Die Magie der Bilder

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Die Magie der Bilder
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In die Höhlen trieb sie hauptsächlich ihre Weltauffassung, bei der die kosmologische Dreiteilung der Welt eine wichtige Grundlage bildete: Da war erstens das
"Mittlere Reich", die flache runde Erdscheibe, auf der sich alle lebenden Kreaturen aufhielten.
Darüber erstreckte sich das rätselhafte "Himmelreich", augenscheinlich ein kuppelartiger Ozean, über den die Sonne in einem Schiff fuhr, bis sie am Abend in
das große Loch eintauchte. Dort war das Jenseits - "jenseits" des großen Wassers
natürlich - ein "Unterirdisches Reich", Aufenthalt aller toten Seelen, der Menschen wie der Tiere, die aufihre Wiedergeburt warteten (2a).
Hier offenbart sich eine abstruse Idee der vorgeschichtlichen Menschheit: Zur
Förderung der Wiedergeburt der Tiere mußten ihre Seelen zuvor magisch eingefangen werden. Das Bild war also eine
Diese alte Vorstellung erklärt
Seelenfalle.
sich aus dem Bildzaubergedanken, der nie ganz vergessen wurde und der etwa den
Islam noch heute beherrscht:
Mit dem Abbild eines Gegenstandes wird Gewalt über ihn gewonnen. Deshalb
verbietet der Islam seinen Anhängern lebende Wesen abzubilden. Aus gleichem
Grunde wurden aber auch im Unterschied zu den vollendeten Tierdarstellungen,
in der Altsteinzeit oft Menschen ohne Kopfund Extremitäten wiedergegeben (3).
Als am Ende der Eiszeit die mächtigen Gletschermassen abzutauen begannen, als
die kontinentale Tundra in mehreren Schüben ihre Gestalt änderte und ein neuer
Pflanzenwuchs die Tiere zur Wanderung zwang, war das Ende der Höhlenkulturen gekommen. In der Zeit, da im vorderen Orient erste Stadtstaaten entstanden,
lag Skandinavien noch unter den Resten des mächtigen Eispanzers, der von der
Küstenregion zum Inland wegschmolz.
Aus Zentralasien bis zu den Pyrenäen zogen instinktmäßig die Rentiere dorthin,
wo der letzte Rest der Eiszeit zu finden war, um vor der lästigenRentier-Dasselfliege Schutz zu suchen: Auf die Schneefelder Skandinaviens. Dem Ren folgten
die Rentierjäger. Eine der größten Völkerwanderungen der Menschheit kam in
Gang.
Jahrtausende lang durchstreiften die Jäger und Sammler weite Strecken, in denen
kein Karstgebirge Höhlen hinterlassen konnte. Die Schamanen konnten keinen
Zugang zur Unterwelt bieten. Der Höhlenfluß, der einst im Kalk den Höhlenraum ausgewaschen hatte, spielte im Mythos eine gewichtige Rolle. In der sehr
viel späteren griechischen Mythologie war das der Höhlenfluß Styx, an dem der
Fährmann die Toten überzusetzen hatte.
Bossekop:Apana Gård/Finnmark, N
Das scheint die naive Vorstellung gewesen zu sein, die jene Menschen weiter in
die Tiefen der Höhlen trieb, um dort ihre Bilder zu hinterlassen. So wie das Besteigen hoher Berge oder Bäume dazu diente, dem Himmelreich näher zu kommen, glaubten die Wildbeuter ihrem Schamanen, wenn er mit ihnen in die Tiefe
der Karstgebirge hinunter stieg, um bestimmte Zeremonien im "Unterirdischen
Reich" zu vollziehen. Diese rituellen Handlungen dienten vor allem der Jagd. Das
dabei an die Höhlenwände geritzte oder gemalte Bild des erwünschten Wildes
wurde (wie wir von rezenten Völkern wissen) nicht etwa als eine Abbildung gewertet, nein, es war "das Wild selbst".
Bossekop: Bergheim/Finnmark, N
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Das Wasser
Bossekop: Bergheim/Finnmark, N
Da die ersten Landnehmer Skandinaviens sich in
ansiedelten, war
Küstenkulturen
es verständlich, die Unterwelt nunmehr unter den Ozean, den Fjord, den Fluß
und später einfach "unter Wasser" zu legen. Das rechtfertigt die vielen Wassergeister (4a), die im Norden anzutreffen sind.
Der realistische Stil der Parietalkunst der Höhlen war Picasso noch so vollendet
erschienen, daß er ausführte: "Nach der Höhlenmalerei ist in der Kunst nichts
Wesentliches mehr geschehen". Danach schien es aber zu einem Bruch gekommen zu sein.
In der Mittleren Steinzeit scheint das Bildgut einstiger Höhlentradition allein auf
vergänglichem Material, wie auf Tierhäuten, noch vergänglicher in den Sand gekratzt oder schließlich aufBaumrinde überliefert worden zu sein. Anders läßt sich
der bemerkenswerte Anschluß an die Höhlentradition der
, der
Monumentalkunst
mit Sandstein in die frei zutage liegenden Felsen
Bilder von Leiknes
geschlif
fenen
(5) in Nordland und Bardal in Nord-Trondelag kaum erklären.
als
Kulturelement
Viele Migrationen (Wanderungen) sind bereits während der Eiszeit nicht ohne das
Vorhandensein von Booten zu erklären. Das Boot der Tundrenzeit muß mit Gewißheit ein Hautboot gewesen sein, das Spanten aus Rentiergeweih zusammengebunden bekam, um die ein Skelett aus Haselnußstäben konstruiert wurde (6).
Ein ältestes Bootsfundstück der Erde in Form eines halben Spants aus Rengeweih
fanden Schleusenbauer 1882 im Hafen von Husum/Schleswig-Holstein. Nicht aus
Bodenfunden, sondern allein aus Felsbildern läßt sich die vorzeitliche Wanderung
von Stämmen und Völkern aus Zentralasien über die großen Ströme bis ins Nördliche Polarmeer, hinein in das Weiße Meer sowie um das Nordkap herum, entlang
der norwegischen Küste nach Südwesten verfolgen. Sie fanden einen vom Eis befreiten Küstenstreifen vor, an dem siejagen und fischen konnten.
Mit dem weichen Eisenoxyd begannen die Zeichner ganz naive Strichbilder rot
auf die Steine kleiner Höhlungen und unter Bergüberhänge zu
Am besten
malen.
erhalten sind jedoch die durch Schlagen oder Meißeln, Ritzen oder Schaben erzeugten
Felsgravuren.
Wurden die Höhlenbilder nach zehntausenden von Motiven gezählt, so können
die Motive der Felsgravuren allein in Skandinavien aufweit über eine Million beziffert werden. So aber kommt es zu der scheinbaren Diskrepanz, daß am Anfang
die aus der Intensität der Naturbetrachtung entstandene, oft polychrome (mehrfarbige) realistische Kunst der Höhlen entstand, während sehr viel später,
hauptsächlich in den letzten Phasen der Steinzeit, in der Bronze- und Eisenzeit
sich die Darstellung in der Strichmännchen-Methode verlor.
Dadurch konnte es im Anfang der Felsbildforschung im Glauben an die progressiven Entwicklungen zu dem Trugschluß kommen, daß die Strichzeichnung älter
sei als die vollendete Höhlenmalerei. Das war ein Irrtum.
Ältestes nachgewiesenes Boot derErde; Bootskelett.
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Soweit bis heute zu übersehen ist, setzten sich erste Landnehmer zwischen 7000
und 4000 v. Chr. am Komsahügel von Alta in der Finnmark Norwegens fest. Felsbilder folgten an dieser Küstenkalotte erst ab 5000 v. Chr. Besondersjene aus dem
Gebiet um Alta zeigen eine Vielfalt, die eine lange Tradition voraussetzen muß.
Das wird schon durch eine Komposition verdeutlicht, die in Amtmannsnes direkt
neben dem Komsahügel zu finden ist: Da ist als vierfache Schlangenlinie die Wasserbarriere zum Jenseits, zum Westen, hinter der in Strichzeichnungen vereinfacht
Menschen und Tiere beisammen aufdie Wiedergeburt warten (7a).
Ein Mensch und ein Vierbeiner überschreiten im Bild das Grenzwasser (das die
Griechen später Styx nannten). Ein großer Trost ist für die Menschen der Vorzeit
von derErwartung einerWiedergeburtausgegangen. DieUnterweltwardamalsweit
davon entfernt, eine fürchterliche christliche Hölle zu sein. Sie war ein großes
Reservoir auf Re-Inkarnation wartender Seelen, nicht allein der Tiere, nein, auch
der Menschen, wie wir im Bild sehen. Die Häufigkeitvon Tier-Totems erklärt sich
daraus, daß derMensch einergemeinsamenUnterwelt erwuchs, diejetztunter dem
großenWassergedachtwar, in der auch derHerr oder die Mutter derTiereresidierte. Hier liegt die Basis eurasiatischer Mythen die bis Amerika weitergereicht
wurden.
Alta:Amtmannsnes/Finnmark, N
Die Magie der Bilder
Es ist anzunehmen, daß der naive Mensch der Vorzeit keinen klaren Unterschied zwischen dem Bild eines Gegenstandes und dem Gegenstand selbst machte (8). Er gab jede mit den Sinnen erfaßte Form unreflektiert so gut er es konnte
wieder, bis hin zum naturalistischen Stil. Dieses Bild nennt deshalb der Forscher
physioplastisch.
Es sind Erinnerungsbilder, optische Eindrücke. Die Erfahrung jener Menschen,
die als erste das eisfreie Skandinavien erreichten, war generationsweise im Verlauf
zumeist sehr langer Reisen derartig angewachsen, daß schließlich der simple Jagdzauber im Bild nicht mehr ausreichte. Das nicht mehr naturalistische Felsbild reflektiert ein nunmehr erwachtes eigenes Geistesleben.
Bossekop: Ole Pedersen/Finnmark, N
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Es stellte nicht mehr dar, was der Zeichner
sondern allein das, was er über
sah,
das Motiv
Diese Wiedergabeform nennt man deshalb
(9).
wußte.
ideoplastisch
Das Bild ist die Idee von einem Gegenstand, eines Vorganges, eines Wunsches
oder einer Bitte an eine übergeordnete Macht. So kann in einer Zeremonie das
Bild selbst sakralen Charakter annehmen. Ja, die Herstellung des Bildes war bereits ein Kult.
Drammen:Åskollen/Buskerud, N
Trondheimsf
jord, HalbinselFrosta: Evenhus/Nord-Trøndelag, N
Eine der merkwürdigsten Darstellungsarten ist der weltweit verbreitete sogenannte
. Selbstverständlich weiß der Jäger, wie ein Tier innen aussieht. Auf
Röntgenstil
dem lebensgroßen Abbild eines Elches auf dem Hof Åskollen bei Drammen in
Südnorwegen, gibt die Zeichnung das Innere des Tierkörpers wieder: Herz, Lunge,
Leber und Nieren sind schematisch wiedergegeben, aber auch Labmagen, Blättermagen, Pansen, die Därme in Spiralen und schließlich der After. Diese querschnittartigen Tierbilder sind das Ergebnis einer frühjägerzeitlichenAuffassungvon
Leben, Tod und Wiedergeburt der Kreatur (10a).
Alta:Amtmannsnes/Finnmark, N
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Die meisten der im Röntgenstil gezeichneten Tierbilder sind verständlicherweise
einfacher. Das Einmeißeln in den harten Stein erforderte viel Ausdauer. So kam
es denn oft zu merkwürdigen, biologisch nicht zu rechtfertigenden Wiedergaben.
(7a). Von den Organen blieben Herz und Nieren bestehen. Letztere wurden bei
vielen alten Völkern als der "Sitz des Lebens" betrachtet. Verbreiteter noch ist im
ganzen eurasiatischen Raum und Nordamerika die sogenannte
eine
"Lebenslinie",
unnatürliche Kombination von Luftröhre und Herz.
Die Luftröhre ist das Zentrum der Luftseele; denn wenn ein Lebewesen den
Atem aushaucht, ist es tot. Das Herz als Zentrum der Blutseele besagt: Wenn eine
Kreatur verblutet, ist sie ebenfalls tot. Also zeichnet man beides in das Bild des
Wildes ein, um durch Magie sein Leben - genauer gesagt seine Wiedergeburt - zu
bewirken. Wie wir erfuhren, spielte diese Wiedergeburt bei der vorgeschichtlichen
Menschheit eine große, tröstliche Rolle.
Am Kloftefoss des Drammenselv in Südnorwegen sind zwei bespringende Elche
mit Lebenslinie dargestellt. Keine Wiedergeburt ohne vorherige Kopulation. Daß
dieses Bild genau vor einem stets mit Wasser gefüllten Strudelloch des Flusses
liegt, ist nicht zufällig.
Rechts ein Raubfisch, vermtlich einen anderen Fisch verspeisend.
Trondheimsf
jord, HalbinselFrosta: Evenhus/Nord-Tøndelag, N
Geithus, Drammenselv: Kløftefoss/Buskerud, N
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Das Strudelloch wird als Zugang zur Unterwelt gedacht worden sein, aus der die
Wiedergeburt zu erfolgen hat. Diese großartige Szenerie liegt genau an der Furt
des Drammenselv, durch die die Wanderung der Elche in jedem Jahr zu gehen
hatte. Oberhalb der Furt hatten die Jäger 6 gestaffelte Fallgruben angelegt, die
heute noch nachweisbar sind (11).
Die Wiedergeburt muß aus der Unterwelt erfolgen, und die liegt in Skandinavien,
wie gesagt, unter Wasser.
Immer wieder wurde dokumentiert, daß nicht allein das Tier, sondern auch der
Mensch in dem Jenseits, das jenseits der schwer überbrückbaren Wasserbarriere
gedacht war, mit seiner als Gerippe gemeinten Darstellung eine Wartestellung einnahm. In alten Zeiten dachten die Menschen anschaulich, sie dachten in Bildern.
Die Netzstruktur dieses lebensgroß gravierten Rundkopfdelphins könnte im Sinne
des "Zerstückelungsritus" gemeint sein: Eine Kreatur kann nicht eher wiedergeboren werden, ehe sie nicht zerstückelt worden ist.
Doch es könnte auch das "Wundernetz" - rete mirabile - dargestellt sein: Das ist
das unter dem Blubber gut sichtbare System von Kapillaren, das die Oberfläche,
die dem Gasaustausch zur Verfügung steht, stark vergrößert und nach selbst längerem Tauchvorgang sauerstoffarmes Blut sehr rasch wieder mit Sauerstoff versorgt. Wale können bis zu eine Stunde lang tauchen und brauchen diese Sauerstoffreserve u.a. zur notwendigen Versorgung des Gehirns. Das ist hier das
Problem: Was stimmt hier?
Magische
Kultstäbe
Tierkopfstäbe aus Geweihmaterial. Onegasee: Insel Oleni Ostrow/Karelien,RUS
Dem Schamanen, dem Geisterbeschwörer, stand seit der Eiszeit ein
zur
Hilfsgeist
Verfügung, dessen Bedeutung wir bei den letzten heute tätigen Schamanen des
asiatischen Nordens klar beschrieben bekommen. Auf der Insel Oleni Ostrow im
Onegasee in Karelien fanden sich in Schamanengräbern
(12), die
Tierkopfstäbe
dem gestorbenen Adepten mit ins Grab gelegt worden waren. Auch die nordskandinavischen Felsbilder geben gute Auskunft über den Zweck dieser Zauberstäbe.
In den Händen von Schamanen werden Tierkopfstäbe stets überdimensioniert
wiedergegeben. Die real 28 bis 35 cm langen Stäbe mit dem Elchkopf, aus Geweihmaterial geschnitzt, wachsen in der Felsgravur zu einer Größe an, die oft sogar die des Menschen übertrifft.
Diesen Vergrößerungsfaktor kennen wir als Rang-Größen-Ordnung: Kraft oder
Macht soll damit abstrakt ausgedrückt werden. Wir wissen, daß die Schamanen
verschiedener Stämme sich reguläre Kämpfe und Kraftproben lieferten. Das
kommt in der Umwelt von Jagdwild und Jägern überzeugend zum Ausdruck.
Von rezenten Naturvölkern wissen wir, daß Schamanen glaubten, am Tierkopfstab
hängend in eine der außerirdischen Welten fliegen zu können. Mit unserem heutigen Wissen erkennen wir die psychischen Faktoren eines solchen "Aus-sich-Heraustretens" in mystischer Versenkung oder religiöser Verzückung. Das Ergebnis
kann die sogenannte Levitation, also das empfundene Sich-Erheben und freie
Schweben des menschlichen Körpers in Ekstase sein.
Drammen: Skogerveien/Buskerud, N
Ähnliche Vorstellungen wurden den Hexen zugeschrieben, daß sie glaubten fliegen zu können. Wenn Schamanen einst als visionär begabte Menschen durch Fasten oder asketische Übungen sich Zugang zu mystischen Erlebnissen bahnten,
werden diejenigen, denen die Fähigkeiten dazu fehlten, die Ekstase auf natürlichem Wege zu erreichen, sich schon frühzeitig halluzinogener Drogen bedient haben.
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Während die indianischen Medizinmänner eine große Anzahl halluzinogener Pilze und Kakteen zur Verfügung hatten, war im eurasiatischen Norden allein der
Fliegenpilz eine bewußtseinserweiternde Droge. Noch heute ist bekannt, daß sich
die Rentiere mit einer wahren Leidenschaft durch diesen Pilz in einen animalisch
ungewöhnlichen Zustand versetzen können. Das muß den Schamanen seinerzeit
aufgefallen sein, bevor sie sich des Fliegenpilzes (Amanita muscaria) selbst bedienten. Die steinzeitliche Felsgravur eines Rentiers weist gegenüber allen anderen
Renbildern eine Sonderheit auf: Das Ren hat lange, deutliche Ohren. Und oben
auf den Ohren sind drei Fliegenpilze graviert, sozusagen in Abstand über dem
Kopf. Die ersten arktischen Expeditionen Rußlands berichteten in der Mitte des
18. Jahrhunderts von der Vorliebe der Rentiere wie auch der Sibirier für den Fliegenpilz. Das Muskarin ist für die halluzinogene Wirkung auf das Nervensystem
verantwortlich. Man meint nach seiner Einnahme "aus dem Körper herauszutreten", glaubt fliegen zu können und weite Strecken zurückzulegen.
Bossekop: Bergbukt/Finnmark, N
Bossekop: Bergheim/Finnmark, N
Bossekop: Ole Pedersen/Finnmark, N
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Am Nämforsen, im Ångermanland Nordschwedens ist die Konsequenz aus dem
zuvor gesagten im Felsbild zu sehen: Der vogelfüßige, am Tierkopfstab fliegende
Schamane, holt am Bande einen Jungelch aus der Unterwelt, damit sein Jägerstamm neues Wild bekommt (10b).
Zu den Zauberstäben gehört jedoch auch - für Skandinavien völlig unerwartet der Bumerang. Am Nämforsen finden sich im Bereich der großen Katarakte des
Ångermanälv viele Beispiele der schamanistischen Verwendung dieses übernatürlichen, magischen Zauberholzes, das in die Hand des Werfers zurückkommt.
Anadyrgebirge, Nat.-Kreis der Tschuktschen: Pegtymelfluß/Sibirien, RUS
Von den Tschuktschen ist bekannt, daß sich auch die Frauen der Pilze bedienen.
Merkwürdige Felsgravuren zeigen nackte und eine bekleidete Frau mit dem Pilz
auf dem Kopf. Bei den sibirischen Koriaken müssen die Frauen den Pilz vorkauen, um ihn dann, zu kleinen Würsten gedreht, den Männern anzubieten. (13) Die
schlucken dann die Droge hinunter und versetzen sich damit in Ekstase. Bald
muß entdeckt worden sein, daß der Wirkstoff mit dem Urin total ausgeschieden
wird. So kam es denn zu dem unappetitlichen Vorgang, daß die Männer während
des Rausches den Urin sammelten, um ihn zu trinken, wenn die Rauschwirkung
nachließ.
DiewirklicheVerwendung des Tierkopfstabes als Hilfsgeist wird auf einer ausgebrochenen Schrattenplatte, die heute im Museum Tromsø ist, unzweideutig festgehalten: Während die Stammesangehörigen einen rituellen Tanz ausführen, begeben sich die Schamanen, fliegend, an ihren Tierkopfstäben hängend, zu dem in
der Unterwelt residierenden Herrn der Tiere, einem riesigen Elch, um Ersatz für
das bereits geschossene Jagdwild zu bitten (14).
Mit Hilfe des Tierkopfstabes kann allein der Wissende, der Adept, in die außerirdische Welt fliegen. Das geschieht in einer Zeremonie, bei der der Schamane in
Ekstase den beschwerlichen Flug mit allen Hindernissen durchlebt. In der Figur
rechts oben der Schrattenplatte, ist dieser Vorgang zeichnerisch überzeugend dargestellt: Dem Schamanenkörper entflieht über seinem Kopf ein zweiter Kopfmit
Arm und Hand, die den Tierkopfstab hält. Während der Körper also zurückbleibt,
führt die entweichende Seele den Flug in die außerirdische Welt durch... Von den
Schamanen Zentral- und Mittelasiens berichteten Forscher und Verbannte von
Zeremonien, die meist in der Jurte durchgeführt wurden. Im Höhepunkt lag der
Geisterbeschwörer in Ekstase regungslos am Boden. Seine Seele galt währenddessen in eine der beiden außerirdischen Welten entrückt. Und eben das sollen viele
Felsbild-Szenen mit dem Tierkopfstab schildern. Man darf die Bereitschaft des
Menschen, zu glauben, nicht unterschätzen.
Bossekop: Bergbukt/Finnmark, N
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Die ursprüngliche Interpretation, es würde sich um Sicheln oder Sensen handeln,
geht an der Tatsache vorbei, daß die dortigen Felsbilder zwischen 4000 und 3000
v. Chr. entstanden sind, also zu einer Zeit, da an eine Bauerntätigkeit in dieser
Weltgegend nicht zu denken war.
Ich machte mit den verschiedenen Formen von "Haken" den Versuch, sie aus Naturholzkrümmern nachzubilden. Bis auf ein einziges Modell (Bild 1), das sich als
geradeausfliegendes Jagdwurfholz auswies, kamen schließlich alle Formen wundervoll zurück (10c). Ein
miteinander verbundener Bumerangs wies
Zwillingspaar
auf die australische Vorstellung hin, daß der Besitzer eines solchen Paares vor
Verwundung und Tod solange bewahrt bliebe, wie beide in seinem Besitz sind.
In Australien, dieser letzten Domäne der Bumerangs auf Erden, geht auch aus
Mythen und Zeremonien deutlich hervor, daß die beiden Bumerangs im Sinne
des Mondkultes den zunehmenden und den abnehmenden Mond verkörperten.
Sie wurden aus einem einzigen krummwüchsigen Ast durch Mitteltrennung gespalten.
Näsåker, Nämforsen: InselNotön/Ångermanland, S
Es ist erstaunlich, daß unter den bemerkenswert verschieden gestaltetenBumerangformen am Nämforsender heute bei sportlichenWurfwettkämpfenals ganz
modern geltende Dreiflügler einigemale in den Felsen graviert wurde. Dieser Typ
kostete bei meiner Bemühung ihn aus Naturholz nachzuformen im Walde die
längste Zeit ihn zu finden.
Näsåker, Nämforsen: U
ferlage Lillforshällan 1,2. 3500-2500 InselBrådön 5, 6, 7. InselNotön
3, 4. An den Flügelenden haben kultische Schalengruben 1,3,6. Der einzige Rechtshänder 5.
Alle anderen sindLinkshänder.
Auf der Suche nach dem
gerieten wir an einige Boote, die
Sinn des Bumerangs
auf den schwierig zugänglichen Inseln und Klippen inmitten des Flußbettes graviert waren. Da das kleine Einmann-Hautboot daneben abgebildet war, konnte
überzeugend gesagt werden, daß so große Boote, mit 69 Mannstrichen an Bord,
mit den technischen Mitteln der Jägerzeit keinesfalls gebaut werden konnten.
Näsåker, Nämforsen: Lillforshällan/Ångermanland, S
Sie waren also Phantasieobjekte: Totenboote oder Ahnenboote, die den Weg der
Sonnenachvollzogenund am Horizont durch das große Loch die Toten ins Jenseits zu bringen hatten. Über diesen Booten, szenisch mit ihnen verbunden, waren
wiederum die Bumerangs. Das wird kein Zufall sein. Deshalb schuf ich den Begriff
, und gab damit dem Bumerang einen ethnologisch
"Kultholz der Wiederkehr"
verantwortbaren Sinn.
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Die Felsbilder zeigen den Schamanen mit Tiermaske, denn er istja der Mittler zur
Tierwelt. In der linken Hand trägt er den Bumerang. Undjetzt fällt es auf, daß die
meisten der amNämforsen dargestellten Bumerangs für Linkshändergestaltet sind,
wenn anzunehmen ist, daß sie auf der flachen Unterseite liegen und die konvexe
Seite nach oben zeigt. Die linke Hand war einst Symbol der stofflichen Mütterlichkeit, derAusdruck des weiblichgebärenden, nährenden, mehrenden Stoffes in allen
Äußerungen seiner Tätigkeit. Das bezieht sich auch aufdie seltsame Rückkehr des
schamanistischen "Kultholz der Wiederkehr", mit dem möglicherweise in einem
Analogiezauber die Wiedergeburt gefördert werden sollte.
Näsåker, Nämforsen: Insel
Brådön/Ångermanland, S
Näsåker, Nämforsen: InselNotön/Ångermanland, S
Der Nämforsen mit den Inseln der Felsbilder zwischen den Katarakten. Links
unten, tief im eiszeitlichen Tunneltal, umtost der Ångermanälv die Insel Notön,
Standort des großen Bootes. Darüber, am jenseitigen Ufer, wurde eine steinzeitliche Siedlung ausgegraben. Die Insel in der Mitte ist Brådön. Dort landeten einst
auch bronzezeitliche Südskandinavier und hinterließen inmitten steinzeitlicher
Felsbilder die Darstellungen ihrer Boote. Aufbeiden Inseln wurden mindestens in
der Steinzeit die Toten offen zutage "beigesetzt". Davon zeugen die Totenboote
mit den Bumerangs darüber.
Näsåker, Nämforsen: InselNotön/Ångermanland, S
Es wäre möglich, daß in diesem Zusammenhang die Mann-Striche an Bord als
Verkürzungsglyphe Zählmarkierungen waren, die später bis in die Eisenzeit als
Bootsmannschaft beibehalten wurden. Kontinentüberschreitend waren die Totenoder Ahnenboote im Ritus unterschiedlichster Völker und bei ihren Zeremonien
fast weltweit bekannt. Das kann ein Indiz für ihr Alter sein. Auch die "Toteninseln", aufdenen beigesetzt wurde, waren im eurasischen und nordamerikanischen
Raum ein fester Begriff.
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DerTote durfte nichtvongroßen Raubtierenverschlepptwerden, der Platz, an dem
er niedergelegt wurde, hatte sakralen Charakter. Das umgebene Wasser war augenscheinlich Teil jener unterirdischen Welt, in der die Seele des Toten fortlebend
gedacht wurde. So ist der spätere griechische "Fährmann" an dem Unterweltfluß
Styxgewiß dem Schamanen gleichzusetzen. Auch der Styxist mit einem Wasserfall
gedacht. In Karelien, an den Katarakten desWygbei Salawrugaist ebenfalls einheiliger Felsbildbezirk der einst zum Beisetzen der Toten benutzt worden sein kann.
Das Beisetzen der Gestorbenen auf flachem Boden, aber auch auf Bäumen oder
Stangengestellen rechtfertigt den Mangel an Skelettfunden in der steinzeitlichen
Jägerperiode. So können wir nicht einmal bestimmen, welcher Menschentyp Skandinavien nach beendeter Eiszeit als Landnehmer, zumeist in Küstenkulturen besiedelt hat.
Von der Polnischen Akademie von Krakau bekam ich den Forschungsauftrag, die
Flugeigenschaft eines zum Jagdwurfgerät gestalteten Mammutstoßzahnes zu ermiteln, der in einer Karpatenhöhle gefunden wurde. Die Universität Oxford datierte
ihn auf ca. 18 300 v. Ch.. So können wir nunmehr sagen, daß die Bumerangs von
Nämforsen zwischen 4000 und 3000 v. Ch. nicht etwa der Anfang einer Entwicklung war, sondern gewissermaßen bereits ein Ende.
Die Stromschnellen des Nämforsen inprähistorischerZeit. Graphik: Verfasser
Wildbeuter der Vorzeit
Stand bei den eiszeitlichen Höhlenbildern in der Gesellschaft von Jägern und
Sammlern allein das Tier im Vordergrund, so spielt ikonographisch vom Ende der
Mittleren Steinzeit der Mensch seine beherrschende Rolle. Es ist als gesichert anzunehmen, daß dabei nur das dargestellt wurde, was kultischen oder sakralen
Charakter besaß. Es werden denn auch nie Behausungen wiedergegeben, da sie
profanen Zwecken dienten. Die rituellen Handlungen und Zeremonien scheinen
nur im Freien durchgeführt worden zu sein. Jagd, Wiedergeburt des Wildes und
alles was damit zusammenhing, wurde den Felsen anvertraut, vermutlich um die
Beute zu fördern.
Auf diese Weise gerieten auch die Boote unter Felsbildmotive. Sie wurden nicht
nur zum Fischfang benutzt, der etwa mit der Knebelangel durchgeführt wurde,
sondern ganz besonders für die Rentierjagd. Das Ren war durch die Zeit der Eiablage der Rentier-Dasselfliege zur jahreszeitlichen Wanderung auf die Schneefelder gezwungen. Immer wieder kreuzten diese Wildwege irgendwelche großen Gewässer, die durchschwommen werden mußten. Dort legten sich die Jäger mit ihren kleinen Hautbooten auf die Lauer und machten unter den langsam schwimmenden Rentieren reiche Beute.
Die gedachte Wasseroberfläche wurde redaktionell eingezeichnet.
Repparf
jord: Kvalsund/Finnmark, N
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Durch eine zunehmende Vielfalt der Arten im Pflanzenwuchs entstanden - zum
Glück für die Jäger - Biotope, die dem Elch und gleichzeitig dem Bär zuträglich
waren. Der Mangel an Deckungsmöglichkeiten zwang den pirschenden Jäger mit
übergeworfener Elchhaut als Tier getarnt, die sogenannte
ausMaskierungsjagd
zuüben.
Selbst der Hund spielte jetzt seine große Rolle als erstes Haustier und Helfer des
Menschen. Wir sehen eine Hundemeute einen Elch stellen, der sich jedoch gegen
die Hunde zur Wehr setzen konnte. Der lange dunkle Winter im hohen Norden
zwang die Jäger, Fangmethoden gegen Rentiere und Elche anzuwenden, die bereits ganze Herden als Beute einbringen konnte:
Das mit Gattern erstellte
dessen geschickt reusenartig gestellten Zugang
Fangzeug,
die Tiere auf der Flucht nicht mehr wiederfanden (7b). So mag es gekommen
sein, daß bei der Kooperation vieler Familien soviel Beute anfiel, daß das Fangnetz nun geschlossen werden mußte, um sich über Zeit nur im Bedarfsfall ein Tier
zu holen.
Da diese Fangart bevorzugt von den finnisch-ugrischen Völkern verwendet wurde,
ist anzunehmen, daß auf diesem Wege die Samen (Lappen) dazu kamen, den Polarhirsch zu domestizieren.
Näsåker, Nämforsen: Lillforshällan/Ångermanland, S
Bossekop:Bergheim/Finnmark, N
1 Meter
Bossekop: Bergheim/Finnmark, N
Trotz eines Felsausbruchs ist die Totale eines solchen Fangzeuges in der Felsbildlage Bergbukt gut erhalten. Offensichtlich standen bei der Gatterjagd Rentiere im
Vordergrund. Mit mehr oder weniger Geschick wurden lange Zeiten hindurch
immer wieder Rener mit dem typischen nach vorn geknickten Gestänge auf den
Felsen gebannt. Und ein "Bannen" wird es tatsächlich gewesen sein, will man den
Berichten über Jagdzauber bei rezenten Naturvölkern Glauben schenken. Die Elche der Abbildung des Gatters sind ausnahmslos ohne Schaufeln wiedergegeben.
Das bedeutet, daß verständlicherweise diese Jagdart während des Winters vorteilhaft war.
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Mit mehr oder weniger Geschick sind die Felsen nach und nach mit Motiven verschiedenster Art gefüllt worden. Hier sollten wir einmal ansprechen, daß bei der
Betrachtung von Felsbildern gern der Begriff "Kunst" in den Vordergrund gerückt wird.
Bossekop: Ole Pedersen/Finnmark, N
Die Aussage von Juri Sawwatejew scheint eine rechte Beurteilung abzugeben:
"Die Kunst hatte sich damals noch nicht als eine spezifische Form des gesellschaftlichen Bewußtseins und der menschlichen Bestätigung verselbständigt, sie
war mit den anderen Erscheinungen des geistigen Lebens der Gesellschaft, insbesondere mit ihren religiösen Äußerungen, eng verflochten (16)." In diesem Sinne
werden die verschiedenen Wildarten, Ren, Bären und Elche, die Jäger mit Jagdwurfholz dem universalen Speer und dem Jagdbogen und nicht zuletzt der Mann
mit dem Tierkopfstab aus rein kultisch-rituellen Gründen auf die Felsen gekommen sein.
Sogar Jagdmethoden wurden recht genau demonstriert. Da ist der als Kreis gezeichnete Zugang zur Bärenhöhle. Die Bärenfährten, die weit über den Felsen zu
verfolgen sind, gehen in die Höhle hinein. Zwei Männer mit Speer versuchen den
im Winterschlaf liegenden Bären zu wecken. Sowie er sich rührt, werden sie
zurückspringen und den Fangschuß den beiden bereitstehenden Bogenschützen
überlassen. Eine Jagdszene voller Spannung, die zugleich - schwer faßbar für uns
moderne Menschen - den ganzen Jagdzauber zum Inhalt hat.
Lachse undHautboot. Näsåker, Nämforsen: Klippe vor dem Südufer/
Ångermanland, S
Bossekop: Bergbukt/Finnmark, N
Bärenjagd vorHöhlenzugang: Bossekop: Ole Pedersen/Finnmark, N
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Sonst war jedoch die Verfolgung des Wildes im Winter mit Schwierigkeiten verbunden. Die ständige ununterbrochene Dämmerung war genauso hinderlich wie
der Schnee. Da kam - vermutlich aus Sibirien - die Erfindung von
Schneeschuh
und
die beide den Jäger in die Lage versetzten, dem ebenfalls behinderten
Ski,
Wild im tiefen Schnee zu folgen.
Der von Knut Helskog 1979 aufgedeckte Grätschritt bergan steigende Skiläufer
und Wurfholzträger vor einem Elch mit verlängerten Beinen, hat detailgenau (bis
auf das Wurfholz) ein Doppel im Baikalseegebiet, bei dem auch die Elche mit
den langen Beinen nicht fehlen. Daß die Felsbilder Sibiriens sowiejene von Karelien und Skandinavien Ähnlichkeiten aufweisen, hat A. P. Okladnikow mehrfach
betont (17): "Bilder und Vorstellungsinhalte, wie sie zum Beispiel in den Weiten
Sibiriens am Fluß Tom oder an der Angara entstanden, stimmen häufig bis in die
kleinsten Einzelheiten mit Bildern oder ganzen Motivgruppen der Felsbilder
Kareliens und Skandinaviens überein".
Nur die wenigsten Mythen
wurden überliefert
Die ältesten Mythen sind verständlicherweise Tiermythen. Noch kennen wir
durch ihre weite Verbreitung die Schwanfrau-Erzählung: "Fünf Schwanenmädchen
entledigten sich ihrer Vogelkleider, um als Menschenmädchen zu baden. Ein beobachtender Burjate nahm heimlich eines der Kleider an sich. Erst als die Mädchen sich nach dem Bade wieder bekleideten, suchte eines von ihnen vergeblich
nach seinem Kleid. Die anderen flogen schließlich fort. Da nahm sich der Burjate
dieses Mädchens an und brachte es mit nach Hause. Sie wurde seine Frau und gebar ihm fünf Söhne und fünf Töchter. Als die Frau ihr Schwanenkleid in einer
Truhe entdeckte, zog sie es an und flog davon (18)."
Auf eine solche Mensch-Tier-Verbindung weist ein Felsbild von Alta hin, das die
Kopulation eines Menschenmannes mit einer Gänse- oder Schwanenfrau zeigt.
Ganz in der Nähe ist der Hockkoitus eines Menschenpaares, der angesichts eines
Fisches praktiziert wird, in den Stein graviert. Eine ganz ähnliche Szene fanden
wir in Co-oose in Britisch-Kolumbia.
Bossekop:Apana Gård/Finnmark, N
Angara: Ryknaja/Sibirien, RUS.
Nach Ksica.
^
Bossekop: Bergbukt/
Finnmark, N
Bossekop: Bergheim/Finnmark, N
35
34
Bossekop: H
jemmeluft/Finnmark, N
Es ist bekannt, daß derartige Aktivitäten die Wiedergeburt der Fische fördern sollten. Die Vorstellung "keine Wiedergeburt ohne vorherige Kopulation" gilt jedoch
auch dem Wild. Am Nämforsen findet eine menschliche Vereinigung angesichts
eines Elches statt. Direkt daneben ist eine menschliche Geburtszene dargestellt,
halbseitig von einem magischen Kreissektor geschützt. Doch auf der anderen Seite nähert sich dem Neugeborenen ein sichtlich böser Dämon, der anscheinend
von einem sich nähernden Ahnenboot abgewehrt wird.
Nicht weit davon ist auch ein anthropomorphes Mischwesen zu finden, möglicherweise mit einem Wurfholz in der Hand. Daneben sieht man einen Seehund.
Vielleicht sollte dieses unter Felsbildern einzigartige Mischwesen als Meermaid
bezeichnet werden. Eine an den fenno-skandischen Küsten bekannte Meerfrau ist
Akkruvva, mit dem Oberkörper eines Menschenweibes und dem Unterkörper eines Fisches (4b).
An dem mythologiegeladenen Nämforsen entdeckt man wiederholt einen Elch,
der auf seiner Rückseite einen zweiten Kopf hat. Wie viele andere Motive des
Nämforsen kann er seine Herkunft aus dem ikonographischen Schatz Kareliens,
genauer vom Weißen Meer wie vom Onegasee nicht verleugnen. Was müssen diese Wildbeuter für eindringliche Mythen, Sagen und Erzählungen gehabt haben.
Alle drei: Näsåker, Nämforsen: InselLaxön/Ångermanland, S
Näsåker, Nämforsen:
InselNotön/Ångermanland, S
Mit dem Einbruch des sogenannten aufgeklärten Zeitalters ist, bis auf geringe
Reste, alles das verloren gegangen. Was hat die Zerstörung eines Hautbootes mit
dem Speer, gegen den Willen der dabeistehenden aufgebrachten Menschen, zu
sagen? Die Dramatik des Geschehens ist trotz stilistischer Einfachheit der eingravierten Gestalten zu spüren.
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Dergroße Wandel
Als die vom Kontinent nach Skandinavien gekommene sogenannte
Neolithische
das Wildbeuterdasein durch eine planende Pflanzwirtschaft und ViehRevolution
zucht ersetzte, änderte sich nicht allein die Lebensweise, sondern auch die rituellen und kultischen Vorstellungen.
Es ist ein häufig wiederholter Irrtum, anzunehmen, das sogenannte Bauerntum
hätte gegenüber dem nun überwundenen Wildbeutertum mehr Lebenssicherheit
geboten. Das Gegenteil wird der Fall gewesen sein. Der Wildbeuter der Vorzeit
hatte bei seiner gewiß auch rituell reduzierten Bevölkerungszahl in einer Umwelt
von Tier und Pflanze soviel Kenntnisse, daß er stets ausreichend Lebensmittel zur
Verfügung hatte.
Bossekop: Bergheim/Finnmark, N
Recht ausdrucksvoll und sicher nicht in einem einzigen Gravurgang, ist ein anderes Bild entstanden: In einem Strichboot stehen schwertgegürtete Männer. In
viel groberer Gravurart ist vor diesem Boot ein tierschnäuziges anthromorphes
Wesen - vielleicht nachträglich - eingraviert und dahinter ein ebenso grob eingeschlagenes Boot mit nur zwei Mann Besatzung.
Doch die anthropomorphe Stevenfigur raubt die letzten zwei Männer vom vorausfahrenden Schiff. An dieser Komposition sind zwei Zeichner tätig gewesen: Während der eine einen feinen Strich schuf, pickte der andere kräftige aber unsichere
Linien.
Die Nahrungsquellen waren sicher und zuverlässig. Nach Ausbeutung des einen
Reviers war die Gruppe in ein anderes gezogen. Dieses Nicht-ausschöpfen des Erreichbaren bedeutete gewissermaßen, daß der Wildbeuter in einem bescheidenen
Überfluß lebte.
Bei Katastrophen war damit der Sammler auch ohne Jagdbeute dem Ackerbauer
in Not überlegen (19). Der Landbau, der etwa heutiger Gartenwirtschaft entsprach, konnte im atlantischen Klima gut gedeihen, aber auch unerwartete
Mißernten bringen. Nie zuvor hatte der nordische Mensch soviel Unsicherheit ertragen müssen. Das betraf ebenfalls den räuberischen Zugriff durch neidische
Nachbarn. Der Bauer versuchte Verluste durch eine althergebrachte Magie in einer verschrobenen Logik abzuwenden.
Die ungewöhnlich hohe Zahl kreativer Potenzen unter diesen zahlenmäßig unbedeutenden Polarvölkern der Steinzeit, muß in geistigen Schöpfungen, wie es Mythen sind, in möglicherweise daran ausgerichteten Kulten und in zeichnerischen
Gestaltungen, wie wir sehen, beachtlich gewesen sein.
Felsbilder der Jägerzeit
Felsbilder der Pflanzer
Insel Sørøysund:gåshopen/Finnmark, N
39
38
Seit der spätenJungsteinzeitundin derBronzezeitverschlechterte sich durchÜberweidung und mangelhafte Kenntnisse im Landbau die Ertragslage. Die ersten Bauern erkannten die Ursachen dieser Erscheinungen nicht. Mit den althergebrachten
Methoden des Übersinnlichen versuchten die Betroffenen Abhilfe zu schaffen.
Die
waren für die Fruchtbarkeit von Boden und Haustieren verantwortlich.
Ahnen
Sie mußten versöhnt werden, um bessere Ernten und ausreichende Weiden zu
gewährleisten. So wurden den Ahnen aufwendige
errichtet, wertMegalithbauten
volle Beigaben ins Jenseits mitgegeben und in Felsbildern die Zeremonien mit Prozessionen und Schiffsumzügen über die Felder für die lebend gedachten Toten
geweiht.
Tanum: Bro/Bohuslän, S.
Dem kam der Sonnenkult entgegen, der vom Kontinent her in Skandinavien bereitwillig aufgenommen wurde. Das dokumentieren besser als alle Bodenfunde die
Felsbilder.
Als der Sammelstock der Wildbeuter zum Grabstock der Pflanzer wurde, machte
er eine weitere Wandlung durch. Er bekam einen langen Schaft zur besseren
Handhabung und wurde dadurch zum Furchenstock. Vielleicht aus der Hacke entwickelte sich der
und
, mit denen man lediglich die FurHakenpflug
Sohlenpflug
che zur Aufnahme von Saatgut aufriß.
Es fehlte noch die Pflugschar, mit der die Scholle umgeworfen werden konnte.
Unter den Grabhügeln des Nordens finden sich immer noch die Pflugfurchen einstiger Feldstücke. Sie wurden oft sogar kreuz und quer gezogen. Die von einem
Pflug gezogene neue Grenze (Grenzziehung) galt nicht allein in Skandinavien als
gesetzlich gesichert. Der rituelle Charakter des Pfluges ist der Häufigkeit zu entnehmen, mit der besonders dieses Gerät als Opfer in Mooren versenkt wurde. Dänemark und Schweden sind mit Pflug-Funden gesegnet, Pflüge aller möglicher
Typen.
Tanum: Finntorp/Bohuslän, S
Wenn den Ahnen aufwendige Totenbauten errichtet worden waren, wenn die Zeremonien stets erneut in den Felsbildern wiedergegeben wurden, glaubte man alles
zur Verbesserung der Fruchtbarkeit getan zu haben (20a). So waren die Megalithbauten und die Felsbilder nicht etwa ein Zeichen von Überfluß und Wohlstand,
sondernim GegenteilAusdruckderimmerwährenden Furchtvorgrößerwerdender
Not, vor Hunger und vor dem Sterben.
Sohlenpflug,
Öster-Eneby:
Ekenberg/Östergötland, S
Oben: So trug man Modellboote
im Frühjahrsumgang mit herum.
Unten: Das ist der Vorläufer
pferdegezogener Schif
fswagen
unsererKarnevalsumzüge.
Rekonstruktion: Verfasser
Einsteckpflug;
41
40
Das Wasser bot den
einfachsten Weg
Die größte Anzahl unter den ikonographischen Motiven kam in Skandinavien
den Booten zu. Und nur ein einziger Felsbildbereich, nämlich wieder der Nämforsen, zeigte alle drei nordischen Bootstypen der Vorzeit: 1. das älteste, schon in der
Eiszeit entstandene
in Skelettbauweise konstruiert, 2. den erst nach
Hautboot,
dem stärkeren Wachstum der Bäume möglichen
und 3. das
Einbaum
Birkenrindie Kennung der bronzezeitlichen Felsbilder, ein Fahrzeug in
den - Kufenboot,
Schalenbauweise.
Vom Hautboot erfuhren wir genug. Der Einbaum ist sowohl von Jägern auch als
von Pflanzern benutzt worden. Besonders bemerkenswert ist ein Sondertyp, der
einen Elchkopf am Steven aufweist und deshalb in seiner Südwanderung gut zu
verfolgen ist. Er tritt erstmals in karelischer Felsbildlage in Salawruga am Weißen
Meer auf, wo er durch ganze Fluß- und Seesysteme zum Onegasee und Ladogasee
bis hinein in den Finnischen Meerbusen gelangt ist.
Im Bottnischen Meerbusen dürften diese Jäger-Seefahrer beim damaligen höheren
Wasserstand sehr weit in den Ångermanälv hineingeraten sein, bis der Kataraktbezirk des Nämforsen die schwerfälligen Boote aufhielt. Durch die erste große
Abtaulücke des einst mächtigen Inlandeises, dessen Landschaft heute bezeichnenderweise Medelpad (Mittelpfad) genannt wird, kann dieser unverwechselbare
Bootstyp den Weg zum Trondheimsfjord genommen haben, denn im Stjördalen
bei Hegra finden wir es als Felsbild im Wald versteckt wieder.
Am Nämforsen sind nur auf der stromumtosten Insel Bradön inmitten der jägerzeitlichen Felsbilder auch die auffälligen bauernzeitlichen Kufenboote graviert.
Die Bauern des skandinavischen Südens hatten den Weg in den Norden gefunden, vermutlich um dort Handel zu treiben. Da ab der Mittleren Steinzeit bei günstigem Klima starke Bäume wuchsen, war es möglich, daß im Norden Eurasiens
Boote in Schalenbauweise mit Rinde gebaut wurden.
Die ersten Bauerngenerationen scheinen in Südskandinavien diese Idee bereitwillig aufgegriffen und zu einem eigenen Langboottyp umkonstruiert zu haben. Den
Forschern gab zuerst das Boot mit der Kufe Rätsel auf. Sie glaubten in ihm
Schlitten zu erkennen, Doppelrumpfboote, Auslegerboote oder gar Flöße. Der
Schiffsbauingenieur Gerhard Timmermann fand schließlich die rechte Lösung mit
seinemSchreibpapierversuch. (21)
Er bog ein Stück Schreibpapier im Seitenverhältnis 1 : 7 so zusammen, daß die
gefalteten Schmalseiten mit Briefklammern zusammengehalten werden konnten.
Die Mitte des entstandenen Bootes bog sich dabei bootsmäßig auseinander. Die
Bug- und Hecklinie zog sich oben durch die Spannung genauso nach innen, wie
das bei den Felsbild-Kufenbooten zu sehen ist. Also mußten diese Fahrzeuge aus
rechteckig abgeschälter Baumrinde aufgebaut worden sein, selbst wenn diese zusammengestückt worden wäre.
Eine unter dem ganzen Boot hindurchgehende
schützte die empfindliche
Kufe
Baumrinde vor der Berührung mit dem felsigen Grund. Die hochgezogenen Steven folgten dabei lediglich einem Schmuckbedürfnis.
Abb. oben: Hautboot undEinbaum im gleichen Maßstab.
Stjørdalen, Hegra: Bjørngård/Nord-Trøndelag, N
Näsåker, Nämforsen: InselBrådön/Ångermanland, S
43
42
Der Grund, weshalb die bäuerliche Bevölkerung Skandinaviens nie ganz auf Seefahrt und Jagd verzichtete, liegt in der Tatsache begründet, daß etwa in Norwegen
nur 4% des Bodens für Pflanzungen anbaufähig war.
Dasüberwiegendfelsige oder sumpfigeWildgeländewar alleinfürdieJagdgeeignet.
Und die Weite des Meeres lockte die unternehmungslustigen Nordmänner in die
Ferne.
Der Bronzehandel erforderte im Transport den "Dienstleistungsbetrieb" mit Schiffen, wie sich die Skandinavier auch heute noch aufder ganzen Welt von der Tankschiffahrt bis zumWalfang verdingen. Es ist nachweisbar, daß die Schiffe der Bronzezeit große Strecken zurücklegten.
Aufdem 2. InternationalenArchäologenkongreß in OslounterstrichA. W. Brøgger,
der damalige Leiter desNorwegischenMuseums, daß die frühen Berichteim 6. und
5. Jahrhundert v. Chr. über die Seefahrten der Griechen und Phönizier in den
Atlantikhinein, nicht etwa derAnfang, sondern tatsächlich das Ende einer Periode
derEntdeckungenund des an den atlantischen Küstenvorherrschenden Seehandels
gewesen waren (22).
Tanum: Bro/Bohuslän, S
Tossene:Åby/Bohuslän, S
Die Bronzezeit sei das großeJahrtausend der Seefahrten gewesen, in dem die Technik der Nautik entwickelt worden sei.
Es ist sonderbar, daß ausgerechnet ein Außenseitertyp des Bootsbauesjahrhundertelang die Meere befuhr und bis über die Bronzezeit hinaus zur "Kennung" wurde.
Das Boot aus der empfindlichen Birkenrinde kam inWirklichkeit den Bedürfnissen
der bronzezeitlichen Seeleute entgegen.
Sarpsborg: Kalnes/Østfold, N
45
44
An denindianischenBirkenrinden-Kanus sehenwir, daß sie soleichtwaren, daß sie
um Stromschnellen getragen werden konnten. Dem kam gewiss auch die Kufe
zugute, die den Bootsboden vor Beschädigung schützte. Der Bootsfund auf der
Hjortspringkoppel der dänischen Insel Alsen bot bei der Rekonstruktion des Birkenrindenbootes (vor der sich viele Konstrukteure scheuten) eine geeignete Schlüsselkonstruktion. Hierhatten die Erbauer zwar die Birkenrinde schon durch Planken
ersetzt. Doch noch immer wurden die Planken zusammengenäht und die Steven
wiesen eine eigentümliche stabile Hohlkonstruktion auf.
Und dabei zeigte es sich, daß das Hauptproblem eines Rindenbootes dieser Art an
denbeidenAufhängestellen derKufe amVorder-undAchterstevenlag. Birkenrinde
läßt sich zwar recht gut biegen, doch würde ein Knicken oder Falzen sofort zum
Bruch des Materials und zum Wassereintritt führen. Angeregt durch die hölzernen
Hohlsteven des Hjortspringbooteswählte ich also einenhalbschaligen Hohlzylinder
(siehe Zeichnung), der in der Kufe befestigt wurde.
In ihn hinein paßte ich mit etwas Abstand einen Kolben, um dessen gerundeten
unteren Ende die Birkenrinde gebogen und in ganzer Länge bis oben mit Birkenpech angeklebtwerden konnte. Wenn dieser Kolbenjeweils in derDollbord-Zusammenführung aufgehängt wurde, hatten beide Steven eine vorzügliche Haltefunktion
für die zweifach aufgehängte Kufe. Jede weitere Kufenaufhängung, etwa durch die
Birkenrinde des Bootskörpers hindurch, hättebei derFlexibilitätvon Rindenbooten
unbedingt zu undichten Stellen führen müssen. Unter solchen Umständen war die
Länge derartiger Kufenboote gewiß auch beschränkt.
Unverständlicherweise wurden diese großen Rindenboote weder mit Riemen (langen Rudern) angetrieben, noch waren sie mit Segeln versehen. Wenn unter tausenden von Bootsbildern zwei oder drei nachträglich einen Mast graviert bekamen,
rechtfertigt das nicht das Gegenteil. Ihre Fortbewegung erfolgte mit dem Stechpaddel, dem Pagaie. Das trifft sogar aufdie ersten Plankenbootevom Hjortspringtyp zu
(23). Da aufjeder Seite deshalb immer nur
Mann aufder Ducht (Sitzbank) sitein
zen konnte, also aufjeder Ducht nur zwei Männer, waren die Boote schmal und
lang. Durch diesen Umstand waren die Langboote ungewöhnlich schnell, denn
, sagt der Seemann.
"Länge läuft"
Rindenboot Sibirien: Tungusen
Rekonstruktion Rinden-Kufenboot.
Rekonstruktion: Verfasser
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Zur Vereinfachung der schwierigen Gravurarbeit mit Feuerstein oder Bronzemeißeln wurden die Männer der Schiffsmannschaft meist nur als Striche in den
Stein graviert. Oftjedoch stehen die Männer in Hocke aufdem Dollbord, das Paddel in "Parade" vor sich hochhaltend. Das zeichnerische Problem der Perspektive
und der Überschneidung war noch nicht gelöst. Die hinter der Bordwand auf der
Ducht sitzende Mannschaft geriet also aufden Dollbord. Man zeichnete was man
wußte, nicht aber was gesehen wurde. Wenn zumeist Kultszenen, Fruchtbarkeitszeremonien oder rituelles Brauchtum im Zusammenhang mit Booten aufden Felsen
graviert wurde, so können wir doch davon ausgehen, daß die Zeichnungen die
benutzten Boote jener Zeit wiedergaben. Andere Bootsdarstellungen zeigen deutlich Gestelle, die gewiß bei bestimmten Zeremonien auf den Feldern aufgebaut
worden sein könnten. Fröhliche Menschen an Bord, mit Blashörnern in den
Händen, erinnern daran, welcher Herkunft unsere Karnevalsschiffe auf den
Straßen unserer Städte sind. Gewisse Brauchtümer haben ein langes Leben.
In einer der seltenen Felsbildlagen, in der ein Felsen steil ansteigt, ist deutlich zu
erkennen, daß ein Gegenstand aufrechtstehend oder gestürzt gemeint ist. Drei
Schiffe sind in Hamnetorp übereinander abgebildet: Zuunterst das Sonnenboot mit
der Sonne und Mannschaft. Darüber ein Boot mit Mannschaft, an dessen Bug eine
phallische Gestalt steht, offenbar Sperma ausstoßend, in fast segnender Gebärde
wiedergegeben. Zuoberst aber ist ein mit nur zwei provisorischen Linien gezeichnetes "zerstörtes" Boot dargestellt, unter dessengestürztem Deck sechs Menschen mit
dem Kopfnach unten Ertrunkene deutlich machen.
Neben den Toten jedoch erkennt man eine Großkatze, ebenfalls gestürzt: tot. Es
könnte sichum einen Leopardhandeln, derinAfrika außerinWüstenüberall anzutreffenist. Oder es müßte ein Gepard aus den offenen LandschaftenAfrikas südlich
der Sahara sein. Wie dem auch sei: Diese bemitleidenswerte Mannschaft der Bronzezeit kehrte von Fernfahrt nicht zurück. Hier wurde ihnen von glücklicheren
Gefährten anderer Boote ein graviertes Erinnerungsmal geweiht.
Tanzende Mannschaft mitBirkenrinden-Hörnern. Tanum: Lycke/Bohuslän, S
Boot mit Winkelmeßbrett (?). Begby: Borge/Østfold, N
Kville: Hamnetorp, Bohuslän, S
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Boot in Paddelparade: Tanum: Bro/Bohuslän, S
In der Waldlage Bräcke bei Brastad tauchen als Unikum sanduhrähnliche Formen
auf. Vermutlich ist das eine weit verbreitete Hyperboloid-Form einer noch heute
gebräuchlichen kleinen Pauke, die einfach unter den Arm genommen wird. Aus
Bodenfunden der neolithischen mitteldeutschen Bernburger Kultur sind sie als
Tonpauken bekannt. Bei fröhlichen Festen, auch auf Schiffen, könnten sie im Bohuslän einst für rythmischen Lärm gesorgt haben. Die schlagenden Hände und
die Ergänzungen der Oben-ohne-Figuren sind dieser Bildplatte erst später hinzugekommen.
Die Zusammenführung kultureller Einflüsse des Nordens mit denen der Donauländer führte in Mitteldeutschland zu besonderen Keramikformen. Die offensichtliche Umsetzung schon vorhandener hölzerner einschaliger Hyperboloid-Pauken in Ton sind in der Walternienburger und der Bernburger Gruppe mehrfach
nachzuweisen (24). Man kann sie als zeremonielles Gerät der Schamanen ansprechen. Auch wird die Existenz dieser Pauken im Bohuslän durch einen einzelnen
Grabfund nahe Göteborg erhärtet.
Grabfund bei Göteburg, S
Brastad: Bräcke/Bohuslän, S
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Auf manchen Langbooten sieht der aufmerksame Betrachter dieselben
Laubenmit tonnenförmigem Dach, wie sie auch aufaltägyptischen Totenbooten zu
bauten
sehen sind. Uns unverständlich, sind manchmal
mit
daraufabgeSchif
fe
Bäumen
bildet. Auf den Spitzen der Zweige sitzen Vögel, die die Geister der Verstorbenen
symbolisieren. In den Schöpfungsmythen vieler Völker hat der Baum eine beherrschende Rolle. Die germanische Weltesche Yggdrasil (sehr spät erst geschichtlich
dokumentiert) verkörpert in der nordischen Mythologie den Kosmos.
Sie bildet die Brücke zwischen den Lebenden und dem Himmel sowie der Unterwelt. Seit der Jägerzeit zeigen immer noch Boote, daß sie Toten- oder Ahnenboote sind, auf dem Weg, den die Sonne in das Jenseits nimmt. In der Eisenzeit wurde es üblich, riesige
mit mehr oder weniger großen Steinen als
Schif
fssetzungen
Erinnerungsmal für hochstehende Tote zu errichten. Noch später setzte man in
der Wikingerzeit die Toten in ihren Schiffen bei.
Aufbronzenen Rasiermessern, die sicher kultischen Zwecken dienten, sind die gleichen Kufenboote wiedergegeben, jedoch in einer anderen Gravurart als der Steinmeißeltechnik. Diese Rasiermesser wurden vermutlich zur Kultischen "Reinigung"
benutzt.
Diese bronzezeitliche Formensprache ist oft verspielt und deshalb schwer zu
entschlüsseln. Daswirkt sichin derBearbeitung des Materials Bronzeweitgehender
aus alsbei der Gravur des spröden Steines. Das Felsbildbietet selten Gelegenheitzu
echter Schmuckgestaltung. Im unteren Bild spüren wir, wie dem Hersteller der
Schmuckfüllungen an dem Schiff von links nach rechts förmlich "die Puste"
ausgeht.
Jungbronzezeitliches Rasiermesser von Bremen, D
Verloren
Munkedal: Lökeberg/Bohuslän, S
Horrköping: Himmelstalund/Östergötland, S
Stjørdal: Hegra/Nord-Trøndelag, N
Prunkmesser von Goldendorf
, Krs. Harburg, D
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Seit der Eiszeit sind Garne und Netze belegt. Noch in der Steinzeit begann das
Angeln mit dem kunstvoll geformten Haken. Überraschend ist, daß schon am
Nämforsen mit der Rute geangelt wurde. Das von uns 1993 entdeckte Felsbild
(rechts) zeigt eine komische Metamorphose: Aus einem steif wiedergegebenen
Vierfüßer wurde das Anglerboot. Der Tierkopf wandelte sich zum Stevenkopf.
Die Vorderbeine waren nicht mehr wegzutäuschen. Der große gefangene Fisch
war möglicherweise zuvor als Boot beabsichtigt.
Merkwürdig ist die Ähnlichkeit der späteren bronzezeitlichen Angelszene in einer
ganz anderen Gegend Skandinaviens an der Westküste. Auch dort hatjeweils der
rückwärtige Angler zwei Angelruten gesetzt. Aufdem gleichen Ortsfels sind flach
einige Oben-ohne Figuren auszumachen, die selbstverständlich nicht zur Angelszene gehören. Sie sind älter.
Kville: Södra Odsmål/Bohuslän, S
Hatten wir in der Jägerperiode das
mit dem Knebel beobachtet, so haben
Angeln
wir jetzt das Angeln mit dem aus Geweih gefertigten Haken vor Augen. Zwei
kleinste Rindenboote, ebenfalls mit Kufen versehen, tragen jeweils zwei Angler.
An den ausgeworfenen Schnüren sind die Haken mit dem Köder zu erkennen und
auch die Beute, der Fisch. In vielen skandinavischen Museen sind die Angelhaken
dieser frühen Perioden zu betrachten.
In Östergötland sehen wir mit einem unklar wiedergegebenen Boot ein
Wurfnetz
und im Bohuslän ist ein
abgebildet, das vermutlich im Frühjahr unter
Schleppnetz
Lurenklängen ausgeworfen wurde. Dem Anfischen im Frühling gilt gewiß auch eine
wobei ein kopulierendes Paar am Bug eines Rindenboohierogamische Szene,
tes dargestellt wurde, zu dem der Mann das erste Netz auswirft. Noch immer
scheint seit der Jägerzeit die menschliche Vereinigung ihre starke Bedeutung auf
den Nachwuchs der Tiere, einst als "Wiedergeburt" ausgewiesen, beibehalten
worden zu sein.
Näsåker, Nämforsen: Insel
Notön/Ångermanland, S
Von links nach rechts: Angelhaken aus Knochen und Geweih der
Museen von Tromsø, Stockholm, Vermland, Kopenhagen, Die ältesten
Funde beginnen links.
Näsinge: Sandåker/Bohuslän, S
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In Südost-England fand sich in 185 cm Tiefe im Schlick des Holderness-Marschlandes des Humber-Flusses ein bronzezeitliches hölzernes Modellboot. Das Boot
war wichtigstes Requisit vorzeitlicher nordischer Kulturen. Das rechtfertigt, weshalb Boote das quantitativ meist verwendete Motiv skandinavischer Felsen sind.
Rickeby: Brandskog/Uppland, S
Welcher Wassergeist, Dämon oder Meeresgott der Schiffahrt förderlich ist und offensichtlich das Boot auf seiner Schulter trägt, erkennen wir in dem größten aller
Felsbildboote, dem Brandskogschiff, 413 cm lang. Andererseits trugen Männerkleine Modellboote vermutlich in
mit herum.
Flurbegehungen
Tanum: Sotetorp/Bohuslän, S
Fund vom Marschland des Flusses Humber. Holderness GB
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Zauberfeuer in Stjørdal
An jenem Tage, als wir seitlich des kleinen Baches der Lage Leirfall die vorzüglichsten Felsbilder des Størdals auf große Papierbogen abrieben, schossen Per
Skjelstad und Arne Opheim im dichten Buschwerk in unserer Nähe einen mächtigen Bären. Und während wir auf den gletscherschliffglatten schräg hängenden
Felsflächen herumrutschten, wurden wir angesichts einer grandiosen Ansammlung verschiedenartigster bronzezeitlicher Felsbilder das miserable Gefühl nicht
los, der Bär müßte nicht unbedingt ein Einzelgänger gewesen sein.
Lange Zeit beschäftigten wir uns mit einigen ornamentalen Zeichnungen nie zuvor gesehener Art, die auf den ersten Blick den Eindruck von Schmuck machten.
Ein Motiv sah aus wie eine auf den Kopf stehende Krone. Es konnte aber mit Sicherheit keine Krone sein.
Da war es erst in Mainz im Römisch-Germanischen Zentralmuseum Olaf Höckmann, der mir den rechten Anstoß gab, dieses Objekt zu klären: Schon längst war
mir die sogenannte Balkåkratrommel bekannt, ein Bronzefundstück, das 1847 aus
einem Torfmoor bei Balkåkra in der Nähe von Ystad im schwedischen Schonen
geborgen wurde.
Die sogenannte Balkåkratrommel, ein
Sonnenreflektor.
Die gestalteteSpiegelfläche
Hohlkörper dersogenannten Balkåkratrommel als Sonnenspiegel.
Dieses schöne Stückaus der älteren Bronzezeit 1500 - 1300v. Ch., besteht aus einer
runden, schüsselförmiggetriebenen Plattevon 42 cm Durchmesser, die aufderkonkaven Seite, also dort, wo sie eingetieft wurde, poliert ist, während die konvexe
Unterseite unbearbeitet blieb. Die Platte wird von einem zylindrischen Ständerkörper getragen, der aufzehn Sonnenrädern ruht, die sogar mit Achslöchern versehen
sind. Man hat den Eindruck, als müsse dieses eigentümliche Gefährt in seiner runden Form sich immer rollend im Kreise drehen. Und das entspricht vermutlich
auch der Absicht des Gestalters.
59
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Ein völlig identischer Bronzegegenstand wurde in Haschendorf in Ungarn gefunden. Es ist anzunehmen, daß die sogenannte
aus Südeuropa über
Balkåkratrommel
die üblichen Handelswege der damaligen Zeit importiert wurde. Man weiß, daß
besonders in Ungarn ein dem Nordischen Kreis ebenbürtiger
donauländischerKulzu dieser Zeit bestand.
turkreis
Sinnlos wurde dieses Bronzeobjekt als Trommel, dann aber auch als Miniaturaltar
zu Aufnahme von Blutopfern bezeichnet. Der schwedische Wissenschaftler Henry
Freij scheint der Klärung dieser Frage am nächsten gekommen zu sein. Er erklärte
die Balkåkratrommel als einen
(25). In Stockholm wurden daraufhin
Brennspiegel
mit einem ModellVersuche angestellt. Und siehe da, die zum Hohlkörpergestaltete
runde Fläche reflektierte das Sonnenlicht so vorzüglich, daß brennbare Stoffe in
einer Entfernung von 32 cm in den Brennpunkt gehalten, in nur 10 Sekunden zu
glimmen begannen.
Stellt man sich nun einen Schamanen oder gar den Priester des Sonnenkults vor,
der in dieser von Geistern und überirdischen Wesen belebten damaligen Welt über
dem geheimnisvollen kleinen "Altar" ein Stück Zunder oder Diestelsamen sozusagen in der freien Luft übernatürlich zum Glimmen brachte, um damit das "heilige
Feuer" zu entzünden.... welch‘ mächtiger Mann muß er gewesen sein! Wir wissen
vom
, das später in der geschichtlich germanischen Zeit alle acht Jahre
Neujahrsfest
inUppsalagefeiertwurde, um die Sonne-Mond-Zeitrechnung mitihrenTückenund
Lücken wieder ins Reine zu bringen. Wäre es so abwegig, anzunehmen, die Sonne
selbst hätte das Neufeuer über einem heiligen Spiegel entzündet?
Vermutlich ein Sonnenreflektor. Sjørdal: Leirfall/Nord-Trøndelag, N
Der ganze zylindrische Körper ist mit kreisrunden, regelmäßig verteilten Durchbrüchenversehen, die anihrem Einschnittrandmit einergestrichelten Ornamentierung geschmückt sind. Es ist denkbar, daß damit ebenfalls Himmelskörpergemeint
sind.
Schwer deutbare Strukturen.
Stjørdal: Leirfall/Nord-Trøndelag, N
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Zurück zu unserer kopfstehenden Krone die keine ist: Hier am Leirfall war ein
ähnlicher Hohlspiegel als Felsbild dargestellt, einmal in Seitenansicht, dann wieder in Aufsicht. Wenn geahnt wird, was der Sinn des Felsbildes sein könnte, bekommen die naiven Steinritzungen Leben. Hat dieser Zauberspiegel offensichtlich
eine Oberfläche aus fünf konzentrischen Kreisen, von denen vier Lichtstrahlen
auszugehen scheinen, so weckt ein ähnliches, schwer erklärendes Felsbild, unmittelbar daneben unsere Aufmerksamkeit: Oben ist ein kammartiger Gegenstand
mit Handgriff abgebildet und darunter sieben bzw. acht nicht geschlossene konzentrische Linien, die so wirken wie die zeitüblichen mit einem Kammzug in ungebrannten Ton gezogenen Kreisformen, die die Sonne selbst bedeuteten. Keramik dieser Art ist in Skandinavien bekannt.
Rad und Wagen
War das erste Boot eine Erfindung der Jäger und Sammler gewesen, so wurde der
Wagen von Hirten vielleicht auch Pflanzern aus der Lastenschleife entwickelt
(20b). Noch immer ist es archäologisch nicht ausgestanden, ob der Wagen einmalig bei den Sumerern oder parallel dazu erstaunlicherweise auch im europäischen
Norden entwickelt wurde (26).
Der Sonnengott selbst, so möchte der naive Betrachter meinen, hat bei der Felsbildlage Leirfall im Stjørdal Norwegens seine Zeichen hinterlassen. Wiederholt
sahen wir anderswo seine Fußstapfen auf den Felsen. Hier sind es die Sandalen
mit dem unter dem Fuß hindurchgeführten Binderiemen. Zwei nebeneinander gestellte Sandalen ergeben eine bekannte Form: Das ist das nicht ganz zentrierte
sogenannte "Sonnenrad". Dieselben bemerkenswerten Kombinationen fanden wir,
Jahre zuvor, schon bei Enköping im Uppland.
Wie immer diese neue technische Erfindung sich einer erstaunten Menschheit
präsentierte, sie fand sogleich den Eingang in Ritus und Kult. Das Rumpeln des
Rades auf dem felsigen Untergrund wird die Veranlassung gewesen sein, einem
uns namentlich unbekannten Fruchtbarkeitsgott zum Herrn des Donners werden
zu lassen, der den fruchtbarkeitsfördernden Regen brachte. Sehr viel später wurde
der nordgermanische Gott Thor der "Besitzer des Wagens".
Stjørdal:Leirfall/Nord-Trøndelag, N
Tanum: Vitlycke/Bohuslän, S
Anschauliche Bilder geben heute noch Kunde vom Leben in einer Zeit, die infolge fehlender schriftlicher Zeugnisse als geschichtslos bezeichnet wird. Wir können nur ahnen, welche unglaublichen geistigen Leistungen damals möglich waren.
Nur ein Bruchteil von alledem wird vermutlich dem Felsen anvertraut worden
sein.
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Åska der Donner bedeutet in "gudens åkning" das Fahren des Gottes. Es ist möglich, daß Kultwagen den Donner nachahmen sollten, um damit den fruchtbarkeitbringenden Regen herbeizurufen. Erste Wagen wurden mit Scheibenrädern
ausgerüstet, die oft auf den Felsbildern einfach durch Schalengruben dargestellt
wurden.
Den zweirädrigen Wagen ist ihre Herkunft von der Schleife anzusehen, da sie ein
Chassis in gegabelter Form beibehielten. Wenn zwei derartige zweirädrige Karren
aneinander gehängt wurden, entstand bereits ein vierrädriger Wagen. Es wäre
wohl naheliegend gewesen, daraus ein lenkbares Fahrzeug zu entwickeln.
Askum: Rished/Bohuslän, S
Tanum: Litsleby-Utmark/Bohuslän, S
Jungsteinzeitliches Scheibenrad, C-14-Datierung = um 2800 v. Chr.
Ältestes RadNordeuropas/DK. Nach Hans Rostholm
Jedoch schienen nicht nurin Skandinavien, sondern auch aufdem Kontinent sämtliche vierrädrigen Wagen starr und ohne Lenkung gewesen zu sein. Die Straßenstücke waren einst entweder kurz oder schlecht. Das trug nicht dazu bei, daß dem
Wagen als Transportmittel frühzeitig eine große Rolle zukam. Er war vorerst wohl
nur ein Statussymbol der Vermögenden und Höhergestellten.
Kivik: Königsgrab/Schonen, S
Auf den Stelen des Steinkistengrabes von Kivik in Schonen wurde unter anderem
auch der tote König aufseinem Streitwagen gezeigt, der - ins Jenseits dem Sonnenweg folgend - selbstverständlich mit "Sonnenrädern" ausgestattet war. Trotz der
schon etwas fortschrittlicheren Gestaltungsart gehen die Zügel nicht perspektivisch
über den Kopfhinweg, sondern rings um ihn herum.
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Hatten alle Schöpfer der Felsbilder Wagen und Pferde in Planprojektion durch
Abwicklung dargestellt, da war man sich nicht darin einig, ob die Zugtiere mit
den Beinen zur Deichsel hin oder nach außen darzustellen waren. So kam es dazu, daß Pferde zuerst mit den Beinen nach außen, dann aber korrigierend nochmal mit den Beinen auf dem Rücken, ausgestattet wurden. Mit diesen achtbeinigen Pferden warjedoch nicht etwa Odins Roß gemeint.
Gryt: Frenarp/Schonen. SFoto: Verfasser
Zeitgemäßes Speichenrad
Bei Frennarp in Schonen sind 12 zweirädrige Streit- und Rennwagen in den langgestreckten Felsen graviert. Sie alle tragen vierspeichige Räder, das zeitweilige
Symbol der Sonne. Da vor dem Felsen des Waldhügels eine weite, offenbar früher
einmal planierte Fläche liegt, wird nicht auszuschließen sein, daß einst ein langgestreckter "Kursus" zu kultischen Rennen im Sinne der Sonnenlaufbahn benutzt
wurde. Jedenfalls sind alle Rennwagen des Felsens von Frennarp zu einem Gruppenbild aufgereiht worden.
Gryt: Frenarp/Schonen, S
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Wie gesagt, ist neben dem Hirsch auch das Pferd ein Sonnentier. Der
Sonnenwaauf dem dänischen Seeland gefunden, ist die größte und auch
gen von Trondholm
schönste Skulptur, die aus der nordischen Bronzezeit erhalten blieb. Der Wagen
gehört der älteren Bronzezeit an. Er ist insgesamt 60 cm lang, das Pferd allein 30
cm. Die mit reich ornamentierten Goldblech bedeckte Bronzescheibe ruht auf
dem zweirädrigen Wagen. Das Pferd wurde über einen Tonkern gegossen. Leider
sind die Räder teilweise nur noch in Bruchstücken erhalten geblieben. Selbst die
kleineren nordischen Skulpturen wurden von den Menschen des Nordens derartig
verehrt, daß sie niemals in Gräbern, sondern immer als einzelne Opferfunde geborgen wurden.
Das Pferd ist in der feudalistischen nordischen Bronzezeit Zugtier der Vermögenden gewesen. Erstes Zugtier vor dem Wagen war das ruhigere Rind. Es ging im
Joch, ehe die spezifischere Einschirrung erfunden wurde. So waren die ersten
Pferdewagen Statussymbol der Begüterten. Wie wir sahen, wurden sie bevorzugt
auch zum Wagenrennen eingesetzt, die möglicherweise kultische Bedeutung
im Sinne des Sonnenumlaufs hatten. Erstaunlicherweise wurde das nordische Pferd durchweg erst in der Eisenzeit geritten.
Eine bekannte Felsgravur von Backa-Disåsen scheint neben dem Sonnenhirsch
und vielleicht den nackten Füßen des Sonnengottes auch einen kultischen Sonnenwagen darzustellen, ein Stück, von dem uns leider nur dieses Felsbild Kunde
gibt.
Brastad: Backa-Disåsen/Bohuslän, S
Fundstück Sonnenwagen. Seeland: Trundholm, DK 14.-13. Jh. v. Chr.
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Das Analogie-Denken der Vorzeit ging so weit, daß die Stangen und Sprossen des
Hirschgeweihs mit den Strahlen der Sonne verglichen wurden. Der Hirsch als
Sonnentier war also in der Lage, die Sonne über den Himmel zu ziehen. Bei dem
Felsbild von Balken, das an den eurasiatischen Tierstil erinnert, ist die Sonnenscheibe sogar Bestandteil des Geweihs.
Dieses einmalige mythische Tier ist weder Hirsch noch Pferd. Es trägt einen ungewöhnlichen dreigeteilten Schwanz. Die Drei hängt ethnologisch oft mit dem Totenbrauchtum zusammen. Sollte hier, wie in der ägyptischen Kunst, das Sterben
und die ewige Wiedergeburt der Sonne der Sinn des Motivs sein? Bei KallebyLongemyr tragen drei phallische Männer ein großes vierspeichiges Radkreuz, als
würde es im Umzug präsentiert. Direkt darunter sind zwei nackte Füße in den
Stein graviert. Sind es die Fußstapfen des unsichtbaren Sonnengottes, dem auch
das sogenannte "Sonnenrad" zugeordnet war?
Brastad: Backa-Disåsen/Bohuslän, S
Tanum: Balken/Bohuslän, S
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Öster-Eneby: Ekenberg/Östergötland, S
Das gleiche Kreuz fristet in den katholischen Kirchen als Weihekreuz sein heidnisches Leben. Es ist kontinentüberschreitend weltweit zu finden, Heiligkeits-glyphe,
die als Kreuznimbus hinter dem Kopf Christi das ganze Mittelalter hindurch
Bestandhatte. Als Diagramm einergöttlichen Zeit- und Raumteilung zeigt dasWeltenrad immer nur die vier Kardinalrichtungen Norden und Süden, Osten und
Westen. Es muß so alt sein, daß auch die Indianer dieses Wissen mit in den neuen
Kontinent brachten.
Tanum: Kalleby-Longemyr/Bohuslän, S
Leiderwird daswunderbare in den Felsengravierte Standkreuzmit dem Sonnenrad
in keltisch-irischer Tradition wenig gewürdigt. Als ich vor 30 Jahren das Felsbild
erstmals auf Papier abrieb, entdeckte ich, daß die Kreuzform mit drei konzentrischen Kreisennicht denganzenBildinhalt erfaßte. Derinnere Kreisbesteht aus den
beidenArmen eines phallischen Mannes, dessen Kopfund Hals, Körperund linkes
Bein den senkrechtenHolm, dann ein Speer, dervon denArmengehaltenwird, den
horizontalen Kreuzholm ergibt.
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Derinnere Kreis istvor demPhallus nichtganzgeschlossen. In derMitte des Kreuzständers geht eine Linie nachunten, die in einemTierfuß endet -willman diebisher
anerkannte Interpretation (27) früher Kultstäbe gelten lassen.
Der Oben-ohne-Stil
Es ist merkwürdig, daß die meisten Felsbildforscher die oft auffällig unterschiedlichen prähistorischen Gravuren eines gletschergeschliffenen Ortsfels als einheitliche Komposition und die dicht beieinander stehenden Motive als Szene betrachten. Mir liegen etliche Beschreibungen vor, die in dem ikonographischen Beieinanderstehenvieler Sujets gewisse Lösungen einesvorgeschichtlichen Problems zu finden glauben. Dabei spielen angebliche astronomische Erkenntnisse, die man zu
entschlüsseln angibt, einebeliebte Rolle. In Bezug aufoffen zutage liegende skandinavische Felsgravuren kann nicht genug vor "Schreibtischtätern" gewarnt werden,
diejene Objekte, über die sie schreiben, nie vor Ort gesehen haben. Sonst wäre es
ihnen gewiß aufgefallen, daß diese Motivgruppen ihrer angenommenen Komposition aus unterschiedlichen Gestaltungsperioden stammen, ja oft sogar stilistisch
viele Jahrhunderte auseinander einzuordnen sind. Das trifft auch aufPalimpseste
zu, also einander deckende Zeichnungen. Eigentümlich ist auch, daß selbst Forscher, die sich schon Jahrelang mit Felsbildern beschäftigen, übersehen, daß sogar
Einzelmotive nicht immer aus "einer" Hand stammen. Vielfach gibt es Figuren, die
erst in späteren Stilepochen vervollständigt, ergänzt oder in ihrem Sinngehalt total
verändert worden sind.
Brastad: Backa-Disåsen/Bohuslän, S
Als Beispielmöchteich eine Gestaltzeigen, diejedervonuns, soweit er sich einmal
mit den Felsgravuren im westschwedischen Bohuslän nördlich Göteborg befaßte,
ganz sicher kennt -jedoch nichtunter demAspekt, den ich seitJahrzehntenverfolge: Es ist ein menschlicher Körperteil, der ursprünglich nur aus dem Unterleib
bestand; BeineundUnterbauchbis zumRippenansatz. Daßursprünglich der Oberkörper,Kopfund Arme fehlten, fällt durch den Umstand nicht auf, daß diese Teile
aus andererHandin spätererZeit-und Stilepoche ergänztwurden. Und eben dieser
Umstand macht diese Merkwürdigkeit unter den Felsbildern deutlich.
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Besonders die Beine, mit sich bis zum Knie verjüngendem Oberschenkel und überbetont konvexenWaden, sowie viel zu kleinen, oft mit abgespreitzten Hackenversehenen Füßen kennzeichnen diese "absichtlich unvollendeten" Figuren.
Es macht denEindruck, daß die Darstellungmit denBeinenbegonnenwurde - oder
daß die Beine das Motiv schlechthin sind, denn oftmals findetman sie einzeln oder
im Paar alleinstehend.
DerkastenförmigunbeholfenviereckigaufgesetzteBauchtrennt sichmanchmalvon
den Beinen durch einenviel zutiefgezeichneten, negativim Stein stehengelassenen
Gürtel, in dessen Mitte hin und wieder, fast im "Schritt", eine kleine Schalengrube
wie eine Gürtelschließe steht.
Diese kleine rundeVertiefung kann aber auch, wenn Felsbildervon Frauengestalten
oder Kühe zum Vergleich herangezogen werden, die Weiblichkeit symbolisieren.
Doch die bronzezeitlichen Bauern müssen beim späteren Ergänzen dieser Torsi
stets das Gefühl gehabt haben, einen Männerkörper zu ergänzen.
DieVervollständigung derUnterkörperzeigt durchweg Speerträger, Bogenschützen,
Lurenbläser oder Männer bei der Kopulation. Der in der ursprünglichen en-faceDarstellung fehlende Penis wurde ihm meist einfach an die Hüfte graviert, um die
Erektion wiedergeben zu können. Bei den oft gezeigten Koitusszenen von
Tanum/Varlös ist deutlich zu sehen, daß der ergänzende Graveur bemüht war, die
Vorbilder der gewölbten Beine bei dem neu eingeschlagenen Frauenkörper nachzuahmen.
Tanum: Vitlycke/Bohuslän, S
Es gibt in Bohuslän, im Gebiet um Tanum eine große Anzahl derartiger Beispiele,
weiterhin bei Kville, aber auch in ferneren Gegenden Skandinaviens wie Östergötland und im Nord-Trondelag. Mir sind weit über 300 Figuren bekannt, die - von
wenigen Ausnahmen abgesehen - flächig angelegt sind, obgleich andere bronzezeitliche Spezies meist einem linearen Stil zugehören (28).
Tanum: Kalleby-Longemyr/Bohuslän, S
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Meine Arbeitsmanier beim Abreiben aufPapier mit Chlorophyll und Carbon weist
deutlich aus, daß der Hals, Penis und Arme in anderer Gravurart dem Männerkörper angesetzt wurden. In den meisten Fällen wurde dabei der Kopfeinfach aufden
vorgefundenen Bauch gesetzt.
Dadurch kommt oft eine recht gedrungene Gestalt zustande. Die Differenzierung
der beiden Einhiebarten ist fast immer auffallend. Die üblichen Nachzeichnungen
der Felsbilder oder Fotos zeigen derartige Feinheiten natürlich nicht.
Gerade deswegen halte ich die Feinheiten der ermittelten Details für wichtig und
aussagekräftig. Man sollte sie nie übersehen, sonst geht der Dokumentwert eines
Felsbildes verloren.
Jahrelang suchte ich nach dem Sinn und der Quelle derartiger Darstellungen. Bei
unserer umfassenden Suche nach europäischen Felsbildern fand sich am Roccia
delle Griselle am Gardasee ebenfalls ein alleinstehender Unterleib mit betontem
Phallos. Die Zeichnungwarjedoch in einem anderen Stil als in Bohuslän. Lediglich
im schamanistischen Mythos findet sich ein offenbarrecht archaischerHinweis aus
dem unterirdischen Reich bei einigen sibirischen Tatarenstämmen.
Georg Nioradze (29) gibt wieder: "Die Geister der Gestorbenen", die ins unterirdische Reich gehen, sehen Szenen und Vorgänge, die alle eine moralische Folgerung
haben. Unter anderem:
Tanum: Kalleby-Hagarna/Bohuslän, S
Torri delBenaco: Roccia delle Griselle/Gardasee, I
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"In einem Fluß ist das Wasser an einer Stelle durch einen halben Menschenleib
abgestaut, während an anderer Stelle eine Abstauung nicht einmal durch eine
Menge ganzer Menschenleiber erreicht werden kann. Der halbe Menschenleib
gehörte einem weisen Menschen, der es verstanden hatte, Flüsse zu stauen und der
alles auszuführen vermochte, was er sich vorgenommen hatte. Den Vorübergehenden soll der halbe Leib vor Augen führen, daß ein weiser Mensch, selbst seiner
Gliedmaßen beraubt, durch seinen Geist und Verstand weiterwirken kann. Vielen
anderen Menschenleiber, die es nicht vermögen, das Wasser im Flusse zu stauen,
sollen veranschaulichen, daß allein mit physischer Kraft nichts zu erreichen ist".
Weit davon entfernt, anzunehem, daß hier einZusammenhangmit dem Oben-ohneStil des Bohuslän gegeben sein könnte, möchte ich nur zu erkennen geben, wie weit
die archaische Symbolik in uns ungewohnten Kategorien zu gehen instande war.
Sollten die dargestellten Unterleiber einem ähnlichen Sinn gedient haben? Wir
haben es schwer, das zu entschlüsseln.
Sucht man etwa bei den Grabsitten nach derartigen halben Skeletten, dann muß
viel Geduld aufgebrachtwerden. Lediglich bei Alexander Häusler (30) stieß ich auf
den Bericht über die Beisetzung eines männlichen Unterleibs im Grab Nr. 19 des
Gräberfeldes Vasil‘evka I im Sinel‘nikovsker Rayon des Gebietes Dnepropetrovsk.
Hogdal: Torp/Bohuslän, S
Tanum: Underslös/Bohuslän, S
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Der durch seine vergleichende Felsbildforschung weithin bekannte Lothar Wanke
aus Graz schrieb mir bereits 1991 zum Oben-ohne-Stil, daß er mich auf die homologe, von Zeit und Raum unabhängige "Ursprache" der Menschheit aufmerksam machen wollte. Wanke erklärt: "Wenn die Beziehungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos für die Bronzezeit noch stimmen, dann bedeutet nach
schamanistischem Urbild der Oberkörper des Menschen den himmlischen Aspekt
und der Unterteil den unterirdischen." Das würde also dem verbreiteten Symbol
des Weltbaumes ähnlich sein, dessen Krone dem Himmelreich und dessen Wurzelstock dem unterirdischen Reich entspricht.
Brastad: Backa-Disåsen/Bohuslän, S
Weiterhin vermerkt Häusler, daß im gleichen Bezirk nahe bei Mar‘ivskoe bei fünfzehnin Strecklage aufgefundenen Skeletten dreizehn ohneUnterleib beigesetztworden waren. Außerdem fehlten Arme, Schulter- und Schlüsselbeine. Die Schädel
waren sämtlich zertrümmert. Amvollständigstenwaren die zweirestlichen Skelette;
es waren weibliche. In der Felsbildlage Disåsen bei Brastad im südlichen Bohuslän
sind ähnlich diesen Grabfunden flächig gravierte Oberkörper denwiedergegebenen
Booten aufgesetzt und durch einen deutlichen Abstand als Torsi ausgewiesen worden.
Wie zu sehen ist, wurden alle Recherchen bisher nicht soweit fündig, daß der Sinn
der kultischen Zeichnungen zu erahnen wäre. Allein eines scheint festzustehen:
Diese Unterleibsdarstellungen sind keinesfalls unvollendete Zeichnungen oder gar
eine spielerische lokale Maniriertheit. Sie fallen dem unvoreingenommenen
Betrachternur deshalb nicht auf, weil sie fastimmernachhermit einem Oberkörper
ergänzt wurden.
Kville: Kallsängen/Bohuslän, S
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LotharWanke macht sodann aber auch aufdievielen anthropomorphen Figuren in
aller Welt aufmerksam, die mit Radkreisen oder konzentrischen Kreisen den Kopf
ersetzen, oftmals auch den Leib, seltener die Beine. Der Gedankenhintergrund sei
dann am Kopf das Himmelreich, am Leib das Reich der Mitte und an den Beinen
das Unterreich.
Diese Gedankenbilder würden also die nicht sichtbare kosmische Welt mit realen
Mitteln zeigen und könnten kaum anders verstanden werden.
Neue Kulturgüter, neue Sitten und neue Vorstellungen entstehen selten aus dem
Nichts. Sie sind also selten etwas vollständig Neues. Sie haben in der Regel eine
Entwicklung durchgemacht, sie knüpfen auf vorhandenes an. Das wird auch auf
den Oben-ohne-Stil zutreffen. In alten Zeiten dachten die Menschen anschaulich:
Sie dachten in Bildern.
Tanum: Fossum/Bohusläan, S
Tanum: Kalleby-Longemyr/Bohuslän, S
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Riesen undfliegende
Menschen
Die Felsbilder zeigen immer wieder in Prozessionen mitgeführte Riesen, die als
Gefangene gefesselt sind. In Vitlycke erkennt man die Konstruktion des künstlich
hergestelltenundvon Menschen getragenen Riesen, wie sie auch heute nochunsere
Umzüge bereichern. In der Felsbildlage Leirfall im Stjørdal des Nord-Trøndelag
wird die Einmaligkeit geboten, daß mit etwas Abstand auch Frauen an einem solchen Umzug teilnehmen. Die kultische Welt der Felsbilder war tatsächlich eine
Männerwelt.
Im Sinne des Rang-Größe-Prinzips sind selbstverständlich auch die Hilfsgeister,
Dämonen und Götter dem Menschen an Größe überlegen. Felsbilder zeigen hunderte solcher Beispiele an Land und auch aufden Schiffen.
Die erst 2000Jahre späterniedergeschriebene Eddaberichtetvon Göttern, die stets
mit Riesen in Konflikt waren. Das Riesengeschlecht wurde also an Körpergröße
gigantischer beschrieben als die Götter. Wo bleibt da das Rang-Größe-Prinzip? Es
fälltwirklich schwer, zubestimmen, ob es sichbei einergroßen Figurunter den Felsbildern um einen Riesen, um einen Gott oder einen hochrangigen Menschen handeln sollte.
Tanum: Vitlycke/Bohuslän, S
Das was aus Mythos und Kult derVorgeschichte Skandinaviens übrig geblieben ist,
spiegelt sich wider in einem reichen Sagenschatz, in Märchen und Erzählungen.
Zumeist sind die wilden, nicht sehr einheitlich geschilderten Trolle von riesiger
GestaltimVordergrund. In Skandinavienwirken die Berge höher als anderswo, weil
sie vom Meeresniveau bis zur Spitze zu übersehen sind. Die Weite einer Vidda
erschlägt den Betrachter förmlich und die Wolkenlandschaft ist wahrlich gewaltig.
Genauso unmäßig und kolossal beeindruckt jedes Unwetter hier die Menschen.
Gewiß lag es nahe, Unwetter, Sturm und Frostgeschehen in der Gestalt von Riesen
zu personifizieren (31). Die Jotun waren bösartige Riesen, Fresser, wenn nicht gar
Menschenfresser. Der DichterAsmund O. Vinje prägte 1862 den romantisierenden
Namen
für Skandinaviens höchsten Gebirgsstock, der 1820 erst"Jotunheimen"
mals überquert wurde.
Wenn der Begriff "Troll" eine Kollektivbezeichnung für übernatürliche Wesen der
bewohntenWeltist, so sindunterWasser die Meertrollemit 3, 6 oder sogar 12 Köpfen nicht weniger gefährlich (23b). Der Herr oder die Mutter der Tiere wurden
ebenfalls unter Wasser vorgestellt. Die Felsbilder weisen sie gleichfalls riesenhaft
aus. Der Unterwelt entstammt das nicht minder bedrohliche Huldrefolk oder in
Schweden dieVättar. Sie sind Schreckensgestalten, Dunkelwesen im Sinne des Animatismus einer total belebten Welt.
Rechte Seite oben: Stjørdal: Leirfall/Nord-Trøndelag, N
Rechte Seite unten: Öster-Eneby: Ekenberg/Östergötland, S
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Tanum: Vitlycke/Bohuslän, S
Rechte Seite oben:
Tanum: Litsleby/Bohuslän, S.
Foto: Wolfgang Klein
Rechte Seite unten:
Tanum: Kyrkoryt Lövåsen/Bohuslän, S
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In der Feldmark von Lilla Gerum im Bohuslän bei Tanum ist zwischen 1000 und
750 v. Ch. auf einer großflächigen Felsplatte inmitten von 74 vielfältigen anderen
Motiven ein einzigartiger
eingraviert worden. Er wurde von bekannten
Kultbaum
Felsbildforschern als "Maistange" bezeichnet. Das trifft seinen wahren Wert jedoch gar nicht. Es ist ein langer Mast mit einer Plattform auf seiner Spitze, die
von einem gehörnten Mann mit erhobenen Armen eingenommen wird.
Was den offensichtlichen Kultbaum zum Unikum macht, sind drei an langen Seilen in verschiedenen Haltungen herabschleudernde Männer. Sie werden durch die
Zentrifugalkraft der sich abwickelnden Seile weit nach außen geschwungen. Am
Fuß des Baumes sind dieselben vier Männer oder aber eine Ersatzmannschaft
dargestellt. Erst jetzt, nach der überstandenen 500-Jahrfeier der Überfahrt des
Nachzüglers Kolumbus nach Amerika, wage ich meine Hypothese zu äußern:
Dieser einzigartige, unverwechselbare Kultbaum könnte ursprünglich aus Mittelamerika stammen. In Mexiko, Guatemala und Nicaragua ist er heute unter Bezeichnung "Baum der
als Volksbelustigung in Gebrauch.
Voladores"
Glücklicherweise beschrieb der tolerante Jesuitenpater Clavijero noch rechtzeitig
die alte kultische Tradition der damit zusammenhängenden Zeremonie (32), die
verbreitet mit vier Seilen, in Guatemala aber auch in einer älteren Form mit drei
Seilen ausgeführt wurde. Die Anzahl der Voladores (fliegenden Männer) wie auch
die Summe der Seilumwindungen ergabenjeweils eine bestimmte Zahl, die in den
indianischen Zyklen eine große Rolle spielte und sozusagen die Jahre eines Menschenlebens widerspiegelte.Es ist kaum anzunehmen, daß indianische Boote die
Kenntnis dieser Zeremonie des Kultbaumes nach Skandinavien brachten. Möglicherweise könnten Nordleute der Bronzezeit ohne bestimmte Absicht mit ihren
schnellen Booten an den Kanarischen Inseln vorbei, durch den Nordäquatorialstrom und die entsprechenden Winde getrieben, zu den Antillen und weiter in den
Golfvon Mexiko gelangt sein. Wie anders ließen sich die vielen in Mittelamerika
aufgefundenen Terrakotta-Köpfchen erklären, die bärtigen Gesichter mit der typischen bronzezeitlichen skandinavischen Mütze zeigen?
Baum der Voladores heute: Nur eine
lange Stange ca. 14-16m hoch
Felsbild von Tanum:
Lilla Gerum/Bohuslän, S
Totonaken-Zeichnung,
Huaxteca/Mexiko
Die Rückfahrt durch den Golfstrom müßte dann zwangsläufig gewesen sein, programmiert von Passatwinden und stabilen Meeresströmungen (33). Das Felsbild
von Lilla Gerum scheint ein Indiz für die Rückkehr skandinavischer Seeleute aus
Mittelamerika zur Bronzezeit zu sein, ein seltenes Erinnerungsmal für eine kenntnisreiche und doch verwegene Fernfahrt.
Baum der Voladores vor der Stufenpyramide
El Tajin, Vera Cruz;
(365Nischen-Pyramide) in Mexiko.
Totonaken Kultur
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Ein furchtbares Durcheinander von Motiven! Wo ist oben, wo ist unten? Der Betrachter dieses Buches dreht es hin und her. Draußen in der Natur, unter freiem
Himmel, auf dem Felsen stellt sich die Frage kaum. Dieser gewachsene Felsen ist
als Medium total flach. In der Eiszeit gingen die schweren Gletschermassen aus
Firneis über die Steinflächen, schoben, scheuerten und polierten. Von welcher
Seite derjenige auch kam, der ein Bild gravieren wollte: Unten war immer genau
vor seinen Knien, von welcher Seite er auch kam.
Dennoch bleibt das Rätsel vieler Bilder bestehen. Wir erkennen zwar Boote mit
Mannstrichen darauf, sehen wenige menschliche Figuren, Fußsohlen, Gitternetz
und Schalengruben. Aber es bleiben immer noch Motive, die wir nicht entschlüsseln können.
Sind hier die Boote zu sehen, welche die Nordmänner zu den "fliegenden" Indianern Mittelamerikas brachten? Stellen einige der geheimnisvollen Zeichen etwa
Hilfsmittel dar zur Ermittlung des rechten Bootskurses aufdem Atlantik? Wie sah
die oft erwähnte aber in der Form unbekannte Solskifu (Sonnenscheibe) aus?
Fundstücke bärtigerMänner in Mexiko
Skee: Massleberg/Bohuslän, S
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Ritus und Kult
Manches alte Brauchtum, das auf dem europäischen Kontinent längst vergessen
wurde, konnte sich in der schwer zugänglichen skandinavischen Landschaft erhalten. Es fällt schwer, ein eigenes Kapitel über Ritus und Kult zu schreiben, denn
in der Vorzeit sind die Felsbilder des Nordens insgesamt kultisch gemeint. Selbst
Dinge und Vorgänge, die ein Unbefangener als profan bezeichnen würde, haben
bei genauer Analyse einen rituellen oder kultischen Hintergrund. Goethe schrieb
1814 dem Gelehrten Riemer: "Die Inventa des Altertums sind alle Glaubenssachen".
Der
dient als beispielhaftes Vorbild für alles "Tun", sagt
kosmogonische Mythus
Eliade (34). Denn die symbolische Wiederholung der Schöpfung in allen Einzelheiten, also auch der Kopulation, bewirkt ein Wiederlebendigwerden des ursprünglichen Ereignisses. Die Rückkehr zum Anfang ermöglicht eine Reaktivierung der heiligen Kräfte, die sich damals zum erstenmal kundtaten. So wurde die
Hierogamie als magisch-religiöser Brauch verstanden, der real oder symbolisch
seit prähistorischen Zeiten über die gesamte Erde verbreitet war.
ist als eine repetierte Kosmogonie zu verstehen: Durch GeschlechtsHierogamie
verkehr - so glaubte man - seien einst die Welt und das Leben der Götter und
Menschen erschaffen worden. Daraus wurde geschlossen, daß nur durch regelmäßig kultisch wiederholten Einsatz der Kopulation die Welt und das Leben existent
erhalten werden könnte (35). Nicht Merkmal lüsterner Begierde, als vielmehr
Funktion im Rahmen kosmologischer Vorstellungen zur Sicherung der Erdfruchtbarkeit. So wurde der Geschlechtsverkehr zum Sakrament, mit dem Einsatz zwischen Stirb und Werde, Leben und Tod.
Das Bestreben, Energien seelischer oder dämonischer Art dadurch zu binden,
daß den Toten Wohnungen angewiesen wurden, sie gleichsam mit Körpern auszustatten, die ihnen fehlten, findet seine ikonographische Bestätigung in den Felsbildern Skandinaviens. Die Lebenden sprachen mit den Toten, baten um ihre Hilfe
und brachten ihnen Opfer. Als dauerhafter Beweis werden die geopferten Gegenstände in die Felsen graviert: Waffen wie Speere, Kampfäxte und Schwerter und
Toga-ähnliche Männermäntel, die über der rechten Schulter befestigt wurden, um
den Schwertarm freizulassen (36). Der sogenannte "Gerumsmantel" war bei Gerum im Västergötland als Opfergabe im Moor versenkt. Er war deshalb so gut erhalten. Wie Löcher im Stoff zeigten, war sein Träger mit einem Schwert oder
Dolch erstochen worden. Nach diesem tragischen Vorfall wurde der zusammengefaltete Mantel geopfert...vielleicht um die Götter zu besänftigen.
Prozessionen werden veranstaltet und vieles dreht sich um die erwünschte Fruchtbarkeit, für die offenbar die Ahnen zuständig waren. Ein Geisterreich wird angenommen, das immer noch eng mit der körperlich-sinnlichen Welt der Zurückgebliebenen verbunden bleibt. So kommt es seit dem Neolithikum zu einem Vorherrschen des
der in den Felsbildern seinen Niederschlag findet.
Ahnenkultes,
Das in den Stein geritzte Bild ist Medium einer Ansprache an die Vorfahren oder
an höhere Wesen, Schrift einer schriftlosen Zeit: der Prähistorie.
Uralte Anschauungen der Jäger und Sammler tauchen in der Periode erster Bauern fast unverändert wieder auf. Das kosmologische System sieht noch immer eine Herkunft der Menschen vom
vor. Das wirkt sich - für uns heutige
Partner Tier
unverständlich - dahin aus, daß selbst in der Bauernzeit noch eine zoophile Verbindung zwischen Mensch und Tier nicht ausgeschlossen wurde.
Rickeby: Boglösa/Uppland, S
Kville: Kallsängen/Bohuslän, S
Tanum: Hoghem/Bohuslän, S
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Wie aus dem Sonnenkult ersichtlich, hat in der bäuerlichen Vorzeit "
Werden und
und damit auch die Wiedergeburt eine große Rolle gespielt. Es war
Vergehen"
trostreich zu wissen, daß die am Abend sterbende Sonne an jedem Morgen wiedergeboren würde. So erscheint die Sonne denn in mancherlei Form, besonders
aber als große Sommersonne und kleine Wintersonne.
Noch ein altes Motiv wurde, wie ich feststellte, von der Zeit der Jäger und Sammler in die Bauernzeit übergeführt: Im Zusammenhang mit dem Boot, der Bumerang, einzeln, aber bemerkenswerterweise immer wieder in dem mythischen Paar.
So ist anzunehmen, daß er weiterhin ein
blieb, das mit
"Kultholz der Wiederkehr"
der Wiedergeburt zu tun hatte. Auch der Hammer Mjöllnir des späteren nordgermanischen Gottes Thor förderte die Fruchtbarkeit - besonders der Frauen. Die
nordische Göttersage der Edda berichtet, daß Mjöllnir, vom Thor abgeworfen,
stets in die Hand Gottes zurückkam.
Brastad: Backa/Bohuslän, S
Die Zoophilie ist nicht mit der biblischen Sodomie zu erklären, hat doch das
Christentum bis aufdie heutigen Tage überhaupt kein rechtes Verhältnis zum Tier
gefunden.
Die große Anzahl der
Männerdarstellungen der skandinavischen
ithyphallischen
Bronzezeit sind Ausdruck des seelischen, mythischen und religiösen Lebens der
Vorzeit. Der Phallus galt als Sitz und Quelle des Lebens, ja als Inbegriff des Lebens überhaupt. Durch die Einbeziehung des Zeugungsaktes in die Sphäre des
Heiligen, wird der Phallus im errigierten Zustand zum Symbol des Lebens (37),
das gleichzeitig die Kraft zur Abwehr des Bösen in sich birgt. Die Seele des Ahnen muß jedoch ebenfalls mit dieser zeugenden Kraft identifiziert werden, die mit
dem Tode des Vorfahren nicht vergeht, sondern weiterlebt. Begriffe wie Leben
und Tod werden in den Felsritzungen ganz einfach dokumentiert:
Alles was aufrechtstehend ist, wird lebend gedacht; alles was auf dem Kopf steht,
ist tot - denn das unterirdische Reich (nicht zu verwechseln mit der bösen christlichen Hölle), das Totenreich, ist ein Antireich. Das Himmelreich jedoch gibt dem
Erklärenden Probleme auf. So beschränkt sich der Mensch der Bronzezeit auf
symbolische Darstellungen, unter denen der Voltigierer mit "Überschlag rücklings"
zeitgleich auch im alten Ägypten, laut Mastabatext den Himmelsbogen darstellt.
Sarpsborg: Kalnes/Østfold, N
Strömstad: Mörk/Bohuslän, S
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Versteckt am Waldesrand, halb von Wurzeln hoher Bäume überfangen, fand sich
ein Felsbild, das erst der Mathematiker Wilhelm Brunner-Bosshard in Kloten,
Schweiz, mit umfassenden astronomischen Kenntnissen als Mond- und Sonnenjahrkalender auswies.
Die zwei großen Punkte im Felsbild sind 19 Felder auseinander = 19 Jahre ist
der
, nach dem wir immer noch das "bewegliche" OsterMetonsche Kalenderzyklus
fest berechnen.
Neben den offensichtlich durch intensive Beobachtungen erworbenen mathematisch-astronomischen Kenntnissen bewahrten die durchaus nicht dummen Menschen der Vorzeit jedoch aber auch unfaßbar starken Aberglauben. Diese interessante Spanne durch einen Blick in die Bilderwelt des Nordens aufzuzeigen, sehe
ich als meine Aufgabe an.
Strömstad: Mörk/Bohuslän, S
Er rechnete:
Das Jahr: 12 Vollmonde = 12 x 29,5 Tage = 354
Tage
Es fehlen aufdas Sonnenjahr: 365,25 - 354 = 11,25 Tage
Felsbild innerer Kreis = 11 Felder
zweiter Kreis
= 23 Felder
34 Tage
3 x 11,25
= 33,75
Fehler
0,25 Tage in 3 Jahren
Sprung-Zeremonie mitBumerang, Hammer und Wurfstein. Strömstad: Torp/Bohuslän, S 0