Sonst gibt es eine Lawine

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Sonst gibt es eine Lawine
POLITIK & GESELLSCHAFT
Luxemburger Wort
Mittwoch, den 14. Oktober 2015
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Parlamentswahlen in der Schweiz am 18. Oktober
„Sonst gibt es eine Lawine“
Nationalkonservative Schweizerische Volkspartei wittert Morgenluft
VON JAN DIRK HERBERMANN
(BRIG)
Die rechtskonservative SVP
schlachtet im Schweizer Wahlkampf
die Flüchtlingskrise gnadenlos aus.
Nur: Die meisten Migranten machen
um Helvetien einen Bogen.
Schwere Wolken ziehen über das
Oberwallis. Die Spitzen der Alpen
verstecken sich. Hier, rund um
Brig, verengt sich das langgezogene Tal immer stärker. Der weitläufige Bahnhofsvorplatz der Stadt
am Fuß des Simplon-Passes ist
blitzsauber. Einige Männer eilen
laut redend vorüber, sie verständigen sich im harten Dialekt der
Region: „Ich gehe jetzt zum Blocher“, raunt einer von ihnen. An
diesem kühlen Abend Ende September macht Christoph Blocher,
Anführer der nationalkonservativen Schweizerischen Volkspartei
(SVP), Wahlkampf-Stopp in Brig.
Blocher (74) will es noch einmal
wissen: Seine Volkspartei, ohnehin stärkste politische Kraft Helvetiens, soll ihre Position weiter
ausbauen. Die meisten Demoskopen ermutigen Blocher: Am Wahltag für das Parlament der Schweiz,
am Sonntag (18. Oktober), werde
die SVP zulegen. Beim letzten Urnengang 2011 erzielte die Partei
knapp 27 Prozent für die größte
Kammer des Parlaments, den Nationalrat.
Eine noch größere SVP könnte
in der neuen Schweizer Regierung
ihre europafeindliche Politik noch
lauter einfordern – und die Abschottung der Eidgenossenschaft
vorantreiben.
Nationalkonservative setzen
auf das Thema Flüchtlingskrise
In ihrer Kampagne 2015 setzen die
Nationalkonservativen
konsequent auf das europäische Megathema: die Flüchtlingskrise. Wie
keine andere Partei Helvetiens
schlachtet die SVP die Not und das
Chaos rund um die größten Migrationswellen seit Ende des Zweite Weltkriegs aus. Die Parteiführer warnen vor der „maßlosen Zuwanderung“, vor der „Überfremdung“, die zu „Gewalt und Kriminalität“ im Alltag führt. Im ganzen
Land prangen Plakate und Anzeigen: Die „SVP ist die einzige Partei, die garantiert, dass die Zuwanderung begrenzt wird, dass die
Missbräuche im Asylwesen beseitigt werden und dass kriminelle
Ausländer ausgeschafft werden.“
Genau diese simplen Parolen,
genau diese forschen Sprüche will
Blocher auch in Brig zum Besten
geben. Hunderte SVP-Anhänger
drängen sich in der nüchternen
Simplon-Halle. Vor der Bühne
stimmt eine Folklore-Band das
Publikum mit heimatlichen Weisen ein. Der Saal kommt in Stimmung.
Lokale SVP-Granden treten ans
Mikrophon, umschmeicheln Blocher mit deftigen Komplimenten.
Ohne ihn, Blocher, den „Teufelsbraten“, hätte die Linke die
Schweiz schon längst an die EU
ausgeliefert, lobhudelt Oskar
Freysinger, ein landesweit bekannter SVPler. Jubel. Applaus.
Dann schlurft ein weißhaariger
Mann mit ausgebeultem, grauem
Anzug auf die Bühne. Stille. Christoph Blocher ist da. Er kratzt sich
am Kopf, legt die Hände auf die
vordere Kante des Rednerpultes,
als setze er zum Sprung an. Die
Walliser recken die Hälse, sie wollen Blocher sehen – und sie wollen seine Abrechnung mit dem
„Asylchaos“ hören.
Zuerst höhnt der Milliardär aus
Zürich über die Bundeskanzlerin
aus Berlin, „die Frau Merkel“. Genüsslich zitiert er Merkels Spruch
zur Flüchtlingskrise: „Wir schaffen das“. Natürlich schaffen es die
„Dütschen“ nicht, schnarrt Blocher. Er verdeckt sein Gesicht mit
seinen Händen. Die Männer und
Frauen aus dem Oberwallis grummeln, nicken.
Dann lobt Blocher die Asyl-Politik der Ungarn. Premier Viktor
Orbán sei der einzige, der das
europäische Dublin-Asylabkommen „ernst nimmt“. Wieder Zustimmung aus dem Publikum. Blocher geht auf der leeren Bühne auf
und ab, hinter ihm ein dicker
schwarzer Vorhang. Er stopft die
Hände in die Taschen, kramt darin herum, schwadroniert über
„Schwarze“ auf dem Mailänder
Hauptbahnhof, den „Nebenverdienst Drogenhandel“ für Nigerianer und die Asylsuchenden aus
Eritrea: „Da sind relativ wenig Kriminelle“ drunter, ruft der frühere
Schweizer Justizminister. Dabei
steht er auf einem Bein, streckt das
andere Bein und beide Arme weit
von sich. Lachen, Johlen auf den
Sitzreihen.
Dann wird Blocher ernst. Er
nimmt sich die „Wirtschaftsflüchtlinge“ vor. Er brüllt. Von denen, so sagt der Ex-Chemie-Unternehmer, gibt es zu viele in der
Schweiz. „Die können nicht dableiben“, bläut er den Zuhörern
ein. „Da wollen wir ganz konsequent sein. Sonst gibt es eine Lawine.“ Blocher starrt ins Publikum. Der Zorn auf die Fremden,
die Abneigung gegen die anderen,
sie verbinden Redner und Zuhörer.
Szenenwechsel. Buchs. Die
Stadt im östlichen Kanton St. Gallen hat einen Grenzbahnhof, der
die Schweiz mit Österreich verbindet. Die Kantonspolizei hatte
sich auf den großen Ansturm der
Flüchtlinge gerüstet. Doch der befürchtete Andrang bleibt aus, bis
zu 80 Asylsuchende erreichen
Mitte September pro Tag den
Kanton, die meisten über Buchs.
An einem Tag kamen laut der
Neuen Zürcher Zeitung mehr
Journalisten als Flüchtlinge zum
Bahnhof.
„Insgesamt rechnen wir mit
rund 30 000 Asylbewerbern im
Jahr 2015 für die Schweiz“, erläutert Bundespräsidentin Simonetta
Sommaruga von den Sozialdemokraten. Verglichen mit Deutschland, wo 2015 wahrscheinlich mehr
als eine Million Flüchtlinge und
Migranten eintreffen, oder Österreich trifft die große Krise die Eidgenossenschaft nicht besonders
hart. „Wenn man sich andere europäische Länder anschaut, dann
kommen wir glimpflich davon“, ist
SVP-Chef Christoph Blocher will es noch einmal wissen.
aus der Regierung zu hören. Warum machen die Flüchtlinge einen
Bogen um Helvetien? Aus Bern
heißt es: Die Schweiz liegt nicht
an den großen Flüchtlingsrouten.
Und Deutschland habe eine Sogwirkung auf Flüchtlinge entfaltet,
die Helvetien weitgehend unverschont lasse. Diejenigen, die in die
Eidgenossenschaft kommen, be-
(FOTO: ARCHIV LW)
reiten dem reichen Land keine
ernsthaften Probleme – bislang.
Vor allem für die Unterbringung
ist gesorgt: Flüchtlinge kommen in
ehemaligen Ferienheimen wie im
malerischen Grindelwald oder in
alten Kasernen unter. Der Kanton
Aargau testet Flüchtlingshäuser
des Möbelgiganten Ikea. Und falls
sich tatsächlich mehr Kriegsopfer,
Verfolgte und Arme in die Schweiz
durchschlagen, könnten die Behörden kurzfristig 50 000 Menschen in leer stehenden Zivilschutzanlagen einquartieren. „Die
Situation wäre chaotisch und nicht
auf mehrere Monate ausgerichtet“, sagt Verteidigungsminister
Ueli Maurer (SVP) zu dem Notplan. „Ein Dach über dem Kopf und
eine warme Suppe könnten wir
aber Zehntausenden bieten.“ Die
Schweiz ist von diesen Zuständen
noch weit entfernt. Glaubt man
Christoph Blocher aber, dann
überrennen die Fremden schon die
Schweiz. „Blocher hat doch Recht“,
sagt ein knorrig wirkender Mann
nach dem Auftritt des SVP-Anführers in der Simplon-Halle zu
Brig. Der Blocher-Fan, ein Bergbauer, greift zu einem Glas Rotwein und beißt in eine Wurst. „Die
vielen Flüchtlinge kommen und
wollen dann in unserem schönen
Land bleiben. So ist das doch,
oder?“