewältigen.
Deshalb gehen die Folgen von
Ebola weit über die tödliche
Krankheit selbst hinaus. Sanitäter
Ebola bald besiegt?
Der Höhepunkt der EbolaInfektionen ist überschritten. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab es
Ende Januar noch 145 bestätigte Fälle in Guinea, Liberia
und Sierra Leone. Die Generaldirektorin der WHO, Margaret Chan, sagte: „Wir haben eine Trendwende geschafft, den schlimmsten
Fall verhindert“. Dennoch
ist die Lage laut WHO-Vizedirektor Bruce Aylward weiterhin „extrem alarmierend“. Bislang sind seit Ausbruch der Seuche knapp
9000 Menschen an dem
Virus gestorben, insgesamt
22.000 waren infiziert.
berichten aus Ebola-Ländern über
einen Anstieg von Masern und
Lungenentzündungen, zwei der
häufigsten Todesursachen in Afrika. Impfsysteme brechen zusammen. Immer mehr Mütter sterben bei der Geburt, weil die Kliniken mit Ebola beschäftigt sind.
Die Unterernährung bei Kindern
nimmt zu. All das droht die entwicklungspolitischen Fortschritte
der vergangenen Jahrzehnte zunichte zu machen.
„Hätten die Regierungen ihre
Versprechen von 2005 eingehalten, wären auch die Gesundheitssysteme besser und Ebola könnte
wie in Nigeria und Uganda eingedämmt werden“, sagte Adrian Lovett, ein führender Aktivist der
internationalen Lobby- und Kampagnenorganisation One. Bob
2-2015 |
9
wolfgang ammer
kommentar standpunkte
Paul Vallely
ist Gastprofessor für Öffentliche Ethik
an der University of Chester. Unter der
Regierung Tony Blairs in Großbritannien war er Co-Autor des Reports der
„Kommission für Afrika“.
| 2-2015
Geldof habe diese gebrochenen
Versprechen zurück auf die Agenda geholt.
In Deutschland hat Geldof
eine große Debatte ausgelöst: Er
hatte öffentlich Bundeskanzlerin
Angela Merkel kritisiert und der
Regierung vorgeworfen, die Armen wiederholt im Stich zu lassen. Er verstehe nicht, wieso
Deutschland mehr Geld für ein
einziges WM-Stadion ausgebe als
für den Kampf gegen Ebola.
In Großbritannien wiederum
bemängelten Kritiker den Text
von Band Aid 30: Er verstärke koloniale Stereotype, genau wie das
Original. Den Charity-Song „Do
They Know It’s Christmas“ brachte Geldof 1984 heraus, um Geld
für die Opfer der Hungersnot in
Äthiopien zu sammeln. Kritiker
von Auslandshilfe wiederholen
oft veraltete Klischees von Verschwendung, Korruption und afrikanischen Diktatoren, die während des Kalten Krieges eingesetzt und jetzt von einer neuen
Generation abgelöst werden. Die
Wahrheit ist: Alle wichtigen Studien beweisen das Gegenteil. Auslandshilfe rettet Leben, verringert
Armut, erhöht ausländische Investitionen und fördert das Wirtschaftswachstum. Es gibt immer
Fälle, in denen das anders ist. Aber
das sind die Ausnahmen. Meistens wollen die Spötter mit ihrem
moralischen Unterton nur die eigene Untätigkeit verteidigen.
Bob Geldof hat vielleicht
Recht, wenn er reichen Ländern
Selbstzufriedenheit vorwirft. Die
Website der Organisation ONE hat
sechs Millionen Mitglieder. Sie
verfügt über einen Ebola-Reaktions-Tracker, der auswertet, wie
viel jedes Land im Verhältnis zu
seiner Wirtschaftleistung im
Kampf gegen Ebola ausgeben will.
Deutschland steht auf Platz 11,
Frankreich auf Platz 13. Und der
Senegal auf Platz 7 (Stand Ende
Januar).
„Egal ob Zufall oder nicht“, sagte Geldof, „als Band Aid 30 auf
Platz Eins landete, warf die Bundesregierung plötzlich 44 Millionen Euro zusätzlich in die EbolaKasse.“ Bei Band Aid 30 geht es
nicht nur ums Geldsammeln. Die
wirkliche Mission ist es, den Politikern ein wenig Feuer unterm
Hintern zu machen. Aus dem Englischen von Hanna Pütz.
10
standpunkte kommentar
Je suis Baga!
Die falschen Freunde der Meinungsfreiheit
Tote mit schwarzer Hautfarbe zählen in unseren Medien weniger als
solche mit weißer Haut. Nach dem
Attentat in Paris trat diese Ungleichbehandlung derart krass zutage, dass man sich schämen
musste als Angehöriger der westlichen Journalistenzunft.
Am selben Tag, an dem die Redakteure und Karikaturisten von
„Charlie Hebdo“ ermordet wurden, überfielen islamistische Terroristen die Stadt Baga im Nordosten von Nigeria und töteten vermutlich Hunderte Menschen.
Trotz dieser unglaublichen Zahl
kam dieser Anschlag in den deutschen Nachrichten praktisch nicht
vor. In der Aufregung und der allumfassenden Trauer um die Opfer in Paris war es dann auch nur
eine Randnotiz wert, dass in den
folgenden Tagen in Nigeria noch
das eine oder andere Kind als
Selbstmordattentäter in die Luft
gesprengt wurde und weitere Dutzende Tote zu beklagen waren.
Ich will auch deshalb nicht
Charlie, sondern lieber Baga sein,
weil der allgemeinen Solidarisierung mit dem französischen Satiremagazin etwas Verlogenes anhaftet. „Charlie Hebdo“ war bisher
ein Außenseiterblatt. Es steht für
eine radikale Form der Meinungsfreiheit, der nichts heilig ist und
mit der viele, die jetzt „Je suis
Charlie“ sagen, bisher wohl eher
wenig anfangen konnten. Die Redaktion musste sich ihre Freiheit,
zu schreiben und zu zeichnen, was
sie will, gegen allerlei gesellschaftliche Kräfte und Politiker vor Gericht immer wieder neu erstreiten.
Einer der überlebenden Redakteure von „Charlie Hebdo“ sagte nach
dem Anschlag sinngemäß, bis
zum 7. Januar sei es eher einsam
um sie herum gewesen. Er rechne
damit, dass das in wenigen Wochen wieder genauso sein werde.
Besonders grotesk ist, dass
ausgerechnet die Spießer von der
Pegida in Dresden sich nach dem
Attentat mit den anarchistischen
Komikern aus Paris solidarisierten. Unter diesen Zukurzgekommenen, die wochenlang für mehr
Piefigkeit und mehr Intoleranz in
Deutschland demonstriert haben,
sind vermutlich etliche, die selbst
auf Mordgedanken gekommen
wären, hätten sie gewusst, wie respektlos „Charlie Hebdo“ mit den
Insignien des christlichen Abendlandes zuweilen umspringt.
Und schlichtweg infam war es,
dass Pegida auch über die Terroropfer in Nigeria meinte Krokodilstränen vergießen zu müssen.
Nur eine Woche vor den Anschlägen hatte Pegida-Gastredner Udo
Ulfkotte in Dresden zum Thema
Flüchtlinge noch gesagt: „Flüchtlinge? Ich sehe nur kräftige junge
Männer, die sich auch vorher
möglicherweise an den Kriegen
beteiligt haben.“
Der einzige Trost ist, dass sich
in der hitzigen Debatte um Islamismus und Islamophobie seit
den Anschlägen die Pegida endlich selbst zerlegt. Tillmann Elliesen
Die Leiche im eigenen Keller
Das Folterverbot gilt absolut – und muss durchgesetzt werden
Der CIA-Folterreport und das Guantanamo-Tagebuch von Mohamedou Ould Slahi machen hilflos
und wütend. Die öffentliche Empörung bleibt jedoch weitgehend
aus. Doch sie wäre dringend nötig,
um die Regierungen in den USA
und Europa zum Handeln zu zwingen.
Schlafentzug, Zwangsernährung,
sexuelle Übergriffe: Nüchtern beschreibt Mohamedou Ould Slahi,
wie er im US-amerikanischen Militärgefängnis Guantanamo gefoltert worden ist. So lange, bis er alles Mögliche erzählte, was sich in
den Ohren seiner Peiniger gut anhörte – nur der Wahrheit entsprach es nicht. Sein Tagebuch,
mit zehn Jahren Verspätung Ende
Januar erschienen, macht wütend
und hilflos. Es gibt dem CIA-Folterreport ein Gesicht. Man wünscht
sich, Zehntausende würden auf
die Straße gehen und für die Abschaffung der Folter demonstrieren – so wie gegen den islamistischen Terror nach den Anschlägen
in Paris. Aber das passiert nicht.
Die öffentliche Empörung beschränkt sich auf Medienberichte
und Blogeinträge und wird sonst
denen überlassen, die sich schon
laut Mandat damit befassen: Amnesty International, dem Berliner
Menschenrechtsanwalt Wolfgang
Kaleck, der das deutsche Folteropfer Khaled al-Masri vertritt, oder
dem Juristen Wolfgang Nescovic,
der den CIA-Folterreport auf
Deutsch herausgegeben hat. Ein
Grund könnte sein, dass der islamistische Terror plötzlich ganz
nah scheint, während Folter in
dunklen Geheimverliesen stattfindet, weit weg vom eigenen Alltag.
Hinzu kommt: Die Ansicht ist
weit verbreitet, wer auf solche
Weise behandelt wird, muss wohl
irgendwie Dreck am Stecken haben. Die „speziellen Verhörmethoden“ der CIA im Kampf gegen
den internationalen Terrorismus
finden zwar unter Deutschen
weitaus weniger Zustimmung als
bei den Amerikanern. Doch immerhin 15 Prozent glauben laut
einer aktuellen Forsa-Umfrage
hierzulande, dass bei der Folter
der Zweck die Mittel heiligt. Auch
wenn im CIA-Report deutlich
wird, dass die Quälerei ihren
Zweck, verwertbare Informationen zu erhalten, um Anschläge zu
vereiteln oder Diktatoren zu stürzen, gar nicht erfüllt.
Und selbst wenn sie es täten:
Das Verbot der Folter gilt absolut.
Denn sie missachtet die Würde
des Menschen, die unantastbar
ist. Dieses Verbot durchzusetzen,
ist Aufgabe der Regierungen. Washington müsste die Verantwortlichen für die Folterpraktiken bestrafen; die Europäer müssten
ihre Beteiligung an dem CIA-Programm offenlegen und Verantwortung dafür übernehmen.
Doch bislang bewegt sich da wenig. Und auf öffentlichen Druck
ist nicht zu hoffen. (gka)
2-2015 |
herausgeberKolumne standpunkte
Ethik hat kein Verfallsdatum
Im Kampf gegen Korruption sind Verbote und Strafen nicht genug
Unternehmen, die im internationalen Geschäftsverkehr ethisch verantwortlich handeln
wollen, brauchen entsprechend sensibilisierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Diese
müssen über Gesetze und Verbote informiert werden, sie müssen aber auch darin geschult
werden, was ethisch geboten ist. Eine Chance für die Zivilgesellschaft.
Von Patrick Renz
Ich schulde ihm eine Million für
seine freiwilligen Dienste, scherzte mein Mitgründer einer Stiftung für wirkungsorientiertes
Management. Das einzige, was
wir verhandeln müssten, sei das
Valutadatum, also das Datum, an
dem der Betrag fällig werde. Und
die Währung, fügte ich bei. Wir
mussten uns nie einigen: Unsere
jahrzehntelange
Zusammenarbeit in oft schwierigsten Situationen hat ein grundtiefes Vertrauen und gegenseitige Solidarität
geschaffen.
Ethisch zu handeln heißt oft, Spannungen
auszuhalten, Handlungsoptionen abzuwägen und nicht einfach davonzulaufen.
Patrick Renz
ist Direktor von Fastenopfer in Luzern.
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Dem Valutadatum verwandt
ist das Verfallsdatum. Das gibt es
nicht nur bei Lebensmitteln. So
ist etwa das Verfallsdatum einer
Geschäftspraxis seit mehr als einem Jahrzehnt abgelaufen, die
ich Ende der 1980er Jahre bei renommierten Buchhaltungsprofessoren gelernt habe: nämlich
dass auf der linken Seite der
Buchhaltung alle geschäftsrelevanten Aufwände inklusive Bestechungsgelder im Ausland aufgeführt werden können. Ende der
1990er Jahre nahmen die OECDMitglieder die Konvention gegen
Bestechung von ausländischen
Amtsträgern im internationalen
Geschäftsverkehr an. Die Mitgliedstaaten wurden verpflichtet,
die Konvention in der nationalen
Gesetzgebung zu verankern.
Ethik kennt weder Valutanoch Verfallsdaten. Im Gegenteil:
Ethisch zu handeln heißt oft,
Spannungen über eine längere
Zeit auszuhalten, Handlungsoptionen abzuwägen und nicht einfach davonzulaufen. In der Unternehmensethik bietet die Unterscheidung von Compliance und
Integrität Hilfe. Compliance-Programme haben zum Ziel, von außen vorgegebene Standards und
Gesetze einzuhalten. Sie gehen
davon aus, dass der Mensch von
materiellen Interessen motiviert
wird; das Ziel solcher Programme
ist es, das Verhalten von Mitarbeitenden durch Schulung, Einschränkung der Handlungsspielräume, Kontrollen und Strafen zu
beeinflussen.
Integritätsprogramme zielen hingegen auf die
moralische Selbststeuerung der
Mitarbeitenden. Sie sollen befähigt werden, ethisch reflektiert zu
handeln.
Es braucht beides: Compliance-Programme, etwa um innerbetrieblich über gesetzliche Regelungen aufzuklären und diese
durchzusetzen, und Integritätsprogramme, um die moralische
Kompetenz der Mitarbeitenden
in Dilemma-Situationen zu fördern.
Gerade in großen, multinationalen Unternehmen ist Förderung von Integrität nicht leicht.
Aus wissenschaftlichen Untersuchungen wissen wir: Erstens, je
größer die geographische und kulturelle Distanz vom Mutterhaus
zu dessen Niederlassungen, desto
größer ist die Gefahr von sogenannten Governance-Gaps: Gemeint ist, dass Steuerungsvorgaben aus der Zentrale unten in den
Niederlassungen nicht umgesetzt
oder umgekehrt dass lokale Be-
sonderheiten oben in der Zentrale
nicht reflektiert werden. Zweitens,
ein Großteil der Führungskräfte
nennt „Vertrauen haben“ als wichtigstes Kriterium in der Führung
von Niederlassungen.
Letztere erfreuliche Aussage
hat zugleich etwas Fatalistisches:
„Ich kann gar nicht anders, als nur
Vertrauen haben.“ Das bedeutet:
Unternehmen sind gefordert, ihre
gesellschaftliche Verantwortung
über Compliance hinaus wahrzunehmen, indem sie die Integritätskompetenz der Mitarbeitenden stärken. Compliance oder Integrität? Die Unterscheidung lässt
auch erkennen, welche Organisationen gesellschaftliche Verantwortung wirklich ernst nehmen
und welche bloße Konformität zu
ihrem ethischen Ziel machen und
damit ihre Verantwortung so
klein wie möglich halten. Vorsichtig zuversichtlich stimmt mich
die Erfahrung als langjähriger
Ausbilder von Führungspersonal:
Bei vielen Führungsleuten auf
mittlerer Ebene habe ich ein sehr
kritisches, ethisch ringendes Bewusstsein entdeckt, auch gegenüber den Praktiken der eigenen
Arbeitgeber.
Uns als Zivilgesellschaft ist
damit die Möglichkeit gegeben,
neue „Spielvarianten“ im Austausch mit dem Privatsektor auszuarbeiten, etwa die mittlere Managementebene als Eingangstür
hin zu verantwortlicherem Handeln anzusprechen. Oder denen,
die Korruption für unvermeidlich
halten, mit dem Argument zu begegnen, dass das früher oder später hart bestraft werden wird. Von
ethisch handelnden Unternehmen – von der Zentrale bis zur
Niederlassung – profitiert nicht
nur die Zivilgesellschaft; auch die
Unternehmen selbst werden effizienter.
Neue Gedanken, bereits verfallene oder liegt ihr Wert erst in der
Zukunft? Liebe Leserinnen und
Leser, ich wünsche Ihnen ein verantwortungsvolles Jahr 2015!
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schwerpunkt wohnen
Weniger Reißbrett,
mehr Fantasie
In den Ländern des Südens orientieren sich Stadtplaner
oft an Modellen aus den reichen Ländern. Sie sollten besser
auf die Bewohner ihrer eigenen Städte hören.
Von Einhard Schmidt-Kallert
D
ie europäische Stadtplanung knüpft seit ihren
Anfängen an die Praxis aus dem Mittelalter,
zuweilen auch aus der Antike, an. Zudem ließen sich Stadtplaner in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Utopien aus dem 19. Jahrhundert inspirieren. Auf welchen Vorrat an Konzepten, Ideen
und Visionen aber greifen Planer in Asien, Lateinamerika und Afrika zurück? Stehen sie noch ganz im
Bann ihrer kolonialen und postkolonialen Lehrmeister oder haben sie eigene, ihrer Kultur angepasste
Maßstäbe und Ideen entwickelt?
In Asien sind viele alte, auch städtische Hochkulturen entstanden. Auf dem indischen Subkontinent
gibt es sie, die großartigen vorkolonialen Städte etwa
in Rajasthan. Aber sie haben die indischen Stadtplaner nicht inspiriert. Für sie sind kolonial geprägte
Städte wie Mumbai und die Ideen der internationalen Moderne wichtigere Anknüpfungspunkte.
Es ist symptomatisch, dass die erste neugegründete Stadt nach der Unabhängigkeit, Chandigarh
nahe der pakistanischen Grenze, Anfang der 1950er
Jahre im Auftrag der indischen Regierung von Le
Corbusier entworfen wurde, einem der bekanntesten Vertreter der westlichen Moderne im Städtebau.
Erst nach Fertigstellung der ersten Wohnblocks erwies sich, dass die Stadt vollkommen an den Bedürfnissen ihrer Bewohner vorbei geplant war. Die Planer
und Architekten hatten sich weder um Familienzusammenhänge in der indischen Kastengesellschaft
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wohnen schwerpunkt
Brasiliens Hauptstadt Brasília ist
auf dem Reißbrett entstanden. Die
Entwürfe für alle öffentlichen Gebäude – hier die Nationalbibliothek
– stammen von dem brasilianischen
Architekten Oscar Niemeyer.
Gulliver Theis/laif
noch um Alltagsroutinen im Wohnviertel gekümmert, etwa um die Frage, wie in Indien Mahlzeiten
zubereitet werden.
Aber es herrschte auch Aufbruchstimmung unter asiatischen Planern in der postkolonialen Phase –
wie in Malaysia, wo ich Anfang der 1970er Jahre Entwicklungshelfer in der Planungsbehörde war. Die
ungleiche Entwicklung zwischen Stadt und Land
und die ungleichen Chancen für die Angehörigen
der verschiedenen Bevölkerungsgruppen des Landes
trieben politisch engagierte Intellektuelle damals
um. Ein engagiertes Team junger Stadtplaner leitete
daraus eine Forderung an die eigene Zunft ab: Eine
in die Zukunft weisende Raumplanung müsse die als
rückständig betrachtete überwiegend malaiische
Dorfbevölkerung urbanisieren.
Die Planung von Brasília hat einer
eigenständigen lateinamerikanischen
Stadtbaukultur keine Impulse gegeben.
Und so wurden auf dem Reißbrett in bis dahin
von Urwald bedeckten Landesteilen Neusiedlerstädte
entworfen. Im Kern waren dies Agrostädte, deren Einwohnern der Staat frischgerodete Kautschuk- und
Ölpalm-Flächen zur Bewirtschaftung zur Verfügung
stellte. Aber anders als die malaiischen Dörfer sollten
diese neuen Städte von vornherein mit Infrastruktur
wie Oberschulen, Berufskollegs und Krankenhäusern
ausgestattet sein; für die spätere Ansiedlung von Industrie wurden Flächen ausgewiesen.
Was ist knapp 40 Jahre später aus diesem ambitionierten Programm geworden? Die Städte seien wie
geplant mit allen Einrichtungen gebaut worden und
funktionierten gut, sagte mir unlängst ein Kollege
von damals. Nur seien sie ein wenig langweilig, und
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schwerpunkt wohnen
es habe sich weniger Industrie angesiedelt als erhofft. Die Kinder der ursprünglichen Siedler wandern deshalb nach ihrem Schulabschluss so schnell
wie möglich in die Zentren an der Westküste wie Kuala Lumpur oder Penang ab. Fazit: Es ist ein schöner,
aber unerreichbarer Traum geblieben, mit der Gründung neuer urbaner Zentren den Gegensatz zwischen Stadt und Land zu überwinden.
China hat in den vergangenen 30 Jahren einen in
der Menschheitsgeschichte vorher nie da gewesenen
Urbanisierungsschub durchlebt und ist zugleich ein
Land mit einer alten städtebaulichen Tradition. Aber
die Art und Weise, wie in Guangzhou, Chongqing
und vielen anderen Megastädten über Jahrhunderte
gewachsene Wohnquartiere, in Peking die legendären Hutongs, gesichtslosen Hochhausblöcken Platz
machen mussten, spricht nicht für historisches Bewusstsein unter Stadtplanern.
Nach eigenen, chinesischen Wegen im Städtebau
muss man denn auch lange suchen. Da passt die Idee
des früheren Schanghaier Oberbürgermeisters ins
Bild, europäische Planungsbüros einen Ring von
neun Satellitenstädten rund um Schanghai entwerfen zu lassen. Dazu zählen Thames-Town, im TudorStil von britischen Planern entworfen, und Anting
beziehungsweise German Town, das ein bekanntes
deutsches Planungsbüro als erste chinesische Ökostadt konzipiert hat. Anting hat bis heute nicht die
geplante Größe erreicht: Zu teuer, zu ungewöhnlich
erscheinen potenziellen Hauskäufern die aufwendigen Recyclinganlagen und die mehrfach verglasten
Fenster. Das Konzept sei zu früh gekommen, zu früh
für ein Land, in dem das Umweltbewusstsein erst
ganz allmählich erwache, meinen Fachleute.
Erst spät, fast zu spät, regte sich unter Planern,
Architekten und zivilgesellschaftlichen Organisationen Protest gegen den Abriss der letzten Hutongs in
Peking. Mit der Wiederentdeckung der traditionellen
Baukultur traten auch die besonderen Qualitäten
dieser Wohngebiete für das soziale Leben im Viertel
und für das Leben in Mehrgenerationen-Haushalten
stärker ins Blickfeld der Planer.
Um Schanghai herum ließ man europäische Planer
Satellitenstädte errichten wie eine deutsche
Öko-Stadt – in der jetzt viele Häuser leerstehen.
Und jüngere chinesische Stadtplaner wollen keineswegs mehr nur die westliche Moderne kopieren.
Das Interesse an der eigenen Städtebaugeschichte ist
neu erwacht, genauso wie die Neugier auf Erfahrungen mit nachhaltigem Städtebau und „Smart Cities“.
Zugleich hat die Debatte um Chinas künftigen Kurs
in der Urbanisierung – mehr Megastädte oder eher
Förderung von mittelgroßen Städten? – höchste Parteikader erreicht. Zu den besonderen Herausforderungen Chinas gehört es, menschenwürdigen Wohnraum für die 250 Millionen Wanderarbeiter in den
großen Städten bereitzustellen.
Lateinamerika kennt so gut wie keine Siedlungskontinuität seit der vorkolonialen Zeit. Alle Metro-
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wohnen schwerpunkt
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Neubau auf dem freien Feld: In
den 1950er Jahren lässt Indien den
Schweizer ­Architekten Le Corbusier
die Stadt Chandigarh planen – hier
das Verwaltungsgebäude.
Dennis Lee Royle/picture alliance/ap images
Brasília, eine der ersten nachkolonialen Stadtgründungen auf der Südhalbkugel, ist anders, verbindet repräsentative Sichtachsen mit Respekt für
die Topographie. Aber die Planung von Brasília war
Teil der globalen Moderne, sie hat einer eigenständigen lateinamerikanischen Stadtbaukultur keine Impulse gegeben.
Viel wichtiger für Stadtentwicklung auf dem
Kontinent sind die unzähligen informellen Siedlungen, der Gestaltungswille der Erbauer und Bewohner
der Barrios von Caracas und der Favelas von Rio. Der
englische Architekt John Turner beschrieb vor 40
Jahren – zugegebenermaßen in etwas sozialromantischer Verklärung – die enge Verbindung zwischen
unmittelbaren Wohnbedürfnissen einer Familie, Architektur und Städtebau als besondere Qualitäten
des Selbstbaus in diesen informellen Siedlungen.
Das gilt auch heute noch. Es ist sicher kein Zufall,
dass es in Rio für Angehörige der Mittelschicht
schick geworden ist, in (modernisierte und legalisierte) Favelas zu ziehen.
polen sowie Klein- und Mittelstädte sind aus kolonialen Gründungen entstanden, die nach einem spanisch-portugiesischen Renaissance-Grundriss angelegt waren. Daran orientiert sich der Städtebau auf
dem Kontinent bis heute. Überall, von Mexiko bis
Chile, entstehen Neubausiedlungen für die Mittelschicht, die überwiegend einem wenig phantasievollen schachbrettartigen Straßenmuster folgen.
A
frika ist der am wenigsten urbanisierte Kontinent der Erde, hat aber heute einige Städte
mit zweistelligen jährlichen Wachstumsraten. Ein aufschlussreiches Beispiel für Stadtentwicklung ist Bahir Dar, eine schnell wachsende Stadt am
Tana-See im äthiopischen Hochland, heute die drittgrößte Metropole des Landes. Eine großzügig angelegte Allee mit hohen, Schatten spendenden Bäumen führt von Süden nach Norden in gerader Achse
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schwerpunkt wohnen
Als Kulisse wird ein Teil der alten
Bauten noch gebraucht: Vor den
Olympischen Spielen in Peking 2008
reparieren Arbeiter ein Dach in
einem der traditionellen HutongViertel von Peking.
Reinhard Krause/Reuters
Einhard Schmidt-Kallert
war bis 2014 Leiter des Fachgebiets
Raumplanung in Entwicklungsländern
der TU Dortmund.
auf den Tana-See zu. Banken, ein paar Textilkaufhäuser, Autohäuser, Restaurants, hier und da ein
Internet-Café säumen die Prachtstraße des Ortes.
Die Gebäude sind nichts Besonderes, wie überall in
schnell wachsenden Städten in Afrika dominieren
mehrstöckige Geschäftshäuser in Stahlskelettbauweise, die architektonischen Formen bleiben nicht
im Gedächtnis.
Die Lage der Stadt am größten See des äthiopischen Hochlandes hat von Generation zu Generation immer wieder politische Visionäre, Utopisten
und Planer beflügelt. Als Italien 1936 Äthiopien eroberte, war Bahir Dar eine wichtige Etappe. Die Militärverwaltung ließ sogleich einen ersten Stadtentwicklungsplan ausarbeiten. Anfang der 1950er Jahre plante Kaiser Haile Selassie, die Hauptstadt des
Landes von Addis Abeba nach Bahir Dar zu verlegen. Diese Idee wurde bald begraben, und 1960 sollte der deutsche Stadtplaner Max Guther einen bescheideneren Stadtentwicklungsplan für ein modernes Bahir Dar entwerfen. Auch dieser Plan ist
lange vergessen. Vor vier Jahren erhielt ein kanadisches Planungsbüro den Auftrag, ein neues Entwicklungskonzept für Bahir Dar vorzubereiten.
Diesmal wollten die Planer ihre Ideen nicht nur am
Reißbrett, sondern im Dialog mit der Bevölkerung
ausarbeiten.
Die hochfliegenden Pläne haben in der Wirklichkeit nur wenige Spuren hinterlassen. Denn afrikanische Städte entwickeln sich anders. Man braucht nur
von der asphaltierten Allee in eine der unbefestigten
Nebenstraßen oder einen der Trampelpfade einzubiegen. Kaum 30 Meter hinter den gepflegten Fassaden beginnt das andere Bahir Dar, die Stadt der Zuwanderer aus den Dörfern.
Auf den ersten Blick erscheinen diese Stadtviertel wie ein planloses Gewirr aus eingeschossigen
Lehmhäusern, mehrstöckigen Mietshäusern aus Zementblöcken und kleinen Werkstätten. Zwischen
den Schlaglöchern und den Pfützen, die der letzte
Regen hinterlassen hat, spielen Kleinkinder, laufen
Schulkinder zum Unterricht, treiben Männer und
Frauen ihre mit Feuerholz und anderen Lasten
schwer bepackten Maulesel an und bahnen sich ihren Weg zwischen Ziegen, Hühnern und anderem
Vieh. In den schmalen Lücken zwischen den Häusern
haben die Bewohner Gemüsebeete angelegt und
Obstbäume gepflanzt. In Wirklichkeit geschieht
auch hier nichts ohne Plan. Aber der hat wenig mit
den Konzepten der Stadtplaner zu tun, er entwickelt
sich in den Köpfen der Menschen, die aus dem Dorf
kommen, Arbeit gesucht haben, mit Glück ihre Nische gefunden haben und sich nun in ihrem Viertel
einrichten.
S
o treffen wir auch hier, wie fast überall in den
Ländern des globalen Südens auf den Dualismus zwischen formeller Stadtplanung und informeller Stadtentwicklung an den Rändern und in
den Nischen der geplanten Stadt. Einige Beobachter
haben die informellen Siedlungen einfach als Dörfer
in der Stadt beschrieben, in die die Dorfbewohner ihren Lebensstil und ihre Art, Häuser zu bauen und
Siedlungen anzulegen, mitgebracht haben.
Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die informellen Siedlungen in Bahir Dar sehen anders aus als
die Dörfer im äthiopischen Hochland. Sie sind dichter, kompakter. In Wahrheit haben die Bewohner informeller Siedlungen einen hybriden Lebensstil entwickelt, der Elemente des Städtischen mit dem Ländlichen verbindet. Und dazu gehört auch eine ganz
neue Form von Städtebau. Das ist häufig provisorisch, nicht immer langlebig und zukunftsfähig.
Aber er entspricht den Bedürfnissen der Bewohner.
Daraus ergibt sich die wichtigste Anforderung an
gute, zukunftsfähige Stadtplanung in den Ländern
des globalen Südens: Sie muss die Bedürfnisse aller
Stadtbewohner, der Mittelschicht wie der städtischen Armen in den informellen Siedlungen, in ein
gesamtstädtisches Konzept integrieren.
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wohnen schwerpunkt
Grüne Mogelverpackung
In Indien wird über energieeffizientes Bauen gestritten.
Die bisherigen Regeln gehen in die falsche Richtung.
Von Sunita Narain
Neubau eines Büro-Hochhauses in
Mumbai. Glasfassaden gelten in
Indien als schick und umweltfreundlich. Doch ihre Energiebilanz ist
umstritten.
Subhash Sharma/Polaris/laif
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E
s steht außer Frage, dass in Indien und in anderen Schwellenländern „grün“ gebaut werden
muss. Die Bauwirtschaft trägt durch Baumaterial, den Verbrauch von Energie und Wasser sowie die
die Abfallentsorgung zum Klimawandel und zur Zerstörung der Umwelt bei. Doch es gibt auch Grund zu
hoffen: Der größte Teil der weltweit für die wachsende Bevölkerung benötigten Bauten existiert noch
gar nicht – in Indien etwa sind mehr als zwei Drittel
des Bedarfs noch nicht gedeckt. So gibt es hier im
Unterschied zu den bereits entwickelten Ländern die
Chance, anders zu bauen – effizient und nachhaltig.
„Grünes“ Bauen bedeutet, so weit wie möglich
Materialien aus der Region zu verwenden und den
Verbrauch an Energie, Wasser und anderen Ressour-
cen möglichst gering zu halten. In der traditionellen
indischen Architektur war die Bauweise den natürlichen Umständen angepasst und die Rohstoffe wurden effizient eingesetzt. Jede Gegend hatte ihren eigenen Baustil, und diese kreative Vielfalt verdankte
sich den unterschiedlichen Umweltbedingungen. In
heißen und trockenen Regionen etwa wurden Luftströmungen mit Hilfe von Korridoren eingefangen,
die für Kühlung sorgten. Diese kulturelle Überlieferung muss mit den Errungenschaften der modernen
Architektur verknüpft werden – doch sie ist in Vergessenheit geraten.
Moderne Gebäude orientieren sich an Vorbildern aus nördlichen Ländern, wo Glasfassaden zum
Klima passen und gut aussehen. Doch es ist nicht
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schwerpunkt wohnen
Straßenszene in der Altstadt von
Jodhpur, der „blauen Stadt“. Die
traditionelle Bauweise ist an das
heiße und trockene Klima angepasst,
sie sorgt für Belüftung und Kühlung.
Eitan Simanor/picture alliance
sinnvoll, das in Indien nachzuahmen. Im milden,
aber feuchten und windigen Bangalore ebenso wie
im heißen und trockenen Gurgaon – überall ist Glas
angesagt. Die Bauten heizen sich auf, und sie lassen
sich nicht auf natürliche Weise kühlen, weil man die
Fenster nicht öffnen kann. Deshalb müssen Heizungen und Klimaanlagen eingebaut werden. Dennoch
gelten viele dieser Gebäude offiziell als „grün“. Wie ist
das möglich?
Die indische Regierung hat 2007 den Energy
Conservation Building Code (ECBC) beschlossen, der
Richtlinien zur Energieeinsparung in der Bauwirtschaft vorgibt. Dieser Katalog nennt Kriterien für
energieeffizient gestaltete Fassaden. Baustoffe mit
guten Dämmeigenschaften verringern den Wärmeverlust, und wenn genügend Tageslicht einfällt, wird
weniger Energie verbraucht. Deshalb ist es wichtig,
dass für die Außenhaut der Gebäude die richtigen
Materialien verwendet werden.
Viele Gebäude, die als ökologisch zertifiziert sind,
verschlingen in Wahrheit große Mengen
von Energie und Wasser.
Doch laut den Richtlinien dürfen knapp zwei
Drittel der Fassade mit Glas bedeckt sein. Ein mit
Glas verkleidetes Gebäude wird demnach als energieeffizient und „grün“ betrachtet. Außerdem legt
der Kriterienkatalog fest, wie das Gebäude isoliert
werden soll und welche energiesparenden Eigenschaften das zu verwendende Glas aufweisen muss.
Wegen seiner wärmeregulierenden Eigenschaften
wird aus zwei oder drei Scheiben bestehendes Isolierglas empfohlen. Damit wird der Eindruck erweckt, hochwertiges Glas sei in Ordnung, weil es verhindert, dass sich die Gebäude aufheizen. Mit ihren
Richtlinien unterstützt die Regierung den massenhaften Einsatz von Glas. Zugleich wirbt sie für wertvolles und teures Isolierglas, das nur wenige Unternehmen für zahlungskräftige Kunden herstellen.
Selbst dies könnte noch angehen, wenn die Vorschriften eingehalten würden. Doch erstens scheuen
viele Bauherren die Investition in teures Isolierglas,
und weil normales Glas die Hitze speichert, müssen
mehr Klimaanlagen eingebaut werden. Dadurch
steigt der Energieverbrauch. Zweitens hält offenbar
auch eine Doppel- und Dreifachverglasung die extreme Hitze in Indien nicht ausreichend ab. Laut Untersuchungen des indischen Institutes für Technologie von Gebäuden in Jodhpur, Neu-Delhi und Chennai nahm der Energiebedarf proportional zu der
Menge der verglasten Flächen zu – unabhängig davon, welche Art Glas verwendet wurde. Mit Fassaden
aus teurem Isolierglas wurde nicht mehr Energie
eingespart als mit einfachem Glas.
In Indien scheint zudem die Sonne viel greller als
in vielen westlichen Ländern, in denen große Fenster
den Energieaufwand für eine künstliche Beleuchtung reduzieren. Im Prinzip ist es sinnvoll, das Tageslicht mit Hilfe von Glas möglichst gut zu nutzen,
doch kommt es darauf an, wo, wie und in welchem
Umfang es verwendet wird. An Süd- und Westfassaden heizt jede Art von Glas die Innenräume auf. Und
selbst getöntes Glas, das 50 Prozent der Sonnenhitze
abhält, lässt immer noch einen großen Teil des grellen Tageslichts durch. Deshalb braucht man Jalousien und wieder mehr künstliches Licht; die Energiekosten steigen. Es wäre vorteilhafter, eine direkte
Sonneneinstrahlung von vorneherein zu verhindern. Genau das taten die Architekten früher – mit
Fensterläden. Die sind aber inzwischen verpönt, weil
sie nicht zum Image moderner, westlich geprägter
Bauten passen.
Dass wir für eine grüne Zukunft anders bauen
müssen, liegt auf der Hand. Doch ohne ausreichendes Wissen darüber, was ökologisch sinnvoll ist, und
ohne Vorschriften, die zu Ressourcen schonendem
Bauen anhalten, können alle Bemühungen zu den
falschen Ergebnissen führen. Das geschieht derzeit
in Indien. Zwar soll mit Hilfe der ECBC-Richtlinien
die Energiebilanz der Gebäude um 40 bis 60 Prozent
verbessert werden. Doch sie erweisen sich bislang
zumeist als kontraproduktiv – wie ausgeführt – oder
zumindest wirkungslos. Selbst wenn sie bei der Planung berücksichtigt werden, haben sie keine direkte
Auswirkung darauf, wie viel Energie die Gebäude de
facto verbrauchen.
Die Energieeffizienz wird zudem für verschiedene Klimazonen unterschiedlich berechnet. So dürfen in den Trockengebieten im Westen Indiens pro
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wohnen schwerpunkt
Quadratmeter 180 Kilowattstunden Strom jährlich
verbraucht werden, in Regionen mit feuchtwarmem
Klima dagegen 200 Kilowattstunden. Außerdem
bietet die Regierung ein freiwilliges Rating-System
für vier Kategorien von Zweckbauten an: Krankenhäuser, Einkaufszentren, Büros, die nur tagsüber genutzt werden, und Firmenräume von IT- und Outsourcing-Unternehmen, die für ihre internationalen
Auftraggeber rund um die Uhr arbeiten. Doch dieses
System ist nicht mit den ECBC-Richtlinien verlinkt,
und deshalb gibt es keine Informationen darüber,
wie sich die Baupläne in der Praxis bewähren, und
kein Feedback, das aufgrund der praktischen Erfahrung dazu beitragen könnte, die Planung zu verbessern.
Z
wei weitere Institutionen bewerten in Indien
die Gebäude nach ihrer Umweltfreundlichkeit.
Der Indian Green Building Council (IGBC) ist
aus einer amerikanischen Initiative hervorgegangen, doch ist er inzwischen zu einer rein indischen
Institution geworden, die von einer Unternehmervereinigung getragen wird. Der IGBC bewertet Neubauten nach unterschiedlichen Kriterien und vergibt die Gütesiegel „Platin“, „Gold“ oder „Silber“. Das
Energy and Resources Institute (TERI) in Delhi zertifiziert nach einem Bewertungssystem namens Green
Rating for Integrated Habitat Assessment (GRIHA).
In vielen indischen Bundesstaaten gibt es Steuervergünstigungen, wenn man solche Zertifizierungen
vorlegt, und man darf Grundstücke kompakter bebauen.
Doch diese Bewertungen werden vorgenommen
ohne den konkreten Nachweis, dass die fertigen Gebäude ihrem Anspruch gerecht werden. Bis vor kurzem wurden keine Angaben über die tatsächliche
Energiebilanz der „grünen“ Bauten veröffentlicht.
Und nach den Daten, die nun vorliegen, wird die Behauptung der Ranking-Agenturen, die Gebäude würden 30 bis 50 Prozent Energie einsparen und 20 bis
30 Prozent weniger Wasser verbrauchen, nicht bestätigt. Nach einer aktuellen Untersuchung des Zentrums für Wissenschaft und Umwelt verschlangen
viele Gebäude mit Spitzenbewertungen in Wirklichkeit große Mengen an Energie und Wasser.
„Grünes Bauen“ ist nur möglich, wenn allen Bauherren verbindliche Maßstäbe gesetzt werden und
der Energieverbrauch pro bebautem Quadratmeter
streng begrenzt wird. Architekten und Immobilienentwickler werden anders vorgehen und von Anfang
an effizient bauen, wenn sie andernfalls investieren
müssten, um die Objekte nachträglich umweltgerechter zu machen. Dann werden sie sich auch wieder an die traditionellen Methoden erinnern, wie
man passive Energie und das Tageslicht am besten
nutzt, wie man die Luftzirkulation fördert und die
Hitze fernhält.
Außerdem müssen Richtlinien für den Wasserverbrauch und das Abfallmanagement in den ECBCKatalog aufgenommen werde, damit weniger Wasser
durch die Toiletten fließt und alle Institutionen und
großen Wohnanlagen zum Recycling ihrer Abwässer
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gezwungen werden. Doch zuallererst muss Indien
die Mülltrennung einführen, so dass kompostierfähige, wiederverwendbare und nicht mehr verwendbare Abfälle separat eingesammelt werden.
All dies ist aber nur der Anfang: Die einzelnen
Gebäude können nur so grün sein wie die Städte insgesamt. Wenn die Wohnungen nicht an den öffentlichen Nahverkehr angeschlossen werden, müssen wir
weiter in einer braunen und schmutzigen Umwelt
leben, auch wenn wir grün bauen. Und der Einsatz
energiesparender Technologien darf die Baukosten
nicht derart hochtreiben, dass die neuen Wohnungen für die meisten Inder unbezahlbar werden. In
Ländern wie Indien müssen die Baurichtlinien vernünftiges und kostensparendes Bauen gewährleisten. „Grüne“ Architektur darf die wirtschaftliche Entwicklung nicht behindern und muss allen zugutekommen. Sunita Narain
leitet das Zentrum für Wissenschaft
und Umwelt in Neu-Delhi.
Aus dem Englischen von Anna Latz.
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schwerpunkt wohnen
Schwimmende
Häuser in der
Lagune
Die Einwohner von Makoko in Lagos sind doppelt bedroht:
vom steigenden Meeresspiegel und von den Behörden.
Schwimmende Bauten könnten ihre Lage deutlich verbessern.
Text: Sam Olukoya, Fotos: Iwan Baan
M
akoko in Lagos ist zweifellos der eindrucksvollste Slum in Nigeria: Er wird auch „Afrikas Venedig“ genannt. Seine Einwohner leben wie in der italienischen Stadt auf dem Wasser, in
der Lagune von Lagos, die sich in den Atlantik erstreckt. Doch während Venedig schön und reich ist,
sind in Makoko die Armen zu Hause. Sie leben in
kleinen Holzhäusern, die sich auf Pfählen knapp
über den Wasserspiegel erheben. Es gibt keine Straßen, keine Autos, keine Fahrräder. Die Menschen bewegen sich in Kanus über die Wasserwege – Kinder
fahren damit zur Schule, Händler betreiben darauf
ihre Geschäfte, in denen sie ihre Waren verkaufen.
Zu manchen Zeiten gleicht Makoko einer schwimmenden Stadt aus Booten.
die Kochtöpfe sind dann voll mit schmutzigem Wasser.“ Manchmal müsse sie eine Woche warten, bis das
Wasser zurückgeht, bevor sie ihren Betrieb wieder
aufmacht. „Niemand möchte zum Essen kommen,
solange überall die dreckige Brühe herumschwappt.“
Die alleinerziehende Mutter von fünf Kindern gerät
dann in Existenznöte: „Wenn ich keine Geschäfte
machen kann, habe ich kein Geld, um meine Kinder
zu versorgen.“ Wie ihr geht es in Makoko vielen.
Die wachsende Bevölkerung von Lagos, das als
Geschäfts- und Handelsmetropole viele Menschen
anzieht, erhöht den Druck, mehr Wohnraum zu
schaffen. Laut offiziellen Angaben liegt die Einwohnerzahl zurzeit bei 21 Millionen, bis 2020 soll sie auf
25 Millionen wachsen. Doch der verfügbare Grund
und Boden ist begrenzt, und so versucht die Stadtverwaltung, an der Küste gelegenes Land wieder zurückzugewinnen. Das größte dieser Projekte soll für
400.000 Menschen Arbeitsplätze und Unterkünfte
bieten. Umweltschützer kritisieren jedoch, die Rückgewinnung von Küstenland habe den Druck des
Meeres auf das Land verändert. Die Wellen seien
stärker und höher geworden und gefährdeten die
Gemeinschaften, die an der Küste leben.
Und sie sind noch von einer anderen Seite bedroht: In den vergangenen Jahren sind einige Slums
zerstört worden, weil die Stadtverwaltung Lagos in
das Modell einer „Mega-Stadt“ verwandeln will. Viertel wie Makoko haben darin keinen Platz. „Wir müssen die Slums aufwerten oder die Menschen umsiedeln“, sagt Bosun Jeje, der Beauftragte für Wohnungsbau. In der Praxis halten die Behörden diese Versprechen allerdings nicht. Meistens wird das Land an
Wohlhabende oder Investoren verkauft – vor allem
Die Verschmutzung des Wassers ist
für die Behörden Grund genug,
den Slum räumen zu lassen.
Die meisten Einwohner verdienen ihr Einkommen mit Fischfang, und dafür ist die Nähe zum Ozean ideal. Seit mehr als 100 Jahren geht das Leben hier
seinen gewohnten Gang; doch in jüngster Zeit ist die
Gemeinschaft mehr und mehr bedroht. So wird die
Küstenstadt Lagos wegen heftigen Regenfällen und
dem steigenden Meeresspiegel immer häufiger
überflutet. Makoko ist niedrig gelegen und deshalb
besonders gefährdet. Das Meteorologische Institut
von Nigeria macht dafür den Klimawandel verantwortlich.
Die Überflutungen richten wirtschaftliche Schäden an. „Sie sind ein großes Problem“, sagt Dupe Faseun, die in Makoko ein Restaurant betreibt. „Sogar
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wohnen schwerpunkt
wenn es sich am Meeresufer in der Nachbarschaft
reicher Viertel wie Ikoyi und Victoria Island befindet.
Ein solches Schicksal befürchten auch die Einwohner von Makoko. Schon im Juni 2012 sollte der
Slum geräumt werden. Doch einer der Führer der Gemeinschaft kam dabei gewaltsam zu Tode. Das zog
lautstarke öffentliche Kritik nach sich, und so gab die
Regierung ihren Versuch auf. In Makoko wehren sich
die Menschen außerdem stärker als andere Slumbewohner von Lagos gegen ihre Vertreibung. Die meisten von ihnen sind Fischer und könnten nirgends
anders leben. Viele sind hier geboren, manche stammen von Zuwanderern aus Benin und Togo ab, haben aber keine Verbindung mehr zu diesen Ländern.
„Unsere Familie lebt hier seit Jahrzehnten“, sagt etwa
Comfort Paul. „Sie sagen, wir sollen verschwinden,
aber wo sollen wir denn hingehen?“
O
bwohl Makoko bereits so lange existiert, hat
die Regierung die Infrastruktur vernachlässigt – weil sie sagt, die Einwohner hätten keine offiziellen Landtitel. „Sie sollten gar nicht hier
sein“, sagt Prince Adedegun Oniro von der Infrastrukturbehörde. „In diesem Gebiet hat niemand
eine feste Adresse.“ Die fehlende Abwasserentsorgung ist das größte Problem. „Die Häuser haben keine Toiletten, die Menschen erleichtern sich direkt in
das Wasser unter ihrem Fußboden“, berichtet Anwohner Joseph Blabo.
Das Wasser sieht aus wie schwarze Tinte. Die Verschmutzung ist für die Behörden ein guter Grund,
den Slum räumen zu lassen. Die Einwohner halten
dagegen. Die Stadtverwaltung solle sich lieber darum kümmern, Makoko zu einem lebenswerten Ort
Schulboot statt
Schulbus: In
Makoko lebt
man auf dem
Wasser. Die auf
P
­ lastikfässern
schwimmende
Schule hebt
und senkt
sich mit dem
Meeresspiegel.
Sie soll zum
Vorbild für die
Häuser ­werden,
die ­bisher auf
P
­ fählen stehen.
zu machen, fordern sie. „Sie sollten uns sagen, welche Art Häuser wir bauen sollen, damit sie in ihren
Mega-City-Plan passen“, erklärt Lucky Usa. „Wir werden uns an die Vorgaben halten.“
Kunlé Adeyemi, gebürtiger Nigerianer und Gründer der Architektur- und Designfirma NLE in den
Niederlanden, weiß, wie solche Häuser aussehen
könnten. Ihr Fundament ruht auf Plastikfässern, sie
können auf dem Wasser treiben und sich so dem
steigenden Meeresspiegel anpassen – im Gegensatz
zu den bisherigen Pfahlbauten, die eine feste Höhe
haben und von Überflutungen bedroht sind, wenn
sich der Wasserstand erhöht. Für den Bau könnten
lokale Materialien und Kräfte genutzt werden, betont der 38-Jährige.
Als erstes Gebäude dieser Art ist in Makoko mit
Hilfe des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) und der deutschen Heinrich-BöllStiftung eine Grundschule entstanden – weithin bekannt als die schwimmende Schule von Makoko.
Und Adeyemi träumt von mehr. „Als nächstes würden wir gerne ein Gemeinschaftszentrum bauen, ein
paar neue Klassenzimmer, eine Klinik, einen Markt
und Häuser – alles schwimmend.“ Die schönen Gebäude aus Holz und Bambus sollen das Viertel in ein
wirkliches afrikanisches Venedig verwandeln. „In
nur anderthalb Jahren könnten all die hässlichen
Fassaden ersetzt werden“, sagt der Architekt.
Doch damit er seine Pläne verwirklichen kann,
müsste ihn die Stadtverwaltung von Lagos unterstützen. Die hat bislang wenig Begeisterung für das
Modell gezeigt – weder in Makoko noch in anderen
Vierteln, die vom steigenden Meeresspiegel bedroht
sind.
Aus dem Englischen von Gesine Kauffmann.
| 2-2015
Sam Olukoya
ist freier Journalist in Lagos
(Nigeria).
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22
schwerpunkt wohnen
„Gebäude müssen ins Umfeld passen“
Die Architektin Comfort Badaru wundert sich über den Trend zu Glasbauten in Daressalam
Gespräch mit Comfort Badaru
Tansanias Hautstadt wächst rasant. Eigentlich bräuchte die Stadt
eine dem Klima angepasste grüne
Architektur, findet Comfort Badaru. Doch moderne Bauten mit
viel Glas und Klimaanlagen seien
gefragt – nicht zuletzt aus Prestigegründen.
In Daressalam boomt die Baubranche. Alle paar Monate wird ein
neuer Büro- und Apartmentkomplex fertig. Ist das nur erfreulich
oder gibt es auch eine Kehrseite?
Abgesehen davon, dass der
Bauboom erfreulich ist, ist er
auch unvermeidbar. Unsere Bevölkerung wächst rapide. Die Anzahl der Menschen in Daressalam
nimmt jedes Jahr um eine Million
zu. Die Frage muss lauten: Was ist
der richtige Ansatz, mit diesem
Wachstum umzugehen? Im Stadtzentrum, in Kariakoo – einem
sehr dicht besiedelten, betriebsamen Ort – wird vor allem in die
Höhe gebaut. Aber das hilft nicht
wirklich weiter. Ich würde vorschlagen, dass man neue Stadtgebiete oder Städte schafft. Das
wäre ein besserer Ansatz. Die Regierung hat das bereits versucht.
„In den Nobelvierteln hat jedes Haus, jedes
Apartment, jeder Raum eine Klimaanlage.
Das ist auch eine Prestigefrage.“
Doch der Tansanier möchte erst
einmal da bleiben, wo er ist und
immer war. Wer möchte schon
der erste sein an einem neuen
Ort? Es ist einfacher, nachzuziehen, wenn der Anfang gemacht
ist. Doch langsam verstehen die
Leute, dass das Arbeiten von der
Vorstadt aus die bessere Option
ist, als ins Stadtzentrum zu pendeln. Der Verkehr hinein und zurück ist wirklich verrückt. Mittlerweile wird auch außerhalb des
Stadtzentrums mehr gebaut.
Entwerfen und bauen tansanische
Architekten und Unternehmen
diese Gebäude, oder kommen die
Planer aus dem Ausland?
Abgesehen von ein paar Ausländern, die hier in Tansania leben und arbeiten, sind das hauptsächlich tansanische Architekten
und Organisationen. Die Bauvorhaben werden aber vor allem von
chinesischen Bauunternehmen
ausgeführt. Die Chinesen arbeiten zu schnell und zu billig.
Gibt es unter diesen tansanischen
Architekten einen mit Vorbildfunktion für Tansania und Ostafrika?
Für mich ist es wichtig, dass
die Architektur in Zusammenhang mit dem Umfeld steht. Und
dafür gibt es vor allem einen tansanischen Architekten: Nadir
Tharani. Seine Entwürfe sind einzigartig. Seine Gebäude entsprechen der Situation hier. Er berücksichtigt Sonnenschutz, Lüftung, hohe Decken und all die
Elemente einer funktionalen Tropenbauweise. Dann gibt es John
Kelly, einen Engländer, der seit
1993 für IPA Architects London
das Büro in Daressalam leitet.
Oder Epitome Architects – die haben eine Akkreditierung für
nachhaltiges Bauen bekommen.
Und natürlich Anthony B. Almeida. Er hat die St. Peters Kirche in
Masaki gebaut und einige Gebäude der Universität Daressalam. Er
respektiert auf jeden Fall den tansanischen Kontext. Heute ist er 93
Jahre alt und arbeitet immer
noch.
Wie würden Sie den gegenwärtigen Bauboom beschreiben? Kann
man von einem tansanischen Baustil sprechen?
Momentan muss alles voll im
Trend sein, zum Beispiel die schi-
cken Glasgebäude. Wer will heutzutage noch Betongebäude? Ein
modernes Leben in einer modernen Stadt führen, das ist hier gerade der Leitspruch. Dazu gehören Gebäude, wie sie global im
Trend liegen. Was in Dubai funktioniert, kann in Daressalam auch
funktionieren. Nur: Diesen Gebäuden fehlt der Bezug zum Umfeld und dadurch eine Identität.
Es gibt keinen modernen tansanischen Baustil. Im Stadtzentrum
von Daressalam sieht man heute
keine Gebäude, die charakteristisch für Tansania sind. Die Swahili-Architektur sieht man noch
in den informellen Siedlungen.
Hier stehen die Häuser in engen
Straßenzügen nah beieinander.
Dies entspricht dem Gemeinschaftsgedanken der Swahili-Kultur und dient außerdem der Beschattung. Die Gebäude haben
eine niedrige Deckenhöhe und
eine spezielle Belüftung. Das ist
aber schwer übertragbar auf
zwanzigstöckige Gebäude. Auch
in den boomenden, mittelständischen Vorstädten wird man die
Swahili-Bauweise nicht mehr finden. Doch es sollte einen Weg geben, eine Architektur zu entwerfen, die für Tansania kennzeichnend ist. Wir brauchen eine Architektur, die zu unserem
tropischen Klima passt. Am besten nachhaltige, grüne Gebäude
mit ausreichend Belüftung.
Wurde das in Ihrem Architekturstudium gelehrt?
Auf jeden Fall! In einem Fach,
das Umweltwissenschaften heißt,
lernt man, Umwelteinflüsse auf
Bauen und Wohnen zu verstehen.
Wie müssen zum Beispiel Fenster
ausgerichtet werden, um eine an-
2-2015 |
Comfort Badaru hat in Daressalam
Architektur studiert und das Architektur-Magazin ANZA mit gegründet.
Die gebürtige Uganderin vertritt
den Architekturverband Tansanias in
einem Projekt zum Architektur-Erbe
Daressalams.
Enge Straßenzüge prägen das
Bild von Stone Town auf der Insel
Sansibar. Sie sind charakteristisch
für die traditionelle SwahiliBauweise, die in großen Städten
kaum noch anzutreffen ist.
Sven Torfinn/laif
BarbarA Off
wohnen schwerpunkt
„Wenn man eine Familie gründet,
lebt man in einem Haus. Apartments sind
nur eine Zwischenlösung.“
genehme Wohntemperatur zu
haben? Leider wenden die Architekten hier dieses Wissen in der
Praxis nicht an. Das soll einer verstehen! Jeder Architekt weiß, wie
das Klima hier ist und welche
Bauweise das erfordert. Aber die
meisten Menschen wollen ein
modernes, schönes Haus mit maximaler Ausstattung mit Klimaanlagen. Nicht alle Häuser haben
solche Anlagen. Das ist auch eine
Frage des Geldes. In den Mittelklassegegenden wie Sinsa haben
die Häuser normale Fenster und
Ventilatoren. In den Nobelvierteln hat jedes Haus, jedes Apartment, jeder Raum eine Klimaanlage. Das ist auch eine Frage des
Prestiges und des Wohlstandes.
Wer das nötige Kleingeld hat, bewegt sich hauptsächlich an gekühlten Orten.
Geht der Trend eher zum gemieteten Apartment oder zum Eigenheim?
Mein Traum ist ein eigenes
Haus mit einem Tor und einem
eigenen Garten statt einer Wohnung in einem Apartmentkomplex. Und wenn ich mich so umsehe, ist das die Richtung für jeden in Tansania, vielleicht sogar
in Afrika. Man beendet die Schule,
bekommt einen guten Job, und
dann baut man ein Haus. Das ist
eine Prestigefrage. Wenn man
eine Familie gründet, lebt man in
einem Haus. Apartments sind
nur eine Zwischenlösung.
Wie teuer ist es denn ungefähr,
eine Wohnung in Daressalam zu
mieten?
Das hängt natürlich von Größe und Ausstattung der Wohnung
und vom Stadtviertel ab. Es beginnt zwischen 100 und 800 USDollar pro Monat und kann bis zu
2500 oder gar 4000 US-Dollar für
die schicken Apartments und großen Häuser gehen. Normalerweise muss man die Miete ein halbes
bis ein Jahr im Voraus bezahlen.
Ausnahmen werden zum Beispiel
für Austauschstudenten und Ausländer gemacht, die hier arbeiten.
Wir zahlen nur Strom und Wasser
monatlich. Strom kauft man im
Voraus und verbraucht ihn dann.
In Makongo, wo ich wohne, muss
ich das Wasser extra kaufen und
lagern – in Kanistern für 300 Tansanische Schilling (14 Eurocent)
das Stück. Meine Nachbarn, zwei
junge Frauen, verbrauchen beispielsweise pro Woche Wasser im
Wert von 15.000 Schilling (etwa
7,25 Euro).
Welche Ausstattung sollte ein
Haus oder ein Apartment heutzutage haben?
Die Hauptsache ist, dass es im
ganzen Haus Bodenfliesen hat.
Die Leute schauen auch darauf,
dass jedes Schlafzimmer sein eigenes Bad hat plus eine Gästetoilette. Apropos Toilette: Wenn
man eine Sitztoilette im europäischen Stil hat, dann ist das auch
ein Plus. Billiger, weil wassersparender, sind die Stehtoiletten.
Und wenn es eine Klimaanlage
gibt, ist es natürlich top. Die Innenausstattung hängt vom Einzelnen und seinem Geschmack
ab, hier gibt es keinen speziellen
tansanischen Stil. Man muss eigentlich nur in die Möbelgeschäfte schauen, dann weiß man, wie
die Häuser innen aussehen.
Das Gespräch führte Barbara Off.
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schwerpunkt wohnen
Zuhause im Ziegenhaarzelt
Nomaden wohnen traditionell in Unterkünften, die perfekt
an die unwirtlichen Umstände in der Wüste angepasst sind.
Ihre Lebensweise ist zunehmend bedroht.
Text und Fotos: Meike Meerpohl
M
ehr als ein Drittel der Landmasse der Erde
besteht aus Wüste. Gleißende Sonne, Hitze,
Trockenheit, Sandstürme, klirrende Kälte
in der Nacht – die klimatischen Bedingungen sind
extrem. Trotzdem leben hier seit Jahrhunderten
Menschen mit ihren Viehherden. Sie haben sich
dem Rhythmus der Jahreszeiten, den stark schwankenden Regenfällen und den spärlichen Ressourcen
angepasst.
Ihren Lebensunterhalt bestreiten die meisten
Gruppen mit Viehhaltung, denn die Tiere können
aus knappen Ressourcen hochwertige Nahrungsmittel produzieren. Die spärlichen Weidegründe erfordern jedoch Mobilität der ganzen Familie, um Futter
und Wasser für die Tiere zu finden. Manche Gruppen,
die Nomaden, sind ganzjährig unterwegs, andere,
sogenannte Halbnomaden, leben einen Teil des Jahres in einer Siedlung. Eine Gruppe von ihnen sind die
Beduinen, die in den Wüsten des Nahen Ostens, der
Arabischen Halbinsel und Nordafrika zu Hause sind.
Voraussetzung für ein mobiles Leben ist eine Unterkunft, die ebenso schnell auf- wie abgebaut und
auf Tieren transportiert werden kann. Beduinen
wohnen traditionell in einem schwarzen Ziegen-
haarzelt. Es spendet Schatten, schützt vor Kälte,
Wind, Sand und Staub und schafft eine Privatsphäre
für seine Bewohner. Die Zelte der Beduinen werden
von den Frauen hergestellt. Im Frühjahr scheren sie
die Wolle der Schafe und Ziegen, spinnen sie zu
gleichmäßigen Fäden und weben sie zu Bahnen.
Der Webrahmen liegt als flexible Konstruktion
auf dem Boden, ist leicht zusammenzusetzen und
schnell abzubauen, wenn die Wüstenbewohner ihren Lagerplatz wieder verlassen. Die Frauen weben
die Zeltbahnen wie einen dicken Teppich in variierenden Längen von bis zu 45 Metern bei einer Breite
von etwa 80 Zentimetern. Sie werden mit Pfosten
und Leinen zu einem Zeltsystem zusammengesetzt.
Holzstangen an den äußeren Ecken und als Innenpfosten werden mit Stricken und Seilen so verspannt,
dass sich ein schattiger Innenraum bildet.
Die Größe der Zelte lässt sich mit zusätzlichen
Innenpfosten anpassen. Ein durchschnittliches Ziegenhaarzelt hat eine Länge von vier bis fünf Metern,
ein großes Zelt kann bis zu 50 Meter lang sein. Die
lockere Webstruktur lässt bei Tag Licht hinein, in den
heißen Tagesstunden kann der Wind zirkulieren und
zugleich kann der Rauch aus der Feuerstelle im Innenraum entweichen. Bei Regen dagegen quillt die
Wolle durch die Feuchtigkeit auf und macht die Außenhaut des Zeltes dichter. Das natürliche Öl der
Wolle lässt das Wasser abperlen. Der Innenraum
bleibt trocken und warm.
Das Zelt, dessen Innenraum meist durch einen
Vorhang zweigeteilt ist, bildet die Wohnstätte einer
Kernfamilie. Der größere Raum ist tagsüber vorwie-
2-2015 |
wohnen schwerpunkt
Gemacht für das mobile Leben:
Beduinenzelte sind stabil, aber
schnell auf- und abzubauen und
einfach zu transportieren.
gend den Frauen vorbehalten. In diesem Bereich
spielt sich das Familienleben ab, hier wird die Hausarbeit verrichtet und geschlafen. Im kleineren Bereich werden Gäste empfangen; alte Männer nutzen
ihn auch als Schlafplatz. Eine Trennung zwischen
privat und öffentlich wird nur dann vorgenommen,
wenn männliche, nicht zur Familie gehörende Gäste
anwesend sind. Die Unterteilung wird nicht als Ausgrenzung der Frauen verstanden, sondern als Zeichen des Respekts und des Schutzes.
A
Meike Meerpohl
ist Ethnologin und war in der
Vergangenheit für unterschiedliche
Forschungsprojekte in verschiedenen
Ländern des Nahen Ostens und Afrikas
unterwegs. Zurzeit arbeitet sie an der
Universität Köln.
| 2-2015
uch die Arbeiten sind bei den Beduinen traditionell nach Geschlechtern geteilt. Die Frauen
sind für die Ziegen und Schafe verantwortlich: Sie hüten und scheren sie, produzieren aus ihrer Wolle Zeltbahnen und Teppiche, gewinnen aus
ihrer Milch Käse und Joghurt, holen Wasser, kochen
die Mahlzeiten und versorgen den Haushalt. Den
Männern obliegt die Viehzucht: Sie hüten und trainieren die Kamele, sie gehen auf den Markt, um Produkte zu kaufen und zu verkaufen. Felder – falls vorhanden – werden ebenfalls von den Männern bestellt. Sie kümmern sich außerdem um einen neuen
Siedlungsplatz, wenn die Zeit gekommen ist, weiter
zu wandern – abhängig vom Zustand der gegenwärtig genutzten Flächen, ertragreicheren Alternativen
sowie möglichen, weiter entfernt liegenden Wasserstellen und Weideplätzen. Ist die Entscheidung getroffen, so werden das Zelt sowie sämtliche Haushaltsgegenstände und Lebensmittel innerhalb weniger Stunden abgebaut und auf den Lasttieren verstaut.
Im vergangenen Jahrhundert hat sich das Leben
vieler Nomaden stark verändert. Die Festlegung von
Staatsgrenzen erschwerte die Wanderbewegungen,
der Bau von Straßen und Eisenbahnen hat dem Karawanenhandel und -transport seine Bedeutung
entzogen. Regierungen versuchen zunehmend, no-
madische Gruppen sesshaft zu machen, um sie besser zu kontrollieren, aber auch, um ihnen einen Zugang zu Schulen und Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Aus Sicht vieler politischer Entscheidungsträger sollen Nomaden ihre „primitive“
Lebensweise zugunsten eines moderneren Lebensstils aufgeben und Staatsbürger werden.
Manche Nomaden – in weiten Teilen Afrikas –
siedeln sich freiwillig in der Nähe von Städten an,
andere werden im Rahmen von staatlichen Programmen dazu gezwungen. Das geschah etwa in den
1960er und 1970er Jahren in vielen Regionen des Nahen Osten, um Modernisierungs- und Entwicklungsprozesse zu beschleunigen und um die Wüsten besser kontrollieren zu können. Einige dieser Ansiedlungen, etwa im israelischen Beer Sheva oder im jordanischen Um Saihun, gleichen Reservaten. Sesshaft
gemacht im urbanen Umfeld, fehlt der nomadischen
Bevölkerung jegliche wirtschaftliche Grundlage. Die
sozialen Veränderungen führen zu Arbeitslosigkeit,
Armut und Kriminalität bis hin zu Alkohol- und Dogenabhängigkeit.
Nur wenigen Gruppen gelingt es, ein nomadisches oder halbnomadisches Leben fortzusetzen. Für
die meisten wird es immer schwieriger, als Viehzüchter zu überleben, so dass sie gezwungen sind,
sich neue Erwerbsquellen zu suchen. Neue Arbeitsplätze, die Trennung der Familien sowie der Zugang
zu anderen Regionen, Gruppen und Lebensweisen
beeinflussen alle Lebensbereiche der nomadischen
Gesellschaften und verändern auch ihre Art zu wohnen.
Die Ziegenhaarzelte werden vielfach von mobilen, jedoch stabileren Behausungen oder festen Hütten und Häusern abgelöst. Im Zuge der forcierten
Ansiedlung reduzierte sich der Bestand an Ziegen,
das Ziegenhaar und die Zelte wurden teurer. Viele
Beduinen waren gezwungen, ihre Zelte mit Jute und
Plastikplanen auszubessern oder ganz daraus herzustellen. Die Zeltstangen wurden durch fest im Boden
verankerte Balken ersetzt, der Boden wurde zementiert und die Trennwände bestehen nun aus Holz, so
dass sich die Zelte immer mehr den Wohnräumen
der sesshaften Lebensweise anpassen.
Der Umgang mit Nomaden in den einzelnen
Staaten hängt ab von der politischen Ausrichtung
der Regierung, der Größe des Landes und der Bevölkerung, den potenziellen Weideflächen sowie tribalen, regionalen oder überregionalen Konflikten. Die
israelische Regierung etwa hat in Teilen des Landes
das Grasen von Ziegenherden verboten, so dass die
nomadische Lebensweise dort aufgegeben werden
musste. In Jordanien setzt man auf mehr Kontrolle,
im Sudan oder im Tschad ist eine Koexistenz verschiedener Lebensformen möglich.
In vielen Regionen des Nahen Ostens jedoch sind
nomadische Behausungen wie das Ziegenhaarzelt
der Beduinen mittlerweile eher ein Symbol für die
traditionelle Lebensweise in der Wüste, denn in den
meisten Gebieten sind die Zelte Betonsiedlungen gewichen – oder dienen vereinzelt nur noch als Attraktion für die Touristen. 25
26
schwerpunkt wohnen
Die Illusion
vom Eigenheim
Viele Regierungen in Lateinamerika fördern das Wohneigentum. Das hilft der Mittelschicht,
beendet aber nicht die Wohnungsnot und das Wachstum der Armensiedlungen. Die Selbsthilfe
in diesen Slums kann bei der Lösung helfen.
Text: Alan Gilbert, Fotos: Jorge Silva/Reuters
M
ehr als 50 Millionen Familien leben in Lateinamerika in Behausungen, die aus unstabilem Material zusammengestückelt
oder nicht an die Infrastruktur angeschlossen sind.
Ärmliche Wohnverhältnisse waren auf dem Land
schon immer ein Problem. Und die Abwanderung in
die Städte hat dort die ausgedehnten Favelas, Barriadas und Colonias Clandestinas hervorgebracht, über
die so häufig berichtet wird.
In den vergangenen Jahren haben viele Regierungen versucht, hier Abhilfe zu schaffen. Doch den
meisten Programmen war kein großer Erfolg beschieden. Ob öffentliche Wohnungen gebaut wurden, Investitionen in Immobilien subventioniert,
Elendsviertel saniert oder den Bewohnern Eigentumsrechte zugestanden – unterschiedliche Ansätze
haben die Lage meist nur geringfügig verbessert. Der
einzige Fortschritt in der gesamten Region ist, dass
jetzt sehr viel mehr Häuser als zuvor an die Strom-
und Wasserversorgung und die Kanalisation angeschlossen sind.
Seit Jahren verspricht jede lateinamerikanische
Regierung, sie wolle das Wohneigentum fördern; in
Kolumbien war das erklärte Ziel gar eine „Nation von
Hausbesitzern“. Wenn ich zuständige Beamte in der
Region fragte, warum ihre Regierung keine Mietwohnungspolitik hatte, erklärten sie stets, der Wunsch
nach einem Eigenheim sei in der lateinamerikanischen Kultur tief verwurzelt. Das stimmt ziemlich
sicher nicht – nicht mehr als in England, bevor dort
eine Regierung nach der anderen den Wunsch nach
Wohnbesitz stimulierte. 1918 wohnten rund 90 Prozent aller Familien in Großbritannien zur Miete und
noch 1970 mehr als die Hälfte. Doch übertrieben
großzügige Darlehensangebote, die unzureichende
Besteuerung von Immobiliengeschäften und die
Vernachlässigung von Mietwohnungen heizten das
Interesse an, Wohnungen zu kaufen.
2-2015 |
wohnen schwerpunkt
schuss hoffen. Weil dieser plus die Ersparnisse nicht
die gesamten Baukosten deckten, sollten zusätzlich
Darlehen aufgenommen werden.
Dieses sogenannte ABC-Modell – von Ahorro (Ersparnisse), Bono (Zuschüsse), Credito (Darlehen) –
übernahmen viele lateinamerikanische Länder in
modifizierter Form. Das System war einleuchtend:
Mit ihren Sparanstrengungen mussten sich die Familien der Zuschüsse würdig erweisen, dank derer sie
ein Haus kaufen konnten. Dank der Kredite musste
der Staat pro Wohneinheit weniger zuschießen, und
mehr Familien konnten berücksichtigt werden.
D
Der Slum Las Mayas in der
venezolanischen Hauptstadt
Caracas erstreckt sich über einen
steilen Hügel (links und Mitte).
Die kleinen Holzhäuser lassen
wenig Raum für Privatsphäre
(rechts).
Die Regierungen Lateinamerikas verfolgen jetzt
dieselbe falsche Strategie. Vielen Familien bringt
Wohneigentum nichts und sie würden gern zur Miete wohnen. Menschen ohne festen Job, Studenten,
neu Zugezogene und frisch Getrennte oder Geschiedene brauchen befristete Unterkünfte. Familien
ohne Kinder mögen lieber da wohnen, wo sie arbeiten, als in einer Vorstadtsiedlung ohne Infrastruktur.
In Lateinamerika können sich Mittelschichtsfamilien in der Regel mit Hilfe eines Darlehens ein
Heim kaufen. Aber weniger Begüterte können das
nicht, weil reguläre Häuser zu viel kosten und wenige Banken bereit sind, ihnen ein Darlehen zu gewähren. Lange Zeit versuchten die Regierungen dieses
Problem mit sozialem Wohnungsbau zu lösen. Das
hat nicht viel geholfen, weil mit den vorhandenen
Mitteln nicht einmal ein Bruchteil der benötigten
Wohnungen gebaut werden konnte.
Wer kostenlos Wohnraum zur Verfügung stellt,
macht sich beliebt. Doch viele Nutznießer
bleiben so arm wie zuvor.
Die Regierung Pinochet in Chile ging anders vor:
Um dem Sozialismus den Boden zu entziehen, das
Baugewerbe zu fördern und die ärmere Bevölkerung
unterzubringen, führte das Ministerium für Bauwesen 1977 Kapitalzuschüsse ein. Die Planung und der
Bau aller Sozialwohnungen wurde dem privaten
Baugewerbe überlassen. Um die Nachfrage zu stimulieren, sollten diejenigen armen Familien subventioniert werden, die sich selbst zu helfen versuchten –
das heißt, die eigene Ersparnisse ansammelten. Je
länger sie gespart hatten und je höher ihre Rücklagen waren, desto eher konnten sie auf einen Zu-
| 2-2015
och leider lag hier ein entscheidender Fehler:
Die meisten Familien waren zu arm, um genügend sparen zu können, und ihr Einkommen
war zu gering, als dass die Banken ihnen ein Darlehen
gewährt hätten. Manche Regierungen erhöhten deshalb für Arme die Zuschüsse stark, und einige stellen
den Ärmsten jetzt Wohnraum kostenlos zur Verfügung. In Venezuela sorgte Hugo Chávez dafür, dass
die Opfer von Naturkatastrophen Wohnungen bekamen, für die sie zunächst gar nichts zahlen mussten
– auch keine Miete. Und 2012 gab die kolumbianische
Regierung bekannt, sie werde pro Jahr für 100.000
Familien kostenlose Wohnungen bereitstellen. Diese
Politik war natürlich sehr populär: Die erste Begünstigte kniete weinend vor dem Bauminister nieder
und dankte Gott für ihre neue Unterkunft.
Wenn man Häuser kostenlos verteilt, macht man
sich beliebt und schafft Arbeitsplätze im Baugewerbe. Doch die Nutznießer bleiben so arm wie zuvor.
Oft haben sie Probleme, Steuern und Dienstleistungen zu bezahlen, ganz zu schweigen von der Instandhaltung ihrer Wohnungen. Es gibt Hinweise darauf,
dass Arme öfter krank werden, nachdem sie in regulären Wohnungen untergebracht wurden: Sie müssen mehr für die Miete oder die Abzahlung ihres
Darlehens ausgeben und behalten für Lebensmittel
und für die medizinische Versorgung weniger übrig.
Wenn man Wohnungen scheinbar umsonst anbietet,
ist dies der Knackpunkt: Die Ursache des Problems
ist die Armut, und an der ändert sich nichts.
In jedem Fall ist der Mangel an Wohnraum zu
groß, als dass er durch kostenlose Wohnungen wesentlich gelindert werden könnte. In Kolumbien sind
rund 1,2 Millionen Familien ohne angemessene Unterkünfte. Selbst wenn die Nachfrage konstant bliebe, würde es zwölf Jahre dauern, den Mangel zu beheben. Doch alljährlich suchen zusätzlich 300.000
Haushalte eine Wohnung, weil immer mehr Menschen in den Städten Arbeit suchen und die Veränderung der Lebensgewohnheiten es mit sich bringt,
dass viele allein leben wollen. Hierzu trägt auch die
Zunahme an Scheidungen und Trennungen bei.
In einer idealen Welt müssten die Armen ihre Behausungen nicht selbst errichten, wie es so viele in
Lateinamerika tun. In einem Verschlag zu leben, bis
das Haus fertig ist, und jahrelang auf reguläre Infrastruktur und leicht erreichbare Schulen, medizinische Einrichtungen und Verkehrsmittel zu verzichten, ist schlimm genug. Noch dramatischer wird es in
27
28
schwerpunkt wohnen
einer Umgebung, in der man ständig von Stürmen,
Erdbeben und Überschwemmungen bedroht ist. Und
doch haben zahllose Lateinamerikaner mangels besserer Alternativen genau das geschafft und sind zum
Erstaunen Vieler gut zurechtgekommen. In den
meisten Städten haben sie solide gemauerte Häuser
mit mindestens zwei Stockwerken errichtet. Die
nachträglich sanierten Siedlungen an den Hängen
von Bogotá, Caracas und Rio de Janeiro zeugen von
dem Fleiß und der Eigeninitiative ihrer Erbauer.
Diese Leistung haben die meisten lateinamerikanischen Regierungen in der Vergangenheit nicht anerkannt. Vor allem die autoritären Regime in Argentinien, Brasilien und Chile versuchten, Siedler zu
vertreiben. Inzwischen haben die meisten Regierungen widerstrebend eingesehen, dass es besser ist, solche Siedlungen zu sanieren und nur die zu räumen,
die an besonders gefährdeten Orten errichtet wurden. Deshalb wurde in die Infrastruktur und in verbesserte Dienstleistungen investiert. In Bogotá und
Medellín hat fast jeder Zugang zu Strom, Wasser und
Kanalisation, und auch in den meisten kleineren kolumbianischen Städten verbessert sich die Situation
zusehends.
D
.
ie nachträgliche Sanierung ist wie ein Wundpflaster, während die Lateinamerikaner eigentlich weniger Wunden brauchen. Leider
haben zu wenige Regierungen begriffen, dass aus
notdürftigen Behausungen reguläre Häuser werden
können und das Bauen in Eigenregie eine zwangsläufige Folge der Armut in den Städten ist. Sie sollten
die weitere Zunahme der spontanen Ansiedlungen
in die Planung aufnehmen.
Dabei müssen sie erstens illegale Landbesetzungen verhindern, vor allem dort, wo Gefahren für
Wohnsiedlungen drohen, wo die Infrastruktur zu
kostspielig wäre oder wo bereits eine öffentliche
Nutzung vorgesehen ist. Zweitens sollten sie alternative Standorte für spontane Besiedlung anbieten. Sie
müssen noch nicht komplett erschlossen sein, sollten aber die Voraussetzung bieten, um alle Infrastruktur-Dienste nachträglich kostengünstig aufzubauen. Dann könnten arme Familien ordentliche
Unterkünfte billiger und schneller errichten als bisher, vor allem wenn man ihnen technische Beratung
und Kleinkredite zur Verfügung stellt und die Kosten
des Baumaterials niedrig gehalten werden.
Die Regierungen armer Länder können die Wohnungsnot nicht beheben, weil die Armut insgesamt
zu groß ist. Überdies verwenden die lateinamerikanischen Regierungen einen zu kleinen Anteil des
Bruttoinlandsprodukts für die Schaffung von Wohnraum; in den Jahren 2008 und 2009 gaben nur Brasilien und Nicaragua mehr als zwei Prozent davon
für den sozialen Wohnungsbau aus.
Das wird üblicherweise mit dem Mangel an Geld
begründet. Das überzeugt nicht ganz, weil die meisten lateinamerikanischen Länder wenig Steuern eintreiben und es beträchtliche Spielräume für ein höheres Steueraufkommen gibt. Steuern auf Wertzuwächse und Kapitaleinkommen könnten die öffent-
lichen Kassen füllen, werden aber selten erhoben.
Zum Beispiel erklärte mir der damalige Bürgermeister von Quito, dass die Grundsteuer im Jahr 2011 im
Schnitt nur 25 US-Dollar pro Haushalt eingebracht
habe. Es liegt auf der Hand: Die Landflucht macht
Immobilienbesitzer reich, und zu wenig von ihren
Kapitalgewinnen wird besteuert. Wenn die Regierungen wirklich mehr in den sozialen Wohnungsbau investieren wollten, hätten sie die Möglichkeit dazu.
Viele glauben, der peruanische Wirtschaftswissenschaftler Hernando de Soto habe die Lösung für
die Probleme der Wohnungsnot und sogar der Arbeitslosigkeit und des Entwicklungsrückstands in
Lateinamerika gefunden. In seinem 2000 erschienenen Buch „Freiheit für das Kapital“ erklärt er, dass
die Armen in der Lage sind zu sparen. Aber ihre Werte seien juristisch schlecht abgesichert: „Ihre Häuser
stehen auf Grundstücken, für die sie keinen Besitzanspruch nachweisen können, ihre Unternehmen
sind nicht registriert und die Haftung ist nicht ge-
Die Landflucht macht Immobilienbesitzer reich,
aber deren Kapitalgewinne werden
viel zu wenig besteuert.
klärt, ihre Produktionsstätten bleiben für Geldgeber
und Investoren unsichtbar.“ Weil ihr Besitz nicht adäquat dokumentiert sei, könnten sie ihn nicht leicht
zu Kapital machen und produktiv einsetzen. Laut de
Soto belief sich das tote Kapital, über das die Armen
in zwölf lateinamerikanischen Ländern verfügen,
auf satte 1,2 Billionen US-Dollar.
Er hält es für die wichtigste Aufgabe der Regierungen, den informellen Sektor auf eine gesetzliche
Basis zu stellen. Wenn die Häuser in den spontan er-
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wohnen schwerpunkt
Ordentliche Häuser, befestigte Straßen:
Venezuelas verstorbener Präsident Hugo
Chávez wollte mit einem großen Bauprogramm bezahlbare Wohnungen für die
Armen schaffen. Die sozialistische Stadt
„Cacique Tiuna“ – hier Bilder vom April
2011 – ist eines der Vorzeigeprojekte.
richteten Siedlungen im Grundbuch eingetragen
wären, könnten sie gekauft und verkauft werden und
ihre Eigentümer könnten Bankkredite aufnehmen.
Doch obwohl Eigentumsnachweise manchmal die
Lage der Armen verbessern können, ist de Soto zu
optimistisch. Besitztitel können die Wohnungssituation in der Dritten Welt nicht grundsätzlich verändern, denn es gibt ganz einfach zu viele sehr arme
Familien, die sich keine regulären Wohnungen leisten können und klug genug sind, keine großen Kredite aufzunehmen. Wo bittere Armut herrscht, hilft
es den Hausbesitzern wenig, wenn ihr Eigentum legalisiert wird, und den Millionen von Mietern nützt
es gar nichts.
D
ass in armen Ländern mit hoher sozialer Ungleichheit die Wohnungsnot beseitigt werden
könnte, ist eine völlig verfehlte Vorstellung.
Mit vernünftigen Maßnahmen können Regierungen
die Lage verbessern helfen, aber populistische Versprechen, den Mangel an Wohnraum zu beenden,
sind illusorisch. Genau dies behaupten aber viele lateinamerikanische Regierungen: Schon bald werden
alle in schönen Häusern wohnen, die ihnen gehören!
Es ist an der Zeit, dass die Regierungen mutiger
und ehrlicher werden. Sie müssen die Immobilien-
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spekulation erschweren und die Gewinne aus Grundund Wohneigentum höher besteuern. Mit den höheren Einnahmen könnten mehr informelle Siedlungen an die Wasserversorgung und die Kanalisation
angeschlossen werden. Doch die Regierungen sollten zugeben, dass der Mangel an Wohnraum in Lateinamerika und mehr noch in Afrika und großen
Teilen Asiens ein unüberwindbares Problem darstellt. Sie sollten nicht länger vorgeben, dass ihre
Programme – auch wenn manche durchaus Anerkennung verdienen – mehr erreichen können, als die
Wohnungsnot und den informellen Siedlungsbau in
Grenzen zu halten.
In Wirklichkeit brauchen die Armen Lebensmittel und medizinische Versorgung dringender als
hochwertige Wohnungen. Die ganz Armen sind für
ihr Überleben sogar auf einfachste Unterkünfte angewiesen, die nicht viel kosten. Gibt es die nicht, dann
werden sie entweder obdachlos, oder sie drängen sich
in hoher Zahl in den preiswertesten Wohnungen zusammen. Manchmal steht die Verbesserung der
Wohnqualität im Widerspruch zur Verbesserung der
Lebensbedingungen der Armen. Slums zu beseitigen
hilft nicht gegen die Armut. Doch die Armut zu lindern, wird mit ziemlicher Sicherheit auch die Wohnungssituation der Armen verbessern.
Alan Gilbert
ist emeritierter Professor für Geografie
am University College London und
Experte für Stadtentwicklung in Lateinamerika.
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In Nordkorea hat sich eine kleine Mittelschicht
herausgebildet. Zu ihr gehören die Besucher
des Wasserparks Rungna in Pjöngjang.
welt-blicke xxx
Reuters/KCNA
Aufschwung in Nordkorea
Nordkoreas Führer Kim Jong-un will die Wirtschaft seines
Landes ankurbeln. Erste Schritte hat er getan – vor allem will
er die erdrückende Abhängigkeit von China verringern.
Von Rüdiger Frank
N
ordkorea erfreut sich hierzulande großen Interesses, und das trotz – oder wegen? – eher
kritischer Schlagzeilen in den Medien. Bizarrer Führerkult, Menschenrechtsverletzungen, Hunger, der mutmaßliche Hacker-Angriff auf die SonyFilmstudios und Kriegsdrohungen gegen die USA:
Das bringt Aufmerksamkeit. Das Wissen darüber,
was tatsächlich in Nordkorea vor sich geht, ist hingegen vergleichsweise spärlich. Dafür gibt es gute
Gründe, allen voran die Informationspolitik der
nordkoreanischen Regierung, die Ausländer nur unter Auflagen und mit strikter Bewachung ins Land
lässt. Individuelle Reisen oder gar Feldforschung
sind unmöglich. Offizielle Statistiken, selbst geschönte, sind Mangelware.
Ein weiteres Hindernis ist der Versuch, eine komplexe Gesellschaft entlang eines vereinfachten GutBöse-Gegensatzes zu erklären. Der zweifellos berechtigte Abscheu, den Berichte über Menschenrechtsverletzungen hervorrufen, verstellt häufig den Blick
auf die Fortschritte, die in den vergangenen zwei
Jahrzehnten erzielt worden sind. Wer sich ernsthaft
darüber Gedanken macht, wie das vom Atomprogramm ausgehende sicherheitspolitische Risiko verringert und die Lage der Menschen in Nordkorea
verbessert werden kann, muss die komplexe, oft widersprüchliche Realität betrachten.
Nordkorea stand nach der Teilung des Landes
1948 zunächst auf der Sonnenseite. Auch der zerstörerische Korea-Krieg konnte nicht verhindern, dass der
wirtschaftliche Vorsprung, den die Nordhälfte Koreas
unter der japanischen Kolonialherrschaft errungen
hatte, zunächst erhalten blieb. Hinzu kam umfangreiche Hilfe aus China und der Sowjetunion. Zwar wurde
Nordkorea in den 1970er Jahren vom durch die USA
geförderten Südkorea wirtschaftlich überholt, doch
der Staat konnte noch immer eine stabile Versorgung
mit elementaren Gütern gewährleisten.
2-2015 |
nordkorea welt-blicke
Straßenszene in Pjöngjang. Auch
Autos werden im Land hergestellt.
Rüdiger Frank
Vladivostok
Nordkorea
©
RUSSLAND
100 km
CHINA
Rason
OSTASIEN
Japanisches
Meer
NORDKOREA
122.762 km2
Fläche:
Einwohner:
Pjöngjang
Kaesong
Seoul
Gelbes Meer
24,8 Mio.
Lebenserwartung:
69, 81 Jahre
Analphabetenrate:
< 1%
Pro-Kopf-Einkommen
(Kaufkraftparitäten): ca. 2000 US-$
SÜDKOREA
Quellen: CIA World Factbook, 2014 /
Auswärtiges Amt, 2011
Das änderte sich schlagartig, als die Sowjetunion
und ihre Satellitenstaaten kollabierten. Als Industrieland ist Nordkorea vom Außenhandel abhängig –
trotz allen Geredes der Führung über Autarkie. Der
Handel hatte immer eine starke politische Komponente: Die sozialistischen „Bruderländer“ kauften
Nordkorea neben dringend benötigen Gütern wie
Bodenschätze auch solche Waren ab, die eigentlich
niemand wollte. Importe, etwa von Erdöl oder Maschinen, fanden zu Freundschaftspreisen und in virtuellen Währungen wie dem Transferrubel statt. Damit war Anfang der 1990er Jahre Schluss.
| 2-2015
Viele Betriebe, die auf Absatzmärkte im Ostblock
orientiert waren, siechten vor sich hin, ihre Produktion war nur noch zu einem Drittel oder weniger ausgelastet. In der Landwirtschaft wirkte sich das Fehlen
von Düngemittel, Treibstoff für Maschinen und
Strom für Bewässerungsanlagen besonders desaströs
aus. In Kombination mit den regelmäßig auftretenden Dürren im Frühjahr und Überschwemmungen
während der sommerlichen Monsunsaison kam es zu
einer Reihe von Missernten. Die Folge war eine mehrjährige Hungersnot ab 1995, die in Nordkorea heute
euphemistisch „Schwerer Marsch“ genannt wird. Im
Westen tauchten Fotos von unterernährten Kindern
auf, die noch heute das Bild des Landes prägen.
D
er wirtschaftliche Zusammenbruch führte
auch dazu, dass die staatliche Kontrolle der
Gesellschaft aufweichte. Viele Menschen flohen über die Grenze nach China und brachten von
dort nicht nur Essen, sondern auch Informationen
mit. Manche blieben und gelangten nach Südkorea
oder in den Westen, wo sie Erschreckendes über die
Lage in Nordkorea berichteten.
Die Führung musste reagieren. Sie tat es spät, was
am Tod des fast fünf Jahrzehnte herrschenden Staatsgründers Kim Il-sung im Sommer 1994 lag, aber auch
daran, dass man bewusst den Erhalt des Regimes
über die Grundversorgung der Bevölkerung stellte.
Lieber arm und stolz als reich und geknechtet, hieß
es. Die Menschen fügten sich dieser Logik solange,
31
32
welt-blicke nordkorea
Links: Frauen auf dem Weg zur
Arbeit in der Sonderwirtschaftszone
Kaesong, wo sie bei südkoreanischen Betrieben beschäftigt sind.
Nordkorea hat inzwischen auch eine
eigene Produktion aufgebaut, unter
anderem von Mobiltelefonen (Mitte).
Der Staatschef Kim Jong-un selbst
überzeugt sich von der Qualität der
im Land gefertigten Strümpfe und
Socken (rechts).
rüdiger Frank (2); Reuters/KcNA
bis ihre Kinder und Eltern vor ihren Augen zu sterben
begannen. Das Land drohte auseinanderzubrechen.
Der ab 1994 amtierende neue Führer Kim Jong-il
begann mit zaghaften Veränderungen. Dazu zählte
die offizielle Anerkennung von Strukturen und Aktivitäten, die bereits spontan entstanden waren. Die
nichtstaatlichen Märkte, auf denen sich Preise nach
Angebot und Nachfrage herausbilden konnten, erlangten eine größere Bedeutung für die Versorgung.
Insbesondere kam es zu einer Re-Monetarisierung
der Gesellschaft: Geld, das aufgrund eines umfassenden Rationierungs- und Verteilungssystems fast völlig seine Funktionen verloren hatte, erlebte eine Renaissance.
Die Beziehungen zu Russland sind
in den vergangenen Jahren wiederbelebt worden.
Moskau hat Pjöngjang Schulden erlassen.
Der Außenhandel wurde neu aufgebaut, dieses
Mal nach rein marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten. Parallel dazu versuchte die Führung allerdings,
die alte Strategie des politischen Wirtschaftsaustausches fortzusetzen. Da China und Russland nur noch
mäßig interessiert waren, wurde Südkorea in der
Hoffnung auf Annäherung und Wiedervereinigung
zum neuen Partner. Auf das historische erste Gipfeltreffen der zwei Staatsführer im Juni 2000 folgte
eine Vielzahl von Projekten.
Der Tourismus von Süd nach Nord wurde intensiviert und brachte Pjöngjang Hunderte Millionen Dollar ein. An der innerkoreanischen Grenze bei Kaesong
wurde eine gemeinsame Sonderwirtschaftszone er-
richtet. Heute verkauft der nordkoreanische Staat
dort die Arbeitskraft von über 50.000 gut ausgebildeten Arbeiterinnen an die Kapitalisten aus Südkorea, die sonst angesichts des hohen Lohnniveaus im
eigenen Land ihre Betriebe längst hätten schließen
und nach China oder Südostasien auslagern müssen.
B
is zum Frühjahr 2003 gab es eine Reihe von bemerkenswerten Reform-Maßnahmen. Die bis
dahin bestehenden drei Landeswährungen
wurden zu einer verschmolzen, der Wechselkurs
zum Dollar wurde deutlich realistischer, Subventionen wurden abgebaut. An die Stelle von bürokratischen Anweisungen und zentraler Planwirtschaft
traten hier und da Versuche einer indirekten makroökonomischen Steuerung, zum Beispiel die Ausgabe
von staatlichen Schuldscheinen zur Abschöpfung
von Liquidität oder eine Währungsreform zur Bekämpfung der Inflation. Die Betriebe erhielten etwas
mehr Entscheidungsfreiheit, blieben allerdings
staatlich.
Das Land befand sich im Aufbruch, die Führung
experimentierte. Dies tat sie sehr vorsichtig, hatte sie
doch das Schicksal der Sowjetunion und Michail Gorbatschows vor Augen, der mit bester Absicht die einstige Großmacht in kürzester Zeit dem Zerfall und
dem Spott ihrer einstigen Gegner preisgegeben hatte.
Auch das Schicksal des rumänischen Diktators Nicolae Ceauşescu, der 1989 hingerichtet wurde, wollte
die Familie Kim nicht teilen. Man kann heute spekulieren, ob die ersten zaghaften Veränderungen zu
echten Reformen nach chinesischem Vorbild hätten
führen können. Erfahrungsgemäß bereitet der Erfolg
einer Reform den Weg für eine weitere.
Doch dazu kam es nicht. Der 1994 beigelegte
Atomstreit mit den USA flammte Ende 2002 unter
2-2015 |
nordkorea welt-blicke
gegenseitigen Schuldzuweisungen wieder auf. Mit
Washingtons Einmarsch im Irak im März 2003 erlosch die wirtschaftspolitische Risikobereitschaft der
nordkoreanischen Führung. Denn Nordkorea wurde
von den USA zur „Achse des Bösen“ gezählt, und die
USA hatten bewiesen, dass sie keine leeren Worte
machten. Kein Wunder also, dass die neue Politik „Militär zuerst“ lautete. Weitere Reformvorhaben wurden vertagt, bestehende Projekte verlangsamt, obgleich nicht alle beendet.
Japan, bis 2002 der Haupthandelspartner Nordkoreas, stellte den Außenhandel mit dem Land fast
vollständig ein. An seine Stelle trat China, mit dem
Pjöngjang heute fast 90 Prozent seines jährlich steigenden Warenaustauschs abwickelt. Ideologisch und
wirtschaftspolitisch kam es zu einer neokonservativen Phase, in der sich Nordkoreas Führung auf die alten, klassisch sozialistischen Werte und Politiken
rückbesinnen wollte. Hatte Kim Jong-il noch im Januar 2001 sein Volk aufgefordert, nach neuen Wegen zu
suchen, so wurden nun die Funktionäre der alten
Schule erneut als Vorbilder propagiert.
2006 führte Nordkorea seinen ersten unterirdischen Atomtest durch. Dieser verschaffte dem Land
nun endgültig mediale Aufmerksamkeit im Westen,
erschwerte aber auch die wirtschaftliche Kooperation erheblich – das ging bis zur Weigerung der Schweiz
im Jahr 2013, Skilifte nach Nordkorea zu liefern. Es
folgten zwei weitere Atomtests 2009 und 2013; der
nächste wird nicht lange auf sich warten lassen, da
das Regime den Besitz dieser Waffen als eine Art Lebensversicherung ansieht. Vor diesem Hintergrund
wird Nordkoreas Führung nicht bereit sein, auf die
atomare Abschreckung zu verzichten. Realistisch
sind hingegen ein Teststopp, ein Einfrieren des Atomprogramms sowie Maßnahmen zur Verhinderung
| 2-2015
von Proliferation und zur Verbesserung der Reaktorsicherheit. Dass sich der Westen bislang weigert,
Nordkorea als Atommacht anzuerkennen, ist der Erreichung dieser Ziele nicht förderlich.
Kim Jung-un, der seit dem Tod seines Vaters Ende
2011 Staatschef ist, hat die Macht fest in der Hand
und gibt sich volksnah. Sein erklärtes Ziel ist es, das
„Lebensniveau des Volkes“ zu heben. Wenn man heute durch Nordkorea reist, sieht man auf Schritt und
Tritt wirtschaftliches Treiben, das es vor 20 Jahren
nicht gegeben hat. Restaurants und Geschäfte reihen
sich aneinander, auf dem Land findet sich fast an jeder Straßenkreuzung ein Verkaufsstand.
E
s hat sich ein neuer Mittelstand aus Staatsbediensteten und Händlern herausgebildet, der
seinen Wohlstand stolz zur Schau trägt. Seine
Größe kann man grob anhand der Zahl der Mobiltelefone abschätzen; landesweit sind davon 2,5 Millionen in Betrieb. Nordkorea produziert in einem Joint
Venture mit Südkorea Automobile der Marke „Peace
Motors“ und in zwei Fabriken bei Pjöngjang eigene
Tablet-Computer. Wer Geld hat, zahlt mit vier verschiedenen Geldkarten. Überall im Land gibt es
Märkte, auf denen Waren von der Banane bis zum
Kühlschrank gehandelt werden. Der Zugang zu Produkten ist längst kein Problem mehr – was zählt, ist
wie im Westen der Inhalt des Geldbeutels. Der chinesische Yuan hat sich vielerorts zu einer Parallelwährung entwickelt.
Die Zahl der Touristen steigt, wobei China ebenso
die Mehrheit stellt wie bei den Ausstellern auf Messen oder bei Joint-Venture-Partnern. Unter dem Motto „Die Füße auf dem eigenen Boden verankert, die
Augen auf die Welt gerichtet!“ bemüht sich die nordkoreanische Führung trotz der jüngst noch einmal
33
34
welt-blicke nordkorea
verschärften Sanktionen der USA und eigener Vorbehalte, die Wirtschaftskooperation mit dem Ausland
zu intensivieren und die erdrückende Abhängigkeit
von China zu verringern.
Z
Rüdiger Frank
ist Professor und Vorstand des Instituts
für Ostasienwissenschaften an der
Universität Wien. Er beschäftigt sich
seit mehr als zwanzig Jahren mit
Nordkorea. 2014 ist von ihm das Buch
„Nordkorea: Innenansichten eines totalen Staates“ (DVA-Verlag) erschienen.
u den bis 2013 bestehenden vier Sonderwirtschaftszonen sind auf Initiative vom Kim Jongun 19 neue hinzugekommen. Ohne eine grundlegende Verbesserung der Beziehungen zu den USA
werden diese aber weitgehend China vorbehalten
bleiben. Japan und Südkorea sind zwar aus ökonomischen wie politischen Gründen sehr an einer Wirtschaftskooperation mit Nordkorea interessiert, doch
stehen beträchtliche politische Vorbehalte im Weg.
Viele europäische Unternehmen fürchten Vergeltungsmaßnahmen durch die USA, wenn sie wissentlich oder unwissentlich gegen bestehende Sanktionen verstoßen.
So bleibt China unangefochten der wichtigste externe Partner Nordkoreas. Sein politischer Einfluss
auf das Regime in Pjöngjang ist dabei erstaunlich gering. Nicht zuletzt durch sein Atomprogramm hat es
Nordkorea geschafft, sich den großen und immer mit
Misstrauen betrachteten Nachbarn vom Leibe zu halten.
Die Beziehungen zu Russland haben in den vergangenen Jahren eine gewisse Renaissance erfahren.
Moskau hat Nordkorea Altschulden in Höhe von
zehn Milliarden US-Dollar erlassen, einen der drei
Piers im Hafen von Rason für 50 Jahre gemietet und
einen 54 Kilometer langen Eisenbahnabschnitt von
diesem Hafen bis nach Russland modernisiert. Im
Herbst 2014 ging von Rason aus die erste Schiffsladung von per Zug dorthin gelieferter russischer Kohle an einen Stahlproduzenten in Südkorea. Mit dem
Ausbau seiner Beziehungen zu Chinas wichtigstem
regionalem Konkurrenten wiederholt Pjöngjang eine
schon in den 1950er Jahren erfolgreiche Strategie
und reduziert damit Pekings Einfluss weiter. China
muss gute Miene zum bösen Spiel machen, denn einen Kollaps des Nachbarstaates kann es sich nicht
leisten. Ein vereinigtes Korea wäre nach heutigem
Stand eine Domäne der USA – für Peking ein Alptraum. Nordkoreas Führung weiß das und nutzt diesen Umstand mit brutaler Härte. Zunehmend frustriert, hat China kürzlich sogar seine PR-Politik geändert und lässt auch kritische Töne hören. Doch das ist
lediglich eine Formalie. Aus strategischen Gründen
hat China derzeit keine Wahl – Nordkorea, so wie es
ist, ist das kleinere Übel.
Auch bei den innerkoreanischen Beziehungen
deutet derzeit alles eher darauf hin, dass der Status
quo beibehalten wird. Bei den vollmundigen Ankündigungen zur Dialogbereitschaft, die beide Seiten in
schöner Regelmäßigkeit machen, handelt es sich um
ein Ritual und den Versuch, die andere Seite moralisch unter Druck zu setzen. Vor allem gegenüber der
eigenen Bevölkerung müssen Seoul und Pjöngjang
ernsthafte Bemühungen erkennen lassen, schließlich ist ein einiges Korea das erklärte Hauptziel. Doch
keine Seite ist bereit, die eigenen Interessen dabei zu
verletzen. So wird es wohl auch in diesem Jahr wieder
bei gegenseitigen Schuldzuweisungen bleiben.
Nordkorea ist heute wirtschaftlich und auch gesellschaftlich ein völlig anderes Land als noch vor 25
Jahren. Das politische System mitsamt der Repression ist jedoch unverändert, und das Atomprogramm
ist als neuer außenpolitischer Faktor hinzugekommen. Der wachsende neue Mittelstand übt impliziten Druck auf die Führung aus, seinen Wohlstand zu
bewahren und auszubauen. Wie geht es weiter? Kim
Jong-un wird mit seiner bisher vorsichtig-progressiven Wirtschaftspolitik bald an die Grenzen des Systems stoßen. Ob er sich dann für echte Reformen entscheiden wird und wie sie ausgehen werden, wird
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venezuela welt-blicke
Patient Krankenhaus
­Krankenhäuser
wie die Universitätsklinik von
Caracas haben
viel zu wenig
M
­ edikamente
und Geräte.
Oft müssen
sie sogar
­lebenswichtige
Operationen
­absagen.
Venezuela steckt fast zwei Jahre nach dem Tod von Hugo Chávez
in einer tiefen Krise. Die Mangelwirtschaft hat auch das Gesundheitssystem erreicht.
Text und Fotos: Hanna Silbermayr
A
m Haupteingang zum Universitätskrankenhaus von
Caracas stehen drei Männer in Uniform. Sie kontrollieren
jede Person, die das Gebäude betreten will. Da taucht ein großgewachsener Mann in weißem Kittel auf. Mit der Hand signalisiert
er uns, ihm unauffällig zu folgen.
Er überquert den Vorplatz, geht
einen schmalen Weg entlang und
verschwindet in einer Unterführung. Im Schutz des Dunkels
bleibt er schließlich stehen, dreht
| 2-2015
sich um und stellt sich vor: Ricardo Strauss, Assistenzarzt für Innere Medizin. „Wir müssen sehr vorsichtig sein“, sagt er. Journalisten
sind hier nicht gern gesehen.
Fast zwei Jahre nach dem Tod
von Präsident Hugo Chávez steckt
Venezuela in einer tiefen Krise.
Lebensmittelmangel, hohe Inflation und eine lahmende Wirtschaft machen dem südamerikanischen Land zu schaffen. Chávez’
Nachfolger
Nicolás
Maduro
schafft es nicht, die angespannte
Lage unter Kontrolle zu bringen.
Dabei sind viele Bereiche des täglichen Lebens davon betroffen,
jetzt auch der Gesundheitssektor.
„Die Regierung möchte das am
liebsten vertuschen“, erklärt
Strauss. Doch inzwischen gehe es
um Leben oder Tod. Man dürfe
nicht länger schweigen. Auch deshalb schleust er immer wieder
Medienvertreter vorbei am Sicherheitspersonal in das Krankenhaus ein.
Im Inneren des Gebäudes
herrscht reges Treiben. Vor dem
Lift hat sich eine lange Schlange
gebildet, viele gehen deshalb die
Treppe. Seit dem Jahr 2000 wird
das in den 1950er Jahren erbaute
Krankenhaus als UNESCO-Weltkulturerbe geführt. Doch das Gebäude wirkt heruntergekommen
und vernachlässigt. Die langen
Gänge sind nur schwach beleuch-
35
36
welt-blicke venezuela
tet, neben den offenen Türen der
Krankenzimmer sammelt sich
Müll. Es zieht in den Fluren, es
fehlt der typische Geruch nach
Reinigungs- und Desinfektionsmitteln. Doch das, sagt Ricardo
Strauss, seien die geringsten Probleme.
Ende August 2014 forderte der
Verband der Kliniken und Kran-
ben große Demonstrationen organisiert, doch gebracht hat das
wenig.
Jagd nach dem Antibiotikum
Im dritten Stock des Krankenhauses werden Herz-Kreislauferkrankungen behandelt. Dort sitzt
Jesús Ojeda in einem der langgezogenen Krankenzimmer neben
Jesús Ojeda
muss wegen
seiner Herzkrankheit
teure Tabletten
nehmen. Für
die Studiengebühren seines
Sohnes ist kein
Geld mehr da.
kenhäuser AVCH die Regierung in
einem offenen Brief auf, eine „humanitäre Notlage“ im Gesundheitsbereich auszurufen. Der
Grund: In den Kliniken fehlt es an
Medikamenten, Arbeitsutensilien wie Latexhandschuhen, Gesichtsmasken, Spritzen und medizinischem Gerät. Inzwischen
müssen selbst lebenswichtige
Operationen abgesagt werden.
„Uns sterben die Patienten unter
den Händen weg“, sagt Ricardo
Strauss. 400 Operationen werden
im Universitätskrankenhaus für
gewöhnlich pro Jahr vorgenommen. Bis Mitte 2014 waren es gerade einmal 90, und auf der Warteliste stehen 800 Patienten.
Mehr als 100 Frauen und Männer
sind während der Wartezeit gestorben. Ärzte und Krankenhausangestellte wollen diese Situation
nicht mehr hinnehmen. Sie ha-
seinem Bett. An seinem linken
Arm klebt ein weißes Pflaster, darunter zeichnet sich eine Kanüle
ab. Er gehört zu jenen Patienten,
die die Fehler im System mit voller Wucht zu spüren bekommen.
Der 43-Jährige erhielt einen Herzschrittmacher. Die Operation gehört in modernen Krankenhäusern eigentlich zur Routine, doch
bei Ojeda traten Probleme auf. Er
hatte sich Bakterien eingefangen,
die zur Gefahr für sein Herz wurden. Die Krankheitserreger können grundsätzlich mit Antibiotika abgetötet werden, doch die gab
es im Krankenhaus nicht mehr.
„Das hat mich beinahe das Leben
gekostet“, sagt Ojeda.
Den Ärzten sind in solchen Situationen die Hände gebunden.
„Wir tun alles Menschenmögliche, um den Patienten zu helfen“,
sagt Ricardo Strauss. Doch ohne
Medikamente und Geräte könnten sie nur noch versuchen, das
Schlimmste zu verhindern. Laut
der Medizinervereinigung FMV
erhalten die Krankenhäuser in
Venezuela oft nur noch einen
Bruchteil der sonst üblichen Wareneingänge. „Es fehlt an den einfachsten Dingen. Manchmal haben wir zum Beispiel keine LatexHandschuhe oder Gesichtsmasken“, erzählt der 28-jährige
Assistenzarzt. Auch Anästhetika,
Injektionsspritzen oder Kanülen
sind rar. Um ausreichend behandelt zu werden, müssen Patienten
und ihre Angehörigen inzwischen Eigeninitiative ergreifen.
„Ich musste die notwendigen Medikamente selber besorgen“, erklärt Jesús Ojeda.
Viereinhalb Monate suchte er
im ganzen Land nach dem Antibiotikum, das als einziges sein Leben retten konnte – und bekam es
nicht. Als ehemaliger Fernfahrer
hatte er dann Glück im Unglück:
Ein Kollege trieb das Medikament
in Kolumbien auf. Doch nicht alle
Patienten haben die Möglichkeit,
ins Ausland zu reisen. Jesús Oveda deutet auf ein Bett am anderen Ende des Krankensaales.
„Dort ist vor kurzem ein junger
Mann gestorben“, erzählt er. 23
Jahre wurde er alt. Seine Familie
schaffte es nicht rechtzeitig, Medikamente und Arbeitsutensilien
für seine Operation zu besorgen.
„Die Ärzte haben alles getan“, sagt
Oveda. Sie hätten sogar kleine
Medikamenten-Proben organisiert und dem jungen Mann verabreicht. Doch das war zu wenig,
um sein Leben zu retten.
Die Regierung schiebt die
Schuld auf die USA
Obwohl Ärzte und Personal privater und öffentlicher Krankenhäuser seit Monaten auf die prekäre
Lage im Gesundheitswesen aufmerksam machen, reagiert die
venezolanische Regierung kaum
oder abweisend. „Die Demonstration im März wurde von der Nationalgarde blockiert“, erzählt Ricardo Strauss, der die Proteste
von Beginn an mit organisiert.
Das Argument der Regierung: Die
Demonstration sei nicht angemeldet gewesen. Mitunter macht
2-2015 |
venezuela welt-blicke
sie auch die Vereinigten Staaten
oder die Opposition für die gravierenden Mängel im Gesundheitswesen verantwortlich. Dabei
liegt das Problem vermutlich in
den schwindenden Devisenvorräten des südamerikanischen Landes.
Venezuela produziert nicht
genug Waren des medizinischen
Bedarfs, um die Krankenhäuser
damit zu versorgen. Deshalb
muss ein Großteil importiert werden, doch es fehlt das Geld, um
Geräte und Medikamente zu bezahlen. Ende August gab der Verband der Medizintechnikvertreter AVEDEM bekannt, dass sich
die Schulden bei ausländischen
Lieferanten inzwischen auf 350
Millionen US-Dollar belaufen.
Produkte können deshalb nicht
mehr auf Kredit, sondern nur
noch gegen Vorkasse und in ausländischer Währung erstanden
werden. Doch Venezuela gibt USDollar aufgrund seiner strengen
Devisenkontrollen nur nach hohem bürokratischen Aufwand
und in geringen Mengen frei –
immer mehr Importeure haben
deshalb Schwierigkeiten, Medikamente und Waren ins Land zu
bringen. Anfang Dezember hat
die Hälfte der Importunternehmen ihre Mitarbeiter freigestellt,
weil es keine Arbeit mehr für sie
gibt.
Patienten lassen ihre Wut
an den Ärzten aus
Hanna Silbermayr
ist freie Journalistin aus Österreich.
Sie berichtet für deutschsprachige
Zeitungen und Magazine über und aus
Lateinamerika.
| 2-2015
Ricardo Strauss kann die Reaktion
der venezolanischen Regierung
auf diesen Missstand nicht verstehen. Mittlerweile bringe sie
nicht nur Patienten sondern auch
Ärzte in Gefahr. „Wenn wir einem
Patienten oder seinen Familienangehörigen mitteilen, dass wir
ihn nicht behandeln können, rasten viele aus“, erzählt er. Die Wut
kann Strauss nachvollziehen. In
einem Land mit einer der höchsten Mordrate weltweit kann sie
aber auch tödlich enden. „Die Reaktion ist sehr oft gewalttätig“,
sagt Strauss und zählt Fälle von
ermordeten Kollegen in verschiedenen Kliniken von Caracas auf.
Er selbst ist ebenfalls schon
bedroht worden – allerdings nicht
von Patienten, sondern von den
Sicherheitsleuten des Klinikdirektors. „Das Krankenhaus ist ein
Spiegelbild der venezolanischen
Gesellschaft“, erklärt er. Regierungstreue Mitarbeiter auf der
einen, Kritiker auf der anderen
Seite. Strauss, der bei Protesten
immer an vorderster Front mit
dabei war, gilt als Störenfried. „Im
Frühjahr, als ich nach der Arbeit
auf dem Weg zu meinem Wagen
war, folgten mir ein paar Männer“, sagt er. Sie hätten auf die
Waffen unter ihren Jacken gezeigt
und ihm klar gemacht, dass er
dann das Motorrad und zuletzt
hat sein 22-jähriger Sohn das Studium abgebrochen und zu arbeiten begonnen. „Das alles zerrt an
den Nerven der gesamten Familie“, sagt Ojeda.
Während Jesús Ojeda noch
zwei weitere Monate im Krankenhaus verbringen muss und Ricardo Strauss auf der Straße und in
sozialen Netzwerken auf die Missstände im Gesundheitswesen
aufmerksam macht, verkündete
die venezolanische Regierung
Ende Oktober, dass sie in einer La-
Ricardo Strauss
macht die
Missstände im
Gesundheitssystem bekannt,
obwohl er dafür
bedroht wird.
sein Engagement besser beenden
solle. „Sie sagten, sie würden mich
umbringen, wenn ich weitermache.“
Auch wenn Ricardo Strauss
Angst um sich und seine Familie
hat, will er sich nicht einschüchtern lassen. „Wir Ärzte sind die
einzigen, die auf diese Missstände
hinweisen. Wir können uns den
Mund nicht einfach verbieten lassen“, sagt er. Denn dann wäre das
Gesundheitswesen
Venezuelas
wirklich verloren.
Jesús Ojeda hat das Gröbste
inzwischen überstanden. Zwar
sollte er seine Tabletten täglich
einnehmen, doch er schluckt nur
jeden zweiten Tag welche – auch
weil das Medikament 18.000 Bolivares kostet, umgerechnet 2270
Euro. Um sich das leisten zu können, hat der Vater von zwei Kindern zuerst sein Auto verkauft,
gerhalle im Bundesstaat Aragua
gehortete Waren des medizinischen Bedarfs beschlagnahmt
hat: zwölf Millionen Spritzen, sieben Millionen Handschuhe, Mullbinden, Medikamente und chemische Lösungen sowie 5000
Rollstühle.
Gesundheitsministerin Nancy Pérez bot sich damit die Gelegenheit, die Verantwortung für
die Misere zumindest ein Stück
weit von sich zu weisen. Sie
sprach von einem „Verbrechen
am venezolanischen Volk“, das
Unternehmer mit dem einzigen
Ziel begangen hätten, das Vaterland zu ruinieren. Die Mitarbeiter
des Universitätskrankenhauses
sind Mitte November schließlich
in Streik getreten – weil die Regierung außer Schuldzuweisungen
keine Antwort auf die Mängel im
Gesundheitswesen findet. 37
38
welt-blicke waldschutz
Zum Nutzen
auch der
Waldbewohner
Waldschutz trägt zum Klimaschutz bei. Internationale Programme
sollen deshalb für im Wald gebundenen Kohlenstoff zahlen, damit
Tropenländer die Abholzung bremsen. Kriritker sagen, das mache
die Natur zur Ware und schaffe Schlupflöcher für große Klimasünder.
Doch das ist falsch.
Von Karl-Heinz Stecher
D
ie Idee, Entwicklungsländer dafür zu bezahlen, dass sie Tropenwälder schützen und so
weniger Treibhausgase durch Abholzung freisetzen, wird erst seit 2007 intensiv diskutiert. Der
Ansatz ist als REDD (Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degradation) bekannt und hat
schnell Hoffnungen geweckt, man könne damit bis
zu einem Drittel der Emissionsminderungen bewirken, die zur Erreichung des Zwei-Grad-Zieles notwendig sind.
Die Idee hat Kritiker auf den Plan gerufen. Sie
fürchten, dass sich Industrieländer von ihren Reduktionsverpflichtungen zu Hause freikaufen, sobald
die mittels REDD bewirkten Emissionsminderungen
auf einem globalen Kohlenstoffmarkt gehandelt
werden: Industrieländer könnten dort Zertifikate
kaufen, die ihnen zusätzliche Emissionen aus Energiewirtschaft und Verkehr erlauben würden. Diese
Kritik hatte ihren Höhepunkt 2008-09. Seitdem ist
sie abgeebbt, weil mit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise die Aussichten auf eine schnelle Einigung bei den UN-Klimaverhandlungen gesunken
sind. Zudem herrscht im europäischen Emissionshandel ein Überangebot von Zertifikaten und die
Preise sind sehr niedrig; daher ist das Ziel, REDD-Zertifikate auf den Markt zu bringen, selbst für diejenigen, die dieses Ziel verfolgten, in weite Ferne gerückt.
Im Artikel „Rechenspiele mit dem Wald“ (11/2014)
feiert nun diese Kritik fröhliche Urstände. Das von
der KfW mit Mitteln des Bundesentwicklungs- und
des Bundesumweltministeriums (BMZ und BMUB)
geförderte REDD-Vorhaben im Bundesstaat Acre in
Der Waldschutz geht nicht
auf Kosten der Gummizapfer: Ein Arbeiter sammelt
Kautschuk für die Firma
Natex, die daraus Verhütungsmittel herstellt.
Jeroen van Loon/Hollandse
Hoogte/laif
Brasilien muss als Beleg herhalten. Die Kritik lautet,
REDD laufe erstens zwangsläufig auf handelbare
Emissionszertifikate hinaus und kommerzialisiere
zweitens die Natur, wobei vor allem Kleinbauern,
Kautschuksammler und Indigene den Kürzeren zögen.
Einer sorgfältigen Analyse hält diese Argumentation für den Bundesstaat Acre nicht stand. Das von
der KfW geförderte REDD Early Movers Programm
(REM) generiert keine handelbaren Zertifikate – dies
ist vertraglich ausgeschlossen. Die vergüteten Emissionsminderungen werden in ein Kohlenstoffregister eingetragen, damit sie nicht erneut verkauft werden können, und auf Dauer aus dem Verkehr gezogen. Das REM ist eine ergebnisbasierte Form klassischer Entwicklungszusammenarbeit.
Der Artikel suggeriert weiter, dass Emissionsreduktionen nicht nachprüfbar seien. Das ist falsch.
Satellitendaten zeigen eindeutig, dass die Entwaldung in Acre in den vergangenen Jahren zurückgegangen ist. REM vergütet die Erfolge dieser Emissi-
2-2015 |
waldschutz welt-blicke
onsminderung auf der Ebene des Bundeslandes. Für
die Berechnung werden 123,5 Tonnen Kohlenstoff
pro Hektar erhaltener Waldfläche zugrunde gelegt,
das ist konservativ verglichen mit den Standardwerten des Weltklimarates IPCC für südamerikanischen
Tropenwald (141 Tonnen pro Hektar). Für jede Tonne,
die REM vergütet, legt der Bundesstaat Acre eine weitere still und trägt sie in das Kohlenstoffregister ein.
Einer der größten Verdienste von REM ist es, dass
durch die Kooperation mit dem bundesstaatlichen
Umweltdienstleistungssystem SISA ein verbindlicher Referenzrahmen für ein sehr konservatives
Kohlenstoffbuchhaltungssystem geschaffen wurde,
an dem sich auch andere orientieren. Der Vergütung
von „heißer Luft“ ist dadurch ein Riegel vorgeschoben.
halt ziehen wie Kautschukzapfer und Indigene.
REDD lebt vom Ineinandergreifen von Umweltkontrolle, Landtitelvergabe, finanziellen Anreizen und
spezifischen Förderprogrammen, in denen Acre Pionier ist.
Im Rahmen von SISA sind weder die kleinbäuerliche Landwirtschaft noch der Wanderfeldbau verboten. Waldschutz wurde nicht auf dem Rücken von
Kleinbauern betrieben, sondern der Bundesstaat wie
auch die brasilianische Zentralregierung sind konsequent gegen illegale Abholzung für die Viehzucht
vorgegangen. Das hat dazu geführt, dass die Entwaldung in Amazonien zwischen 2004 und 2014 um 83
Prozent und in Acre um 57 Prozent zurückging. In
Acre sind heute kaum noch große Abholzungen zu
sehen.
Satellitendaten zeigen eindeutig,
dass die Entwaldung in Acre in den vergangenen
Jahren zurückgegangen ist.
REM treibt auch nicht die Kommerzialisierung
des Waldes voran. Die Bezahlung von Umweltdienstleistungen wird gezielt unterstützt, um Einkommen
ohne steigenden Flächenverbrauch zu schaffen. Die
Verwertung der Ressourcen Wald und Boden läuft
unabhängig von REDD auf Hochtouren. In vielen Teilen der Welt geschieht dies in Wildwest-Manier. Gerade in Acre haben die sozialen Kämpfe seit dem 1988
ermordeten Waldschützer Chico Mendes dazu beigetragen, dass den Cowboys einige Fußfesseln angelegt
wurden. Es gibt Gesetze, die die Landnutzung neu
regeln und die Teilhabe von Kautschukzapfern und
Indigenen erhöhen. Das SISA-Gesetz von 2010 ist auf
die Förderung von alternativen Einkommensmöglichkeiten gerichtet und steht in einer Tradition der
Einhegung des „wilden Kapitalismus“ in Amazonien.
D
Karl-Heinz Stecher
ist Koordinator des globalen Programms „REDD für Early Movers“ in der
Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW).
| 2-2015
ie Kritik an der Kommerzialisierung des Waldes führen die Kritiker selbst ad absurdum,
indem sie einen höheren Preis für vermiedene Emissionen fordern. Im genannten Artikel heißt
es, dass mit fünf US-Dollar pro Tonne keine Wirkung
erzielt werden könne. Es ist klar, dass finanzielle Anreize allein viele Waldzerstörer nicht stoppen können. Dies gilt insbesondere für die Soja- oder Palmölproduktion, die hohe Gewinne pro Hektar abwerfen.
Beide Kulturen spielen in Acre aber keine Rolle.
Nur die Opportunitätskosten – also die Ertragseinbußen, die ein Verzicht auf Waldnutzung bedeutet – zu kompensieren, wäre noch aus anderen Gründen problematisch. Es wäre schlicht unfair, wenn
diejenigen, die in der Vergangenheit viel entwaldet
haben, am meisten von REDD profitieren würden.
Unter REM werden sowohl Akteure unterstützt, die
bisher Treiber der Entwaldung waren (Viehzucht,
Landwirtschaft) und Opportunitätskosten geltend
machen könnten, als auch solche, die traditionell
den Wald schützen und aus ihm ihren Lebensunter-
REM-Gelder fördern unter anderem traditionelle
Gummizapfer mittels eines Preisaufschlags für Naturkautschuk sowie Pflanzungen auf degradierten
Flächen, die zur Diversifizierung der Einkommen
von Kleinbauern beitragen. Beides hat nichts mit industriellen Kautschukplantagen zu tun – die werden
nicht über REM gefördert. REM unterstützt dagegen
den Transport von Kautschuk aus abgelegenen
Waldgebieten zur Kondomfabrik in Xapuri. Damit
wird eine beispielhafte Wertschöpfungskette gefördert, die von den traditionellen Kautschukzapfern
bis zur Verteilung der Kondome zur Aids-Prävention
in den Großstädten Brasiliens reicht.
Private REDD-Projekte fördert die KfW nicht. Der
Fall des Purus-Projektes, das Emissionszertifikate an
die FIFA verkauft hat, zeigt aus unserer Sicht die Kontrollfunktion des bundesstaatlichen Umweltdienstleistungssystems SISA: Das Purus-Projekt wurde
nicht ins SISA aufgenommen, weil die Landrechte
nicht ausreichend geklärt waren. Für solche privaten
Projekte, die voraussichtlich auch in Zukunft einen
sehr geringen Umfang haben werden, wurde in Acre
eine großzügige Reserve für jährliche Emissionsminderungen in Höhe von zehn Prozent eingeplant. Somit wird eine Doppelzählung von Emissionsreduktionen vermieden, auch wenn ein Projekt nicht im
SISA registriert ist.
SISA und REM leisten einen Beitrag dazu, dass
REDD nicht unreguliert über private Projekte, sondern in einem transparenten gesetzlichen und ordnungspolitischen Rahmen vonstatten geht. Gleichzeitig werden neben Kleinbauern auch Kautschukzapfer und Indigene begünstigt, die den Wald in der
Vergangenheit geschützt haben und dies auch weiterhin tun sollen. SISA und REM sind Teil einer innovativen Lösung, um den Lebensraum für indigene
Völker und waldabhängige Familien in Acre langfristig zu sichern. 39
40
welt-blicke philippinen
Vertrauen dringend gesucht
Im Süden der Philippinen wird 2016 die muslimische
Autonomieregion Bangsamoro errichtet. Manche Christen
sehen das mit Sorge.
Text und Fotos: Ralf Leonhard
R
und 30 Frauen und Männer haben sich im Kindergarten von Nalapaan in kleine Plastiksessel
gezwängt. Sie sitzen hinter den niedrigen Tischen und hören gespannt zu, was Toto Gamboa und
Maggie Laus zu erzählen haben. Denn ab 2016 wird
ihr Heimatort im Süden der philippinischen Insel
Mindanao in der neugegründeten autonomen Region Bangsamoro liegen – und Gamboa und Laus bemühen sich, ihnen den geschichtlichen Hintergrund
dieser Entwicklung zu erklären.
Mindanao, die zweitgrößte Insel der Philippinen,
sei doppelt so groß wie die Schweiz oder dreimal so
groß wie Belgien, erfahren die Bauern, von denen die
meisten bisher noch nie von diesen Ländern gehört
haben. Noch vor weniger als hundert Jahren waren
die Muslime auf Mindanao in der Mehrheit. Für die
spanischen Eroberer, die die Inselgruppe 1565 im Namen des Habsburger-Königs Philipp II. als Kolonie in
Besitz nahmen, waren sie Mauren – auf Spanisch
„Moros“. Der Name blieb, doch unterwerfen konnten
die Spanier diese von arabischen Händlern islamisierten Ureinwohner nicht. Sie mussten sich damit
begnügen, die Inseln im Norden zu missionieren.
Ihre Militärpräsenz auf Mindanao blieb auf die Festung El Pilar in der Stadt Zamboanga beschränkt.
In den 1950er Jahren förderte die Zentralregierung in Manila die Zuwanderung von Christen nach
Mindanao; damit wurden die muslimischen Einwohner zur Minderheit. Die christlichen Zuwanderer beanspruchten immer mehr Land, was in den 1970er
Jahren zum Widerstand der Muslime führte: Bis vor
kurzem tobte ein blutiger Konflikt zwischen den Rebellen der Moro Islamischen Befreiungsfront (MILF),
die für einen eigenen Staat kämpften und den Truppen der philippinischen Regierung. Im März 2014 unterzeichneten die Rebellen ein Friedensabkommen
mit der Regierung von Präsident Benigno Aquino III,
das den Muslimen weitgehende Autonomierechte
überträgt.
Ein Teil von Zentralmindanao sowie die Inseln
Basilan, Jolo, Sulu und Tawi-Tawi sollen ein autonom
verwaltetes Gebiet mit muslimischer Mehrheit werden. Bei den Schulungen in den Dörfern erklären
Toto Gamboa und Maggie Laus den Menschen, was
auf sie zukommt und welche Rechte sie haben wer-
den. Und sie versuchen, den Christen, die in einem
muslimischen Autonomiegebiet leben werden, die
Angst zu nehmen.
So soll die Scharia, das traditionelle islamische
Recht, nur für die muslimische Bevölkerung gelten.
Christen sind als Minderheit geschützt, sie genießen
Religionsfreiheit und das Recht auf Eigentum. Was
sie mit legalen Mitteln erworben haben, wird nicht
angetastet. So steht es im Bangsamoro-Grundgesetz,
dem Autonomiestatut, das in diesem Jahr vom Kongress in Manila und durch ein regionales Referendum abgesegnet werden muss. Auch der Schutz der
indigenen Stammesgebiete ist garantiert.
D
Maggie Laus erklärt den
Einwohnern von Nalapaan,
was der Friedensschluss
zwischen der Regierung
und den Rebellen für
das Dorf bedeutet.
ie Muslime sind in Nalapaan in der Mehrheit,
auch einzelne christliche Familien leben hier.
Der 60jährige Dionesio Catanus hat das Seminar im Kindergarten besucht. Der Christ blickt zuversichtlich in die Zukunft. Er verstehe sich gut mit den
muslimischen Nachbarn. Das Seminar habe ihm geholfen, die Geschichte besser zu verstehen, sagt er.
Doch die ist von Feindschaft zwischen Christen und
Muslimen geprägt. Abdullah Gandewaly etwa hat in
seinen 73 Jahren viel Leid erlebt. „Das Schlimmste
war, als wir in den 1970er Jahren vor Ilaga fliehen
mussten. Ständig waren wir auf der Flucht. Meine
Rinder und mein Wasserbüffel wurden geraubt.“
Illaga war eine paramilitärische Organisation der
christlichen Siedler. Sie vertrieben vor bald 50 Jahren
muslimische Gemeinschaften von ihrem ange-
2-2015 |
philippinen welt-blicke
Philippinen
Grafik 3842
SÜDOSTASIEN
Luzon
Baguio
stammten Land. In Nalapaan erinnert man sich an
abgehackte Gliedmaßen und organisierten Raub.
Auch die Moros setzten sich damals mit bewaffneten
Gruppen zur Wehr. Die Barracudas und die Black
Shirts leisteten Widerstand gegen organisierten
Landraub. Das war während der Herrschaft von Diktator Ferdinand Marcos von 1965 bis 1986.
Quezon City
Manila
PHILIPPINEN
Mindoro
| 2-2015
Samar
Panay
Iloilo
Palawan
Das Grundgesetz für Bangsamoro garantiert
die Religionsfreiheit. Das islamische Recht soll
nur auf Muslime angewandt werden.
Vor dem Büro der Organisation OMI-IRD in Pikit,
für die auch Gambao und Laus arbeiten, weicht die
Tageshitze den angenehmen Abendtemperaturen.
In den Nachbargärten krähen die Kampfhähne, nebenan läuft im Fernsehen eine Telenovela. OMI steht
für den Oblatenorden der Unbefleckten Jungfrau Maria, IRD für Interreligiösen Dialog. Robert Layson, den
alle nur Father Bert nennen, kennt die Geschichte
von Mindanao aus eigenem Erleben. „Anfangs begrüßten die muslimischen Bauern die Neuankömmlinge“, erzählt der Pater, der selbst als elfjähriges Kind
mit den Eltern von der Insel Negros zuwanderte.
Die Stimmung schlug um, als die Siedler nicht
mehr nur Brachland beanspruchten, sondern begannen, den Muslimen deren Ackerland durch Tricks und
PA Z I F I K
Negros
Cebu
Sulusee
Zamboanga
Mindanao
Jolo
MALAYSIA
Leyte
Davao
Sulu-Archipel
Celebessee
300 km
Gewalt wegzunehmen. Erst mit den Siedlern wurde
das Grundbuch eingeführt. Und wer seinen Landtitel
eintragen ließ, konnte den bisherigen Besitzer vertreiben. Diktator Marcos in Manila förderte das; und in
den frühen 1970er Jahren eskalierte die Gewalt.
D
ass heute ein Vertrauensverhältnis zwischen
den einst verfeindeten Gruppen besteht, ist
auch der Arbeit von Father Bert zu verdanken.
Im Jahr 2000 beherbergte er monatelang muslimische Flüchtlinge in seiner Kirche in Pikit. Bei Nacht
und Nebel half er, Tausende Frauen und Kinder vor
einem drohenden Angriff der Armee zu evakuieren.
„Wir sind unparteiisch“, stellt er klar: „Es geht uns nur
darum, im Krieg die Menschlichkeit zu wahren und
das Leben der Zivilbevölkerung zu schützen.“
Layson ist ein Pionier des interreligiösen Dialogs,
der vor gut 20 Jahren von Pater Angel Calvo in Zamboanga ins Leben gerufen wurde. „Wir müssen erkennen, was uns eint und nicht was uns trennt. Wir glauben alle an einen Gott und sind für den Frieden“, sagt
der Claretinerpater. Er lebt seit 40 Jahren in der Region und versteht sich bestens mit aufgeklärten Muslimen wie dem Islamprofessor Ali Yacub. Der muss
sich häufig mit fundamentalistischen Glaubensbrüdern auseinandersetzen. Viele hätten im Sudan studiert und seien mit radikalen Ansichten zurückgekehrt. „Sie predigen einen neuen Islam, der alle anderen Religionen ausschließt“, sagt Yacub. „Das ist
falsch.“ Er begegne ihnen mit dem Koran – denn dieser belege, dass das Christentum dem Islam von allen
Religionen am nächsten steht. Schwierigkeiten gibt
es aber auch auf Seiten der Christen. Viele protestan-
41
42
welt-blicke philippinen
tische Pastoren hielten nichts vom interreligiösen
Dialog, weil sie ihren Glauben als den allein richtigen
betrachten, sagt der Presbyterianer Badi Alfaro von
der Christian Missionary Alliance. Er selbst habe sich
von Pater Angel Calov überzeugen lassen. Dennoch
bleibt diese Offenheit eine Minderheitenposition unter christlichen wie muslimischen Geistlichen.
Und so seien viele Christen verunsichert, sagt Pilgrim Bliss Gayo, die Vertreterin des deutschen Kinderhilfswerks Terre des Hommes auf den Philippinen.
Vor allem die Landfrage treibe sie um: Muss Land, das
von den Vätern zu Unrecht erworben wurde, zurückgegeben werden? Außerdem sei in dem BangsamoroAbkommen nicht geregelt, wie Kriegsopfer entschädigt werden und was mit Kriegswaisen und Kindersoldaten geschehen soll.
Unter christlichen wie muslimischen Geistlichen
zeigt sich nur eine Minderheit offen für die
jeweils andere Religion.
Ralf Leonhard
ist freier Journalist in Wien und ständiger Korrespondent von welt-sichten.
Miriam Coronel-Ferrer, die Leiterin des Beratungsbüros des Präsidenten für den Friedensprozess,
kann darin kein Problem erkennen. Jeder Landkonflikt müsse gesondert verhandelt werden: „Wir streben eine Justizverwaltung an, die die verschiedenen
Rechtssysteme berücksichtigt. Da ist das säkulare nationale Recht neben dem Gewohnheitsrecht und der
Scharia.“ Daneben gebe es noch verschiedene Mechanismen der außergerichtlichen Konfliktlösung.
Coronel-Ferrer ist optimistisch, dass mit dem
Frieden Mindanao auch wirtschaftlich wieder auf die
Beine kommt. Die Moro-Rebellen fordern keinen eigenen Staat mehr und bescheiden sich mit einer
weitgehenden Autonomieregelung. Dafür konnten
sie eine großzügige Lösung für den Reichtum der Region aushandeln. Der autonome Bangsamoro-Staat
darf über die gesamten nichtmineralischen Rohstoffe verfügen, etwa über die Fischbestände, und über
drei Viertel der metallischen Bodenschätze. An den
Gewinnen aus der Förderung von Erdöl und Erdgas
wird er zur Hälfte beteiligt.
Bislang ruhen viele dieser Schätze noch im Boden, da der Konflikt Explorationen verhindert hat. So
wird nun mit steigenden Einnahmen aus Rohstofferlösen gerechnet. Die Zentralregierung in Manila und
das autonome Bangsamoro würden gleichermaßen
profitieren, meint Miriam Coronel-Ferrer. Und um
die bewaffneten Gruppen, die manche Gegenden
noch immer verunsichern, müsse sich die autonome
Bangsamoro-Polizei kümmern, fügt sie hinzu.
Zu diesen Gruppen gehören die Bangsamoro Islamic Freedom Fighters (BIFF), eine vor allem von jungen Rebellen getragene Organisation, die sich mit
den Zugeständnissen der Regierung im Friedensund Autonomieabkommen nicht zufrieden gibt. Die
BIFF haben Solidarität mit der Terrormiliz IS im Nahen Osten bekundet und wollen einen islamischen
Staat auf Mindanao ausrufen. Die Anführer der MILF,
Veteranen jenseits der 60, geben sich aber zuversichtlich, dass sie die rebellische Jugend zur Vernunft bringen werden. Schließlich ist auch die Bevölkerung
kriegsmüde.
Doch dann gibt es da noch die Moro National Liberation Front (MNLF). 1968 in Manila von muslimischen Studenten um Nur Misuari gegründet, stritt
sie für ein unabhängiges Mindanao, allerdings unter
sozialistischem, nicht unter islamischem Vorzeichen.
Schon Diktator Marcos konnte 1976 ein Abkommen
mit diesen Rebellen schließen. Seine demokratisch
gewählte Nachfolgerin Corazon Aquino unterzeichnete eine weitere Vereinbarung, laut der die Anführer
der MNLF wichtige Verwaltungsposten erhielten.
Diese Regelung provozierte die Abspaltung der radikaleren MILF, die mehr wollte und den alten Kameraden Korruption vorwarf.
M
NLF-Chef Nur Misuari dürfte sich vom Abkommen der MILF mit der Regierung übergangen gefühlt haben. Ein halbes Jahr bevor
der Autonomiedeal unterzeichnet wurde, marschierte er mit fünf Hundertschaften bewaffneter Kämpfer
in der Stadt Zamboanga ein. Angeblich wollten sie nur
ihre Fahne auf dem Rathaus hissen, um Präsenz zu
zeigen. Es folgte ein dreiwöchiges Blutbad, dem Dutzende Rebellen und zahlreiche Zivilisten zum Opfer
fielen. Mehr als 100.000 Menschen verloren ihr Heim,
weil die philippinische Armee die auf Stelzen errichteten Holzhäuser muslimischer Familien abfackelte.
Noch immer werden nach der blutigen Schlacht
vor mehr als einem Jahr Straßen repariert, kaputte
Häuser wieder instandgesetzt. An vielen Fassaden
sind noch die Einschusslöcher zu sehen. Die Obdachlosen wurden auf mehrere Massenlager verteilt. Im
Stadion von Zamboanga leben mehr als 1400 Familien in primitiven Unterkünften; zwischen den Bretterbuden versickert das Abwasser. „Etwas Vergleichbares habe ich in keinem der Lager für die Opfer des
Taifuns Hayan gesehen“, sagt Bliss Goyo von Terre des
Hommes. Ob und wann die Obdachlosen neue Häuser erhalten, sei völlig unklar.
Das Blutbad von Zamboanga war für die MNLFRebellen nicht nur eine militärische, sondern auch
eine politische Schlappe. Über 200 Kämpfer sitzen in
Manila im Gefängnis. Anführer Nur Misuari ist auf
Basilan oder Jolo untergetaucht. Doch immerhin hat
die Führung der MNLF mit den Kommandanten der
MILF das Gespräch gesucht. Im vergangenen November trafen sie sich in Manila und stimmten in den
meisten Punkten überein. Das Abkommen mit der
Regierung soll schließlich für alle gelten.
Die Zukunft Bangsamoros bleibt dennoch von
mehreren Unbekannten überschattet: Werden die
Moros imstande sein, ihren Autonomiestaat zum
Modell zu machen – oder setzen sich die alten, von
Korruption und den Interessen von Familienclans geprägten Strukturen wieder durch? Und wie wird die
christliche Mehrheit der Philippinen mit Bangsamoro umgehen? Präsident Aquino drückt jedenfalls aufs
Tempo. Bevor er im Juni 2016 aus dem Amt scheidet,
will er vollendete Tatsachen schaffen.
2-2015 |
indien welt-blicke
Rettet den
Ganges!
Die indische Regierung unternimmt einen neuen Anlauf,
um den heiligen Fluss wiederzubeleben. Bei der Pilgerstadt
Varanasi ist er zur Kloake verkommen.
Pilger drängen sich in Varanasi
zum heiligen Bad. Der Schmutz
im Fluss ist für sie kein Thema.
Rainer Hörig
Von Rainer Hörig
E
in milder Wintertag geht in
der Pilgerstadt Rishikesh zu
Ende. Der Himmel färbt sich
gelb, dann rot, sein Licht spiegelt
sich im Wasser des Ganges. Rund
100 Menschen sitzen andächtig
auf den Stufen, die hinunter zum
heiligen Fluss führen. Mit ein paar
Holzscheiten wird ein Feuer entfacht, eine Musikgruppe stimmt
traditionelle Lieder an. Sie preisen
den Fluss, den sie Mutter Ganga
nennen: Die Flussgöttin spende
Leben und geistige Erlösung, tröste die Seele und inspiriere den
Geist. Jeden Abend wird das Feuerritual zelebriert.
Etwa 150 Kilometer Luftlinie
entfernt, im Himalaja-Gebirge
in rund 3900 Metern eisiger
| 2-2015
Höhe, strömt der Ganges aus
dem Tor des Gangotri-Gletschers
und stürzt sich in ein von hohen,
dichtbewaldeten Bergen eingezwängtes Tal gen Süden. Bei
Rishikesh tritt er aus dem Gebirge
in die nordindische Schwemmlandebene, die er in Jahrmillionen
durch
Sedimentablagerungen
mitgeformt hat. In einem weiten
Bogen wendet er sich Richtung
Osten und durchquert ganz Nordindien. Mehr als 2500 Kilometer
legt der Fluss zurück, bevor er sich
südlich der Hafenstadt Kolkata
in den Golf von Bengalen ergießt.
Zusammen mit dem gewaltigen
Brahmaputra und dem Meghna
bildet er das größte Flussdelta
der Erde, die Sumpflandschaft der
Sundarbans. Auch die indische
Hauptstadt Neu-Delhi liegt im
Einzugsgebiet des Ganges, genauer an seinem wichtigsten Nebenfluss, der Yamuna. Aber der Fluss,
der die Stadt von Nord nach Süd
durchquert, ist eine Kloake. „Eigentlich gibt es in Delhi keinen
Fluss, nur einen großen Abwasserkanal“, sagt Manoj Mishra, der
sich seit acht Jahren für die Wiederbelebung der Yamuna einsetzt.
Seine Organisation „Yamuna Jiye
Abhiyan“ versucht mit Petitionen
vor Gericht und Expertisen Behörden und Parlamente für das Anliegen zu gewinnen.
Am Wehr von Wazirabad im
Norden von Neu-Delhi, das den
Wasserstand des Flusses regu-
43
44
welt-blicke indien
liert, bedeckt eine dicke Schicht
von buntem Plastikmüll die
Wasseroberfläche. Ein Fischer
sitzt gelangweilt auf seinem hölzernen Kahn am Ufer. Je näher
man dem Hauptstrom kommt,
der in der Mitte des mehr als einen Kilometer breiten sandigen
Flussbetts vor sich hin schwappt,
desto durchdringender wird ein
faulig-süßer Geruch. Manoj Mishra weist auf eine Bachmündung
am gegenüberliegenden Ufer hin.
Eine dickflüssige, schwarzbraune
Flüssigkeit fließt in den Fluss. „Die
ungeklärten Abwässer der nördlichen Stadtbezirke“, erklärt er.
„Dieses Wasser enthält keinen
Sauerstoff, es gibt kein Leben darin. Früher lebten jede Menge Fische im Fluss, sogar Krokodile gab
es“, erzählt Mishra. Die Wäscher
und Fischer, die einst vom Fluss
lebten, seien verschwunden. An
einigen Stellen im Flussbett werde noch Gemüse angebaut, aber
„das Zeug ist hochgradig giftig“.
Mishra war leitender Forstbeamter, bevor er nach mehr als 20
Jahren im Staatsdienst in die Zivilgesellschaft wechselte, zur Umweltorganisation WWF. Vor acht
Jahren rief er die Kampagne für
die Yamuna ins Leben. Es sei göttliche Eingebung gewesen, sagt er.
Seither hat er den Fluss in seiner gesamten Länge studiert, hat
sich nicht nur mit Politikern und
Richtern gestritten, sondern auch
in zahlreichen Dörfern die Bauern
zur Rettung des Flusses organisiert. Sie werden darin geschult,
Toiletten zu bauen und auf biologische Landwirtschaft umzustellen. Auf die Frage nach den Ursachen für die Misere der Yamuna
in Delhi gibt er eine verblüffend
simple Antwort: „Ungefähr 200
Kilometer flussaufwärts, nahe der
Stadt Yamunanagar, blockiert ein
Staudamm den Flusslauf. Dort
wird während der Trockenzeit das
gesamte Wasser in Kanäle abgeleitet, um die Felder zu bewässern
und die Städte zu versorgen. Das
Flussbett unterhalb des Dammes
bleibt neun Monate im Jahr trocken. Erst in Delhi füllt es sich wieder ein wenig – mit Abwasser.“
Eine kleine Gruppe älterer Damen nähert sich mit Blumengebinden, Kokosnüssen und Glitzer-
schmuck. Am Ufer legen sie ihre
Opfergaben nieder, entzünden
ein paar Räucherstäbchen und
falten, dem Wasser zugewandt, die
Hände zum Gebet. Mit der hohlen
Hand schöpfen sie „heiliges Wasser“ aus dem Fluss und trinken es,
bevor sie sich auf den Heimweg
machen. Zurück bleibt ein Haufen
Abfall, der irgendwann vom Fluss
fortgetragen werden wird.
„Das Wasser, das wir hier in
Delhi verbrauchen, stammt zwar
aus der Yamuna, aber nicht von
hier“, erklärt Manoj Mishra. „Es
fließt vom Staudamm durch einen Kanal zu uns. Ein weiterer
Kanal bringt Wasser vom TehriDamm am Ganges, hoch oben im
Himalaja, und ein dritter versorgt
die Stadt aus dem Bhakra-NangalStausee am Fluss Sutlej.“ Neu-Delhi bekomme also aus drei Flüssen
Wasser – und scheide etwa 80 Prozent davon als stinkende Brühe
wieder aus. Inzwischen hat Mishra in seinem Kampf einen ersten
Erfolg erzielt: Das Nationale Grüne Tribunal hat Mitte Januar die
Entsorgung von Müll in die Yamuna unter Strafe gestellt.
zum Meer muss der heilige Fluss
die ungeklärten Abwässer aus
Millionen von Haushalten verdauen, die giftigen Beiprodukte
von Ledergerbereien, Kohlekraftwerken, Eisenhütten und eines
Atomkraftwerks mitnehmen. Von
den Feldern vieler Bauern rinnen
die Rückstände reichlich versprühter Pestizide in das weitverzweigte Flusssystem. In Varanasi
erreicht die Wasserqualität einen
Tiefstand. Ein Beispiel: ColiformBakterien, die aus Fäkalien stammen. Der gesetzliche Grenzwert
für Wasser, das noch zum Baden
Enrico Fabian/Nyt/Redux/laif
Der Ganges
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Neu-Delhi
Kathmandu
I N D I EN
Das rituelle Bad schenkt
Erlösung und Seelenfrieden
Ortswechsel. Wenn in der heiligen
Stadt Varanasi die Sonne über
dem Ganges aufgeht, strömen die
Pilger zum Flussufer, zum heiligen Bad. Fromme Hindus aus nah
und fern steigen die Stufen hinunter, die Stimmung ist heiter
und freundlich. Für sie erfüllt sich
hier und heute ein Lebenstraum.
Das rituelle Bad im Ganges bedeutet Erlösung und Seelenfrieden.
Anjani Kumar Singh etwa, der in
einem Dorf an der Grenze zu Nepal ein Fotostudio betreibt, hat
seine gesamten Ersparnisse geopfert, um nach Varanasi reisen zu
können: „Hier am Ganges herrscht
eine besondere Atmosphäre. All
die vielen Leute hier wollen diese
Magie erfahren, dafür nehmen sie
auch Unannehmlichkeiten in
Kauf.“
So innig, wie die Inder ihren
Fluss verehren, so rücksichtslos
quälen sie ihn auch. Immer mehr
Staudämme versperren ihm in
den engen Tälern des Himalaja
den Weg. Auf seinem langen Weg
Ein Junge balanciert über einen
offenen Kanal in Neu-Delhi. Auch
in Indiens Hauptstadt fließt ein
Teil des Abwassers ungeklärt in
die Yamuna.
Ganges
BA
Varanasi
Länge:
2525 km
Quelle:
Gangotri-Gletscher, Himalaya, Indien
Kalkutta
Mündung: Gangesdelta (Indien/Bangladesch),
Golf von Bengalen
Einzugsgebiet
:
ca. 975.000 km²
Quelle: www.wikipedia.de
Ga
300 km
geeignet ist, liegt bei 500 Bakterien pro 100 Milliliter. Kurz vor
Varanasi weist der Ganges mit
60.000 Bakterien bereits das
120-fache des Grenzwertes auf.
Wenn er die Stadt verlässt, ist der
Messwert auf eineinhalb Millionen angestiegen. Unter den Treppen der Badestellen treffen fast 30
Abwasserkanäle auf den Fluss und
leiten die ungeklärten Abwässer
von eineinhalb Millionen Menschen ein. An einigen Orten riecht
es wie in einer Kloake.
Doch für die meisten Pilger
ist der Schmutz kein Thema. Sie
glauben fest daran, dass das hei-
2-2015 |
indien welt-blicke
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Golf von Bengalen
(Indischer Ozean)
Rainer Hörig
ist freier Journalist in Pune (Indien).
| 2-2015
lige Bad sie seelisch reinigt. Kiran
Kumar, die gemeinsam mit ihrem
Mann aus dem Nachbarstaat Bihar angereist ist, sagt fröhlich:
„Nein, das Wasser des Ganges ist
nicht schmutzig. Wenn die Leute ein bisschen aufpassen, kann
nichts passieren. Im Gegensatz zu
normalem Wasser kann man Gangeswasser jahrelang in einer Flasche aufbewahren, es wird nicht
schlecht und riecht nicht. Es muss
also etwas Besonderes sein!“
Umweltschützer Himanashu
Thakkar sieht das etwas anders. Er
beklagt die Verschmutzung des
Ganges und kritisiert, dass er von
der Politik nur als Wasserlieferant
gesehen wird. Thakkar ist Chemieingenieur und hat das „Südasiatische Netzwerk für Dämme,
Flüsse und Menschen“ ins Leben
gerufen. Besucher empfängt er
in seinem Büro im MittelklasseWohnviertel Shalimar Bagh im
Norden Delhis. Der Ganges werde
durch seine Zuflüsse mit Mineralien und Lebewesen aus anderen
Regionen befruchtet, sagt er. Er
nähre Pflanzen und Tiere, transportiere Sedimente aus dem hohen Himalaja bis zum Meer und
düngt so die Felder und Äcker an
seinen Ufern. Diese wichtigen
Funktionen fänden „bei unserer
Bürokratie und in der Politik aber
leider keine Berücksichtigung“.
Immerhin hatte der damalige
Premierminister Rajiv Gandhi bereits 1986 einen Aktionsplan zur
Rettung des Ganges initiiert. Mit
wenig Erfolg, wie Sunita Narain,
Direktorin des Zentrums für Wissenschaft und Umwelt in Neu-De-
lhi kritisiert. In den vergangenen
Jahren seien „gewaltige Geldsummen in die Flussreinigung“ investiert worden. „Trotzdem müssen
wir leider konstatieren, dass die
Verschmutzung weiter zunahm.“
Die wenigsten Städte Indiens
verfügten über ein funktionierendes, unterirdisches Kanalsystem,
erklärt Narain, die zeitweise die
Regierung für die Sanierung des
Flusses beraten hat. Selbst in der
Hauptstadt werde nur die Hälfte
der Abwässer erfasst und in Kläranlagen gereinigt. Darüber hinaus nutzten die meisten Anlagen
aufgrund von Missmanagement
und Energieknappheit nur einen
Teil ihrer Kapazitäten. Die neue
indische Regierung hat nun die
Reinigung des Ganges zur Priorität erhoben. „Das ist wunderbar“,
meint die prominente Umweltschützerin: „Bleibt nur zu hoffen,
dass sie nicht die alten Fehler
wiederholt. Wir müssen das Reinigungsprogramm gründlich überdenken und neu erfinden.“
Noch hat die Regierung ihre
Versprechen nicht eingelöst
Premierminister Narendra Modi
hatte schon im Wahlkampf versprochen, den heiligen Fluss der
Hindus wiederzubeleben, und bestimmte symbolträchtig die Stadt
Varanasi zu seinem Wahlkreis. Zu
Beginn seiner Amtszeit ordnete
er die Zuständigkeit für die Säuberung der Flüsse dem Ministerium für Wasserressourcen zu, das
von der tief religiösen Ministerin
Uma Bharati geführt wird. Die lud
schon bald religiöse Autoritäten,
Wandermönche, Bürokraten und
Experten der Zivilgesellschaft zu
einem öffentlichen Brainstorming ein. Unter den Teilnehmern
war auch Himanshu Thakkar:
„Die neue Regierung hat große
Versprechen gemacht, aber wir
haben bislang noch keine konkreten Schritte gesehen, die zur Rettung des Flusses führen könnten.“
Thakkar bemängelt, die bislang bekannt gewordenen Vorschläge der neuen Regierung seien im technokratischen Denken
verhaftet: neue Staudämme, noch
mehr Kläranlagen. Dieser Lösungsansatz sei jedoch gründlich
gescheitert. Flüsse müssten als
lebendige Ökosysteme behandelt
werden, fordert er. Sunita Narain
mahnt konkrete Schritte an. Es
müsse sichergestellt werden, dass
die Flüsse genug Wasser führen.
Da nicht überall in kurzer Zeit
ein unterirdisches Kanalsystem
errichtet werden könne, müsse
das Abwasser der offenen Kanäle
gereinigt und vor Ort, etwa für die
Bewässerung von Feldern oder die
Stadtreinigung, verbraucht werden. Es dürfe nicht, wie bislang
üblich, wieder in dieselben Kanäle zurückgeleitet und mit neuem
Abwasser vermischt werden. Und
schließlich müssten strikte Kontrollen für Industriebetriebe eingeführt werden, „damit sie nicht
länger sorglos ihre Abwässer in
den nächsten Fluss leiten“.
Die Wiederbelebung des Ganges ist eine gewaltige Aufgabe, die
nicht nur technische Infrastruktur, sondern auch ein Umdenken
in vielen Teilen der Gesellschaft
nötig macht. Der Ganges steht
beispielhaft für die meisten anderen Flüsse des Subkontinents,
die in einem ähnlich miserablen
Zustand sind. Eine Generationenaufgabe, für die Indien auf
technische und finanzielle Hilfe
angewiesen ist. Deutschland hat
bereits seine Unterstützung angeboten und ist damit auf positive
Resonanz gestoßen, wie Michael
Steiner, der deutsche Botschafter
in Neu-Delhi bestätigt: „Ich ziehe gerne eine Parallele zwischen
Mutter Ganges und Vater Rhein.
Der Rhein war noch in den 1980er
Jahren tot, heute kann man wieder darin schwimmen und fischen. Die Reinigung brauchte
30 Jahre, viel Geld und eine gute
Koordination zwischen den beteiligten Akteuren.“
Wie der Botschafter berichtet,
hat sich eine Expertenkommission aus Deutschland am Ganges
ein Bild der Lage gemacht. Die
beteiligten Wissenschaftler arbeiten nun zusammen mit indischen
Kollegen Vorschläge aus, die später
in Projekte der Entwicklungszusammenarbeit einfließen sollen.
Das deutsche Angebot beziehe
sich in erster Linie auf technische
Beratung, sagt der Botschafter –
auf Aufträge für deutsche Firmen
hofft man aber auch. 45
46
journal
oda-reform
Strengere Regeln für Entwicklungskredite
Der OECD-Entwicklungsausschuss legt neu fest, was als Hilfe gerechnet wird
Westliche Geberländer, darunter
auch Deutschland, wollen künftig
ihre Zuschüsse, die anders als Kredite nicht zurückgezahlt werden
müssen, stärker auf die bedürftigsten Länder konzentrieren. Das sagte der Staatssekretär im Entwicklungsministerium (BMZ), Thomas
Silberhorn, bei einer Aussprache
des Fachausschusses im Deutschen Bundestag im Dezember.
Aber für die finanzstärkeren Länder werde Deutschland die Kreditvergabe tendenziell ausbauen.
Silberhorn ging auf die jüngste
Sitzung des Entwicklungsausschusses (DAC) der Industrieländerorganisation OECD in Paris ein.
Dieser hat Mitte Dezember erste
Eckpunkte einer Reform beschlossen, welche öffentlichen Ausgaben Mitgliedsländer als staatliche
Entwicklungsfinanzierung (ODA)
anrechnen dürfen. Eine solche Reform wird seit längerem diskutiert, weil bei vielen Ausgaben, die
als ODA angerechnet werden dürfen, umstritten ist, wie sinnvoll sie
aus entwicklungspolitischer Sicht
sind. Dazu zählen etwa die Ausgaben für die Unterbringung von
Flüchtlingen oder für Studenten
aus Entwicklungsländern. Umge-
kehrt ignoriert das ODA-Konzept
Leistungen, die zu Entwicklung
beitragen können, etwa staatliche
Garantien für entwicklungsfördernde Privatinvestitionen.
Zudem hält der DAC eine Reform für erforderlich, weil nach
2015 neue Nachhaltigkeitsziele
die bisherigen Millenniumsziele
ablösen werden. Die neuen Ziele
reichen viel weiter als die alten
Entwicklungsziele und erfordern
daher aus Sicht der Geber ein breiteres Verständnis von Entwicklungsfinanzierung. Der Ausschuss
will deshalb ein neues Instrument
mit dem Titel „Total Official Support for Sustainable Development“
(TOSD) ausarbeiten, das die Geberleistungen erfasst, die nicht im
engeren Sinne Entwicklungshilfe
sind. Dazu zählen etwa Ausgaben
für globale öffentliche Güter wie
den Klimaschutz oder Frieden
und Sicherheit. Die bisherige ODA
wird dann ein Teil davon sein.
Die Reform ist ein Kompromiss
zwischen den Gebern
Als erstes Ergebnis der ODA-Reform hat der DAC festgelegt, wie in
Zukunft so genannte konzessionäre Darlehen behandelt werden.
Die DAC-Mitglieder haben sich da-
Steuerungsstelle eines Wasserkraftwerks in Uganda.
Deutschland fördert solche Vorhaben mit verbilligten
Krediten.
kfw-bildarchiv/auslöser photografie
rauf verständigt, dass ab 2018 nur
noch der Zuschussanteil eines
Kredits als ODA verbucht werden
darf. Das ist als Kompromiss zu
verstehen zwischen Gebern wie
England oder den skandinavischen Ländern, die ihre Hilfe nur
in Form von Zuschüssen vergeben,
und Ländern wie Deutschland
oder Frankreich, die auch Kredite
vergeben. Das wird weiterhin
möglich sein, nur sinkt der Betrag,
den sich diese Geber als ODA an-
Was künftig als Hilfe gilt
Derzeit dürfen die Geberländer Kredite an
Entwicklungsländer in voller Höhe als Entwicklungshilfe verbuchen und auf ihre
ODA-Quote anrechnen, sobald die Kredite
einen nicht rückzahlbaren Zuschussanteil
von mindestens 25 Prozent haben. Diese
Praxis wird von Fachleuten – und auch
von einzelnen DAC-Mitgliedern – schon
länger unter anderem deshalb kritisiert,
weil sie Kredite in gleicher Höhe gleich behandelt, selbst wenn der Zuschussanteil
unterschiedlich hoch ist.
Ab 2018 soll deshalb nur noch der Zuschussanteil als Entwicklungshilfe verbucht werden dürfen. Dieser wird aus
mehreren Faktoren errechnet wie der
Laufzeit des Kredits, der Verzinsung und
dem sogenannten Abzinsfaktor, der die
potenzielle Rendite bemisst, die ein Kreditnehmer aus dem Kapital erzielt.
Der DAC hat zudem beschlossen, bei
der Berechnung des Zuschussanteils das
Risiko zu berücksichtigen, dass ein Entwicklungsland einen Kredit nicht zurückzahlen kann. Weil damit das Ausfallrisiko
schon bei der Berechnung des ODA-Anteils
eines Kredits eingepreist ist, dürfen die Geber nach Inkrafttreten des neuen Verfahrens Schuldenerlasse nicht mehr wie bisher als Entwicklungshilfe verbuchen. (ell)
rechnen dürfen. Um zu verhindern, dass sich vor allem sehr
arme Länder mit Entwicklungskrediten zu hoch verschulden,
muss der Zuschussanteil in Krediten an sie in Zukunft mindestens
45 Prozent betragen. Für Länder
mit mittlerem Einkommen gelten
Schwellenwerte von zehn beziehungsweise 15 Prozent.
Staatssekretär Silberhorn begrüßte im Ausschuss die Neuerung. Die Finanzierung der Post2015-Agenda für neue Nachhaltigkeitsziele werde allein mit öffentlichen Mitteln nicht zu stemmen
sein, betonte er. Kredite seien ein
wichtiges Instrument und für die
Empfängerländer durchaus „kein
Nullsummenspiel“. Die gewährten Zinsen lägen immer unter
Marktniveau und der Empfänger
profitiere zudem von einer verbesserten Bonität, welche wiederum andere Geldgeber anziehe.
Laut einem BMZ-Sprecher hat
Deutschland 2012 über die KfWEntwicklungsbank ODA-Darlehen
von insgesamt 1,362 Milliarden
US-Dollar brutto vergeben. Im selben Jahr flossen 1,034 Milliarden
US-Dollar geliehenes Geld zurück.
Daraus ergibt sich netto eine Entwicklungshilfe aus Darlehen in
2-2015 |
Studien journal
Höhe von 328 Millionen Dollar.
Die deutsche ODA betrug im selben Jahr insgesamt knapp 13 Milliarden Dollar.
Deutschland vergibt unterschiedlich „weiche“ Kredite. Bei
zinsreduzierten Darlehen etwa
werden Haushaltsmittel genutzt,
um den Zinssatz zu vergünstigen.
Der Löwenanteil davon geht nach
Asien. Geringere Bedeutung haben
Haushaltsmittel-Darlehen
ohne Marktanteile und Förderdarlehen aus KfW-Mitteln ohne
Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt. Die Opposition kritisiert dieses Geflecht als undurchsichtig
und fordert eine transparentere
Darstellung. Sie moniert zudem,
dass Deutschland in den vergangenen zehn Jahren den Anteil von
Krediten an seiner Entwicklungshilfe stetig erhöht hat.
Noch bedeutender sind die
Vorteile, die Unternehmen in der
nationalen Besteuerung in den
EU-Staaten gewährt bekommen.
Dazu zählt, dass die Regierungen
die undurchsichtige Praxis der sogenannten Transferpreise zwischen Unternehmensteilen tolerieren: Gewinne werden mittels
der Rechnungen für Waren und
Dienstleistungen an die steuertechnisch günstigste Stelle verschoben.
Deutsche Regierungen taten
sich laut der Studie besonders hervor, zaghafte Ansätze zu mehr
Gleichheit vor der Steuerbehörde
in der EU zu blockieren. Dabei sind
diese EU-Ansätze allemal nur auf
das Modell gerichtet, das sich die
OECD-Länder selbst gegeben haben. Demnach sollen Unterneh-
mensgewinne aus Entwicklungsländern mit höchstens fünf Prozent versteuert werden. (hc)
Marina Zapf/Tillmann Elliesen
studien
Anleitung zum Plündern
LuxLeak, die Veröffentlichung der
Absprachen von Banken und
Großfirmen mit Luxemburgs Finanzamt, hat für einige Aufregung gesorgt. Aber die gilt fast
ausschließlich dem Umstand,
dass damit anderen EU-Ländern
Steuereinnahmen verloren gehen.
Ignoriert wird, dass viele EU-Staaten ihren global operierenden Firmen über Steuerregeln beim Plündern der Staatskassen von Ländern des globalen Südens helfen.
EURODAD, ein Zusammenschluss
von Entwicklungsorganisationen
der EU, wirft Licht auf diese Praxis.
Fünfzehn EU-Länder wurden
daraufhin durchleuchtet, wie sie
die Gewinne steuerlich veranschlagen, die ihre Unternehmen
in Entwicklungsländern erzielen.
Aus den Analysen geht hervor,
dass alle untersuchten Staaten in
ihren bilateralen Verträgen mit
Entwicklungsländern Vergünstigungen durchgesetzt haben, die
ihre Unternehmen besser stellen
als die dortigen inländischen Firmen. Allein auf dieser Basis entstehen den Ländern im Süden erhebliche Verluste an Steuereinnahmen; eine erste Rechnung
2008 der Organisation Chistian
Aid hatte sie auf 120 Milliarden
Euro jährlich geschätzt – mehr als
die gesamte Entwicklungshilfe der
Industriestaaten zusammen; jüngere Berechnungen von UN-Organisationen kommen auf das Vierfache. Besonders eifrig bemüht
um solche Absprachen sind Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien, die Niederlande und
Belgien.
EURODAD:
Hidden profits
The EU’s role in supporting an unjust
global tax system 2014
EURODAD, Brüssel 2014, 100 Seiten
www.eurodad.org
Das Gewohnheitstier verstehen
Menschen entscheiden selten rational. Sie reagieren spontan, richten sich nach sozialen Normen
oder folgen gewohnten Denkmustern. Soziale und psychologische
Faktoren sollten deshalb laut
Weltentwicklungsbericht
2015
stärker in den Kampf gegen die
Armut einfließen. Die Weltbank
vollzieht damit eine Abkehr vom
Modell des „homo oeconomicus“,
der vor einer Entscheidung alle
Alternativen sorgfältig abwägt,
ihre Folgen bedenkt und dann die
– nach seinen Präferenzen – beste
Möglichkeit wählt.
Die Autoren des Berichts führen drei Prinzipien aus, die das
Denken und Handeln beeinflussen: spontane Reaktionen, soziale
Normen sowie Überzeugungen,
die sich über die Zeit in Gemeinschaften gebildet haben. In der
| 2-2015
Konsequenz heißt das, weniger
vorgefertigten Lösungen und stärker einem „learning by doing“Ansatz zu folgen. Der Bericht listet
eine Reihe von Beispielen auf, in
denen die Erkenntnis bereits umgesetzt wurde, dass Menschen soziale Wesen sind und sich andere
zum Vorbild nehmen.
Nach mehreren erfolglosen
Versuchen, die Einwohner zum
Wassersparen zu animieren, veröffentlichte die Stadtverwaltung der
kolumbianischen Hauptstadt Bogotá die Namen derer in den Medien, die sich während einer Dürre
im sparsamen Umgang mit Wasser hervorgetan hatten. Daraufhin
sank in der ganzen Stadt der Wasserverbrauch. In eine ähnliche
Richtung geht der Ansatz, Bildung
mittels Unterhaltung zu fördern.
So ließen sich die Zuschauer der
TV-Seifenoper „Scandal!“ in Südafrika mit Hilfe der Protagonisten
beibringen, wie sie besser mit Geld
umgehen können.
Der Bericht enthält darüber
hinaus einen kritischen Blick auf
die Denk- und Entscheidungsmuster von Weltbank-Mitarbeitern. Laut einer Umfrage unterstellten sie armen Menschen in
Jakarta und Lima weitaus stärkere
Gefühle der Hilflosigkeit und
mangelnder Kontrolle über die
Zukunft, als diese selbst zum Ausdruck brachten. Mitarbeiter von
Entwicklungsorganisationen seien nicht vor Fehlinterpretationen
aufgrund von sozialen Normen
und althergebrachter Überzeugungen gefeit, bilanzieren die Autoren. Sie müssten sich diese Gefahren stärker bewusst machen;
Entwicklungsorganisationen soll-
ten – nicht näher bezeichnete –
Methoden entwickeln, mit denen
solche Verzerrungen reduziert
werden können. (gka)
World Bank
World Development Report 2015
Mind, Society, and Behavior
World Bank, Washington DC 2014,
236 Seiten
www.worldbank.org
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48
journal berlin
berlin
„Minister Müller hat uns nicht ermutigt“
Gespräch mit Helmut Asche, dem früheren Direktor des Deutschen Evaluierungsinstituts
Überraschend wurde Helmut
Asche im vergangenen Sommer
von seinem Posten als Direktor des
Deutschen Evaluierungsinstitutes
der Entwicklungszusammenarbeit
(DEval) abberufen. Das Entwicklungsministerium (BMZ) nannte
keine Gründe, es hieß aber, man
sei unzufrieden mit seiner Leistung. Asche selbst sagt im Interview, im Ministerium habe es von
Beginn an Widerstand gegen ein
unabhängiges Institut gegeben.
Und das hätten er und sein Team
auch zu spüren bekommen.
Herr Asche, warum sind Sie von Ihrem Posten abberufen worden?
Mehr als das, was allen anderen gesagt wurde, weiß ich auch
nicht: dass es an Strategie fehle
und das Institut zu langsam Berichte produziere. Ich habe diesen
Vorwurf der neuen BMZ-Leitung
von Anfang an als ausgesprochen
unaufrichtig empfunden, denn
uns wurden nie die erforderlichen Mittel zur Verfügung gestellt, um eine Strategie zu entwickeln und die Berichte im verlangten Ausmaß zu produzieren.
Das heißt, das Institut hat in den
zwei Jahren Ihrer Amtszeit weniger
Berichte vorgelegt als geplant?
Ja, weil wir in einer Situation
waren, mit der wir nicht gerechnet hatten. Das DEval hat eine
wunderbare Schar von engagierten und qualifizierten jungen
Mitarbeitern, aber wir haben aus
unterschiedlichen Gründen nie
das volle Personal des Stellenplans zur Verfügung gestellt bekommen. Es gibt immer noch einen Stellenstopp bei den Abteilungsleitungen und das Ministerium war in zwei Jahren nicht in
der Lage, diesen Missstand zu beheben. Zudem ist die ganze Konstruktion des Instituts verkorkst.
Inwiefern?
Das DEval ist eine Gesellschaft
im Besitz des Bundes, vertreten
zum Entwicklungsministerium
herauszukommen. Das entspricht
auch der Tatsache, dass die deutsche Entwicklungszusammenarbeit längst breiter als nur im BMZ
verankert ist.
Helmut Asche war von 2012 bis
2014 Leiter des Evaluierungsinstituts
DEval in Bonn. Er ist seit 2011 unter
anderem Honorarprofessor an der
Universität Mainz.
privat
durch einen einzigen Gesellschafter, nämlich das Entwicklungsministerium, von dem es zugleich
Zuwendungen erhält. GmbH- und
Zuwendungsrecht sind aber ein
Einfallstor für tagtägliches Mikromanagement.
Hat Ihnen das Ministerium in die
Arbeit des Instituts hineingeredet?
Ja, es hieß zum Beispiel, diese
Evaluierung nicht jetzt, jene nicht
so oder nicht in diesem oder jenem Land, für die nächste Evaluierung müssten erst noch bestimmte Referate im BMZ gehört
werden, bevor eine Zeile veröffentlicht wird, und so weiter. Für
die Mitarbeiter des Instituts ist
eine solche Detailsteuerung in
der Gründungsphase vielleicht
hilfreich gewesen, aber unterm
Strich kann die in den zwei dürren Worten „wissenschaftliche
Unabhängigkeit“
garantierte
Handlungsfreiheit in der Evaluierung so nicht funktionieren. Meines Erachtens gehört zu einer
tragfähigen Lösung, die Zahl der
bestimmenden
Gesellschafter
mindestens um das Auswärtige
Amt und das Umweltministerium zu erweitern, um aus dieser
dominanten Partnerbeziehung
Vor zwei Jahren, als Sie Ihren Posten angetreten haben, habe ich
Sie in einem Interview nach der
finanziellen Abhängigkeit vom Ministerium gefragt. Sie antworteten,
Unabhängigkeit bedeute nicht,
völlig losgelöst zu sein. Mir schien
damals, dass das kein Problem für
Sie ist.
Die Grundaussage, dass Unabhängigkeit nicht bedeutet, völlig losgelöst zu sein, stimmt immer noch. Es ist vernünftig, dass
das Institut grundsätzlich auf
Nachfrage des Ministeriums evaluiert, natürlich auch auf Nachfrage aus dem Parlament oder
den Entwicklungsorganisationen.
Diese Art Bindung ist in Ordnung.
Es ist aber eine ganz andere Frage,
wie man mit einer solchen Bindung im alltäglichen Betrieb und
bei der Durchführung von Evaluationen umgeht.
riums gewährt. Das wirkt sich natürlich auf die Arbeit aus. Eine
solche Freigabe hätte schon bei
der Gründung vorliegen und allen betroffenen Institutionen verbindlich mitgeteilt werden müssen.
Warum haben Sie den Posten des
Geschäftsführers angesichts dieser
vielen Konstruktionsfehler von Beginn an überhaupt angenommen?
Ich bin als Gründungsdirektor
voller Optimismus und voller Zuversicht in die Handlungsfähigkeit und den Handlungswillen
des Entwicklungsministeriums in
diese Aufgabe gegangen. Da bin
ich allerdings bitter enttäuscht
worden, und damit meine ich
nicht die damalige Leitung unter
Minister Niebel, sondern eine
breite mittlere Lehmschicht im
BMZ.
In unserem Interview Ende 2012
haben Sie gesagt, die Probe der
Unabhängigkeit des Instituts werde darin bestehen, ob Sie die Evaluierungen frei durchführen können.
Das war nicht der Fall?
Richtig, die unsäglichen Mühen der Ebene erlauben die Aussage nicht mehr, dass wir frei und
uneingeschränkt arbeiten konnten.
Sie haben nach dem Regierungswechsel 2013 noch ein gutes halbes Jahr unter dem amtierenden
Entwicklungsminister Gerd Müller
gearbeitet. Hat sich der Wechsel
auf das Institut ausgewirkt?
Ich kann wirklich nicht sagen,
dass das DEval und ich von Minister Müller in der Arbeit ermutigt
wurden. Im Gegenteil: Es werden
Aussagen von ihm zitiert, dass
ihm das Institut nicht besonders
wichtig sei. Ich erlebe seinen entwicklungspolitischen Ansatz und
seine Initiativen ohnehin nicht
so, dass für ihn eine strikte Wirkungsorientierung im Vordergrund steht.
Gibt es darüber hinaus aus Ihrer
Sicht weitere Hinweise, die zeigen,
dass das BMZ an einem unabhängigen Institut nicht wirklich interessiert ist?
Ja. Bis heute gibt es nach meiner Kenntnis keine Regelung, die
dem Institut den uneingeschränkten Zugang zu Daten und
Dokumenten der zu prüfenden
Organisationen und des Ministe-
Wie meinen Sie das?
Das Afrikakonzept des BMZ
etwa wurde letztes Jahr an der geplanten gemeinsamen Afrikapolitik der Bundesregierung vorbei
aus dem Boden gestampft, und in
Bezug auf zentrale Punkte wird es
fast ausgeschlossen sein, das später zu evaluieren. Was etwa hat
man sich unter den zehn geplanten Agrarzentren vorzustellen
2-2015 |
berlin journal
und – vor allem – was sollen sie
genau bewirken? Die sogenannte
Zukunftscharta enthält eine Menge interessanter Ideen. Aber die
handfeste operationale Bedeutung steht in den Sternen.
Wie geht es aus Ihrer Sicht jetzt
weiter mit dem Institut?
Meine Befürchtung ist, dass
das Ministerium das DEval an die
Wand fährt. Die Grundprobleme
sind nicht gelöst, und die im Dezember im Entwicklungsausschuss des Bundestages präsentierten „Strategie“-Elemente lassen befürchten, dass der Auftrag
verwässert wird und das DEval ir-
gendwann als kleine Abteilung
im BMZ oder im Deutschen Institut für Entwicklungspolitik endet.
Ich hoffe, dass ich damit falsch
liege, weil ich das Institut weiterhin für ein großartiges Projekt
halte, das auch international große Beachtung gefunden hat. Ich
hoffe, dass meine Intervention,
aber auch die von Bundestagsabgeordneten und Mitgliedern des
DEval-Beirats, dazu beitragen
kann, dass sich die BMZ-Spitze
und die Arbeitsebene in Bewegung setzen und wenigstens einige der Probleme zügig beseitigt
werden.
Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.
berlin
Keine Wende beim Waffenhandel
Kirchen kritisieren Rüstungsexporte aus Deutschland
Die Bundesregierung hat zwar Zurückhaltung versprochen, trotzdem erklären sich die Kirchen in
Deutschland weiter besorgt über
die deutschen Rüstungsexporte.
Vor allem Lieferungen in Konfliktländer und die gestiegenen Ausfuhren von Kleinwaffen kritisiert
die Gemeinsame Konferenz Kirche
und Entwicklung (GKKE), die im
Dezember in Berlin ihren 18. Rüstungsexportbericht vorgestellt hat.
bare Raketenwerfer – wird gegenwärtig auf 875 Millionen Stück
geschätzt. Nur jede vierte dieser
Waffen befindet sich laut dem Bericht in staatlichem Besitz. Das
Beispiel Libyen zeige, wie schwierig es sei, Waffenbestände zu kontrollieren. Nach dem Sturz von
Diktator Gaddafi 2011 verbreiteten sich die riesigen libyschen
Waffenbestände über die gesamte
Sahelzone.
„Die illegale Weitergabe von Kleinwaffen stellt ein weltweites Risiko
dar; und nicht selten beginnt sie
mit einem legalen Export“, mahnte Jan Grebe vom Internationalen
Konversionszentrum Bonn (BICC),
der Vorsitzende der GKKE-Fachgruppe Rüstungsexporte. Unter
den Abnehmern befänden sich
zahlreiche Drittstaaten außerhalb von EU und Nato – oft auch
Länder in Spannungsgebieten
oder mit problematischer Menschenrechtslage. Dazu zählt die
GKKE Algerien, Indonesien, Saudi-Arabien, Singapur und die Vereinigten Arabischen Emirate sowie Israel.
Erst wenn solche Lieferungen
„signifikant und anhaltend zurückgehen, werden wir von einem vollzogenen Politikwechsel
oder einer Kehrtwende sprechen“,
sagte der katholische Vorsitzende
der GKKE, Prälat Karl Jüsten.
Deutschland exportierte 2013
Kleinwaffen im Wert von 80 Millionen Euro. Das war mehr als je
zuvor. Das weltweite Kleinwaffen­
arsenal – Pistolen, Gewehre, trag-
2014 wurden weniger Exporte
von Kleinwaffen genehmigt
| 2-2015
Der Bericht würdigt zwar, dass
Lieferungen von Kleinwaffen in
Drittstaaten im ersten Halbjahr
2014 unter Aufsicht der Großen
Koalition deutlich zurückgegangen sind: von 18 Millionen Euro
im ersten Halbjahr 2013 auf 1,4
Millionen Euro im entsprechenden Zeitraum 2014. Der Wert von
Genehmigungen für künftige
Kleinwaffenexporte sei im selben
Zeitraum von 39,5 auf 21,3 Millionen Euro gesunken.
Die GKKE ergänzt ihr Lob für
diesen „schönen Erfolg“ aber mit
einer Mahnung: Strengere Maßstäbe für den Export und Schritte
zu einer wirksameren Endverbleibskontrolle müssten, wie angekündigt, schnell umgesetzt
werden. Es müsse verhindert werden, dass Empfängerstaaten Waffen aus Deutschland einfach weiterverkaufen. Die Bundesregierung verlangt dafür bislang nur
eine schriftliche Zusage.
Der Widerruf der Ausfuhrgenehmigungen für ein Übungs-
Scharfschütze einer Rebellengruppe in Libyen. Gewehre,
Pistolen und andere Kleinwaffen aus dem umkämpften
Land haben die gesamte Region geflutet.
Benjamin Lowy/getty images
zentrum an Russland ist für die
Kirchenvertreter in Berlin „ein Signal, dass ein Politikwechsel
machbar ist“. Für den Verkauf von
Patrouillenbooten an Saudi-Arabien, der mit Verweis auf die hohe
beschäftigungspolitische Bedeutung mit einer Hermes-Bürgschaft abgesichert wurde, rügte
der evangelische Prälat Martin
Dutzmann die Regierung wegen
falscher Prioritäten.
Als „nicht hinnehmbar“ kritisierte Jüsten den steigenden Anteil von Liefergenehmigungen in
Drittstaaten für sämtliche Rüs-
tungsgüter. Der lag im ersten
Halbjahr 2014 bei 63,5 Prozent. Es
bestehe zudem die Gefahr, dass
Waffenlieferungen aus ökonomischen Gründen genehmigt würden. Der evangelische Prälat
Dutzmann betonte: „Rüstungsexporte müssen zuerst unter dem
Gesichtspunkt betrachtet werden,
welche Auswirkungen sie für die
Menschen in den Empfängerländern, für die Stabilität von Regionen, für die Sicherheit Deutschlands oder sogar für deutsche
Soldaten in Auslandseinsätzen
haben.“
Marina Zapf
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journal berlin
berlin
Die CDU blockiert ein Gesetz für das Menschenrechtsinstitut
Unionsabgeordnete im Bundestag wollen keine Untersuchungen in Deutschland
Bis März muss eine gesetzliche
Grundlage für die Arbeit des Deutschen Menschenrechtsinstituts in
Berlin her. Andernfalls erhält es
keine Akkreditierung bei den Vereinten Nationen. Ein von Justizminister Heiko Maas (SPD) vorgelegter Entwurf wird jedoch von einer
konservativen Gruppe der CDU/
CSU-Fraktion blockiert. Die Koalitionäre streiten sich um die Aufgaben des Instituts.
Das als Verein organisierte Menschenrechtsinstitut (DIMR) kümmert sich seinem Auftrag gemäß
um
Menschenrechtsverletzungen, die in Deutschland stattfinden oder von Deutschland aus im
Ausland entstehen. Es beobachtet,
klärt auf und dokumentiert, bietet Bildungsmöglichkeiten an
und berät Politik und Justiz. Es
geht um deutsche Verantwortung
– seien es Übergriffe der Polizei,
der Umgang mit Flüchtlingen
und Asylbewerbern oder das Verhalten deutscher Unternehmen
in anderen Ländern.
Um von den Vereinten Nationen als „vollwertige Nationale Institution“ anerkannt zu werden,
bedarf es einer Akkreditierung.
Und die ist für März geplant. Wegen des Widerstands der Union
hängt das dafür nötige Gesetz
aber fest. Eine Arbeitsgruppe der
Koalition konnte zuletzt keinen
Kompromiss finden und übergab
die Sache an die Fraktionsführungen. Dabei hatte Justizminister
Maas seine Vorlage schon mit allen Ressorts abgestimmt. Aber offenbar fühlte sich die menschenrechtspolitische Sprecherin der
CDU/CSU-Fraktion, Erika Steinbach, übergangen. Schon in der
vorherigen Koalition mit der FDP
hatte Steinbach einen entsprechenden Vorstoß vereitelt.
Die Union begründet ihren
Widerstand damit, sie wolle das
Institut pluralistischer und transparenter aufstellen. Beteiligte erklären Steinbachs Haltung aber
eher damit, dass ihr das Institut
grundsätzlich missfalle, weil es
heimische Zustände anprangert,
an denen es aus ihrer Sicht nichts
zu kritisieren gibt. Deshalb sei das
Institut auch schon mal als Nestbeschmutzer verunglimpft worden, sagt sein stellvertretender
Direktor
Michael
Windfuhr.
Steinbach sehe in Deutschland
kaum Menschenrechtsverletzungen, schon gar nicht bei den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten oder in Form von
Rassismus.
Konkret streitet die Koalition
darüber, ob das Institut weiter als
Verein aufgestellt bleiben soll. Der
Union wäre es lieber, die Menschenrechtler wären als Anstalt
des öffentlichen Rechts beim Auswärtigen Amt angesiedelt und
würden sich Unrechtsstaaten wie
Nordkorea sowie dem Erbe der
beiden Diktaturen in Deutschland zuwenden. Zum anderen
schwebt der Union vor, das Steuerungsgremium des Instituts erheblich zu erweitern, auch um
zusätzliche Regierungsvertreter.
Gedacht ist offenbar an eine Art
Rundfunkrat der Menschenrechte, der die Agenda des Instituts
verbindlich bestimmen soll.
Aus all diesen Gründen bangt
Windfuhr um die Unabhängigkeit: „Derzeit haben Institut und
Vorstand freie Wahl, welche Themen das Institut aufgreift und
wie es arbeitet.“ Die Qualität und
Rechenschaftslegung allerdings
würden regelmäßig vom Kuratorium überwacht. Die Autonomie
des Instituts sei ein Kernanliegen
der sogenannten Pariser Prinzipien von 1993, in denen die Vereinten Nationen die Kriterien formu-
liert haben, denen nationale
Menschenrechtsinstitute genügen müssen, um bei den UN akkreditiert zu werden. Nach diesen
Prinzipien soll sich das DIMR als
nationale Menschenrechtsinstitution um die Durchsetzung der
Menschenrechte in und durch
Deutschland kümmern. So will es
auch die SPD.
Das Institut könnte sein
­Rederecht bei den UN verlieren
Windfuhr fürchtet zudem einen
Verlust an internationaler Anerkennung: Die Union blockiert die
UN-Akkreditierung ausgerechnet
in dem Jahr, in dem Deutschland
beim UN-Menschenrechtsrat in
Genf den Vorsitz führt. Dort droht
das DIMR sein Rederecht zu verlieren, schlägt die Akkreditierung
bis März fehl. Bislang war das
Menschenrechtsinstitut nur vorläufig als vollwertiges unabhängiges Gremium anerkannt, das Länder wie die Niederlande, Belgien
und Schweden gerade erst schaffen. Die Pariser Standards sehen
vor, die Institute vor der Regierung gesetzlich zu schützen, damit diese nicht über die Existenz,
Zusammensetzung und Zuständigkeit entscheiden. Das zivilgesellschaftliche Forum Menschenrechte appellierte in einem Brief
an die Bundeskanzlerin, alles zu
tun, um den Angriff auf die Arbeit
des Instituts abzuwehren.
Marina Zapf
Asylbewerber in der Flüchtlingsunterkunft in Burbach. Hier wurden
­Bewohner von Wachpersonal
gequält – solche Missstände gibt es
laut CDU in Deutschland nicht.
picture alliance/dpa
2-2015 |
brüssel journal
brüssel
Ölspur von Ottawa über Washington nach Brüssel
Die EU gibt die Einfuhr von Treibstoffen aus Teersand frei
Das EU-Parlament hat im Dezember eine Richtlinie der EU-Kommission zur Qualität von Treibstoffen
gebilligt. Damit steht dem Import
von Öl aus Teersand, vor allem aus
Kanada, nichts mehr im Weg. Umweltschützer schlagen Alarm,
denn diese Form der Ölgewinnung
ist besonders umwelt- und klimaschädlich.
Die Richtlinie klassifiziert die Klimaschädlichkeit
verschiedener
Treibstoffe. Zu diesem Zweck sollte eigentlich auch festgehalten
werden, wie viel Treibhausgase
bei der Produktion von Rohöl aus
unterschiedlichen Quellen anfallen. Doch darauf hat die Kommission am Ende verzichtet, da sie
sich mit den EU-Mitgliedstaaten
nicht auf die Messmethoden einigen konnte. Im Entwurf, den die
Kommission Ministerrat und Parlament vorgelegt hat, wird die
Herkunft des in Europa eingeführten Öls nicht mehr gesondert
aufgelistet.
Alle damit befassten Ausschüsse des Parlaments lehnten
die Vorlage zwar ab, aber im Plenum fehlten zwölf Stimmen für
die nötige Mehrheit dagegen.
Einzelne Abgeordnete der größeren Fraktionen sprachen von einem Dilemma: Der Verzicht auf
die Klassifizierung nach Treibhausgasausstoß bei der Ölgewinnung sei schlecht, aber ohne diese Qualitätsrichtlinie sei die EU
noch schlechter dran. Nur die
Grünen stimmten geschlossen
gegen die Vorlage.
Vorgesehen war die Richtlinie
schon seit 2011, denn im Rahmen
der Klimapolitik der EU sollte der
Ausstoß von Treibhausgasen
(THG) aus Transport und Verkehr
bis 2020 um sechs Prozent gegenüber 1990 vermindert werden. Berücksichtigt man auch die Produktionsbedingungen, dann haben Öl und Gas aus Teersand oder
Schiefergestein einen deutlich
größeren ökologischen Fußab-
| 2-2015
druck als herkömmliches Rohöl
und Erdgas, kanadisches Teersand-Öl zum Beispiel plus 23 Prozent nach Rechnung der Kommission.
Mit seinem Votum hat das
Parlament den Weg frei gemacht
für das „schmutzige“ Öl. Das freut
die Branche, die dem Teersand-Öl
eine große Zukunft voraussagt.
Große Vorkommen gibt es im
Nordwesten von Südamerika, im
nördlichen und westlichen Afrika
und im Regenwald des Kongobeckens; auf Madagaskar hat die
französische Ölgesellschaft Total
mit Probebohrungen begonnen.
Der Abbau von Teersand, unvermeidlich im Tagebau, verwüstet
enorme Flächen und vergiftet
ganze Flussgebiete. Die Mondlandschaften der kanadischen
Provinz Alberta bieten das Musterbeispiel zum Anschauen.
Die kanadische Öl-Lobby und
die Regierung in Ottawa übten
starken Druck auf Brüssel aus, auf
die Etikettierung von Teersand-Öl
zu verzichten. Die Umweltorganisation Friends of the Earth hat
über hundert Treffen von kanadischen Lobbyisten mit Kommissionsbeamten belegt; die Kanadier
hatten dafür eigens eine Einsatztruppe namens „Pan-European
Oil Sands Team“ aufgestellt. Entscheidend war am Ende jedoch,
dass Kanada und die USA warnten, eine Diskriminierung des kanadischen Öls verstoße gegen
Handelsrecht und gefährde den
Abschluss der geplanten Freihandelsverträge TTIP und CETA.
Die Branche sagt eine große
Zukunft für Teersand-Öl voraus
Kanada exportiert sein Öl nicht
direkt, sondern verkauft es zunächst an Raffinerien in Texas.
Dort wird es mit Rohöl aus anderen Quellen gemischt, verarbeitet
und exportiert, nach Europa etwa
als Diesel oder Kerosin. Würde die
EU die Treibstoffe auch nach Her-
kunft klassifizieren, wären die
Raffinerien in den USA verpflichtet, ihre Mischungen zu deklarieren.
Der bis November 2014 amtierende Kommissionspräsident José
Manuel Barroso gab seinem Handelskommissar Karel De Gucht daraufhin grünes Licht, alle Hindernisse für die geplanten Handelsabkommen aus dem Weg zu räumen, entzog den bis dahin
zuständigen
Kommissionsmitgliedern Heedegard (Klima) und
Öttinger (Energie) die Zuständigkeit für die Treibstoff-Richtlinie
und übergab sie seiner Generalsekretärin Catherine Day. Im vorbereitenden Ausschuss der Ständigen Vertreter der EU-Mitgliedstaaten im EU-Ministerrat drängten
Briten, Niederländer und Spanier
ebenfalls darauf, das TeersandEtikett zu streichen mit der Begründung, die Freihandelsverträge hätten Vorrang. Und so geschah
es dann auch.
Heimo Claasen
brüssel
Freie Fahrt für Spekulanten
Die EU forciert ein Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen
Im Dezember haben Tausende in Brüssel gegen die Freihandelsabkommen TTIP, CETA und das Dienstleistungsabkommen TISA demonstriert. Letzteres beachtet die Öffentlichkeit bisher kaum. Dabei könnte TISA die Einführung der
geplanten Finanzmarktsteuer verhindern.
TISA – Trade in Services Agreement – heißt das Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen, über das
eine Gruppe von 23 Ländern, zumeist Industriestaaten,
seit 2012 verhandelt. Es geht darin um Bereiche wie Finanzdienstleistungen, Versorgung mit Energie und Wasser, Gesundheit, Bildung bis hin zum Betrieb von Gefängnissen. Die ersten Treffen in Hinterzimmern der
Welthandelsorganisation (WTO) in Genf wurden zunächst geheim gehalten. Seit Juni 2013 treffen sich die
Regierungen regelmäßig in der australischen UN-Botschaft ebenfalls in Genf. In ihren Dokumenten nennen
sie sich die „really good friends of services“ – die „wirklich guten Freunde von Dienstleistungen“.
Offiziell soll TISA die mit der
sogenannten Doha-Runde festgefahrenen WTO-Verhandlungen
um ein Dienstleistungsabkommen GATS vorantreiben. Doch
tatsächlich geht es wohl eher darum, eine Alternative zu schaffen:
Die „guten Freunde“ streben an,
TISA eines Tages in die Welthandelsorganisation zu integrieren.
Die große Mehrheit der 155 WTOMitglieder dürfte damit allerdings kaum einverstanden sein.
Und auch unter den „guten
Freunden“ herrscht nicht in allen
Punkten Einigkeit: Vor allem die
USA und die EU haben – soweit
das bisher durchgesickert ist –
Vorschläge eingebracht, die für
51
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journal brüssel | schweiz
den Rest der WTO-Handelswelt
unannehmbar wären.
Der Kern von TISA ist die
grundsätzliche
Gleichstellung
von auswärtigen Unternehmen
mit inländischen Anbietern für
Dienstleistungen. Die Gewerkschaften in vielen Ländern sehen
darin einen Generalangriff auf
die öffentlichen Dienste schlechthin. Im vorigen Oktober unternahmen sie in Genf unter ihrer
Dachorganisation Public Services
International eine Bestandaufnahme und riefen zu Widerstand
auf. Bis dahin hatte TISA kaum
öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Die im November neu bestallte EU-Handelskommissarin
Cecilia Malmström gelobt denn
auch mehr Transparenz.
Erstmals unterrichtet – allerdings nur unvollständig – wurde
das EU-Parlaments von ihrem
Vorgänger,
Handelskommissar
Karel De Gucht, im Juli 2014. Dies
war bereits mehr als zwei Jahre
nach Beginn der Genfer Geheimverhandlungen und erst nachdem die Webseite WikiLeaks ein
Paket von TISA-Texten zu Finanzdienstleistungen veröffentlicht
hatte. Seitdem hat sich das Parla-
Studie: TTIP „relativ harmlos“
Ein transatlantisches Abkommen (TTIP)
zwischen der EU und den USA würde sich
laut einer neuen Studie kaum auf die meisten Entwicklungsländer auswirken. Die
Folgen wären „relativ harmlos“, erklären
die Ökonomen vom Münchner ifo-Institut.
Arme Länder könnten von TTIP profitieren,
da das Abkommen in Europa und den USA
zu Einkommenszuwächsen führen werde,
die eine erhöhte Nachfrage nach Produkten aus anderen Ländern zur Folge hätten,
heißt es in der Studie. Andererseits könne
der Handel zulasten von Entwicklungsländern umgelenkt werden. Davon werden
laut der Studie vor allem die Länder Südostasiens betroffen sein, die Güter exportieren, die auch in den USA und in Europa
ment allerdings nicht allzu interessiert gezeigt am Fortgang der
Verhandlungen. Dem für Handelsfragen zuständigen Abgeordneten der Grünen, Jan-Philipp Albrecht, etwa wurde der Zugang zu
den von der Kommission bisher
ans Parlament überstellten vertraulichen Akten schlicht verwehrt.
hergestellt werden. Es werde Gewinner
und Verlierer geben, sagte der Leiter der
Studie, Gabriel Felbermayr vom ifo-Institut in München. Das Bundesentwicklungsministerium hatte das Gutachten vor drei
Monaten in Auftrag gegeben. Die Autoren
empfehlen, die Entwicklungsländer in die
weiteren Verhandlungen über TTIP möglichst weit einzubinden und ihnen eine
Beitrittsperspektive zu eröffnen. Aus der
Zivilgesellschaft kommt Kritik an der Studie: Die Auswahl der Daten sei zweifelhaft,
heißt es vom Dachverband der Entwicklungsorganisationen Venro. Und Oxfam
moniert, in der Studie werde nicht untersucht, ob TTIP die Ungleichheit in und zwischen Staaten verschärfen werde. (ell)
Laut dem TISA-Entwurf dürfen die Vertragspartner keine
neuen Regeln einführen, die den
internationalen Handel behindern. Das könnte auch die von elf
EU-Mitgliedern geplante Steuer
auf Finanzmarktgeschäfte treffen.
Der Kommissionsentwurf dazu
liegt seit fast einem Jahr im EUMinisterrat auf Eis, und es ist
zweifelhaft, dass die Länder, die
die Steuer im Prinzip einführen
wollen, in den kommenden zwei
Jahren eine Entscheidung dazu
treffen. Sollte TISA bis 2017 unter
Dach und Fach sein, wie die Kommission das anstrebt, und die Finanzmarktsteuer bis dahin nicht
verabschiedet worden sein, hat
sie sich erledigt.
Heimo Claasen
gen wie die nach rechtlich verbindlichen Regeln für soziale und
ökologische
Sorgfaltspflichten
von Schweizer Unternehmen, begründet der Sprecher der Erklärung von Bern (EvB), Oliver Classen, den Schritt. „Politische Forderungen gehören vor demokratisch legitimierte Institutionen“.
Zudem ist die Schweiz, wie alle
UN-Mitglieder, aufgefordert, die
Ruggie-Leitlinien für Wirtschaft
und Menschenrechte auf nationaler Ebene umzusetzen.
„Wir wollen auf der gesetzlichen Ebene etwas bewirken“, sagt
Classen. Die EvB war eine der Trägerorganisationen des „Public Eye“
und hatte zudem vor gut drei Jah-
ren zusammen mit 50 anderen
nichtstaatlichen Organisationen
die Kampagne „Recht ohne Grenzen“ ins Leben gerufen. Die Forderungen des größten Bündnisses
dieser Art, das es in der Schweiz je
gab, sind klar: Bundesrat und Parlament sollen mit gesetzlichen
Bestimmungen dafür sorgen, dass
Firmen mit Sitz in der Schweiz
weltweit Menschenrechte und
Umwelt respektieren müssen.
Zudem sollen Opfer von Menschenrechts- und Umweltverstößen durch solche Firmen, ihre
Niederlassungen und Zulieferer,
in der Schweiz auf Wiedergutmachung klagen können. Um dieses
Ziel zu erreichen, will das NGO-
schweiz
Abschied von Davos
Schmähpreis „Public Eye“ zum letzten Mal verliehen
Der texanische Ölkonzern Chevron
hat den Preis am Rande des Weltwirtschaftsforums (WEF) erhalten.
Die Bedeutung des Wirtschaftsgipfels schwindet – auch für die
Schweizer Globalisierungsgegner.
Sie machen künftig lieber Politik in
Bern.
Chevron wurde für sein „unternehmerisches
Lebens(un)werk“
ausgezeichnet. An der Online-Abstimmung hatten sich mehr als
60.000 Personen beteiligt. Auf
der Liste der Anwärter für den
„Lifetime Award“ standen sechs
bekannte Firmen, die bereits in
früheren Jahren einen Schmähpreis erhalten hatten. Dazu gehör-
ten neben Chevron der US-Konzern Dow Chemical, der russische
Energieriese Gazprom, die US-Investmentbank Goldman Sachs,
der Schweizer Rohstoffkonzern
Glencore sowie der weltgrößte
Einzelhändler Walmart. Chevron
war 2006 mit einem „Public Eye
Award“ bedacht worden - für die
Verschmutzung großer Teile noch
unberührten Urwalds im Norden
Ecuadors.
Der Award wurde in diesem
Jahr zum letzten Mal verliehen.
Künftig will das „Public Eye“ den
Fokus seiner Arbeit auf Bern, den
Sitz von Bundesrat und Parlament, richten. Davos sei der falsche Ort für politische Forderun-
2-2015 |
schweiz journal
Die Kampagne „Recht
ohne Grenzen“
übergibt im
Sommer 2012
der Bundesverwaltung in Bern
ihre Petition, mit
der sie eine verbindliche menschenrechtliche
Sorgfaltspflicht
für Unternehmen fordert.
Eliane Baumgartner,
SWISSAID
Bündnis nun eine Volksinitiative
lancieren.
Der Schmähpreis hat seinen
Zweck erfüllt
Es ist wohl nicht übertrieben zu
sagen, dass der Schmähpreis des
„Public Eye“ in Davos den Weg für
diese Volksinitiative geebnet hat.
„Das Vorgehen von Public Eye in
Davos war visionär“, bilanziert
Classen: Nicht nur wegen der
„Auszeichnung“, sondern auch,
weil sich das „Public Eye“ nie an
den Krawallen auf der Straße be-
teiligte und von Anfang an mit seinen Online-Abstimmungen stark
aufs Internet setzte.
An der Geschichte des „Public
Eye“ würden die verschiedenen
Taktiken des Protestes im 21. Jahrhundert deutlich, kommentiert
der Journalist und WEF-Beobachter Constantin Seibt den Rückzug
aus Davos. Zwar seien während
der ersten Jahre des Anti-WEF in
Davos die Kameras vor allem auf
die Krawalle gerichtet gewesen.
Die seriösen Panels des „Public
Eye“ mit Informationen statt An-
ekdoten hätten wenig mediale
Aufmerksamkeit erfahren. Doch
2005 folgte der Durchbruch. Das
Herzstück des Strategiewechsels
war die Verleihung des „Public Eye
Awards“, eines Preises, den niemand wollte. Die Idee entstand,
weil beim WEF die umsatzstärksten internationalen Unternehmen präsent sind. Der Award sollte auf unverantwortliches Geschäftsgebaren in einem konkreten Fall aufmerksam machen.
Über seine Vergabe konnte online
abgestimmt werden.
Rezepte für einen bewussten und
nachhaltigen Konsum. Zudem
sammeln die beiden Hilfswerke
zusammen mit rund 50 weiteren
Organisationen Unterschriften
für eine Umwelt-Petition. Angesichts der UN-Klimakonferenz im
Dezember in Paris verlangen sie
von der Schweizer Regierung ein
klares Engagement für mehr Klimagerechtigkeit.
(tp)
und Besucher aus Wasserhähnen
lokales Trinkwasser abzapfen
können. Präsenz Schweiz, die PRAgentur des Schweizer Außendepartementes, reagiert damit auf
die Kritik von Politikern und
nichtstaatlichen Organisationen,
die sich an der Beteiligung von
Nestlé stören (siehe „welt-sichten“
12-2014/1-2015). Der Nahrungsmittelkonzern steuert drei Millionen Franken (2,97 Millionen Euro)
zum Schweizer Gesamtbudget
von 23,1 Millionen Franken (22,9
Millionen Euro) bei. (tp)
„Der Schmähpreis richtete
den Fokus auf das heutige Topthema der Unternehmensverantwortung, das bis dahin wenig bis gar
keine Aufmerksamkeit in der politischen Öffentlichkeit fand“, sagt
EvB-Sprecher Classen.
In der Vergangenheit hatte
„Public Eye“ mit der Auszeichnung
einigen Erfolg. Die britische Bank
Barclays wurde 2012 für die Spekulation mit Lebensmitteln angeprangert. Im Februar 2013 gab sie
bekannt, aus diesem Geschäft auszusteigen – sie sah ihren guten Ruf
in Gefahr. Der Schweizer Pharmakonzern Roche erhielt den
Schmähpreis 2010 wegen unethischer Medikamententests in China. Die international tätige Triodos Bank strich den Konzern darauf aus ihrem Anlageportfolio.
Die Versuche seien inakzeptabel
und entsprächen nicht den vorgegebenen
Menschenrechtsstandards, so die Begründung.
Zudem hatte der Schmähpreis
eine Art Domino-Effekt: In den
vergangenen zehn Jahren wurde
durch seine Verleihung immer
wieder die Forderung nach rechtlich verbindlichen Regeln für Unternehmen thematisiert. Das klassische Web-basierte „Naming and
Shaming“ spurte den politischen
Weg vor und sensibilisierte die Öffentlichkeit für das Thema.
Kathrin Ammann
schweiz – kutz notiert
„Weniger für uns, genug für alle“:
Mit ihrer diesjährigen ökumenischen Kampagne rufen Fastenopfer und Brot für alle die Schweizerinnen und Schweizer zu einem
nachhaltigen Umgang mit Nahrung auf. Das biblische Bild der
Tischgemeinschaft zeige, statt
Überfluss auf der einen und Mangel auf der anderen Seite sei ein
„Genug für alle“ möglich, erklären
die kirchlichen Hilfswerke. Wenn
die Bevölkerung in der Schweiz
den durchschnittlichen Pro-KopfKonsum von einem Kilo Fleisch
pro Woche halbieren würde,
müssten weder Fleisch noch Futtermittel importiert werden. Im
traditionellen Kalender zur vorösterlichen Fastenzeit finden sich
| 2-2015
www.sehen-und-handeln.ch
Wasserhähne statt Nestlé-Flaschen: Bei der Weltausstellung
Expo 2015 in Mailand wird der
Schweizer Wasserturm nicht wie
ursprünglich geplant mit Wasserflaschen von Nestlé gefüllt. Stattdessen sollen die Besucherinnen
„Herein. Alle(s) für die Zuwanderung“: Diesen provozierenden Titel hat die Caritas Schweiz für ihren Sozialalmanach 2015 gewählt,
dem Jahrbuch zur sozialen Lage
in der Schweiz. Caritas legt damit
angesichts der „einseitigen und
festgefahrenen Diskussion“ zur
Zuwanderung ein Bekenntnis ab
zu einer Migrationspolitik, die soziale Chancengerechtigkeit zum
Ziel hat. 20 Vertreter von Politik,
Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur legen im Jahrbuch ihre Gründe dar, warum sie für eine Schweiz
der offenen Türen eintreten. Man
könne von der Bevölkerung nicht
mehr Toleranz erwarten, wenn
man aus Einwanderern Bürger
zweite Klasse mache, schreibt
etwa Martine Brunschwig Graf,
die Präsidentin der eidgenössischen Kommission gegen Rassismus. (tp)
53
54
journal österreich
österreich
Nicht gerade ein Musterschüler
Die OECD erteilt Österreichs Entwicklungspolitik ein mäßiges Zeugnis
Die Regierung in Wien hat ihre
Hausaufgaben nicht gemacht: Die
meisten Empfehlungen aus dem
entwicklungspolitischen Prüfbericht der OECD von 2008 hat sie ignoriert. Und schon liegt ein neuer
Bericht mit weiteren Aufgaben vor.
Da ist Nachsitzen angesagt.
„Österreich hat viel getan, sollte
aber mehr tun.“ Mit dieser diplomatischen Floskel eröffnete Erik
Solheim seine Präsentation des
sogenannten Peer Review der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit Mitte Januar in
Wien. Solheim, früher norwegischer Entwicklungs- und Umweltminister, ist seit zwei Jahren Vorsitzender des Entwicklungshilfekomitees (DAC) der OECD. In den
Peer Reviews bewerten die Geberländer ihre Entwicklungszusammenarbeit gegenseitig.
Um die teils heftigen Kritikpunkte des Berichts, für den
Deutschland und die Schweiz verantwortlich zeichnen, machte
Solheim einen vornehmen Bogen.
Man solle doch den Bericht lesen.
Darin wird zum Beispiel ein verbindlicher Stufenplan gefordert,
wie Österreich das Ziel erreichen
will, seine Hilfe auf 0,7 Prozent
des Bruttonationaleinkommens
zu steigern. Derzeit liegt Wien mit
0,28 Prozent am unteren Ende der
Liste der Geberstaaten. Zudem
solle Österreich mehr Hilfe für
die am wenigsten entwickelten
Länder geben. Deren Anteil ist in
den vergangenen Jahren gesunken, denn Österreich hat viel in
neue Schwerpunktländer im Kaukasus und der Schwarzmeerregion investiert. Insgesamt sei das
Kernbudget
der
bilateralen
Länderhilfe mit 15 Prozent von
den Gesamtleistungen äußerst
niedrig. Der Löwenanteil fließt an
multilaterale Organisationen wie
die Weltbank und die UN-Organisationen. Der DAC-Durchschnitt
liegt bei 55 Prozent.
Peter
Launsky-Tieffenthal,
Sprecher des Außenministeriums, dankte indes den lobenden
Worten Solheims: „Sie haben bewirkt, dass wir uns gut und stolz
ob unserer Leistungen fühlen.“
Und er kündigte an, die Regierung werde Entschuldungen
künftig erst dann in die Entwicklungshilfe einrechnen, wenn sie
Wien kürzt die Hilfe doch nicht
Kurz vor Weihnachten verkündete Außenminister
Sebastian Kurz die Frohbotschaft: Die Entwicklungshilfe wird 2015 doch nicht gekürzt. Die Austrian Development Agency kann für 2015 wie im
vergangenen Jahr mit 68,23 Millionen Euro operativem Budget und mit 8,80 Millionen Euro für Verwaltungskosten rechnen. Die vorgesehenen Kürzungen von insgesamt 16,60 Millionen Euro – davon 15,35 Millionen Euro für Programme und Projekte und 1,25 Millionen Euro für deren Abwicklung
– sind vom Tisch. Werner Kerschbaum, Generalsekretär des Roten Kreuzes, nannte das ein „ermutigendes Signal“ und einen „Schritt in die richtige
Richtung“. Auch die entwicklungspolitischen Organisationen zeigten sich erleichtert. Seit 2009
befindet sich Österreichs Entwicklungshilfe im
Sinkflug. Weitere Kürzungen stehen im Raum. (rld)
Wohin fließt Österreichs Hilfe?
2013 nach Regionen in Prozent
nicht
zuzuordnen
©
23
26,7
Gesamt
1,17 Mrd. US-$
Europa
23,1
4,8
5,2
Quelle: OECD
die Schulden tatsächlich abgeschrieben habe. In der Vergangenheit wurden häufig bereits
bevorstehende Umschuldungen
als Hilfe verbucht. Für derlei Kosmetik war Österreich sowohl von
zivilgesellschaftlichen Organisationen als auch vereinzelt von anderen Gebern kritisiert worden.
In Österreich sind neun verschiedene Ministerien und Regierungsstellen für Entwicklungszusammenarbeit zuständig. Die Koordinierung obliegt dem Außenministerium, das aber nur fünf
Prozent der Mittel verwaltet. Der
größte Teil der Hilfe kommt aus
dem Finanzministerium, das die
multilaterale Hilfe leistet. Wien
solle dafür sorgen, dass die unterschiedlichen Stellen einander
nicht in die Quere kommen und
gemeinsame Entwicklungsziele
definieren, heißt es in dem Bericht. Auch mit der entwicklungspolitischen Kohärenz – also mit
der entwicklungsfördernden Ausrichtung der gesamten Regierungspolitik – sei es nicht zum
Besten bestellt. Der DAC vermisst
eine klare Strategie, um Inkohärenz zu beseitigen – obwohl das
Entwicklungshilfegesetz
dafür
die Handhabe liefere.
Die Prüfer loben indes die zunehmende Einbindung privater
Geldgeber in die Entwicklungspolitik. Allerdings seien – außer in
Subsahara-Afrika
Süd- und Zentralasien
11,1
6,1
übriges Asien
Naher Osten und
Nordafrika
Lateinamerika und
Karibik
der Arbeit der Österreichischen
Entwicklungsbank – die Ziele und
erhofften Ergebnisse nicht klar
definiert. Petra Bayr, die entwicklungspolitische Sprecherin der
SPÖ, moniert, es sei nicht sichergestellt, dass die Aktivitäten des
Privatsektors tatsächlich der Armutsminderung dienen.
Nicht zufrieden sind die Prüfer mit dem Stellenwert der Querschnittsthemen Gender und Umwelt in der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit. Der
Anteil der bilateralen Hilfe dafür
schrumpfe und liege „weit unter
dem DAC-Durchschnitt“. Die humanitäre Hilfe aus Wien wird als
zu fragmentiert kritisiert.
In sehr diplomatischen Worten bescheinigt der Bericht Österreich, seit dem DAC-Review von
2008 „Anstrengungen unternommen“ zu haben. Im Klartext
heißt das aber, dass nur jede fünfte Empfehlung von damals umgesetzt wurde. Annelies Vilim, die
Geschäftsführerin
des
NGODachverbands AG Globale Verantwortung, sieht den Bericht „bestenfalls als genügendes Zeugnis“
für die Regierung. Seit der letzten
Analyse seien nur sieben Prozent
der Empfehlungen vollständig
umgesetzt worden. Offenbar
mangele es der Bundesregierung
an politischem Willen.
Ralf Leonhard
2-2015 |
kirche und ökumenE journal
kirche und ökumenE
Regeln für einen evangelischen Exorzismus
Kirchengemeinschaft unterstützt Programme zur Befreiung von bösen Mächten
gelegt, dass die jeweils höhere
Kircheninstanz das Vorgehen vor
Ort kontrollieren muss. Wer sich
nicht an diese Regeln hält, muss
mit
Disziplinarmaßnahmen
rechnen.
In der evangelischen Theologie
kommen Hexen und Dämonen eigentlich nicht vor. Doch was tun,
wenn das Zusammenleben beeinträchtigt wird, weil Menschen an
böse Mächte glauben? Die afrikanischen und asiatischen Mitgliedskirchen der Vereinten Evangelischen Mission (VEM) haben sich
auf ein Verfahren geeinigt – das
nicht unumstritten ist.
Auf Aberglaube hat die evangelische Theologie im Grunde nur
eine Antwort: Aufklärung durch
Predigt und Bildungsarbeit. Entsprechend groß war das Unverständnis der deutschen VEM-Kirchenvertreter, als ihre afrikanischen und asiatischen Kollegen
forderten, dem Thema Hexen
und Dämonen theologisch nachzugehen. Doch anders als in Europa ist in afrikanischen und asiatischen Gesellschaften der Glaube
an böse Mächte weit verbreitet.
Und wenn die Menschen bei
evangelischen Pfarrern keine verständliche Antwort auf ihre Probleme bekommen, gehen sie eben
zu Fetischpriestern oder in
Pfingstkirchen.
Als im Mai 2010 auf der indonesischen Insel Sumatra eine der
Hexerei verdächtigte Familie gelyncht wurde und sich an dem
Mord auch Kirchenälteste aus
drei lutherischen VEM-Kirchen
beteiligten, wurde auch den Skeptikern endgültig klar, dass das
Thema nicht länger ignoriert werden kann. Die VEM organisierte
zwei theologische Konsultationen, eine für Afrika und eine für
Asien, um einen evangelischen
Zugang zu Magie, Hexerei und
Dämonenglauben zu finden. Die
deutschen Vertreter hätten dabei
vor allem zugehört und gelegentlich kritische Fragen gestellt, sagt
Claudia Währisch-Oblau, die bei
der VEM die Abteilung Evangelisation leitet. „Wir haben bewusst
keine Debatten darüber geführt,
ob es Dämonen wirklich gibt, son-
| 2-2015
Kritiker sagen, es bestehe
„theologischer Klärungsbedarf“
Magische Kräfte am Werk: Ein Zauberer aus Kenia sagt
mit Hilfe von zwei Muscheln den Ausgang der
Präsidentenwahl von 2012 in den USA voraus.
Thomas Mukoya/reuters
dern uns vor allem auf die realen
Konsequenzen des Dämonenglaubens konzentriert und uns
gefragt, wie wir als Pfarrer damit
umgehen können.“ Die Teilnehmenden der Konsultationen verständigten sich auf zwei Dokumente, die laut Währisch-Oblau
Grundzüge einer theologischen
Basis und pastorale Richtlinien
für eine protestantische Befreiung von Dämonen enthalten.
„Wir sind uns einig, dass man
nicht an Dämonen glauben muss,
um sie auszutreiben.“
Kirchen bieten ihren Pfarrern
Trainings für Exorzismus an
Die Diskussion in der VEM hat in
den afrikanischen und asiatischen Mitgliedskirchen Dämme
gebrochen. Einige Kirchen bieten
jetzt ihren Pfarrern und Evangelisten Trainings für Dämonenaustreibung an, andere veranstalten
Workshops und Seminare für
Ortsgemeinden. Die Baptistische
Gemeinschaft in Zentralafrika
hat ein Video über Besessenheit
und Befreiungsdienst produziert.
Die Evangelisationsabteilung der
VEM fördert diese Programme.
Die Evangelische Kirche von
Kamerun (EEC), ebenfalls Mit-
glied der VEM, ist noch einen
Schritt weitergegangen: Sie hat
Dämonenaustreibung offiziell legitimiert. „Bisher wussten unsere
Pfarrer nicht, was sie tun sollten,
wenn Menschen wegen paranormaler Phänomene zu ihnen kamen“, sagt Nghane Ngouaba von
der EEC. „Sie mussten sie entweder wegschicken oder aber Sanktionen der eigenen Kirche fürchten, wenn sie einen Exorzismus
durchführten.“ Das Dokument,
das Dämonenaustreibung als ein
pastorales Amt bezeichnet, habe
nun endlich Klarheit geschaffen.
Nach den neuen EEC-Regularien dürfen entsprechend fortgebildete Pfarrer nach vorgegebenen Regeln Menschen von bösen
Mächten befreien. Unterstützung
bekommt der Pfarrer von Gebetsgruppen und Laien; die Befreiungsliturgie ist ganz auf die Bibel
und das Gebet ausgerichtet, ein
Dialog mit Dämonen und Geistern ist ausdrücklich verboten.
Sollte keine Heilung eintreten, ist
der Pfarrer angehalten, andere
Wege zu finden, wie den Menschen geholfen werden kann,
zum Beispiel zusammen mit Ärzten, Psychiatern oder Psychologen. Die EEC hat außerdem fest-
Währisch-Oblau bezeichnet das
Papier aus Kamerun als „weltweit
einmalig“. Es biete einen eindeutig evangelischen Blick auf das
schwierige Thema; Heilung und
Dämonenaustreibung würden als
Teil eines ganzheitlichen Seelsorgekonzepts gesehen.
Außerhalb der VEM stößt das
Vorgehen des Kirchenverbunds
allerdings auf Kritik. Für die Evangelische Zentrale für Weltanschauungsfragen (EZW) ist die
Forderung der beiden VEM-Konsultationen, protestantische Angebote der Dämonenbefreiung zu
installieren, „aus europäischer
Sicht unvorstellbar“. Es bestehe
„theologischer Klärungsbedarf“,
heißt es von Seiten der EZW.
Dem hält Währisch-Oblau
entgegen, es gehe nicht darum,
„ob wir an Dämonen glauben oder
nicht. Es geht darum, wie wir
Menschen helfen können“. Auch
in Westeuropa gebe es Psychiatrie-Patienten, die glauben, von
Dämonen besessen zu sein. Sie
bekomme immer wieder Anfragen von Pfarrern aus evangelischen Landeskirchen, die von Gemeindegliedern mit dem Thema
konfrontiert würden. „Westliche
Seelsorgepraxis kann hier möglicherweise etwas von den Kirchen
in Afrika lernen. Schließlich glauben auch im säkularen Westen
mehr Menschen an Geister und
Dämonen, als evangelische Pfarrer meinen“, sagt Währisch-Oblau.
Katja Dorothea Buck
Das EEC-Dokument kann auf der
Homepage der VEM eingesehen
werden unter: www.vemission.org/en/
about-uem/downloads.html
55
56
journal kirche und ökumene
kirche und ökumenE
Neustart im arabischen Winter
Der Nahöstliche Kirchenrat hat das Vertrauen seiner Geldgeber zurückgewonnen
Vor sechs Jahren war der Middle
East Council of Churches (MECC)
totgesagt. Wegen anhaltender
Misswirtschaft hatten sich alle
westlichen Geldgeber zurückgezogen. Mit schlankeren Strukturen
und einem neuen Profil gilt der Kirchenrat bei westlichen Hilfswerken
nun wieder als förderungswürdig.
Den Gnadenstoß verpasste dem
MECC der Evangelische Entwicklungsdienst (EED) Ende 2009. Jahrelang hatte der Kirchenrat Gelder
veruntreut, konnte keine transparenten Abrechnungen liefern und
zahlte keine Sozialversicherungsbeiträge für seine Teilzeitangestellten. Als sich der EED als größter Geldgeber endgültig zurückzog, war der Rat mit Sitz in Beirut
pleite und musste seine 25 Angestellten entlassen. Zurück blieb
ein Schuldenberg von rund zwei
Millionen US-Dollar.
Zurück blieben aber auch ein
paar überzeugte Kämpfer für die
nahöstliche Ökumene. Zusammen mit einigen Partnern aus
dem Westen setzten sie sich in den
vergangenen Jahren immer wieder zusammen, um neue, schlankere Strukturen zu erarbeiten, ei-
nen realistischen Tilgungsplan
aufzustellen und klare Managementregeln mit entsprechenden
Kontrollmechanismen
festzulegen. Das ist ihnen offenbar gelungen. Seit Ende vergangenen Jahres
laufen bei Michel Jalakh, dem neuen Generalsekretär des MECC, wieder Finanzierungszusagen aus aller Welt ein, darunter auch von
Brot für die Welt/Evangelischer
Entwicklungsdienst. Das Hilfswerk
hat dem Kirchenrat unlängst
90.000 Euro für den Doppelhaushalt 2014/2015 bewilligt. Die Förderung sei mit Auflagen versehen,
es herrsche aber Zuversicht, dass
ein Neuanfang gelingen könne,
sagt Ilonka Boltze, die bei Brot für
die Welt das Referat Naher Osten,
Süd-Kaukasus, Zentralasien leitet.
Ein lokaler Berater, der auch mit
anderen Partnerorganisationen in
der Region an Fragen wie Management und Transparenz arbeitet,
werde den MECC dabei unterstützen.
Nirgendwo ist Ökumene
schwieriger als im Nahen Osten
Die nächsten zwei Jahre werden
für den MECC entscheidend sein.
Das sehr viel kleinere Team muss
nun zeigen, dass es verantwortlich mit dem Geld umgeht. Außerdem muss es den Kirchenrat
zu einer funktionierenden ökumenischen Plattform machen,
die alle nahöstlichen Kirchenleitungen an einen Tisch bringt und
nach gemeinsamen Nennern
sucht. In keiner anderen Weltregion ist das schwieriger als im Nahen Osten. Hier sind alle großen
Kirchentraditionen mit zum Teil
starken theologischen Differenzen vertreten.
Trotzdem hält auch Owe Boersma, Nahostreferent beim
Evangelischen
Missionswerk
Deutschland (EMW), den neuaufgestellten MECC für zukunftsfähig. Boersma hat als einer der wenigen westlichen Vertreter den
Kirchenrat bei seinem Umbau
begleitet. „Als Missionswerk steht
für uns die Beziehung zu den Kirchen im Nahen Osten an erster
Stelle. Und die wollten wir aufrechterhalten trotz der Finanzmisere“, sagt er. Besonders seit Beginn des arabischen Frühlings sei
immer deutlicher geworden, wie
sehr die Kirchen im Nahen Osten
ein gemeinsames Gremium brauchen, das mit einer Stimme spre-
KirchE und Ökumene – kurz notiert
Die kongolesischen Steuerbehörden haben
zum 31. Dezember 2014 alle Konten des PanziHospitals in Bukavo im Osten Kongos beschlagnahmt. Weltweit bekannt wurde das
Hospital durch seinen Gründer und Direktor
Denis Mukwege. Der Gynäkologe kümmert
sich seit mehr als 15 Jahren um Frauen und
Mädchen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind. Damit hat er in den vergangenen
Jahren das internationale Bewusstsein für
das Thema Vergewaltigung als Kriegswaffe
geschärft.
Der Krankenhausverwaltung wird vorgeworfen, Steuern von umgerechnet 40.000
Euro nicht gezahlt zu haben. Mit der Sperrung der Konten ist die Einrichtung zahlungsunfähig und kann nur noch einen Notdienst
anbieten. Das Krankenhaus bezeichnete das
Vorgehen der Steuerbehörde als diskriminierend. „Kein einziges öffentliches Krankenhaus zahlt bis zum heutigen Tag Steuern in
der DR Kongo“, sagte der Anwalt des Krankenhauses. Auch der belgische Entwicklungsminister, Alexander de Croo, setzte sich bei der
Regierung in Kinshasa dafür ein, dem Krankenhaus die Steuerschuld zu erlassen.
Für sein Engagement ist Denis Mukwege
mehrfach ausgezeichnet worden. 2013 erhielt er den Alternativen Nobelpreis und im
vergangenen Jahr den Sacharow-Preis des
EU-Parlaments. In seiner Heimat zieht er mit
seiner Kritik an der Regierung, die zu wenig
gegen Gewalt und die extreme Armut tue,
immer wieder den Unmut der Machthabenden auf sich. Vor drei Jahren war der Arzt nur
knapp einem Anschlag entgangen. (kb)
Gottesdienst zum Epiphaniasfest
am 6. Januar in der Markuskirche
von Alexandria.
Anadolu Agency/Getty Images
chen kann. Es sei erfreulich, dass
sich die 27 Mitgliedskirchen jetzt
wesentlich stärker mit dem MECC
identifizierten, als dies bis 2009
noch der Fall war. Zur Tilgung des
Schuldenbergs hätten die nahöstlichen Kirchen bereits 800.000
US-Dollar beigesteuert und wollten sich auch künftig stärker an
der Finanzierung des MECC beteiligen. Dadurch habe der Kirchenrat international wieder an
Glaubwürdigkeit gewonnen.
Anfang November 2014 brachte schließlich ein offizieller Bittbrief des Ökumenischen Rats der
Kirchen (ÖRK) in Genf das Eis zwischen dem MECC und den westlichen Geldgebern vollends zum
Schmelzen. Der MECC habe eine
erstaunliche und vielversprechende Umstrukturierung durchlaufen und volle Transparenz zugesagt, schreibt der ÖRK-Generalsekretär Olav Fykse Tveit darin.
„Die Kirchen im Nahen Osten erleben gerade schwere Zeiten. Noch
nie war der MECC als ein ökumenisches und einigendes Forum so
wichtig wie jetzt.“
Katja Dorothea Buck
2-2015 |
global lokal journal
global lokal
Neue Leitlinien für das Entwicklungsjahr 2015
Bundesländer stecken ihre Entwicklungspolitik neu ab
Leitlinien stecken den politischen
Rahmen für die Entwicklungszusammenarbeit eines Bundeslandes ab. Inhaltlich orientieren sich
die bereits bestehenden Leitlinien zum Beispiel aus NordrheinWestfalen oder Baden-Württemberg an den Millenniumszielen
und dem Leitbild von nachhaltiger Entwicklung. Daneben benennen sie einzelne Handlungsfelder
wie Bildung, Wirtschaft und regionale Schwerpunkte für die internationale Zusammenarbeit.
Rheinland-Pfalz hat bereits
im Jahr 2010 Leitlinien herausgegeben; nach dem Auslaufen der
Millenniumsziele in diesem Jahr
will sich das Bundesland in seiner
Entwicklungszusammenarbeit
neu aufstellen und die Leitlinien
so überarbeiten, dass die Verantwortung des Nordens stärker in
den Blick kommt. Das Innenministerium hat die entwicklungspolitischen Organisationen sowie
Vertreter von Wirtschaft und Kirchen im Bundesland zu einer
Fachtagung am 27. Februar eingeladen, auf der Arbeitsgruppen
thematische Bausteine erarbeiten sollen. Diese will die Fachstelle im Innenministerium zu einem Entwurf zusammenführen,
der nach erneuter Diskussion im
Herbst 2015 verabschiedet werden soll.
In Schleswig-Holstein hat das
Bündnis Entwicklungspolitischer
Initiativen (BEI) Leitlinien angeregt und dabei den Kirchlichen
Entwicklungsdienst der Nordkirche und den Städteverband
Schleswig-Holstein mit ins Boot
geholt. Sie werden gemeinsam einen Entwurf formulieren, der
Mitte des Jahres entweder der
Landesregierung übergeben oder
| 2-2015
über eine der Fraktionen im Kieler Landtag eingebracht werden
soll.
Im Saarland haben die entwicklungspolitischen Organisationen aus dem Netzwerk Entwicklungspolitik im Bundesland einen Entwurf für Leitlinien erarbeitet. Seit Januar 2015 geht dieser
Entwurf durch die Ministerien
der Landesregierung und soll bis
zum Jahresende verabschiedet
sein.
In Niedersachsen geht es auch
um die Agrarpolitik
Weniger offen verläuft der Prozess in Niedersachsen. Hier hat
der Verband Entwicklungspolitik
Leitlinien angeregt, der Entwurf
wird aber in der Staatskanzlei formuliert und soll dann öffentlich
diskutiert werden. Spannend
wird sein, inwieweit der Bereich
Agrarpolitik berücksichtigt wird.
Niedersachsen ist das Zentrum
der deutschen Fleischindustrie.
Auch Hessen und die Hansestadt
Bremen planen Leitlinien unter
Mitarbeit interessierter Bürger.
Welchen Sinn haben diese
zum Teil aufwendigen Verfahren?
Ulrike Dausend vom Netzwerk
Entwicklungspolitik im Saarland
hält es für wichtig, dass die entwicklungspolitischen Organisationen mit der Landesregierung in
Dialog treten. Man habe dann ein
Papier, auf das sich alle Akteure
beziehen könnten, wenn Entscheidungen anstehen. Sobald es
ein offizielles Dokument zur Entwicklungszusammenarbeit gibt,
werde nachgefragt, welche Ergebnisse tatsächlich erzielt wurden,
sagt Dausend. Brandenburg hat
zum Beispiel mit seinen Leitlinien im Jahr 2012 einen jährlichen
Runden Tisch für den Austausch
über die Entwicklungszusammenarbeit in dem Bundesland
etabliert.
Auf Online-Befragungen will
keines der Bundesländer zurückgreifen. Die Kosten seien relativ
hoch, ein eigenes Budget dafür
nicht vorhanden, sagt Inga Steffen von der Staatskanzlei in Niedersachsen. Außerdem sei das Internet nicht ausschlaggebend für
die inhaltliche Qualität der Entscheidungsfindung.
Nordrhein-Westfalen
hatte
seine Bürger im Jahr 2011 aufgerufen, online an den Leitlinien
mitzuarbeiten. Mit rund 1500
Kommentaren hatten sich Interessierte aus der Zivilgesellschaft
an der neuen Eine-Welt-Strategie
des Landes beteiligt. Auch an der
Formulierung der Zukunftscharta
des Bundesentwicklungsministeriums konnten sich die Bürger per
Internet einbringen. Hier gab es
ebenfalls rund 1500 Anmerkungen und Kommentare; der Online-Dialog für die Zukunftscharta kostete den Steuerzahler
138.000 Euro.
Die bisher breiteste Konsultation gab es in Baden-Württemberg. An den über ein Jahr lang
dauernden Beratungen mit zahlreichen Fachveranstaltungen beteiligten sich rund 1500 Bürger
und etwa 120 Verbände. Sie durften sogar die Endfassung der Leitlinien beschließen, die für die rotgrüne Landesregierung verbindlich ist. Claudia Mende
global lokal
Zukunft in Holz
In Berlin schreinern Flüchtlinge Möbel aus Lampedusa-Schiffen
Flüchtlingspolitik anders gestalten – das ist das Ziel von
Cucula. Der Berliner Verein hat deshalb mit fünf Flüchtlingen eine Möbelmanufaktur gegründet. Aus Teilen alter
Boote entstehen Tische, Betten und Schränke – Möbel mit
Geschichte.
verena brüning
Für dieses Jahr haben sechs Bundesländer neue oder überarbeitete
Entwicklungspolitische Leitlinien
angekündigt. Alle wollen die Zivilgesellschaft einbinden, gehen dabei aber unterschiedlich weit.
Konzentriert beugt sich Ali Maiga
Nouhou über die Werkbank und
jagt Nägel in ein Stuhlbein. Es
riecht nach Kiefernholz, die Luft
ist trocken vom Holzstaub, der
wie ein Nebelschleier im Raum
hängt. Sein Kollege fährt wieder
und wieder mit einer laut brummenden Schleifmaschine über
ein Brett, ein anderer feilt an etwas, das ein Schrank werden soll.
„Bin gleich fertig“, sagt Ali.
Die Werkstatt von Cucula, der
„Refugees Company for Crafts and
Design“, liegt direkt an der Spree
in Alt-Treptow, Berlin. Hinter der
57
58
journal global lokal
orangenen Eisentür bauen sich
Flüchtlinge ihre berufliche Zukunft. Viele Geschichten fließen
hier zusammen. Eine ist die eines
erfolgreichen Start-Ups. Eine andere ist die von Ali. Sie beginnt
mit einer Busfahrt.
Ali ist zwölf, als er in den Bus
steigt. In Mali, seiner kriegsgeschädigten Heimat, hat er keine
Zukunftsperspektive. Über Algerien gelangt er nach Libyen, seine
Mutter hat ihm dazu geraten, dort
sei es sicherer. Im Februar 2011
bricht der Bürgerkrieg aus. Ein
paar Wochen später sitzt Ali in einem Flüchtlingsboot. Es ist überfüllt, drei Mal kehrt es nach ein
paar Stunden wieder um, weil der
Motor kaputt ist. Nicht alle überleben diese Strapazen. „Ich habe
viele Leute sterben sehen“, sagt
der 22-Jährige mit einer Handbewegung, die aussieht, als würde er
die Erinnerung schnell wieder
wegwischen wollen.
Mehr als 1500 Flüchtlinge ertranken 2011 bei dem Versuch, das
Mittelmeer zu überqueren. Das
Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) bezeichnete es als das „tödlichste Jahr“, seit
es solche Statistiken erhebt. Im
selben Jahr strandeten allein auf
der italienischen Insel Lampedusa fast 48.000 Flüchtlinge – darunter Ali. Er bleibt nur 24 Stunden,
dann wird er aufs italienische
Festland geschickt. Irgendwann
drückt ihm ein italienischer Polizist 500 Euro „Ausreisegeld“ und
eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung in die Hand. Damit
kann er bis zu drei Monate lang
frei durch Europa reisen. Wieder
fährt Ali Bus, dieses Mal – über
viele Umwege – nach Berlin.
Die Geschichte von Cucula
­beginnt auf dem Oranienplatz
Es ist Vorweihnachtszeit. Durch
die großen Fenster der Werkstatt
fällt das kalte Licht der Dezembersonne. An der Wand hängt ein Adventskalender aus recycelten Butterbrotbeuteln, auf dem Holztisch
steht eine Thermoskanne mit Tee.
Ali zeigt auf einen Schrank direkt
am Eingang der Werkstatt. „Das
war mein erstes Möbelstück“, sagt
er. „Den habe ich letztes Jahr im
November gebaut.“
Von Werkstattleiter Sebastian Däschle haben Ali Maiga
Nouhou und seine Mitstreiter gelernt, Möbel zu bauen.
Verena Brüning
ten noch eine Ausbildung machen dürfen, kriegen sie Praktikumsverträge. Einer von ihnen
kommt auf die Idee, Überreste der
Wracks von Lampedusa zu verarbeiten: als Stuhlbein oder Lehne.
Die erste Reisetasche mit Bootsplanken holen Cucula-Mitarbeiter
selbst vom Schiffsfriedhof am
Hafen auf Lampedusa ab. Freunde schicken ihnen weitere Überreste von der Insel.
Erste Fördermittel für das Vorhaben kommen von der 82-jährigen Sozialarbeiterin Annelise Bödecker, die „noch ganz andere Herausforderungen mit großen
Flüchtlingszahlen nach dem Krieg
erlebt“ hat. Das angeschlossene
Schulprogramm Cucula Education wird vom Fonds Soziokultur
und der Stiftung Pfefferberg finanziert. Per Crowdfunding hat
das Cucula-Team Geld für fünf bezahlte Ausbildungsplätze gesammelt. Damit würden die Chancen
der Flüchtlinge wachsen, eine
Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen: Noch sind sie alle von
Abschiebung bedroht. 150.000
Euro sollten bis zum 1. Januar zusammenkommen.
Jetzt kann Ali in Berlin bleiben –
doch die Familie fehlt ihm
Noch im Oktober 2013 lebt Ali
im Flüchtlingscamp auf dem Oranienplatz in Berlin. Dort beginnt
für ihn bereits der zweite Winter –
und gleichzeitig beginnt dort die
Geschichte von Cucula. Das JugendKunstund
Kulturhaus
„Schlesische27“ hat für fünf der
Oranienplatz-Flüchtlinge ein Kälteobdach eingerichtet. Barbara
Meyer, die Direktorin, holt Ali und
vier weitere Flüchtlinge am Oranienplatz ab. Sie kennen sich von
einem Schreinerworkshop in der
„Schlesischen27“.
Die Zimmer, die sie bekommen, sind leer. Also fangen sie mit
Hilfe von Werkstattleiter und Designer Sebastian Däschle
an,
selbst zu bauen, was sie brauchen.
Das Schreinern klappt gut. Die
Probleme bleiben: Keiner von ihnen hat eine Arbeitserlaubnis. Ali
landet zwischendurch für fast
zwei Wochen in Abschiebehaft in
Eisenhüttenstadt, weil er einen
Freund zum Flughafen BerlinSchönefeld begleitet hat. Der liegt
in Brandenburg und er darf Berlin
nicht verlassen.
Aus dem Dilemma, in dem sie
alle stecken, entsteht eine Idee,
die so einfach wie gewagt ist. Mit
Sebastian Däschle, Barbara Meyer,
der Designerin Corinna Sy und
der Sozialpädagogin Jessy Medernach gründen sie den Verein Cucula. „Wir wollen zeigen, wie man
Flüchtlingspolitik anders und besser gestalten kann“, sagt Corinna
Sy. „Durch die direkte Zusammenarbeit entstehen ganz neue Lösungsmodelle.“
Eine Möbelmanufaktur soll
aufgebaut werden, in der die fünf
Flüchtlinge zunächst hospitieren.
Weil Flüchtlinge ohne Aufenthaltsgenehmigung weder arbei-
Wenige Tage später wird das Ergebnis über den Cucula-Newsletter und die sozialen Netzwerke
verbreitet: Immerhin 123.556
Euro Startkapital sind zusammengekommen, „als Grundlage
für den Aufbau der Cucula-Company, für die umfassenden Bildungsprogramme, an denen
auch andere Flüchtlinge teilnehmen werden, und für die fünf
Ausbildungsstipendien der Cucula-Trainees.“
Für Ali Maiga Nouhou bedeutet das: Er kann in Berlin bleiben.
Seine Familie fehlt ihm zwar. Der
Onkel, die Mutter, die ältere
Schwester – es ist fast unmöglich,
sie zu erreichen, er weiß nur wenig darüber, was aus ihnen geworden ist. Aber er kommt seinem
Berufsziel näher: „Lehrer für
Deutsch“, hatte er im Dezember
auf dem Weg zum Sprachkurs gesagt. Vielleicht auch Programmierer, oder – und das ist er jetzt
schon fast – Tischler. Hanna Pütz
2-2015 |
personalia journal
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Scheinprobleme der Theologie
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Bibel, Bekenntnisse und heute kaum noch zu vermittelnde Dogmen
hindern eine realistische Weltsicht. Ist Theologie überhaupt noch
intellektuell redlich möglich?
Kritische Anmerkungen eines Theologen ...
personalia
KfW-Entwicklungsbank
Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS)
Michael Wehinger leitet seit
Januar die Abteilung „Westafrika“
im Länderbereich Afrika. Sein
Vorgänger Thomas Wollenzien ist
in den Ruhestand gegangen. Neuer Leiter des Teams „Grundsätze
und Verfahren der Finanziellen
Zusammenarbeit“ ist seit Jahresanfang Jens Ochtrop. Er war zuletzt als Senior-Referent im Team
„Förderpolitik und Kommunikation“ tätig. Silvia Paschke wurde
zum gleichen Zeitpunkt das
Team „Finanzsystementwicklung“
übertragen. Sie war zuvor als Länderbeauftragte im Länderteam
Nordafrika und Nahost tätig.
Das Team Finanzsystementwicklung wird seit Januar von Markus
Aschendorf geleitet. Er war
bisher Leiter des Teams
„Energie Südasien“.
Die vormalige Leiterin des KASBüros in Rom, Katja Plate, ist
seit Oktober 2014 in der Stabsstelle Evaluierung der KAS in
Berlin tätig. Neue Leiterin des
Rom-Büros mit der Verantwortung für die Projekte in Italien
und die Kooperation mit dem
Vatikan ist Caroline Kanter. Sie
war bisher in der KAS-Zentrale
für den Bereich Asien zuständig.
Seit Januar leitet Christian
Hübner das lateinamerikaweite Regionalprogramm Klima/
Umwelt/Energiesicherheit
mit Sitz in Lima/ Peru.
Friedrich-Ebert-Stiftung (FES)
Seit Herbst 2014 hat Merin Abbas
die Stiftungsvertretung in Tunis/
Tunesien von Elisabeth Braune übernommen, die jetzt im
Inland für die FES tätig ist. Neuer
Repräsentant in Seoul/Korea
wurde zum gleichen Zeitpunkt
Sven Schwersensky. Sein Vorgänger Christoph Pohlmann ist nach
Peking/VR China gewechselt.
Das Büro in Amman/Jordanien hat jetzt eine Doppelspitze:
Anja Wehler-Schöck teilt sich
die Arbeit mit Richard Probst.
Schweiz
Brot für alle
Der Theologe
Bernard DuPasquier wird im
Herbst neuer
Geschäftsleiter
des Hilfswerks
Brot für alle. Er
übernimmt diese Aufgabe von
Beat Dietschy, der im Septem-
FES-Menschenrechtspreis 2014
Fartuun Adan aus Somalia hat im vergangenen Dezember den Menschenrechtspreis der Friedrich-Ebert-Stiftung 2014 erhalten. Die Direktorin des Elman Peace and Human Rights Centers in der somalischen Hauptstadt Mogadischu wurde für ihr Engagement für Frauenrechte in dem von langjährigen Bürgerkriegen heimgesuchten Land ausgezeichnet. Das Elman Peace and Human Rights Center ist die erste zivilgesellschaftliche
Einrichtung in Somalia, die Frauen in Not rechtlich und psychologisch unterstützt,
gesundheitlich versorgt und ihnen Zuflucht bietet. Fartuun Adan hat das Zentrum
1991 gemeinsam mit ihrem Ehemann Elman Ali Ahmed gegründet, der fünf Jahre
später ermordet wurde. Nach seinem Tod emigrierte sie mit ihren Töchtern nach Kanada. 2007 kehrte sie trotz andauernder Konflikte nach Mogadischu zurück, um die
gemeinsam begonnene Arbeit für Frieden und Versöhnung fortzuführen.
| 2-2015
ber in den Ruhestand geht.
Der 43-jährige DuPasquier
ist seit 2012 bei Brot für alle,
davor war er acht Jahre beim
Hilfswerk HEKS tätig.
Direktion für Entwicklung und
Zusammenarbeit (DEZA)
Thomas Greminger wird neuer
stellvertretender Direktor sowie
Leiter des Bereichs Regionale
Zusammenarbeit der DEZA in
Bern. Der Diplomat ist derzeit Chef der Schweizerischen
Delegation bei der Organisation
für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sowie
Chef der Ständigen Vertretung
der Schweiz bei den Vereinten
Nationen in Wien. Greminger
folgt auf Maya Tissafi, die als
Botschafterin in die Vereinigten
Arabischen Emirate geht.
Volker Faigle erhält
Verdienstorden
Der Sudan-Beauftragte der
Evangelischen Kirche in
Deutschland (EKD), Volker
Faigle, hat im Dezember den Verdienstorden
der Bundesrepublik Deutschland erhalten.
Faigle war bis zu seinem Ruhestand 2013 Stellvertreter des EKD-Bevollmächtigten in Berlin.
Er ist weiterhin ehrenamtlicher Sudan-Beauftragter der EKD. Faigle erhielt den Orden vom
Bundespräsidenten im Rahmen des Tags des
Ehrenamts am 5. Dezember.
59
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service rezensionen
rezensionen
Die Geheimnisse der Muslimbrüder
Die Muslimbrüder sind zu Shootingstars der internationalen Literaturszene avanciert. Seit sie 2012 in Ägypten an die Macht kamen und ein Jahr später wieder
entthront wurden, sind sie nicht nur für Journalisten
und Politologen ein interessantes Studienobjekt geworden. Auch Verlage sehen in ihnen ein Potenzial für
Verkaufsschlager.
Annette Ranko
Die Muslimbruderschaft – Porträt einer
mächtigen Verbindung
Edition Körber-Stiftung
Hamburg 2014, 163 Seiten, 14 Euro
Petra Ramsauer
Muslimbrüder – Ihre geheime
Strategie, ihr globales Netzwerk
Molden Verlag, Wien 2014
208 Seiten, 19,99 Euro
Hazem Kandil
Inside The Brotherhood
Polity Press, Cambridge 2015,
221 Seiten, ca. 25 Euro
In den vergangenen Monaten sind zahlreiche Bücher
über die Bruderschaft erschienen und alle rühmen
sich damit, unbekannte Einblicke in ihr Innenleben
zu geben. Annette Ranko, Petra Ramsauer und Hazem Kandil setzen vor allem auf Interviews mit und
Porträts von Mitgliedern der Muslimbruderschaft.
Dafür haben sie sich viel Zeit genommen – und das
ist gut so. Wer gerne Biographisches und Persönliches liest, dem seien alle drei Bücher gleichermaßen
empfohlen.
Wer aber darüber hinaus einen Erkenntnisgewinn haben will, wird von Ranko, Ramsauer und
Kandil unterschiedlich gut bedient. Die Politologin
Ranko legt eine solide politikwissenschaftliche Studie vor zum Aufstieg und Fall der Muslimbrüder.
Flüssig geschrieben und gut strukturiert spannt sie
den Bogen von den Anfängen der Bewegung Ende
der 1920er Jahre bis in die Gegenwart, wobei sie ihren Schwerpunkt auf die Zeit von 2011 bis nach dem
Fall des ersten demokratisch gewählten Präsidenten
Mohammed Mursi legt. Unaufgeregt analysiert sie
die Stationen in der jüngsten Geschichte der Muslimbruderschaft, in denen die Organisation mal
Spielball der Mächtigen, mal selbst politischer
Drahtzieher war.
Lesenswert ist vor allem ihr Schlusskapitel, in
dem sie der Frage nach dem wahren Gesicht der
Muslimbrüder nachgeht. Kann man ihrer 1981 bereits offiziell verkündeten Absage an die Gewalt glauben? Ranko erliegt nicht der Versuchung einer
schnellen und endgültigen Antwort. Sie lässt die Frage bewusst offen und bewertet auch nicht, wie im
politischen Feuilleton üblich, das drakonische Vorgehen der neuen Regierung unter Abdel-Fattah AlSisi gegen die Muslimbrüder. Vielmehr plädiert sie
dafür, es „allein dem Land am Nil zu überlassen, auf
welchem Wege und mit welchen Umwegen“ es Rechtstaatlichkeit und Demokratie erreichen will.
Auch Petra Ramsauer will mit ihrem Buch über
die Muslimbrüder nur Fakten präsentieren. Wer ihr
Buch lese, um Vorurteile bestätigt zu finden, werde
enttäuscht werden, schreibt sie gleich zu Beginn.
Enttäuscht wird aber auch, wer sich wenigstens eine
Einordnung der jüngsten Entwicklungen rund um
die Muslimbrüder erhofft hat. Über die Erkenntnis
eines eingangs zitierten Verfassungsschützers, dass
der Wunsch, die Bruderschaft einzuordnen dem Unterfangen gleich komme, einen Pudding an die Wand
zu nageln, kommt das Buch nicht hinaus.
Am Ende lässt die Autorin den Finanzchef der Organisation sprechen, der ihr in den Block diktierte:
„Nichts, was jemals über die Muslimbruderschaft geschrieben worden ist, stimmt. Das Netzwerk ist nicht
zu verstehen.“ Das führt zwangsläufig zu der Frage,
warum man überhaupt die knapp 200 Seiten gelesen hat. Haften bleibt das Kapitel, in dem Ramsauer
auf die Rolle der Frauen bei den Muslimbrüdern eingeht. Darüber gibt es bisher nicht viel. Und als Verdienst ist ihr ebenfalls anzurechnen, dass sie einen
besonderen Fokus auf Libyen wirft, wo der Machtkampf noch offen ist. Auch für die Muslimbrüder ist
das ressourcenreiche Nachbarland interessant.
Als Highlight auf dem politischen Büchermarkt
darf dagegen Hazem Kandils „Inside the Brotherhood“ gesehen werden. Der ägyptischstämmige Soziologe verlässt in seinem Buch die ausgetretenen
Pfade der Politikwissenschaft und hält sich nicht mit
der Analyse von offiziellen Grundsätzen, Organisationsstruktur und politischen Aktionsmustern auf. Er
geht der Frage nach, inwiefern die eigene Ideologie
für den Aufstieg und Fall der Muslimbrüder verantwortlich ist. Er möchte wissen, wer sie wirklich sind
und wie sie ihre Beziehung zum Göttlichen sehen.
Diese Fragestellung ist neu und sticht bei allem, was
bisher über die Muslimbrüder geschrieben wurde,
wohltuend heraus.
Seit ihrer Gründung im Jahr 1928 wirbt die Muslimbruderschaft mit dem Slogan „Der Islam ist die
Lösung“. Religiöser Determinismus bestimmt ihre
Ideologie: Weltlicher Erfolg hängt von der religiösen
Hingabe des einzelnen ab. Gutes kann demnach nur
guten Menschen passieren, was sich in der Lesart der
Muslimbrüder auf den Glaubenssatz reduziert, dass
nur von guten Muslimen Gutes ausgehen kann. Auf
dieser ideologischen Grundlage konnten die Muslimbrüder über Jahrzehnte hinweg in der Bevölkerung ihren Ruf als politische und soziale Alternative
aufbauen.
Es sei bemerkenswert, schreibt Kandil, wie sie
dann in weniger als einem Jahr diesen Ruf wieder
verspielt haben. In Ägypten habe der Islamismus seine historischen Wurzeln und zugleich habe ihm hier
zum ersten Mal in der Geschichte eine breite Masse
die rote Karte gezeigt. Einmal an der Macht wurde
den Muslimbrüdern die eigene Ideologie zum Verhängnis. Sie waren unfähig, mit Andersdenkenden
Koalitionen und Kompromisse zu schließen.
Kandil zeigt damit einen neuen Weg im Umgang
mit den Muslimbrüdern auf. Es geht nicht darum,
Menschen oder Organisationen zu verurteilen oder
sich mit ihnen zu solidarisieren, sondern vielmehr
darum, ideologische Engführungen offenzulegen
und zu überwinden. Entsprechend hat er sein Buch
all den Muslimbrüdern gewidmet, „die die Kraft hatten, Mauern hochzuklettern, um auf die andere Seite
zu schauen“. Katja Dorothea Buck
2-2015 |
rezensionen service
Holprige Wege zum Klimaschutz
Die Dezember-Ausgabe der „Zeitschrift für Politik und
Ökonomie in der Dritten Welt“ widmet sich den Themen Klima und Energie. Im Mittelpunkt der Debatte
stehen „grüne Wachstumsstrategien“. Deren Ziel ist
es, die ökologische und wirtschaftliche Nachhaltigkeit
miteinander zu versöhnen, ohne die Gesellschaftsordnung grundlegend zu verändern.
Peripherie Nr. 136
Klima und Energie
Westfälisches Dampfboot
Münster 2014, 155 Seiten, 15 Euro
Die Beiträge machen deutlich, wie schwierig es ist,
die Minderung der Emission von Treibhausgasen
politisch voranzutreiben. Viele Anpassungsstrategien gelten dem Anstieg des Meeresspiegels, der durch
die Erderwärmung verursacht wird. Michael Spies
zeigt am Beispiel der indonesischen Hauptstadt Jakarta, dass vor allem auf technische Maßnahmen
wie Dämme oder Deiche gesetzt wird. Entgegen diesen eindimensionalen und entpolitisierten Konzepten plädiert er für eine gemeindebasierte Anpassung, die sich an den Prioritäten der Bevölkerung
orientiert.
Rosa Lehmann beschäftigt sich mit Konflikten
infolge der Errichtung von Windparks in der mexikanischen Provinz Oaxaca. Sie hängen unter anderem
mit der wachsenden Beteiligung privater, vor allem
auch internationaler Firmen an der Nutzung von
Fördermitteln für den Klimaschutz sowie dem Aufbau der Netze zusammen. Lehmann kritisiert, dass
Anwohner und lokale Firmen zu wenig an den Entscheidungen über die Projekte beteiligt und die sozioökonomischen Folgen vernachlässigt würden.
Alexander Brand und Wolfgang Muno befassen
sich mit der Klimapolitik in Gesellschaften, die, wie
Venezuela, vom Rohstoffexport abhängen. Die Einkünfte aus dem Ölsektor dienten unter Hugo Chávez
dazu, die soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Doch
während in Ecuador und Bolivien auch darüber diskutiert wird, auf die Förderung von Rohstoffen zu
verzichten, bleibt die venezolanische Regierung der
Idee des „Sembrar el Petróleo“ (Das Öl aussäen) verhaftet. Das Ausbleiben einer Klimawende wird hingenommen. In einen weiteren Beitrag reflektiert Ingolf Diener die zwiespältigen Erfahrungen mit Strategien der Umweltschonung durch den Verzicht auf
die Ausbeutung von Ressourcen in Nationalparks in
Ecuador (Yasuní) und der Demokratischen Republik
Kongo (Virunga).
Jonas Hein beleuchtet kritisch die Strategien zur
Reduktion von Emissionen aus Entwaldung und der
Schädigung von Wäldern, die seit 2005 im Kontext
der Klimarahmenkonvention entwickelt wurden
(REDD). Abgesehen von Bedenken hinsichtlich der
klimapolitischen Effektivität thematisiert er vor allem die Einschränkung des gewohnheitsrechtlichen
Landzugangs indigener Gruppen sowie Fragen der
lokalen Nahrungsmittelproduktion.
Man mag den Aussagen einzelner Beiträge zustimmen oder nicht – insgesamt ist das Heft eine
Bereicherung und eine anregende Lektüre. Es hilft,
eigene Argumente und Standpunkte zu hinterfragen. Dieter Hampel
Gewalt und Schönheit in Lateinamerika
Der österreichische Journalist Erhard Stackel hat eine
Auswahl sehr lesenswerter Reportagen lateinamerikanischer Kollegen herausgegeben. Sie zeichnen ein realistisches, buntes und einprägsames Bild des Subkontinents.
Erhard Stackl (Hg.)
Atención. Die besten Reportagen aus
Lateinamerika
Czernin Verlag, Wien 2014
208 Seiten, Euro 19,90
| 2-2015
Wie unterscheidet man einen seriösen Menschenschmuggler von einem gewissenlosen Seelenverkäufer, der seine Klienten in der Wüste aussetzt oder an
die mexikanische Drogenmafia verkauft? Ein guter
„Coyote“ ist teuer, denn er hat auch das Schutzgeld
an die Drogenbanden eingerechnet. Der Gewährsmann des jungen Journalisten Óscar Martínez aus El
Salvador ist so einer. Er plaudert aus der Schule und
erzählt, was einem auf der gefährlichen Reise von
Zentralamerika in die USA alles widerfahren kann.
Krude Details werden nicht ausgespart.
„Die traurige Geschichte des Mannes ohne Papiere, der verraten, erpresst und deportiert wurde“ ist
eine von zehn Reportagen lateinamerikanischer Autorinnen und Autoren, die der österreichische Journalist Erhard Stackl gesammelt, ausgewählt und für
diesen Band übersetzt hat. Er will zeigen, dass nach
den Nobelpreisträgern Gabriel García Márquez und
Mario Vargas Llosa, nach den Erfolgsautorinnen Isabel Allende und Gioconda Belli neue Generationen
herangewachsen sind, die sich auf das Schreibhandwerk verstehen. Sie stehen eher in der Tradition des
US-amerikanischen „New Journalism“ als in der des
in Lateinamerika begründeten magischen Realismus.
Alberto Salcedo beschreibt, wie der Kuna-Junge
Wikdi jeden Tag auf einem acht Kilometer langen Urwaldpfad Kopf und Kragen riskiert, um von seinem
Indio-Dorf zur Schule zu gelangen. Vor fünf Uhr
muss er bei Dunkelheit los, um rechtzeitig zum Unterricht da zu sein. Zweieinhalb Stunden hin und
ebenso lang zurück. Für den begleitenden Journalisten ist das ein Abenteuer, für den kleinen Kuna der
Alltag.
Die Autoren lassen ihre Protagonisten ausführlich zu Wort kommen oder schildern sie detailgetreu.
Es sind keine Helden, sondern Menschen, die niemand kennt. Doch in ihrem Schicksal spiegelt sich
die lateinamerikanische Wirklichkeit. Gewalt spielt
eine zentrale Rolle. Wie bei der Mexikanerin Yaretzi,
61
62
service rezensionen
die im Frauengefängnis sitzt und schon als Mädchen
das Töten gelernt hat. Von der Polizeischule kam sie
zu den Auftragskillern: „So war die Geschichte, Alter.
Seit damals war Töten mein Geschäft.“
Der Tod kann auch langsam und leise daherkommen, wie in der Reportage „Tod im Zuckerrohr“ aus
Nicaragua. Da sterben in einer Gemeinde auffällig
viele Männer in der Umgebung von Chichigalpa an
chronischem Nierenversagen. Die meisten arbeiten
auf den Zuckerrohrplantagen des größten Rumfabrikanten. Die Arbeit ist hart, das Klima unerträglich
heiß, beißender Rauch nach dem Abfackeln der Felder und Pestizide greifen die Gesundheit zusätzlich
an. Der frühe Tod wird als Berufsrisiko in Kauf genommen, denn Alternativen gibt es kaum. Der preis-
gekrönte Journalist Carlos Salinas Maldonado verzichtet darauf, das von manchen Medien schnell gefällte Urteil über einen menschenverachtenden Arbeitgeber nachzubeten. Vielmehr versucht er, den
vielen Ursachen der mysteriösen Krankheit nachzugehen, und lässt den Leser seine eigenen Schlüsse
ziehen.
Das engagierte, aber nicht einseitige Schreiben
macht die Qualität der Reportagen aus. Die Lektüre
lässt einen nicht unbeteiligt. Sie hinterlässt eine
dumpfe Ohnmacht gegenüber den alltäglichen
Grausamkeiten – aber auch das Gefühl, den Subkontinent mit all seiner Gewalt, seinen Schönheiten und
wertvollen Menschen ein kleines bisschen besser
verstanden zu haben. Ralf Leonhard
Labor zur Krisenbewältigung
In der Weltfinanzkrise 2008 und 2009 erschien vielen
die G20 als Retter in der Not. Sie vereinbarte Maßnahmen zur Konjunkturbelebung und stellte die Weichen
zur Eindämmung der Finanzspekulation und zur Regulierung der Finanzmärkte. Karoline Postel-Vinay von
der französischen Eliteuniversität Science Po erklärt,
wie es zu der Aufwertung der G20 kam und wie das zu
bewerten ist.
Karoline Postel-Vinay
The G20: A new geopolitical order.
Palgrave Macmillan, Basingstoke und
New York 2014, 112 Seiten, ca. 50 Euro.
Zur Gruppe der Zwanzig zählen die sieben führenden Industrieländer (G7), die Europäische Union, die
BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China,
Südafrika) sowie Australien, Südkorea, Indonesien,
die Türkei, Saudi-Arabien, Mexiko und Argentinien.
Laut Postel-Vinay handelt es sich nicht um ein neues
Direktorat zur Gestaltung der Weltordnung. Die
Gruppe lässt sich eher als ein „Versuchslabor“ begreifen, in dem in immer neuer Zusammensetzung
versucht wird, Lösungen für die Funktions- und Ordnungsprobleme der Weltwirtschaft zu finden. Die
Autorin wendet sich damit gegen den Vorwurf, hinter der G20 stecke ein Plan von privilegierten Staaten zur Beherrschung der Welt – ein Vorwurf, der den
Gipfeltreffen bislang regelmäßig globalisierungskritische Proteste beschert.
Postel-Vinay belegt ihre These zunächst mit Blick
auf die historische Entwicklung der G20. Die Entstehung solcher „Gs“ ist nichts grundsätzlich Neues. Sie
bilden sich seit mehr als 50 Jahren parallel zur Entwicklung des Multilateralismus, des Systems vertragsbasierter internationaler Organisationen. Postel-Vinay hält sie für anachronistisch, sofern sie als
exklusive machtpolitische Allianzen auftreten, wie
die G77 in den 1960er Jahren als Kampfinstrument
des Südens gegen den Norden oder die sicherheitspolitisch motivierte Erweiterung der G7 um Russland zur G8 von 1998 bis zur Krimkrise 2014.
Als Ausdruck von „Netzwerkdiplomatie“ zur
schnellen Krisenbewältigung oder als Anstoß für
grundlegende Reformen seien die „Gs“ jedoch wichtig, so Postel-Vinay. Die Entstehung der G20 verortet
sie in den Kontext der Asienkrise 1997 und 1998. Damals erschütterte eine gigantische Devisenspekulation boomende Staaten Südost- und Ostasiens, und
harsche Konditionen für die Rettungskredite des
IWF verschärften die Krise. Um eine drohende Konfrontation zwischen „Asien“ und dem „Westen“ zu
verhindern und eine gemeinsame Lösung für die
global verflochtenen Ökonomien zu finden, versammelten sich die Finanzminister und Zentralbankchefs der wichtigsten Ökonomien von einer G22 bis
hin zu einer G33, um schließlich die G20 als geeignetes Forum zu finden.
Ein exklusiver Club ist daraus nicht geworden.
Mit China und Indien ist bereits ein großer Teil der
Weltbevölkerung repräsentiert, Weltbank und Internationaler Währungsfonds arbeiten mit, weitere
UN-Organisationen sind mit der Gruppe vernetzt
und weitere Länder werden als Gäste zu den Gipfeln
eingeladen. Doch nicht ihre Repräsentativität legitimiert die G20, sondern ihr Beitrag zur Lösung von
Problemen. Postel-Vinay stellt sie als erste Staatengruppe jenseits des Nord-Süd-Konflikts dar. Sie weist
auf die Fragmentierung des Südens hin, auf die unterschiedlichen Entwicklungspfade, die dort beschritten werden, und auf das Herauswachsen der
Schwellenländer aus der Gruppe der Entwicklungsländer.
Dies erinnert an die These vom Ende der Dritten
Welt, die Ulrich Menzel bereits Anfang der 1990er
Jahre in der deutschen entwicklungspolitischen Debatte vertreten hat. Zwar existieren innerhalb der
G20 vielfältige Spaltungen in politischen Fragen,
etwa im Verhältnis zur Demokratie oder zu militärischen Interventionen. Für Postel-Vinay belegt die
G20 aber, dass es in der Wirtschaft nicht mehr um
Sieg und Niederlage geht. Ob das Wirken der Gruppe
nur der Reparatur einer neoliberalen Weltwirtschaftsordnung dient oder die Weichen zur nachhaltigen Reform stellt, wird die Zukunft zeigen. Das
Buch liefert dazu auf jeden Fall eine lohnende Lektüre.
Hartwig Hummel
2-2015 |
rezensionen service
Reise in eine blutige Vergangenheit
Der kolumbianische Schriftsteller Juan Gabriel Vásquez erzählt von den seelischen Verletzungen, die aus
den Jahren des Konflikts mit den Drogenkartellen von
Medellín und Cali herrühren.
Juan Gabriel Vásquez
Das Geräusch der Dinge beim Fallen
Schöffling & Co., Frankfurt/Main 2014,
294 Seiten, 22,95 Euro
Kleine Ursache, große Wirkung: Da wird eines Tages
gemeldet, dass die aus dem früheren Privatzoo des
Drogenbosses Pablo Escobar entflohenen Nilpferde
erschossen worden seien. Zwar ist Escobar schon seit
über eineinhalb Jahrzehnten tot, die Erinnerung an
jene Zeit wirkt beim Ich-Erzähler Antonio Yammara
jedoch stark nach. Der kurze Zeitungstext aus dem
Sommer 2009 schickt ihn auf eine gedankliche Reise
in die heiße Phase des Drogenkriegs, der Bandenkriminalität und der alltäglichen Gewalt in Bogotá. Ein
weiteres Mal beschäftigt er sich mit dem Tod seines
Bekannten Ricardo Laverde. Der wurde auf offener
Straße erschossen, während Antonio schwerverletzt
mit dem Leben davonkam.
Bereits Ende der 1990er Jahre hatte sich Antonio
nach Monaten existenzieller Verunsicherung gemeinsam mit Laverdes Tochter Maya Fritts an die
Aufgabe gemacht, das Leben des Ermordeten zu rekonstruieren. Davon ausgehend entfaltet sich eine
Familiengeschichte, die bis ins Kolumbien der
1930er Jahre zurückreicht. Der aus mehreren zeitlichen Ebenen bestehende Handlungsaufbau erscheint komplex und ambitioniert, ist jedoch glänzend ausgearbeitet und wirkt beim Lesen völlig ungezwungen. Vásquez erzählt von der Beschäftigung
der heute 40- bis 50-Jährigen – einer Generation, der
er selbst und seine Protagonisten angehören – mit
den oft unbewältigten Traumata aus den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Und er konstruiert eine Lebens- und Liebesgeschichte, die zeigt, wie
Kolumbien zu einem immer gewaltsameren Ort des
Anbaus und Umschlags von Drogen für den nordamerikanischen Markt wurde.
Es stellt sich heraus, dass Ricardo Laverde lange
Zeit als Drogenkurier in den USA inhaftiert war, ehe
er in seine südamerikanische Heimat zurückkehren
durfte. Seine Ehefrau Elaine, einst eine freiwillige
Helferin der US-Entwicklungshilfeorganisation
Peace Corps, hatte ihn verlassen. Bevor die beiden
sich erneut begegnen konnten, kam Elaine bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Dessen Ursache
bleibt unklar. Antonio und Maya tauschen ihre Informationen aus – und sie lernen, dass sie die Erfahrungen von Angst und Vertrauensverlust miteinander teilen. Seine Generation wolle sich vergewissern,
„dass wir nicht alleine sind, wollen es erträglicher
machen, dass wir während dieses Jahrzehnts erwachsen wurden, wollen das Gefühl der Verwundbarkeit
dämpfen, das uns seitdem begleitet“, so Antonio.
So liefert Juan Gabriel Vásquez‘ lesenswerter Roman nicht nur eine aufschlussreiche Geschichtsstunde. Er ist auch ein Plädoyer, die Vergangenheit
aufzuarbeiten. Selbst wenn das zu Entfremdungen
führt, weil die Nachgeborenen das Ausmaß der seelischen Verletzungen in der Hochphase des Drogenkriegs nicht nachvollziehen können.
Thomas Völkner
Zusammenleben nach dem Krieg
Die Beiträge von Religionen zur Versöhnung nach Kriegen in Afrika stehen im Zentrum des Sammelbands.
Experten aus Europa und Afrika stellen Beispiele vor.
Martin Leiner u.a. (Hg.)
Societies in Transition
Sub-Saharan Africa between Conflict
and Reconciliation
Vandenhoeck und Ruprecht
Göttingen 2014, 242 Seiten, 99,99 Euro
| 2-2015
Religiöse Ideologien werden häufig unter den Konfliktursachen auf dem afrikanischen Kontinent verbucht. Zugleich bieten Religionen aber auch Möglichkeiten, Konflikte aufzuarbeiten. Die schauen sich die
16 Autorinnen und Autoren genauer an. Neben Theologen und Religionswissenschaftlern beziehen auch
Politologen und Ökonomen Stellung. Am Beispiel
einzelner Länder ergründen sie die kontext- und zeitspezifische Bedeutung verschiedener Religionen zur
Befriedung von Gesellschaften nach gewaltsamen
Konflikten. Christliche Kirchen, der Islam und traditionelle religiöse Überzeugungen werden in die Untersuchungen einbezogen. Die regionalen Beispiele reichen von Äthiopien über Uganda, Ruanda und den
Tschad bis nach Simbabwe und Südafrika.
Besonders aufschlussreich sind die Erläuterungen des Autorenteams Gladys Ganiel und Joram Tarusarira zu Simbabwe. Sie skizzieren die bisherigen
Forschungsdebatten zu Kirchen und Politik in und
nach der Kolonialzeit und analysieren, welche Rolle
ausgewählte kirchliche Vereinigungen für Versöhnungsprozesse spielen. Angesichts der ausgewogenen Darstellung überzeugt das Resümee, für Versöhnung müssten soziale Beziehungen wiederaufgebaut
werden. Gleichzeitig jedoch müssten gesellschaftliche Strukturen verändert werden; das sei im autoritär regierten Simbabwe ungleich schwieriger.
Die Friedensforscherin Helen Lamunu hat eine
nichtstaatliche, christliche Hilfsorganisation zur Reintegration früherer Kindersoldaten in Uganda geleitet. Sie stellt Erkenntnisse der Trauma-Forschung
und vorkoloniale Rituale zur sozialen Wiedereingliederung von Straftätern vor. Lamunu reflektiert über
Möglichkeiten und Grenzen, traditionelle Rituale einer Ethnie auf andere ethnische Gruppen zu übertragen. Ihr Fazit: Einige Kinder seien zwar auf diesem
Wege leichter in ihre Dörfer zurückgekehrt, doch die
Kriegsverbrechen seien nicht durch die Rituale gesühnt worden. Täter und Opfer hätten sich nicht versöhnt. Lamunu plädiert deshalb in ihrem Beitrag für
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service rezensionen
umfassendere Versöhnungs- und Wiedergutmachungspraktiken.
Der südafrikanische Theologe und Anti-Apartheid-Aktivist Ben Khumalo-Seegelken betrachtet die
Versöhnung in seinem Heimatland nicht nur im
Lichte der christlich geprägten Wahrheits- und Versöhnungskommission. Zwanzig Jahren nach dem
Ende der Rassentrennung bezieht er klar Stellung für
deren Opfer und verlangt, frühere Täter und Profi-
teure – zu denen auch internationale Konzerne zählten – zur Rechenschaft zu ziehen. Khumalo-Seegelken argumentiert überzeugend unter Bezug auf internationale Menschenrechtsabkommen.
Der Sammelband bietet einige Impulse für die
Debatte über Versöhnung in Gesellschaften, die unter Gewaltkonflikten gelitten haben. Doch für afrikanische Leser und Bibliotheken ist das völlig überteuerte Buch unerschwinglich. Rita Schäfer
Verschwörung der Frauen
Die US-amerikanische Autorin Jennifer Clement hat
den Mädchen und Frauen, die unter dem Drogenkrieg
in Mexiko leiden, einen Roman gewidmet. Er besticht
mit seiner einfachen, kraftvollen Sprache, auch wenn
der Geschichte nach und nach die Puste ausgeht.
Jennifer Clement
Gebete für die Vermissten
Suhrkamp-Verlag, Berlin 2014,
228 Seiten, 19,95 Euro
Wenn die schwarzen Geländewagen der Drogen- und
Menschenhändler am Horizont auftauchen, weiß
Ladydi, dass es Zeit ist, ins Erdloch zu kriechen. Denn
nur so kann ein Mädchen, das in einem Dorf in den
Bergen des mexikanischen Bundesstaates Guerrero
lebt, dem Schicksal von Entführung und Prostitution
entkommen. Hässlichkeit ist ein zusätzlicher Schutz:
Ladydi malt ihre Zähne mit schwarzem Filzstift an,
damit sie vergammelt aussehen. „Nichts ist abstoßender als ein dreckiger Mund“, meint ihre Mutter.
Ladydis Freundin Paula aber nützen alle Vorkehrungen nichts. Eines Tages kommen die Drogenbarone
und nehmen sie mit. Zwar gelingt ihr die Rückkehr
ins Dorf, doch Körper und Seele sind zerstört.
Die US-amerikanische Schriftstellerin Jennifer
Clement ist in Mexiko-Stadt aufgewachsen. Für ihren Roman hat sie mehr als zehn Jahre in Mexiko recherchiert und mit Hunderten Mädchen und Frauen
gesprochen, deren Leben von Gewalt und Drogen
geprägt ist. Ihre Schicksale verdichten sich in der Geschichte von Ladydi, ihrer Mutter und ihrer Freundinnen und machen sie sehr authentisch. Die Lese-
rinnen und Leser sehen die Welt mit den Augen der
heranwachsenden Ladydi. Sie gehen mit ihr zur
Schule, wo die Lehrer es höchstens ein Jahr lang aushalten, sie erleben mit ihr den Verrat des Vaters, den
von Hitze durchglühten Alltag in einem Dorf, in dem
sich die Frauen mit ihren Töchtern alleine durchschlagen müssen, weil die Männer entweder in die
USA ausgewandert oder tot sind. Erzählt wird trocken und lakonisch, in einem Ton, der zwischen Erstaunen und Entsetzen schwanken lässt.
Nach dem Ende ihrer Schulzeit tut sich für Ladydi die Chance auf, bei einer reichen Familie in der
Hafenstadt Acapulco als Kindermädchen zu arbeiten. Ein junger Mann – der einzige – aus dem Dorf
hat ihr die Stelle vermittelt und tatsächlich landet
sie in einer Art Paradies. Dort darf sie ein paar Monate leben und lieben, bis die Wirklichkeit sie mit
Macht einholt. Dieser zweite Teil der Geschichte
trägt weit weniger gut als das Leben auf dem Berg
und der Roman büßt spürbar an Kraft ein. Die Menschen, auf die Ladydi trifft, bleiben blass, es gibt zu
viele Ungereimtheiten und lose Enden. Die verknüpfen auch die abschließenden Kapitel nicht, die dafür
wieder sehr prägnante und farbige Personen- und
Milieuschilderungen bieten. Wie es mit Ladydi weitergeht, nachdem die Mutter zu ihrer Rettung geeilt
ist, bleibt offen. Angesichts der Umstände besteht
aber wenig Anlass zur Zuversicht. Gesine Kauffmann
kurzrezension
Naturschutz als
Landraub
Der Journalist und Aktivist Peter
Clausing verbindet in diesem
Buch ein Plädoyer für kleinbäuerliche und ökologische Landwirtschaft mit einer scharfen Kritik
an den Naturschutz-Konzepten
der Weltbank und des WWF. Es
geht ihm nicht nur um Ökologie,
sondern auch um soziale Gerechtigkeit: Kleinbauern sollten
ihr Land behalten und davon
leben können. Einer der größten
Landräuber sei der Naturschutz,
betont er. Die Einrichtung von
Naturparks gehe noch immer mit
der Vertreibung armer Bewohner
einher. Daran ändere auch die
Zusammenarbeit mit Gemeinden an und in Naturparks wenig:
Ihnen brächten die Parks in der
Praxis wenig Nutzen. Dabei sind
laut Clausen – dies ist die Pointe
des Buches – Kleinbauern die
besseren Naturschützer. Der Naturschutz à la WWF konzentriere
sich auf wenige Großtierarten.
Die große Mehrzahl der bedrohten Arten werde besser geschützt,
wenn zwischen den Resten ihrer
Lebensräume die Agrarlandschaften kleinteilig und ökologisch
bewirtschaftet werden. Die Tiere
könnten zwischen ihren Refugien
wandern – über Großfarmen und
giftbesprühte Äcker können sie
das nicht. Clausings Argumente
sind nicht alle zwingend; so können auch Veränderungen sinnvoll
sein, die nicht unmittelbar den
Ärmsten nützen. Insgesamt aber
ist seine These plausibel und
rückt zu Recht Landraub für den
Naturschutz in den Fokus. (bl)
Peter Clausing
Die grüne Matrix. Naturschutz und
Welternährung am Scheideweg
UNRAST Verlag, Münster 2013
155 Seiten, 13 Euro
2-2015 |
termine service
termine – veranstaltungen
Berlin
6. bis 8. März 2015
Globalisierung und Soziale
Demokratie
Friedrich-Ebert-Stiftung
Kontakt: 0228-883-7104
www.fes-soziale-demokratie.de
Karlsruhe
Islamischen Staat?
Georg-von-Vollmar-Akademie
Kontakt: Tel. 08851-780
www.vollmar-akademie.de
Evangelische Akademie Tutzing
Kontakt: Tel. 08158-251-0
www.ev-akademie-tutzing.de
Königswinter
27. Februar bis 1. März 2015
Ist mir nicht Latte
Was unser Konsum mit
der Welt zu tun hat
Frauenbildungs- und Tagungshaus Zülpich
Kontakt: Tel. 02252-6577
www.frauenbildungshaus-zuelpich.de
Münster
Österreich
19. bis 21. Februar 2015
Haben wir einen Plan B für unseren Planeten?
Internationale Klimapolitik und die Chance des
Climate Engineering
Stiftung Christlich-Soziale Politik
Kontakt: Tel. 02223-730
www.azk-csp.de
13. bis 15. März 2015
Frauenleben zwischen Bilderverbot und Selfie
Mediale Inszenierung des
Religiösen und die Darstellung des Weiblichen
Evangelische Akademie Baden
Kontakt: Tel. 0721-9175-361
www.ev-akademie-baden.de
13. bis 14. März 2015
Welt.Macht.Europa – Die Entwicklungspolitik der EU
Eine-Welt-Landeskonferenz
2015 des Eine Welt Netz NRW
Akademie Franz Hitze Haus
Kontakt: Tel. 0251-4839-0
www.franz-hitze-haus.de
Kochel am See
11. bis 13. Februar 2015
Soils, Food Security and Sustainable Land Management
2. bis 6. März 2015
Sonnen-und Schattenseiten des
Bioenergiebooms
2. bis 6. März 2015
Vom Arabischen Frühling zum
Tutzing
2. bis 3. März 2015
Biopatente – Saatgut als Ware
und als öffentliches Gut
Impressum
Redaktion:
Bernd Ludermann (bl, verantwortlich),
Tillmann Elliesen (ell), Gesine Kauffmann (gka),
Hanna Pütz (hap, Volontärin), Sebastian Drescher (sdr, online)
Emil-von-Behring-Straße 3, 60439 Frankfurt/Main;
Postfach/POB 50 05 50, 60394 Frankfurt/Main
Telefon: 069-580 98 138; Telefax: 069-580 98 162
E-Mail: [email protected]
Zülpich
Dürnstein
19. bis 21. Februar 2015
Glücksbilder – Die Wirklichkeit der
Utopie
Stift Dürnstein
Kontakt: Tel. +43-2742-27570-0
www.symposiondürnstein.at
Wien
6. März 2015
3. Humanitärer Kongress
„Humanitarian Aid under Fire“
Austrian Platform for Development and Humanitarian Aid
Kontakt: Tel. +43-152244-220
www.humanitariancongress.at
www.welt-sichten.org
Die Rubrik „Global-lokal“ erscheint in Kooperation mit der
Servicestelle Kommunen in der Einen Welt/Engagement
Global gGmbH.
Anzeigenleitung:
Yvonne Christoph, m-public Medien Services GmbH,
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Gottfried Mernyi, Kindernot­hilfe Österreich, 1010 Wien,
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Verlegerischer Dienstleister:
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Frankfurt am Main
Herausgeber: Verein zur Förderung der entwicklungspolitischen Publizistik e.V. (VFEP), Hans Spitzeck (Vorsitzender),
Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst,
Caroline-Michaelis-Straße 1, 10115 Berlin
Preis der Einzel-Nr.: 5,20 Euro / 7,80 sFr zuzügl. Versandkosten
Preis im Jahresabonnement: 47,40 Euro, ermäßigt 35,55 Euro.
Preisänderungen vorbehalten.
Mitglieder im VFEP: Brot für alle (Bern), Brot für die Welt –
Evangelischer Entwicklungsdienst (Berlin), ChristoffelBlindenmission (Bensheim), Fastenopfer (Luzern),
Kindernothilfe (Duisburg), Misereor (Aachen)
| 2-2015
Grafische Gestaltung:
Angelika Fritsch, Silke Jarick
ist die Nachfolgezeitschrift von „der überblick“
und „eins Entwicklungspolitik“.
ISSN 1865-7966 „welt-sichten“
Dienstag, 10. Februar
21:50-22:50, ARTE
IS – Die Wirtschaftsmacht
der Gotteskrieger. Erdöl,
Schutzgelder und Plünderungen – zahlreiche
Geldquellen machen den
Islamischen Staat (IS) zur
bestfinanzierten Terrororganisation der Welt.
© ARTE/PAC Presse
Bad Boll
6. bis 8. März 2015
Kleinbäuerliche Landwirtschaft –
ein ökofaires Zukunftsmodell?
Evangelische Akademie Bad Boll
Kontakt: Tel.: 07164-79-232
www.ev-akademie-boll.de
tv-tipps
Mittwoch, 25. Februar
16:20-17:05, ARTE
Die Hüter der Kartoffel. In
den peruanischen Anden
nahe der Stadt Cuzco auf
rund 4500 Meter Höhe liegt
der wahre Schatz der Inkas:
die Kartoffel. Vom Kampf
der Andenbauern für das
Knollengewächs profitieren
alle: Die Kartoffel gehört
weltweit zu den wichtigsten
Grundnahrungsmitteln.
radio-tipps
Sonntag, 22. Februar
18:05-19:05, hr2
Fair-giftet. Ein Feature
über die Welt der Verbrauchertäuschung. Allein
in Deutschland gibt es
zwölf „Fair“-Siegel mit
sehr unterschiedlichen
Ansprüchen. Welche Standards stecken dahinter?
Samstag, 28.Februar
18:05-19:05, DRK
Feature. Syria FM. Von Julia
Tieke. In den vergangenen
drei Jahren sind über 20 syrische Radiosender entstanden. Sie wollen dem Klang
des Krieges etwas entgegensetzen, die Stimme erheben,
informieren, frei sprechen.
Weitere TV- und Hörfunk-Tipps
unter www.welt-sichten.org
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service termine
termine – kulturtipps
Bunte Kunst aus Baumrinde
Das Münchner Museum Fünf
Kontinente zeigt Kunst der Ömie
aus Papua-Neuguinea. Präsentiert
werden „tapa“: Die Baststoffe werden aus der inneren Schicht der
Rinde von Regenwaldbäumen
hergestellt und mit traditionellen
Mustern verziert. Männer und
Frauen tragen die bemalten Stoffe
bei zeremoniellen Anlässen. Bei
schnellen Tanzbewegungen erzeugen die Muster besondere optische Effekte. Die Rindenbaststoffe sollen außerdem das innerste
Wesen der Menschen schützen.
Auch im Gabentausch bei der Heirat spielen tapa eine wichtige Rolle. Christliche Missionare hatten
den Ömie viele Zeremonien verboten. Dazu zählte auch die Tätowierung des Körpers mit den Mustern einzelner Familienclans.
Trotzdem hat die Kunst der tapa-
Berlin
Stolz auf die Tradition:
Ömie-Künstlerin mit ihren Werken.
Museum fünf Kontinente
abzuwenden und ihre eigene Kultur zu erhalten. Seitdem malen
die Ömie-Frauen Motive wieder
auf Rindenstoff und übertragen
traditionelle
Körper-Tattoo-Designs auf die tapa. In der Ausstellung ist eine Auswahl der Rindenstoffmalereien zu sehen. Die Werke können als Unterstützung für
die Ömie-Künstlerinnen erworben werden.
München
Herstellung und Bemalung bei
den Ömie-Frauen bis heute Bestand. 1951 hatten Clanälteste einen Vulkanausbruch als Unwillen
der Ahnengeister über das Sterben der Traditionen gedeutet. Sie
ermutigten die Ömie, sich vom
fremden europäischen Einfluss
Mannheim
Schweiz
bis 8. März 2015
Unter dem Vulkan. Kunst der Ömie
aus Papua-Neuguinea
Museum Fünf Kontinente
Kontakt: Tel. 089-210-136-100
www.museum-fuenf-kontinente.de
Zürich
bis 1. März 2015
Die Roten Khmer und die Folgen
In der Akademie der Künste
werden Arbeiten vorgestellt, die
sich mit der Aufarbeitung der
jüngsten Geschichte Kambodschas auseinandersetzen. 2015
jährt sich der Beginn der Schreckensherrschaft der Roten Khmer
in Kambodscha zum 40. Mal. In
den darauffolgenden vier Jahren
wurden rund 1,7 Millionen Menschen ermordet. Die Ausstellung
präsentiert Werke der kambodschanischen Künstler Rithy
Panh, Khvay Samnang und Vandy
Rattana. Sie versuchen mit ihren
Filmen, Videos und Fotografien
die kollektive Katastrophe und
traumatische Erinnerungen
aufzuarbeiten, die von Politik
und Gesellschaft verschwiegen
werden. Ergänzt werden sie
von Arbeiten des Malers und
Objektkünstlers Günther Uecker,
des Fotografen Tim Page und des
Theaterregisseurs Ong Keng Sen.
bis 17. Mai 2015
Ägypten
Land der Unsterblichkeit
In einer Sonderausstellung zeigen die Reiss-Engelhorn-Museen
altägyptische Kunst und Kultur.
Mehr als 500 Objekte dokumentieren die antike Hochkultur am
Nil. Bis zu 6000 Jahre alte Exponate geben einen kulturhistorischen Überblick. Zu sehen ist unter anderem ein mehr als neun
Meter langes und rund 3500
Jahre altes Totenbuch. Außerdem
sind Särge, Reliefs, Skulpturen
und Metallarbeiten, Schmuck
und Grabbeigaben ausgestellt.
Der Ausstellungsrundgang
gliedert sich in die vier Themenkomplexe „Leben am Nil“, „Leben
im Tod“, „Götterwelten“ sowie
„Neue Herrscher“. Zahlreiche der
Exponate stammen aus Tempeln
und wurden unter anderem vom
Roemer- und Pelizaeus-Museum
in Hildesheim sowie Privatsammlern zur Verfügung gestellt.
bis 22. März 2015
Flickwerk zur Erleuchtung
Das buddhistische Mönchsgewand
Im japanischen Buddhismus
spielt der aus Flicken zusammengenähte Umhang (japanisch
„kesa“) eine wichtige Rolle. Das
Kleidungsstück drückt die Zugehörigkeit zu einem buddhistischen Orden aus. In Japan wird es
als Zeichen für das vollkommene
Verständnis vom Lehrer an den
Schüler weitergegeben. Auch in
der Politik wurde der Umhang
eingesetzt: Mit dem Verleihen
der „kesa“ durch den Kaiser
wurde zum einen die Macht des
Abtes befördert, zum anderen
waren damit auch weltliche und
steuerliche Privilegien für das
Kloster verbunden. Die Ausstellung präsentiert buddhistische
Textilien wie Mönchsgewänder
sowie Statuen aus den Beständen
des Museums sowie Leihgaben.
bis 9. August 2015
Klang/Körper
Saiteninstrumente aus Indien
Die Ausstellung zeigt eine
Auswahl von rund 80 Instrumenten aus einer Privatsammlung, Fast alle entstanden im
20. Jahrhundert in Indien und
Nepal. Zu sehen sind seltene
instrumentale Skulpturen wie die
Dhodro Banam („hohles Instrument“) und die Huka Banam
(„Kokosnuss-Instrument“). Die
Holzinstrumente sind an Fäden
fixiert wie Noten, die frei durch
den Raum schweben. Besucher
sollen so auf die Schnitzereien,
technischen Bauteile und die
Kreativität der Instrumentenbauer aufmerksam gemacht werden.
Ergänzt wird die Ausstellung mit
Musik. Durch die Kooperation
mit dem National Handicraft
and Handlooms Museum in
Neu-Delhi sollen mehr Informationen über die Geschichte der
Instrumente gewonnen werden.
Akademie der Künste Hanseatenweg
Kontakt: Tel. 030-20057-2000
www.adk.de
Reiss-Engelhorn-Museen
Kontakt: Tel. 0621-29331-50
www.rem-mannheim.de
Museum der Kulturen Basel
Kontakt: Tel. +41-61-26656-00
www.mkb.ch
Museum Rietberg
Kontakt: Tel. +41-044-415-3131
www.rietberg.ch
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Wahl: Lesen Sie den preisgekrönten Roman
„Hinter dem Paradies“ aus Ägypten oder den
Geschichtenzyklus „Das schlafwandelnde
Land“ aus Mosambik, in dem sich ein Junge
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Autobus aus ihrem Leben erzählen.
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Sie schenken Denkanstöße:
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Im nächsten Heft
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Hilfe
Immer öfter treten mehrere große
Katastrophen gleichzeitig auf.
Ist das System der humanitären
Hilfe damit überfordert? Werden
manche Notlagen „vergessen“?
Warum werden in Bürgerkriegen
die Helfer angegriffen und wie
können sie sich schützen? Müssen
sie sich mit gewaltbereiten Gruppen verständigen, um Zugang zu
den Notleidenden zu erhalten,
und funktioniert das gegenüber
Islamisten?
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Die Casa Xochiquetzal im Mexiko
bietet Sexarbeiterinnen im Ruhestand ein Zuhause. Einfach ist ihr
Zusammenleben dort nicht.
Mia Couto
Das schlafwandelnde Land
Unionsverlag, 2014
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Hinter dem Paradies
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Ausgabe 4-2015
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SPINAS CIVIL VOICES
Sehen und handeln.
Während die einen immer mehr Poulet essen, werden die
anderen in Hunger und Armut getrieben. Denn für den Anbau von Soja als Tierfutter wird grossflächig Regenwald
abgebrannt und den Einheimischen ihre Lebensgrundlage
geraubt. Brot für alle und Fastenopfer kämpfen gegen dieses Unrecht. Helfen Sie mit: sehen-und-handeln.ch