Das Motiv des Wahnsinns am Beispiel der Protagonisten Franz

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Das Motiv des Wahnsinns am Beispiel der Protagonisten Franz
Das Motiv des Wahnsinns am Beispiel der Protagonisten
Franz Woyzeck aus dem Drama „Woyzeck“ von Georg
Büchner und Nathanael aus der Erzählung „der
Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/59/Richer_Attaque.jpg
Jahresarbeit von: Anna Bommhardt
Jahrgang: 0 12
Schule: Freiherr – vom – Stein Schule
Fach: Deutsch Leistungskurs
Lehrer/in : Frau Heckmann – Schminke
Ort: Bischhausen, den 15.April 2012
Gliederung
1.) Vorwort
2.) Inhaltsangaben
2.1. Inhaltsangabe der Erzählung „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann
2.2. Inhaltsangabe des Dramas „ Woyzeck“ von Georg Büchner
3.) Definition von „Wahnsinn“
4.) Historischer Hintergrund der Werke und Autoren
5.) Wie äußert sich der Wahnsinn der beiden Protagonisten
und wodurch ist er bedingt?
5.1 Nathanael
5.2 Franz Woyzeck
6.) Nachwort
7.) Literaturve rzeichnis
8.) Anhang
1
1.) Vorwort
In meiner Jahresarbeit befasse ich mich mit dem „Motiv des Wahnsinns am Beispiel der
Protagonisten Franz Woyzeck aus dem Drama „Woyzeck“ von Georg Büchner und Nathanael
aus der Erzählung „der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann.
Da mich die menschliche Psyche schon lange fesselt, finde ich die Auseinandersetzung mit den
Krankheitsbildern und den Verhaltensweisen der Protagonisten Nathanael und Woyzeck sehr
spannend.
Um den Wahnsinn, der sich in beiden dieser Figuren an vielen Textstellen festmachen lässt,
besser zu verstehen, werde ich mich im Verlauf meiner Arbeit zunächst mit der Definition des
Wahnsinns befassen, mich mit den Ursachen seelischer Erkrankungen auseinandersetzen und
mich über mögliche Symptome psychischer Störungen informieren. Dieses Hintergrundwissen
möchte ich auf die beiden Protagonisten beziehen um ihre Verhaltensmuster in den beiden
Werken analysieren und verstehen zu können.
Des Weiteren ist es mir wichtig, nachvollziehen zu können, was die beiden Autoren zu ihren
Werken bewegt hat. Dies versuche ich anhand einiger Aspekte aus ihren Biografien herzuleiten.
Außerdem wird hilfreich sein, einen Überblick über die Epoche der Romantik zu schaffen.
Indem ich die historischen Zusammenhänge und somit die Denkmuster der Gesellschaft
verstehe, wird es mir leichter fallen, sich in die Autoren hineinzuversetzen.
2
2.) Inhaltsangaben
2.1) Inhaltsangabe von der Erzählung „ Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann
In E.T.A. Hoffmanns romantischer Erzählung „ der Sandmann“, die 1819 erstmals erschienen ist,
wird das Schicksal eines von Ängsten getriebenen jungen Mannes beschrieben, welcher letzten
Endes Selbstmord begeht.
Die Erzählung beginnt mit einem Brief, den Nathanael an seinen Ziehbruder Lothar verfasst, jedoch
irrtümlicherweise an seine Verlobte Clara adressiert.
Darin berichtet der Student, dass ihn seit kurzem Unruhe plage, ausgelöst durch die Begegnung mit
dem Wetterglashändler Coppola. In diesem glaubt er den Advokaten Coppelius erkannt zu haben,
den er für den Tod seines Vaters verantwortlich macht.
Clara führt in ihrem Antwortschreiben Nathanaels Ängste auf ein Kindheitstrauma zurück. Dieses
sei durch ein Ammenmärchen aus seiner Kindheit, in dem von einem furchteinflößenden Sandmann
berichtet wird, der kleinen Kindern die Augen stielt, ausgelöst. Im Antwortschreiben an Lothar
äußert Nathanael seine Verärgerung über die Verständnislosigkeit Claras und deren Zweifel über die
Identität Coppelius‘ und Coppolas.
Dadurch kommt es nach seiner Rückkehr in die Heimatstadt zu einem Konflikt mit Clara, in
welchen auch Lothar einbezogen wird.
Nach Nathanaels Rückkehr an seinen Studienort erfährt er, dass seine Unterkunft abgebrannt ist.
Deshalb muss er in eine Wohnung gegenüber des Professors Spalanzani ziehen. Mithilfe des
Perspektivs, das er dem Wetterglashändler abgekauft hat, kann er Olimpia, die Tochter des
Professors, beobachten. Von ihrer Schönheit zunehmend in den Bann gezogen, verblasst in ihm das
Bild seiner Verlobten.
Nathanael wird zu einem Fest des Professors eingeladen. Obwohl Olimpia sich während eines
gemeinsamen Tanzes nur mechanisch bewegt und sie monoton immer wieder dasselbe Wort
wiederholt, verliebt er sich in sie. Er trägt ihr wiederholt seine Gedichte vor und findet in ihr eine
aufmerksame Zuhörerin.
Zufällig wird er Zeuge einer Auseinandersetzung zwischen Spalanzani und Coppola, die ihn
vollends von der Identität Coppolas und Coppelius überzeugt.
3
Als Olimpia in Folge des Konflikts zerbricht, erkennt Nathanael, dass sie eine leblose Puppe ist.
Er wird daraufhin vom Wahnsinn eingeholt. Clara pflegt ihn liebevoll gesund und er scheint das
Erlebte vergessen zu haben. Doch bei einer Turmbesichtigung glaubt Nathanael durch sein
Perspektiv Coppelius in der Menschenmenge, am Fuß des Turmes, zu erblicken. Er wird von
Sinnestäuschungen übermannt und sieht in Clara ein Holzpüppchen mit glühenden Augen.
Daraufhin versucht er seine Verlobte vom Turm zu stoßen, wird jedoch von Lothar abgehalten. Als
er Coppelius erneut erblickt, stürzt er sich selbst den Turm hinab.
4
2.2) Inhaltsangabe von dem Drama „Woyzeck“ von Georg Büchner
Das Drama „Woyzeck“ von Georg Büchner wurde als ein Bruchstück mehrerer, schwer zu
entziffernder Handschriften überliefert. Deshalb findet man in unterschiedlichen Textausgaben
voneinander abweichende Szenenabfolgen. Die folgende Inhaltsangabe orientiert sich an dem
Hamburger Lesehefte Verlag.
Das Drama spielt zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einer hessischen Garnisonstadt.
Woyzeck ist ein unter dem Pauperismus leidender Soldat, der mit ehrlicher Arbeit seine Frau Marie
und ihr gemeinsames Kind zu unterstützen versucht. Er dient dem Hauptmann, welcher während
des Rasierens keine Gelegenheit auslässt ihn zu demütigen und auszunutzen, als Laufbursche.
Währenddessen beobachtet Marie eine Militärparade, bei welcher der anführende Tambourmajor
bei ihr und ihrer Nachbarin Begeisterung hervorruft. Auch der Major zeigt starkes Interesse an
Marie und versucht mit kleinen Geschenken ihre Zuneigung zu gewinnen.
Eine weitere Einnahmequelle erhält Woyzeck durch die Teilnahme an einem Experiment bei einem
Doktor. Woyzeck dient als Versuchskaninchen und darf sich über einen längeren Zeitraum
ausschließlich von Erbsen ernähren.
Durch den zusätzlichen Verdienst hofft er die Existenz seiner Familie sichern zu können.
Doch Marie hintergeht Woyzeck und lässt sich auf eine Affäre mit dem Tambourmajor ein.
Die Demütigung gegenüber Woyzeck spitzen sich zu, indem der Doktor und der Hauptmann Späße
über den Betrug Maries mit dem Tambourmajor machen.
Er beobachtet seine Frau beim Tanz mit dem Tambourmajor in einem Wirtshaus und wird daraufhin
von Halluzinationen eingeholt und hört Stimmen, die ihm befehlen, Marie umzubringen.
Aufgrund seiner finanziellen Lage kann sich Woyzeck statt einer Pistole nur ein Messer für seine
Mordtat leisten. Er lockt Marie kurz darauf in den Wald und ersticht sie. Da er näher kommende
Personen hört, eilt er zurück in die Stadt und besucht erneut das Wirtshaus, in welchem die anderen
Gäste Blutspuren auf seiner Kleidung bemerken.
Er kehrt eilig zum Tatort zurück, um die Tatwaffe im Fluss zu versenken. Daraufhin wird Marie
aufgefunden und von einem Gerichtsmediziner untersucht.
5
3.) Definition von „Wahnsinn“
Das Wort „Wahnsinn“, welches im 15. Jahrhundert erstmals nachweisbar ist und auf die
Bezeichnung „wahnwitzig“ (althochdeutsch: wanwizzi) zurückgeht, bedeutet ursprünglich „ ohne
Sinn und Verstand“, wobei das althochdeutsche „wan“ als „leer, mangelhaft“ gedeutet wurde.
Verschiedene Verhaltens- und Denkmuster, welche nicht der gesellschaftlichen Norm entsprachen,
wurden bis Ende des 19. Jahrhundert als Wahnsinn oder Verrücktheit bezeichnet.
Als „wahnsinnig“ wurden Menschen bezeichnet, welche unter Wahrnehmungsstörungen oder
Epilepsie litten. Des Weiteren wurden selbstzerstörerische Handlungen einem Wahnsinnigen
zugeschrieben.
„Die Ursache seelischer Krankheiten liege im Gehirn als zentrales Organ“1 . Da das „Ich“ einen
inneren Haushalt bildet, darf es zu keinem seelischen Ungleichgewicht kommen, da die Ordnung
somit zerstört und die Krankheit erzeugt wird. Dieses bewirkt beim Menschen, dass auch seine Welt
an Ordnung verliert und er auf eine Erschließung eines anderen Ordnungsmusters angewiesen ist. In
diesem Zustand weiß der Betroffene die wahr genommenen Gegenstände nicht mehr von seinen
eigen projizierten Phantomen der Fantasie zu unterscheiden.
Der Begriff ist sowohl kultur- als auch kunstgeschichtlich schwer eingrenzbar, da er in historischen
Kontexten unterschiedliche Verwendung fand. Er ist ein zum Teil widersprüchliches, schwer
definierbares Phänomen. Menschen, welche als verrückt galten, konnten abhängig von Region, Zeit
und sozialen Gegebenheiten unterschieden werden. Aus heutiger Sicht werden psychische
Erkrankungen und Störungen nicht mehr unter dem Allgemeinbegriff „Wahnsinn“
zusammengefasst, sondern durch ein „Klassifikationssystem“2 strukturiert.
Auch mögliche Symptome des Phänomens „Wahnsinn“ sind vielfältig und daher nicht eindeutig
feststellbar. Des Öfteren äußert sich der Wahn durch „einen Kontrollverlust über die Affekte“3 .
Erkenntliche Folgen sind somit ungehemmte Gefühle, welche ausgelebt werden. Folgenschwere
Handlungen werden nicht bedacht, somit entsteht Wahnsinn dort, wo die „Vernunft nicht regiert“ 4
oder es zu kognitiven Ausfällen kommt.
Verhaltensweisen können sowohl triebgesteuert sein als auch objektiv als sinnlos betrachtet werden.
Des Weiteren ist ein Realitätsverlust des Erkrankten häufiges Merkmal.
1
http://de.wikipedia.org/wiki/Wahnsinn
http://de.wikipedia.org/wiki/DSM_4
3
http://de.wikipedia.org/wiki/Wahnsinn
4
Ebd.
2
6
Somit ist die Fertigkeit zur Unterscheidungen zwischen „innerer und äußerer Wirklichkeit“ 5 nicht
gegeben. Außerdem kennzeichnend ist eine gestörte Kommunikationsfähigkeit, welche in Form
„einer Reduktion der sprachlichen Äußerungen“6 erkennbar ist.
4.) Historischer Hintergrund der Werke und Autoren
In der Epoche der Romantik (1790-1850) führte die territoriale Zersplitterung in der Gesellschaft
zur Wiederentdeckung des Mittelalters, da sich die Menschen in dieser Zeit im christlichen Glauben
vereint sahen. Des Weiteren hatten die Menschen zu dieser Zeit einen Hang zum Mystischen und
zum Aberglauben, an dem sich die Romantiker orientierten. Sie begeisterten sich nicht nur für die
landschaftliche Idylle, die Sehnsucht oder Leidenschaft, sondern auch für das Unheimliche, das
Unbewusste und dem Interesse an Krankheiten (Wahnsinn;...) und der Nacht. Dies führte 1793 zum
Aufkommen einer Unterströmung, der schwarzen Romantik, der auch das Nachtstück „Der
Sandmann“ zuzuordnen ist.
In Folge dessen galten Wahnsinnige nicht mehr „als Kontrastbild zu bürgerlichen
Normalitätsvorstellungen“7 . Sie wurden nicht mehr gemeinsam mit Verbrechern inhaftiert, sondern
galten als potentiell heilbar. Der französische Psychiater Phillip Pinel (1745-1826) sah Wahnsinn
und Vernunft nicht im Kontrast zueinander, sondern war vielmehr von „einem Übergang beider
Bewusstseinsstadien“8 überzeugt. Eigene Beobachtungen für das Verständnis von
Geisteskrankheiten bildeten das Fundament seiner Therapie. Der Wahnsinn wurde nun als
Krankheit betrachtet, dessen Symptome auf biologische Störungen „des Gehirns oder der Nerven“9
zurückzuführen waren. Behandlungsversuche waren unter anderem Schocktherapien, Zwangsjacken
oder Heilschlaf.
5
http://de.wikipedia.org/wiki/Wahnsinn
Ebd.
7
E.T.A. Hoffmann „Der Sand mann“ Rec lam Lektüreschlüsse S.46
8
E.T.A. Hoffmann Text und Ko mmentar Suhrkamp Basis Bibliothek
9
Ebd. S.64 Z. 25 f.
6
7
Auch E.T.A. Hoffmann, der am 24. Januar 1776 in Königsberg
geboren wurde und aufgrund seines trinksüchtigen Vaters getrennt von
seiner Familie, in der Obhut seines Onkels, aufwuchs, beschäftigte
sich mit dem Wahnsinn als Krankheitsbild. Da er eng mit einem
Nervenarzt und Leiter einer Irrenanstalt befreundet war, wurden ihm
Einblicke in die Behandlung von Geisteskrankheiten gewährt. Auch in
der Erzählung der „Sandmann“ versucht der Protagonist seine Ängste
durch das schreiben von Gedichten zu bewältigen. Der Sprache kann
E.T.A. Hoffmann
http://upload.wikimedia.org/
wikipedia/commons/f/f2/
ETA_Hoffmann.jpg
infolgedessen eine therapeutische Funktion zugeordneten werden. An
dieser Stelle zeigen sich Parallelen zu E.T.A. Hoffmann, denn auch er
setzt sich in seinen Erzählungen mit dem, was ihn bedrängt oder
verängstigt, auseinander.
Die in der Epoche der Romantik aufkommende Industrialisierung führte zu einer Gesellschaft, die
geprägt vom Nützlichkeitsdenken und Gewinnstreben war. Des Weiteren verursachte die neu
entstandene Maschinenwelt eine Verstädterung, welche die Romantiker als grau und prosaisch
erachteten.
In Folge der industriellen Revolution entstand im deutschen Vormärz (1815-1848) ein neuer
Zusammenschluss von Industriearbeitern. Obwohl die mittelalterliche Ständegesellschaft als
aufgelöst galt, bezeichnete man sie als 4. Schicht. An Stelle des Ständesystems rückte eine
Leistungsgesellschaft, in welcher nicht mehr die soziale Situation oder Herkunft das entscheidende
Kriterium war, sondern die wirtschaftliche Lage und der Besitz.
Deutschland war weiterhin agrarisch geprägt , was aufgrund einer Bevölkerungsexplosion
Nahrungsknappheit und somit Hungersnöte zur Folge hatte. Lohnarbeiter und Bauern vegetierten
wegen der ungerechten Arbeitsverteilung am Rande des Existenzminimums, was zu Massenelend
und Epidemien führte. So entstand eine „strukturell bedingte, längerfristige Armut“10 die auch als
Pauperismus bezeichnet wurde.
10
http://de.wikipedia.org/wiki/Pauperis mus
8
Georg Büchners Interesse an öffentlichen Verhältnissen erwachte
schon in seiner Jugend, da er bis zu seinem frühen Tod unter
den Missständen der Gesellschaft litt. Er bekämpfte aktiv das
dafür verantwortliche Herrschaftssystem. Diese Kritik wird in
seinem Drama „Woyzeck“ deutlich, indem sich die
Wohlhabenden gegen den unter dem Pauperismus leidenden
Woyzeck zusammenschließen. Das Bildungsbürgertum, welches
in seinem Drama vom Doktor vertreten wird forderte mehr
Rechte und strebte nach mehr Ansehen. Es lehnte sich gegen die
herrschende Schicht auf und stand so mit dem Adel, repräsentiert
durch den Hauptmann und den Tambourmajor in Konkurrenz.
Georg Büchner
http://www.zum.de/Faecher/D/BW/gym/
Buechner/grafik/buechner.jpg
Aufgrund dieses Dramas gilt Georg Büchner nicht nur als Revolutionär seiner Zeit, sondern auch
als einer der bedeutendsten Schriftsteller des Vormärz. Er wurde am 17. Oktober 1813 in Golddau,
einem kleinen Dorf in Darmstadt geboren und stammt väterlicherseits aus einer Familie von
Medizinern, während die Vorfahren seiner Mutter höhere Beamtenstellen vertraten. Seine Mutter,
Caroline Büchner geb. Reuß ( 1791-1858) wird als liebenswürdig und verständnisvoll beschrieben,
wohingegen der Vater die Ausbildung seiner Kinder zwar in großzügigerweise förderte, zugleich
aber auch von ihnen erwartete, sich seinen Grundsätzen zu fügen. Da sein Vater als ein Verehrer
Napoleons beschrieben wurde, führte die revolutionäre Gesinnung Büchners zu Konflikten mit den
Eltern. Dennoch behielt Georg Büchner ein vertrautes Verhältnis zu seinem Elternhaus.
9
5.) Wie äußert sich der Wahnsinn der beiden Protagonisten
und wodurch wird er bedingt?
5.1) Nathanael
Obwohl Nathanael in einer wohlbehüteten Familie aufwächst, nimmt er als hochsensibler Junge die
Spannungen zwischen seinen Eltern war. Aufgrund des dadurch ausgelösten Zustands von innerer
Anspannung flüchtet er in Fantasien und Träume und ist zugänglich für das Mystische und
Unheimliche. Dies macht ihn empfänglich für das Ammenmärchen vom furchterregenden
Sandmann, der kleinen Kindern „Hände voll Sand in die Augen“11 werfe, „sodass sie blutig zum
Kopf herausspringen“.
Diesen Sandmann vermutet Nathanael hinter der Gestalt des Coppelius, der mit seinem Vater nachts
heimlich alchimistische Versuche durchführt. Er ist für Nathanael, nicht zuletzt wegen seiner
abscheulichen Erscheinung, der Inbegriff des Teuflischen. Da Coppelius ihn nachts bei einer
heimlichen Beobachtung enttarnt und ihn daraufhin misshandelt, fantasiert Nathanael, dass
Coppelius ihm die Augen habe nehmen wollen.
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/8/82/Hoffmann_sandmann.png/220px-Hoffmann_sandmann.png
11
E.T.A. Hoffmann „Der Sand mann“ Schöningh Verlag S. 7 Z. 20 ff.
10
An dieser Stelle sind erste Anzeichen eines möglichen des Realitätsverlustes erkennbar. Als
Nathanael schließlich beobachtet, dass sein Vater bei einem Versuch mit Coppelius tödlich
verunglückt, kommt es zu einem Schockzustand, der seine Wahrnehmung gänzlich verzerrt und
seinen Wahn bezüglich Coppelius noch mehr steigert. Zwar kann er im Laufe seiner Entwicklung
dieses Kindheitstrauma verdrängen, jedoch erwachen die Erinnerungen beim Auftreten des
Wetterglashändlers Coppola, der Coppelius sowohl im äußeren Erscheinungsbild, als auch im
Namen sehr ähnelt. Das unverarbeitete Kindheitstrauma flammt erneut auf, da Nathanael in
Coppola den gefürchteten Coppelius zu erkennen glaubt. Seine Wahnvorstellungen und
Halluzinationen werden deutlich, als Coppola ihm seine Ware zeigt. „Immer mehr Brillen legte
Coppola hin, immer wilder und wilder sprangen flammende Blicke durcheinander…“ 12
Die Begegnung mit dem Wetterglashändler löst in Nathanael einen Verfolgungswahn aus, den er
durch das Schreiben von Gedichten zu verarbeiten versucht. Enttäuscht von der Verständnislosigkeit
seiner Verlobten Clara, die diese als „wahnsinnige Märchen“ 13 bezeichnet und somit sein
Selbstwertgefühl kränkt, wird er in den Bann der Olympia gezogen, die er mit dem Perspektiv des
Coppola beobachtet. Indem er zunächst nicht wahrnimmt, dass es sich bei Olympia bloß um ein
leblose Puppe handelt, zeigt sich seine Verwirrung und eine gedankliche Flucht aus der Realität
erneut. Olympia wird infolge dessen durch Nathanaels verzerrte Wahrnehmung zum Leben erweckt.
Durch die Abgrenzung zu seinem sozialen Umfeld projiziert er seine Gefühle und Gedanken auf
Olympia und wird zunehmend narzisstischer, sodass sie ihm als Spiegel seiner Selbst dient. Er
entwickelt ein großes Maß an Zuneigung zu ihr und erkennt erst während der gewaltsamen
Auseinandersetzung zwischen Spalanzani und Coppelius, dass Olympia ein Automat ist. „Da packte
ihn der Wahnsinn mit glühenden Krallen“14 , da er mit der Zerstörung Olympias, bedingt durch den
Konflikt zwischen Spalanzani und Coppelius, seine existentielle Basis verliert. Nach langem
Aufenthalt in einer Irrenanstalt gilt Nathanael zunächst als geheilt. Doch bei einem gemeinsamen
Ausflug mit Klara zu einem Ratsturm verliert er erneut die Besinnung. Er wird von Halluzinationen
eingeholt, indem er „durch die rollenden Augen“15 Claras „glühende Feuerströme sprühen sieht“16 .
Nathanael versucht Clara daraufhin vom Turm hinab zu werfen, wovon ihn jedoch Lothar abhalten
kann. Währenddessen spricht er Clara immer wieder mit „Holzpüppchen“17 an, welche „sich
drehen“ solle.
12
13
14
15
16
17
E.T.A. Hoffmann „Der Sandmann“ Schöningh Verlag S.31 Z. 5ff.
Ebd. S. 28 Z. 2
Ebd. S. 41 Z. 20ff.
Ebd. S. 44 Z. 34 f.
Vgl. S. 44 Z. 34.
Vgl. S. 44 Z. 40
11
Durch seine Affekthandlung äußert sich Nathanaels Wahn erneut, da er die Folgen seiner Handlung
nicht absehen kann und sich von seinen Trieben leiten lässt.
Zusammenfassend leidet Nathanael unter einer von einem Kindertrauma verursachten
Geisteskrankheit, die ihn die Realität häufig nicht klar erkennen lässt und Wahnvorstellungen in
seinem Kopf hervorruft. Diese Krankheitszustände gehen so weit, dass er sogar versucht, seine
Verlobte von einem Ratsturm zu stoßen, ohne die schweren Folgen seiner Handlung abzusehen. Als
sein Wahn, seine Angstzustände und sein Leiden aufeinandertreffen, stürzt er sich schließlich selbst
in den Tod.
5.2) Franz Woyzeck
Franz Woyzeck darf sich wegen eines Nahrungsexperiments, des Doktors, nur einseitig ernähren.
Dadurch sind Ausfallerscheinungen in Form von Ohnmachtsanfällen bei denen es ihm „dunkel“18
wird die Folge, wodurch sein Wahn begünstigt wird. Durch den „ungleichen Puls“ 19 ,den der
Doktor diagnostiziert, wird Woyzecks ungesunder Zustand auch von seinem äußeren Umfelds
bestätigt. Er befindet sich somit in einem Spannungsfeld zwischen den Ansprüchen des Arztes und
seinen eigenen Bedürfnissen, durch welches seine innere Ordnung an Gleichgewicht verliert und
sein Krankheitsbild zum Teil entsteht. Ein weiteres Merkmal von Woyzecks innerem
Ungleichgewicht ist sein „verhetztes“20 Auftreten, welches der Hauptmann, als Person seines
sozialen Umfelds, bestätigt.
Hinzu kommt das Motiv der Eifersucht, das seine Psychose intensiviert. Obwohl sich Woyzeck für
seine Frau und ihr gemeinsames Kind aufopfert, geht Marie ein Verhältnis mit dem Tambourmajor
ein, welchem Woyzeck sowohl in körperlicher als auch in gesellschaftlicher Hinsicht unterlegen ist.
Darüber hinaus lässt auch der Hauptmann als Vertreter des Militärs keine Gelegenheit aus, um
Woyzeck zu drangsalieren. Indem er ihn als „unmoralisch“21 und „abscheulich dumm“ 22 bezeichnet,
lässt er Woyzeck immer wieder seine Überlegenheit spüren. Seelische Demütigungen werden des
Weiteren durch die sarkastische Anspielung 23 des Hauptmannes in Bezug auf das Verhältnis
zwischen dem Tambourmajor und Marie deutlich. Indem er Woyzeck darauf hinweist, dass er eine
18
19
20
21
22
23
Georg Büchner „Woyzec k“ Hamburger Lesehefte Verlag S. 19. Z. 24
Ebd. S. 19. Z. 5
Vgl. S. 5 Z. 18
Vgl. S. 5 Z. 30
Ebd. S. 5 Z. 28
Vgl. S.14 Z.34 ff.
12
„brave Frau“24 habe und es ihm nicht „wie andern“25 ginge, wird für Woyzeck schließlich „die Erde
zur Hölle“26 . Indem er „Lust“ bekommt, einen „Kloben in den grauen Himmel hinein zuschlagen
um sich daran aufzuhängen“27 , wird deutlich, dass er seine emotionale Sicherheit verloren hat und
gedanklich immer wieder aus der Realität flüchtet. Er berichtet seiner Frau Marie in
geheimnisvoller Weise von seinen wahnhaften Beobachtungen, wodurch sein Realitätsverlust erneut
deutlich wird.
In seinen Wahn hört er fremde Stimmen und fühlt er sich inmitten eines Richtplatzes von den
Freimaurern bedroht und halluziniert „ein Feuer“28 , welches „fährt um den Himmel “29 .
Aufgrund seiner mangelnden Sprachgewandtheit kann er seinem sozialen Umfeld seinen Wunsch
nach Mitgefühl und Annerkennung nicht zum Ausdruck bringen und befindet sich somit in einem
Teufelskreis seiner eigenen Ohnmacht.
Woyzeck „erstickt“30 beim Anblick der in Selbstvergessenheit gefallen, vorbeitanzenden Marie in
den Armen des Tambourmajors, woraufhin er alle seine angesammelten Aggressionen auf sie
projiziert.
Infolgedessen hört er Stimmen, die ihn auffordern, seine Frau zu töten. “He was, sagt ihr? „Lauter,
Lauter, stich, stich die Zickwolfin tot?“31 . Erneut wird aufgewiesen, dass seine Wahrnehmung
gänzlich verzerrt ist und er den Bezug zur Realität verloren hat. Seine Aggressionen gegenüber
Marie treiben Woyzeck zum Kauf der Tatwaffe. Dieses triebgesteuerte Verhalten ist auf seinen
Wahn zurückzuführen. Man kann von einer selbstzerstörerischen Handlung ausgehen, da er sich mit
dem Mord an Marie das Liebste auf der Welt nimmt.
Zusammenfassen befindet sich Woyzeck in einem ewigen Gewaltzustand zwischen der Obrigkeit
und dem niederen Volk, da sich Woyzeck sowohl dem Hauptmann, dem Tambourmajor, als auch
dem Arzt immer wieder unterwerfen muss. Im Gegensatz zu Nathanaels Krankheitsbild ist der
Wahnsinn bei Woyzeck eher durch äußere Einflüsse bedingt. Sowohl durch den psychischen Druck
als auch dem physischen Verfall, dem er ausgesetzt ist, wird er zu einer Mordtat getrieben, durch
welche er sich selbst die existentielle Basis nimmt.
24
25
26
27
28
29
30
31
Georg Büchner „Woyzec k“ Hamburger Lesehefte Verlag S.14 Z. 29
Georg Büchner „Woyzec k“ Hamburger Lesehefte Verlag S 14 Z. 29
Vgl. S. 14 43 ff.
Vgl. S.15 11 ff.
Georg Büchner „Woyzeck“ Hamburger Lesehefte Verlag S. 7. Z. 11
Ebd. S. 7. Z. 11 f
Georg Büchner „Woyzeck“ Hamburger Lesehefte Verlag S.17 Z. 21
Ebd. S. 18 Z. 9f.
13
6.) Nachwort
Indem ich mich ausführlich mit dem Begriff „Wahnsinn“ auseinandergesetzt habe, bin ich zu der
Erkenntnis gekommen, dass sowohl Nathanael als auch Woyzeck vom Wahnsinn eingeholt wurden,
da sich grundlegende Symptome der geistigen Erkrankung in dem Krankheitsbild beider
Hauptpersonen wieder finden.
Zwar ist bei beiden Protagonisten eine Entwicklung des psychischen Verfalls erkennbar, die
Ursache ist jeweils jedoch unterschiedlich bedingt. Grundlegend für Nathanaels Geisteszustand ist
sein Kindheitstraumata, welches ihn erst im Verlauf der Erzählung in den Wahnsinn treibt.
Woyzecks geistige Erkrankung hingegen wird durch äußere Einflüsse bedingt.
Um mich intensiver in Nathanaels und Woyzecks Psyche hinein versetzen zu können, erstellte ich,
bevor ich mit der Beantwortung meiner letzen Fragestellung begann, Bilder, die jeweils die innere
Welt von Nathanael und Woyzeck wieder spiegeln sollen.
In dem Bild „Woyzecks innere Welt“ (siehe Anhang) verwendete ich, um die äußeren Einflüsse
Woyzecks darzustellen, bunte Bindfäden. Diese sind mit einem zerbrechlichen Holzstück in der
Mitte des Bildes verbunden, welches den Protagonisten darstellen soll. Die angespannten Bindfäden
ziehen das Holzstück auseinander bis es in seiner Gesamtheit vollends zerstört ist. Dies soll die
äußeren Einflüsse beschreiben, denen Woyzeck machtlos ausgesetzt ist.
In der zweiten Abbildung „ Nathanaels innere Welt“ (siehe Anhang) benutze ich, um Nathanaels
Kindheitstrauma darzustellen, durch welches sich sein innerer Wahnsinn entwickelt, sowohl Rot-,
als auch Schwarztöne. Durch die weiße Watte soll die verzerrte Wahrnehmung des Protagonisten
und dessen Realitätsverlust beschrieben werden. Die Person Nathanaels habe ich anhand des
Drahtes darzustellen versucht.
14
7.) Literaturverzeichnis
Bücher:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
Georg Büchner „Woyzeck“ vom Hamburger Lesehefte Verlag 148. Heft
Georg Büchner „Woyzeck“, Königserläuterungen und Materialien
Georg Büchner „Woyzeck“ Lektüreschlüssel, Reclam
E.T.A. Hoffmann „Der Sandmann“, Einfach Deutsch, Schöningh
E.T.A. Hoffmann Text und Kommentar, Suhrkamp Basis Bibliothek
E.T.A. Hoffmann Lektüreschlüsse, Reclam
Henriett Lindner „Schnöde Kunststücke gefallene Geister“ E.T.A. Hoffmanns Werk im
Kontext der zeitgenössischen Seelenkunde, Königshausen& Neumann
8. Gerhard Weinholz E.T.A. Hoffmann – Dichter – Psychologe – Jurist , Die blaue Eule Hessen
9. Georg Reuchlein „ Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur, Zur Entwicklung der
Wahnsinnsthematik in der deutschen Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts,
Wilhelm Fink Verlag
10. Claus J. Gigl Abitur-Wissen Deutsch, „Deutsche Literaturgeschichte“, Stark Verlag
Internetquellen:
1. http://de.wikipedia.org/wiki/Wahnsinn
2. http://www.artikel32.com/geschichte/1/soziale-situation- im- vormrz.php
Bilderquellen:
1. http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f2/ETA_Hoffmann.jpg
2. http://www.zum.de/Faecher/D/BW/gym/Buechner/
3. http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Hoffmann_sandmann.png&filetimestamp=2
0071004014414
15
8.) Anhang
„Woyzecks innere Welt“
„Nathanaels innere Welt“
16